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Inhalt

»Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst.«

VOLTAIRE

Die Wächter des Islam

Ein Gespenst geht um in Europa

»Nennen wir die Dinge beim Namen. Natürlich geht es hier um ›den Islam‹. Die Frage ist nur: Was genau bedeutet das? Schließlich hat religiöser Glaube meist nicht allzu viel mit Theologie zu tun. Die meisten Muslime sind keine tiefgründigen Koran-Exegeten. Für eine riesige Zahl gläubiger Muslime ist ›Islam‹ ein nicht besonders scharf umrissener Begriff, der zudem nicht nur für Gottesfurcht steht – eher die Furcht vor Gott als Liebe zu ihm, so argwöhnt man –, sondern auch für ein Gemenge aus Bräuchen, Meinungen, Vorurteilen.«

SALMAN RUSHDIE

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Islam. Man kann es gelegentlich auf unseren Straßen sehen – Frauen im schwarzen Tschador, die hinter bärtigen Männern mit Käppis und Pluderhosen herlaufen, Männer, die in Teestuben der Moscheevereine sitzen und mit ihren Gebetsketten spielen, Frauen mit Kopftüchern, die in ihren bodenlangen Mänteln den Kinderwagen durch die Straßen schieben und dabei so unvorteilhaft gekleidet sind, dass selbst die hübscheste Frau verhärmt aussieht. Manchmal trifft man auch auf diese selbstbewussten Islam-Bitches, die ihren Hintern in enge Jeans zwängen und das Ganze mit einem kunstvollen Turban auf dem Kopf krönen, oder auf Jungs, die in Gruppen auf den Straßen herumhängen und Vorübergehende gern mit dem Spruch anrempeln: Was willst du, Opfer?

Alles Klischees, alles falsch, üble Nachrede und ein Ausdruck der krankhaften Angst vor dem Islam? Sind Fremdenfeindlichkeit und »Islamophobie« der europäischen und besonders der deutschen Kultur vielleicht fest eingeschrieben?

Wie sprechen wir über den Islam?

Wir können über den Islam diskutieren, wie der christliche Theologe Hans Küng es vorschlägt: »Heute muss es darum gehen, so gut wir können, von innen zu verstehen, warum Muslime Gott und Welt, Gottesdienst und Menschendienst, Politik und Recht und Kunst mit anderen Augen sehen, mit anderen Herzen erleben als etwa Christen.«1› Hinweis

Dieses Konzept des »Von-innen-Verstehens« und die Methode des »Nachfühlens« sind im interreligiösen Dialog weitverbreitet, ebenso in der Migrationsforschung und der praktischen Sozialarbeit. Es ist keine analytische, sondern eine therapeutische Methode, sich dem Islam zu nähern, der nicht distanziert »von außen«, »an sich« betrachtet, sondern einfühlend von innen, »in sich« erklärt werden soll. Weil es Küng um die Herausarbeitung der grundlegenden geistlichen Gemeinsamkeiten der Buchreligionen, nicht um die Herausarbeitung ihrer Unterschiede geht, ist er bereit, die Plattform rationaler Erkenntnis zu verlassen: Er will nicht analysieren, sondern glauben.

Was theologisch erlaubt sein mag, ist in einem politischen Diskurs nicht hinnehmbar. Dabei steht Küng mit dieser »empathischen« Herangehensweise nicht allein. Auch viele Islamkundler arbeiten so: Sie wollen »erklären, um zu verstehen«, um dem Islam »das Ankommen« in der deutschen Gesellschaft zu ermöglichen. Nicht Distanz, Analyse und Kritik sind ihre Instrumente, sondern Einfühlung und Werbung um Verständnis. Das hat die Diskussion um den Islam vor allem in Europa und ganz besonders in Deutschland lange Zeit blockiert und die multikulturelle Integrationspolitik scheitern lassen. Kritische Analysen beispielsweise der Gewaltbereitschaft muslimisch sozialisierter Jugendlicher wurden relativiert, an Wissenschaftlern wie dem Bielefelder Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer wurde sich in universitären Kreisen so lange »abgearbeitet«, bis er sich anderen Untersuchungsfeldern, pikanterweise jetzt auch der Islamophobie, zuwandte. Ähnliche Reaktionen erfahre auch ich, denn für viele gilt: »Es kann nicht sein, was nicht sein darf.«

Im harten integrationspolitischen Alltag ist eine solche »verstehende« Haltung faktisch eine Kapitulationserklärung vor jeder Freiheitsenteignung, die sich auf »religiöse Gebote« beruft: Da wird »verstanden«, dass Familien ihre Töchter nicht am Schwimmunterricht teilnehmen lassen, da wird verstanden, wenn Mütter ihre Söhne mitten im Unterricht anrufen – die Familienbindung im Islam ist doch so wichtig! –, da wird verstanden, dass Mädchen im Alter von sechs Jahren Kopftuch tragen oder mit fünfzehn verschwinden, um in der Türkei verheiratet zu werden.

In meinen Augen hat sich diese Art des »Kulturrelativismus« der »verstehenden Soziologie« als verantwortungslos erwiesen. Sie gibt nicht nur Grundrechte des Einzelnen preis, sondern sie ist auch wissenschaftlich nicht haltbar. Schon gar nicht darf sie sich auf den großen Max Weber berufen, den Begründer der verstehenden Soziologie. Denn der lehnte das vage und beliebige »Verstehen« entschieden ab und forderte von der Sozialforschung vielmehr, »soziales Handeln deutend (zu) verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich (zu) erklären«. Aus dieser Erkenntnis entsteht die soziale Verantwortung des Wissenschaftlers.2› Hinweis

Sprechen wir also über die soziale und politische Realität dieser Religion, über ihre Sinn- und Handlungszusammenhänge, über ihr Welt- und Menschenbild. Fragen wir.

Wer ist Muslim?

Ich bin Muslimin, wie man in der Türkei und anderswo zur Muslimin wird – durch einen muslimischen Vater. Oder man wird Muslim, indem man vor zwei Zeugen das Glaubensbekenntnis, die schahada, spricht. Obwohl meine Eltern nicht strenggläubig waren, gehörten sie – und damit auch ich – doch nach allgemeinem Verständnis zur Umma, der Gemeinschaft der Gläubigen. Sie wurden in den Wertvorstellungen und Traditionen dieser Religion erzogen.

Es ist zwar nicht klar definiert, wer zu dieser Glaubensgemeinschaft zu zählen ist, doch üblicherweise wird jeder, der einen muslimischen Vater hat, zur Umma gezählt, und so kommt man auf inzwischen 4,3 Millionen Muslime in Deutschland. Das mag man hinnehmen, wenn man den Islam als eine Kultur definiert und eine solche Zuschreibung zur Unterscheidung von kulturellen Prägungen beiträgt. Von dieser Gesamtheit sprechen wir, wenn wir von den Muslimen sprechen. Wenn man den Islam nur als eine Religion beschreibt, dann allerdings dürften wir nur von jenen als »Muslimen« sprechen, die sich ausdrücklich zu dieser Religion bekennen, und das ergibt eine ganz andere Zahl, die irgendwo zwischen einem guten Drittel und höchstens der Hälfte dieser 4,3 Millionen Menschen liegen dürfte. Und fragen wir dann noch weiter, wer von diesen muslimischen Gläubigen den Islamverbänden angehört oder sich durch sie vertreten fühlt, dann dürfte noch nicht einmal jeder achte diese Frage bejahen. Und deren Gesamtzahl wiederum verteilt sich dann noch auf fast ein Dutzend verschiedener Glaubensrichtungen und ethnischer Zusammenschlüsse. Schon deswegen dürfte keine der hierzulande präsenten Organisationen für »den Islam« oder »die Muslime« sprechen können.3› Hinweis Eine Glaubensgemeinschaft kann nach deutschem Recht nicht Unbeteiligte zu Mitgliedern erklären und daraus einen Anspruch ableiten, für diese Menschen zu sprechen. Das widerspricht Artikel 4 des Grundgesetzes, der die freie Religionsausübung schützt, aber auch die Freiheit von Religion zusichert.

»Den Islam« gibt es nicht … oder doch?

»Den Islam« gibt es nicht. Das stimmt und stimmt auch nicht. Einerseits kann ein Muslim seine Beziehung zu Allah selbst definieren, andererseits ist die Gemeinschaft als Autorität eingesetzt zu bestimmen, »was recht ist« und »was verwerflich ist«. Eine Unzahl von Richtungen, Gruppen und Sekten nimmt für sich beides in Anspruch – zu definieren, was der Islam ist, und anderen das Muslimsein zu bestreiten. Aber sich auf diese Weise aus der Verantwortung zu stehlen für das, was im Namen des Islam passiert, hilft nicht. Denn es gibt »den Islam« als soziale Realität, als kulturelle Institution, die Verhalten definiert, einfordert und reproduziert. Weil er eben nicht als Gottes Wort vom Himmel »herabgesandt« wurde, sondern sich mit den Menschen unter unterschiedlichen Bedingungen unterschiedlich entwickelt hat und sich trotzdem auf ein und dasselbe Buch beruft. Der Islam ist eine Zivilisation, hat eine Geschichte, auch wenn er sich in verschiedenen Identitäten präsentiert. Es gibt den Islam. Er ist das, was im Namen der Religion gelebt wird.

Die Auseinandersetzung mit dem Islam ist deshalb so schwierig, weil der Glaube eben nicht – wie in der säkularen Gesellschaft – ein Teil der Freiheit geworden ist, sondern als Religion auch eine gesellschaftliche Einrichtung darstellt, Glauben soziales Handeln ist, weil der Islam die Trennung von Politik und Religion nicht kennt. Privates wird nicht von gesellschaftlichem, religiöses nicht vom profanen Handeln getrennt. So wird in der Diskussion manches durcheinandergebracht und oft Verwirrung gestiftet. Der Islam kennt keine Theologie im Sinne einer wissenschaftlichen Disziplin und keine verbindliche Lehre. Die Auseinandersetzung mit dieser Religion findet deshalb in der Praxis statt. So besteht das »islamische Dilemma« auch darin, dass im Namen des Islam alles behauptet und alles bestritten werden kann.

Wird das Kopftuch kritisiert, unterstellt man, man würde den Frauen ihren Glauben verbieten wollen. Fragt man nach der Finanzierung von Moscheen, wird befürchtet, man wolle die Religionsfreiheit einschränken. Zitiert man den Koran, wird ein anderslautender Vers gegengehalten oder behauptet, die Sure sei falsch zitiert, falsch übersetzt worden oder anders gemeint. Die Diskussion mutet manchmal an, als solle hier ein Phantom festgehalten werden.

Die Vertreter des politischen Islam befördern diese Verwirrung, sie kommt ihnen gelegen, vermag sie doch davon abzulenken, dass die Ziele ihrer jeweiligen Glaubenspartei mit den spirituellen Bedürfnissen von Gläubigen nicht übereinstimmen. Ich möchte dazu beitragen, diese Verwirrung zu klären. Wir sollten unterscheiden: Islam ist Glaube, Kultur und Politik. Islam ist Religion, Weltanschauung und Ideologie. Und nicht alles, was unter der Fahne des Islam segelt, ist religiös begründet und steht unter dem Schutz unserer Verfassung. Denn Religion ist ein Teil unserer Freiheit, sie steht nicht über ihr. Und deshalb hat die Kritik am Islam nichts mit einem Feindbild oder einer krankhaften Angst, mit einer »Islamophobie« zu tun, sondern ist notwendiger Teil des Diskurses über das gesellschaftliche Miteinander in einer aufgeklärten, säkularen Gesellschaft. Wir müssen diese Diskussion »säkularisieren«, religiöse von profanen Fragen deutlich voneinander unterscheiden. Praktisch bedeutet das: Wir müssen aufmerksam prüfen, ob religiöse Ansprüche die Grundrechte, wie zum Beispiel die Gleichberechtigung oder Selbstbestimmung, beschädigen.

Es gibt akademische Wächter des Islam an deutschen Hochschulen, die sich wie eilfertige Konvertiten gebärden. Die deutsche Kultur pflege seit Jahrhunderten, mindestens seit Luther, das »Feindbild Islam«, sagen sie; und die wenigen Islamkritiker, die sich heute zu Wort melden, so behaupten sie, rührten diese Suppe wieder kräftig auf und bestätigten so nichts als alte Vorurteile. Ja, es gibt eine lange Geschichte der Deutschen mit dem Islam und den Muslimen, aber sie ist anders als meist erzählt, wenngleich nicht weniger spannend. Und sie reicht bis in unsere Gegenwart.

Vieles, worüber wir im Zusammenhang mit dem Islam diskutieren, hat tatsächlich nichts mit Glauben im eigentlichen Sinne – also mit einer spirituellen Beziehung zu einem Gott – zu tun, sondern ist Politik, Herrschaft und Spiel mit der Identität. Wir diskutieren seit Langem darüber, »wie« dieser Glaube gelebt wird, wo Moscheen gebaut, wie Schafe geschlachtet, ob Lehrerinnen Kopftuch tragen oder ob Mädchen schwimmen gehen dürfen. Ein Dialog darüber, »was« der Islam eigentlich ist, woran geglaubt wird, was ihn ausmacht und vom Juden- oder Christentum unterscheidet und womit er unsere Gesellschaft bereichern könnte, darüber gibt es keinen Diskurs.

Glauben die Anhänger der monotheistischen Religionen, die Juden, die Christen und die Muslime, die sich alle auf den Urvater Abraham berufen, tatsächlich an denselben Gott? Oder ist das, was sich als die »soziale und kulturelle Institution« Religion herausgebildet hat, trotz eines gemeinsamen Anfangs inzwischen grundverschieden?

Vom Himmel gefallen?

Was ist der Islam? Der Islam ist faktisch eine Weltmacht und dann wieder »nicht zu fassen«. Der Islam ist das, was man daraus macht, sagt der Islamwissenschaftler und Politologe Bassam Tibi. Und der Islam ist im Alltag real.

Ich werde das, was sich in Europa oder speziell in Deutschland als soziale Realität Islam darstellt, näher unter die Lupe nehmen und dabei in mehreren Schritten vorgehen. Zunächst werde ich der Frage nachgehen: »Was ist Religion – und wo kommt sie her?«, denn eins der zentralen Argumente der Wächter des Islam lautet: Die Realität mag ja schrecklich sein, aber mit dem Islam hat das alles nichts zu tun. Für sie ist die Glaubenslehre vom Himmel gefallen, unschuldig und rein, mit den Menschen hat sie letztlich nichts zu tun. Dass Religion blutig und machtversessen sein kann, dass ihre Wurzeln ganz tief in der Geschichte und im Menschsein gründen, werde ich herausarbeiten und darstellen, dass der Islam im Gegensatz zu anderen seine archaischen Wurzeln nicht überwunden hat, kurzum, dass er nicht auf spirituellem Bewusstsein, sondern auf sozialer Kontrolle eines archaisch-patriarchalischen Kollektivs beruht.

Dabei hatte der Islam nach seiner Entstehung und in den ersten Jahrhunderten seiner Geschichte jene Durchlässigkeit, die ihn zum Erfolgsmodell werden ließ, denn die Botschaft des Islam ist einfach. Es ist die direkte Verbindung zu einem Gott, dessen Gebot man sich unterwirft. Es ist der Trost, den man im gemeinsamen oder individuellen Gebet oder in der Andacht findet. Solche spirituellen Beziehungen haben Verschleierungen nicht nötig – alles andere ist Politik. Damals setzten sich die Philosophen der islamischen Welt noch mit dem hellenistischen Erbe auseinander, waren offen und innovativ; damals entstand im Umfeld der islamischen Herrschaft ein kreatives Umfeld, in dem Mathematik, Astronomie, Medizin und Literatur blühten, bis die Wächter des Islam – die Vorbeter und Mystiker um Al-Ghazali (1058–1111) – das Denken im Islam »versiegelten« und die Philosophie abschafften. Dieses islamische Dilemma behindert diesen Glauben seit über tausend Jahren, und noch heute sind einflussreiche Prediger wie Fethullah Gülen und Tariq Ramadan, die sich selbst für »Reformer« halten und auch als solche angesehen werden, im Grunde Fundamentalisten. Sie sind Verfechter einer chauvinistischen Weltanschauung, die im Islam »die Lösung« sehen und die übrige Welt damit beglücken wollen.

Deutscher Islam?

Der Islam ist seit seinem Aufkommen Teil der Debatte um das, was »Europa« ausmacht. Ja, die europäische Gesellschaft hat sich durch das »Andere«, das der Islam war, immer wieder herausgefordert gefühlt, sich ihrer selbst zu vergewissern. Ich mache einen Gang durch die europäisch-deutsche Geschichte und versuche zu ergründen, welche Motive Schriftsteller wie Lessing und Goethe oder Herrscher wie Karl der Große und Wilhelm II. hatten, sich mit dem »Mohammedglauben« auseinanderzusetzen, und zu welchen fatalen Koalitionen es zwischen Deutschen und dem politischen Islam kam.

Trotz aller Beschwörungen, aller Wünsche von Politikern muss man feststellen: Es gibt den Islam in Deutschland, aber keinen eigenständigen deutschen Islam. Der Islam in Deutschland ist eine Religion der Migration, auf die Konsequenzen einer solchen Definition werde ich zu sprechen kommen. Und es gibt auch keinen aufgeklärten, säkularen Islam. Was aus der kritisch-rationalen Beschäftigung an einigen Hochschulen hervorgeht, hat keine praktische Wirkung auf die Gläubigen. Das, was von Gläubigen in Büchern oder im Internet verbreitet wird, ist durchweg konservativ bis fundamentalistisch. Kritische oder auch nur fragende Stimmen wie die von Professor Sven Kalisch in Münster werden ausgegrenzt oder ignoriert.

Der organisierte Islam, repräsentiert durch die Islamverbände, ist nichts anderes als die politische Vertretung einer meist religiös-konservativen Minderheit der Muslime. Sie beanspruchen die religiöse Deutungsmacht, obwohl sie dazu in keiner Weise legitimiert sind. Die Mehrheit der in Deutschland lebenden Muslime fühlt sich von diesen konservativen Verbänden nicht repräsentiert, sie sind meist säkular und bilden eine Art »schweigender Mehrheit«. Da sie sich nicht organisieren – weil sie dem Gruppenzwang endlich entflohen sind –, fehlt ihr politisches Gewicht in der Debatte, und es entsteht der Eindruck, als gäbe es nur eine Handvoll Kritikerinnen, die die Opposition zu den islamischen Männerbünden bilden.

Aber im Land bewegt sich etwas. Nicht mehr alle lassen sich von den »Abis« und den »Ablas«, den Funktionären, bevormunden, die wie ältere Brüder oder Schwestern der Migranten auftreten. Nicht immer, aber immer öfter melden sich in den Veranstaltungen vor allem Frauen zu Wort, die sich nicht mehr gängeln lassen wollen und den Islamwächtern widersprechen. Das ist ein Anfang. Die Islamverbände sind bestens organisiert, sie verfügen über eine große Zahl hauptamtlicher Amtsträger und erhalten Geld aus dem Ausland, über die türkische Regierung oder saudi-arabische oder andere islamische Stiftungen. Allein der Ableger der türkischen Religionsbehörde hat über 800 beamtete Vorbeter nach Deutschland entsandt, und in den insgesamt fast 3000 Moscheen der Milli Görüs, des Verbandes der Islamischen Kulturzentren und des Zentralrats arbeiten Tausende bezahlter und ehrenamtlicher Wächter des Islam.

Islamismus ist Glaube als Politik

Die Trennlinie zwischen Islam als Religion, Kultur, radikaler Ideologie und der politischen Vertretung, die ich als Glaubenspartei bezeichne, ist unscharf. Wir haben es in Deutschland mit Islamverbänden zu tun, die sich vom Terrorismus distanzieren, wohl aber der »gerechten Ordnung« – Koran und Sunna als Leitkultur – und damit der Scharia das Wort reden.

Innenminister de Maizière sagte in seinem ersten Interview nach der Amtsübernahme: »Der Islam ist bei uns willkommen, der Islamismus nicht.«4› Hinweis Mit »Islamismus« meint er den terroristischen Fundamentalismus, im eigentlichen Sinne ist aber »Islamismus« der politische Islam, der Glaube als Politik. Wenn es gelingen könnte, die Auseinandersetzung um den Islam statt zu einer politischen Machtfrage zu einem Diskurs über den Glauben in einer Bürgergesellschaft zu machen, wäre den Muslimen in diesem Land geholfen. Denn dann könnte man sich den Problemen zuwenden, die der Innenminister gern gelöst wissen würde – der Gleichberechtigung von Männern und Frauen, Jungen und Mädchen oder der Entwicklung einer eigenständigen theologischen Ausbildung religiöser Lehrer an deutschen Hochschulen.

Der Islam ist eine Religion der Zuwanderung, und deshalb ist die Debatte um diese Religion und Weltanschauung ein Thema der Integrationspolitik. Ich habe Dutzende von Moscheen besucht, schildere, wie muslimische Migranten in Deutschland ankommen oder nicht und was muslimisches Leben im Kern von der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet. Die kulturelle Dimension des Islam wird in einer anderen Werteorientierung deutlich. Der islamische Common Sense versteht unter Respekt, Ehre, Achtung oder Gastfreundschaft etwas anderes, und die Frage, wer wofür verantwortlich ist, stellt sich einer muslimisch sozialisierten Person anders.

Besonders deutlich wird diese Kulturdifferenz in der Stellung der Frau. Für mich ist der traditionelle Islam eine Kultur der Apartheid. Die meisten der religiösen Vorschriften wurden von Männern erfunden, um die Herrschaft über die Frauen zu legitimieren. Es sind von Patriarchen und Vorbetern erdachte Schikanen zum Zweck des Machterhalts. Dabei haben sie oft noch nicht einmal den Koran auf ihrer Seite, sondern nur ihre jahrhundertealten, aus Macht und Willkür abgeleiteten Traditionen.

Die Islamisierung Europas ist bereits eine »materielle Gewalt« – über 15 Millionen Muslime leben in Europa. Der Islam ist eine demografische Herausforderung: Glaubt man den statistischen Prognosen, könnte sich die europäische Gesellschaft durch die Geburtenraten der muslimischen Zuwanderer islamisieren.

Für die Zukunft Europas wird es von entscheidender Bedeutung sein, ob es gelingt, die Muslime von der Idee der aufgeklärten demokratischen Bürgergesellschaft zu überzeugen, ob Freiheit und Verantwortung auch ihnen als attraktiver erscheinen als die kollektiven Zwänge einer religiösen Weltanschauung. Freiheit kann man lernen und muss man verteidigen. Dieses Buch versucht zu erläutern, worum es bei diesem Streit geht.

ISLAM ALS GLAUBE

Die Himmelsreise

Wie Islam und Koran entstanden und welche Rolle Mohammed dabei spielte

Noch heute hält der gläubige Muslim den Koran für das unfehlbare Wort Gottes, das in reinem Arabisch auf Mohammed herabgesandt wurde. Selbst moderne Muslime behaupten, dass seine Offenbarungen noch in genau jener Form im Koran erhalten sind, wie sie der Engel Gabriel dem Propheten einst diktierte, auch wenn sich dies weder historisch noch philologisch belegen lässt und der Streit darüber schon fast eintausend Jahre währt.

Mohammed selbst konnte nicht lesen und schreiben – so wird es überliefert, wohl auch um sicherzustellen, dass er nicht als »Schriftsteller« oder »Dichter«, als Fantast also, gesehen wird. Mit der Folge, dass noch heute der Koran nicht »gelesen«, sondern auswendig rezitiert wird. Lesen und schreiben sind keine Fertigkeiten, die Mohammed vorgelebt hat, deshalb muss man sie auch nicht nachahmen. Allah selbst und der Erzengel Gabriel teilten ihm die Offenbarungen mit, die von seinen Begleitern, deren Vertrauten oder anderen Gläubigen aufgeschrieben wurden. 552 Ansprachen soll er von seiner Ankunft in Medina bis zu seinem Tod, immer im Anschluss an die Freitagsgebete, gehalten haben. Keine davon ist schriftlich überliefert, stattdessen wurden daraus Korantexte, die über lange Zeit als »Wort Gottes« mündlich weitergegeben wurden und deren Wirkung sich vor allem durch Rezitation entfalten soll.

Den Koran gibt es nicht

Die Quellen des Korans liegen im Dunklen, es gibt kein Manuskript, er wird nach Auffassung der Muslime vielmehr »im Himmel« aufbewahrt. Die ganze Entstehungsgeschichte des Korans und des Islam beruft sich ausschließlich auf islamische Quellen, und die sind, um es juristisch auszudrücken, nicht wirklich »belastbar«. Muslime haben sich um diese Fragen wenig Gedanken gemacht. Für sie ist eine Überlieferung dann wahr, wenn ein Hadith, eine Überlieferung der Taten des Propheten, lückenlos von Person zu Person bis auf Mohammed zurückgeführt werden kann. Wissenschaftlich ist die Methode etwa so stichhaltig wie das Kinderspiel »Stille Post«, bei dem man einen Satz von Ohr zu Ohr flüstert und sich zum Schluss über das Ergebnis amüsiert. Die Islamgelehrten halten das für ausreichend, weil es ja nach ihrer Auffassung vor der Offenbarung, also während der 23 Jahre, in denen der Koran »herabgesandt« wurde, das Zeitalter der Unwissenheit gab. Das kann man glauben oder nicht. Was aber, wenn die historischen Ereignisse wie die Hidjra von Mekka nach Medina oder die Schlacht von Badr, auf die sich die islamische Geschichtsschreibung bezieht, gar nicht stattgefunden haben?

In der europäischen Islamforschung gibt es seit über hundert Jahren auch Zweifel an islamischen Gewissheiten. Der Orientalist Ignaz Goldziher5› Hinweis und in seiner Nachfolge eine Reihe von zeitgenössischen Wissenschaftlern stellen die Quellen infrage und suchen seit Langem nach Belegen, die nicht in der islamischen Legende wurzeln. Sie versuchen, mit kritisch-rationalem und interdisziplinärem Blick die Ursprünge des Islam zu beleuchten. Vor allem die Religionswissenschaftler Günter Lüling6› Hinweis, Christoph Luxenberg7› Hinweis und Karl-Heinz Ohlig8› Hinweis haben unter Hinzuziehung von sprachwissenschaftlichen und archäologischen Forschungen9› Hinweis Zweifel an der kolportierten Legende von der Entstehung des Islam angemeldet.

Ihnen zufolge ist der Islam eine Variante des syrisch-aramäischen Urchristentums, die sich vor dem Konzil in Nicäa von den aramäischen Vorstellungen getrennt hat, ein Ergebnis einer jahrhundertelangen Entwicklung, auf die auch persische Einflüsse einwirkten. Der Islam ist demnach weder in Mekka noch in Medina entstanden, noch hat es Mohammed als historische Figur gegeben, vielmehr wird damit nur eine andere sprachliche Bezeichnung für »Gottes Sohn«, gemeint ist Jesus, gewählt. Die Legendenbildung um Mohammed entstand als Abgrenzung zu Juden und Christen und als nachträgliche Legitimation. Der Prophet sollte nicht wie Jesus als »Opfer«, sondern als Sieger erscheinen.

Als Betreiber dieser nachträglichen Legendenbildung wird der umayyadische Kalif Abd Al-Malik (685–705) ausgemacht, der Erbauer des Felsendoms in Jerusalem, der zu den Hauptheiligtümern des Islam gehört. Der Koran sei nicht auf Arabisch verfasst, sondern habe eine syro-aramäische Grundlage, was vielen Aussagen des Korans eine ganz andere Bedeutung verleihe. So wird die Aufforderung, die Mohammed vom Erzengel hört – Sure 96, Vers 1: »Trag vor im Namen deines Herren« –, in der Luxenberg-Interpretation zu »Rufe an den Namen deines Herren«. Während die von Muslimen gebrauchte Interpretation eine Aufforderung ist, die Offenbarung zu verkünden, ruft die andere zu Gebet und Einkehr auf.

Die Muslime selbst halten solche Fragen für gotteslästerlich, und die Islamwissenschaft schüttelt den Kopf. Der durchaus kritisch mit den Quellen arbeitende Mohammed-Biograf Tilman Nagel meint, es seien »Fantasien«, und verweist auf eine Reihe anderer Quellen, die die Fundamentalkritiker nicht berücksichtigen würden.

Ich selbst kann weder Aramäisch noch Arabisch, ich bin auch keine Islamwissenschaftlerin, mich interessiert in erster Linie die Wirkung dieser Religion. Selbst wenn die Kritiker recht hätten und der Islam tatsächlich auf Sand gebaut wäre, würde das kaum unmittelbare Auswirkungen haben. Zu einer grundsätzlichen Diskussion, gar zu einer Neubewertung der Grundlagen des Glaubens würde es nicht sofort kommen. Selbst wenn der Islam tatsächlich auf einer rückwärtsgewandten Projektion beruhen sollte, werden viele Muslime diese schon aus Selbstschutz aufrechterhalten wollen.

Und doch wird die Umma die Geschichte des Islam nicht auf Dauer für sakrosankt erklären können. Was immer die rationale Forschung zutage fördert, wird auch in dieser Religion Spuren hinterlassen und Gewissheiten infrage stellen. Vielleicht wird dann, wie bei den Juden und Christen, eine Weiterentwicklung des Denkens einsetzen. Bis dahin aber werden wir uns mit den altbekannten Tatsachen der islamischen Lehre und des Lebens auseinanderzusetzen haben, werden immer wieder auf Widersprüche hinweisen müssen, die ihren Ursprung in der Legende haben.

Gottes Menschenwort

Der ägyptische Koranwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid zum Beispiel glaubt an die Offenbarung, spricht aber vom Koran als »Gottes Menschenwort«.10› Hinweis Er führt eine Reihe von überzeugenden Argumenten an, um nachzuweisen, dass wir es beim Koran mit einem Werk der Literatur zu tun haben. Er zitiert – gleichsam als Motto seiner Arbeit – Sure 18, Vers 109: »Sag: Wenn das Meer Tinte wäre für die Worte meines Herren, würde es noch vor ihnen [den Menschen] zu Ende gehen, selbst wenn wir es an Masse verdoppeln würden.« Das soll heißen: Wenn wir Allah auf einen Text des siebten Jahrhunderts reduzieren, machen wir ihn kleiner, als er tatsächlich als Schöpfer des Universums – und nicht nur des Korans – ist. Er plädiert unter Berufung auf Argumente des Koranexegeten Muhammad Ahmad Khalafallah11› Hinweis für einen literaturwissenschaftlichen Diskurs über »Die Kunst in der koranischen Erzählweise«. Khalafallah deutet die Korantexte als »mehrdeutige Verse« oder »Allegorien«, deren historische Authentizität nicht verbürgter sei als Shakespeares Darstellung des Lebens der Kleopatra. Der Koran verzichte »erstens bewusst darauf, nicht nur Ort und Zeit der betreffenden Ereignisse, sondern auch manche der relevanten Personen zu benennen. Zweitens gehe er in einigen Geschichten auf manche Ereignisse ein, während er andere verschweige. Drittens werde häufig die chronologische Reihenfolge der Ereignisse verletzt. Viertens schreibe der Koran manche Taten mal der einen, mal einer anderen Person zu. Fünftens würden Dialoge, wenn eine bestimmte Geschichte in einer anderen Sure noch einmal erzählt werde, nicht immer auf dieselbe Weise wiedergegeben. Sechstens erweitere der Koran manche Geschichten durch bestimmte Ereignisse, die erst später passiert sein können. All das zeige, dass der Koran sich dieselbe Freiheit nehme wie die Autoren literarischer Geschichten über literarische Themen.«12› Hinweis

Khalafallah und seine Lehrer wurden heftig kritisiert, er musste widerrufen, und auch Abu Zaid, der uns Bericht davon gibt, wurde in Ägypten verfolgt und mit dem Tode bedroht. Er sollte von seiner Frau zwangsgeschieden werden, verließ das Land und lehrt jetzt in den Niederlanden. Die Debatte um ein literarisches Verständnis des Korans ist und bleibt eine Sache von Dissidenten. In der herrschenden Rechtsmeinung innerhalb des Islam werden solche Fragen nur mit spitzen Fingern aufgegriffen.

Das Gebet

Ich möchte hier nur ein kleines Beispiel dafür geben, dass Allah, rein aus sprachwissenschaftlicher oder literarischer Sicht, schwerlich der Autor der folgenden Zeilen sein kann: »Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen / Lob sei Allah, dem Weltenherren / Dem Erbarmer, der Barmherzigen / Dem König am Tag des Gerichts! / Dir dienen wir, und zu Dir rufen wir um Hilfe; / Leite uns den rechten Pfad / Den Pfad derer, denen du gnädig bist / Nicht derer, denen du zürnst, und nicht der Irrenden.«

Es handelt sich um die erste Sure, al-Fatiha, die Eröffnende. Diese Worte wenden sich eindeutig – »Dir dienen wir, und zu Dir rufen wir um Hilfe« – in Form eines Gebets an Gott. Es sind Mohammeds an Gott gerichtete Worte, schwerlich Gottes Worte selbst. Der Imperativ »Sprich!«, der diese Aussage entpersonalisieren würde, kommt an anderen Stellen des Korans 350-mal vor, in dieser Sure nicht. Er wurde den Urtexten später hinzugefügt, um ähnliche Verlegenheiten zu umgehen. Auch das personalisierende »Ich« kommt mehrfach vor und ist – so die Linguisten – eindeutig auf Mohammed zu beziehen.

Wie der Koran entstand

Der erste Kalif, Abu Bakr, stellte zwischen 632 und 634 eine erste Version des Buches her, unter Kalif Osman (644–656) entstand dann, mehr als ein Jahrzehnt nach Mohammeds Tod, der Einheitskoran, sagt die islamische Legende. Koranexemplare aus dieser Zeit gibt es nicht. Es sollen auch mehrere Versionen existiert haben. Eine vor einigen Jahren im Jemen aufgefundene Koranschrift datiert aus dem 8. Jahrhundert. Entschlüsselt ist sie noch nicht.

Der Koran liegt in einer kanonischen Ausgabe seit Osman und erst seit 1923 in einer vollgültigen Ausgabe auf Arabisch vor und ist in Kapitel (Suren) und Verse (Ayat) unterteilt. Er besteht aus rund 80 000 Wörtern, die in 114 Suren mit insgesamt 6200 Versen, andere zählen 6666 Verse, angeordnet sind. Jede Sure, mit Ausnahme der ersten und der neunten, beginnt mit den Worten »Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen«. Wer immer für ihre Anordnung verantwortlich war, stellte die längeren Suren an den Anfang, ohne Rücksicht auf die chronologische Reihenfolge, in der sie Mohammed angeblich offenbart wurden.

Die Suren lassen sich demnach vier Entstehungsperioden zuordnen. Die meist kurzen Suren der frühmekkanischen Periode (610– 615) gelten der Bekehrung der Ungläubigen; die der mittelmekkanischen Periode (615– 620) erzählen mehrheitlich von den Propheten der Hebräischen Bibel; die Suren der spätmekkanischen Periode (bis 622) sind durch viele rhetorische Wiederholungen gekennzeichnet; die Suren der medinischen Periode (622 bis zum Tod Mohammeds 632) wenden sich gegen Vielgötterei wie auch gegen Juden und Christen. Etwa 100 Verse, so haben diverse Islamwissenschaftler inzwischen nachgewiesen, sollen verloren gegangen oder bewusst eliminiert worden sein, nicht nur die berühmten »satanischen Verse«. Andere wurden aus politischen Gründen später hinzugefügt.

In den Anfängen von Mohammeds Erweckung gab es die Vorstellung einer direkten Beziehung des Gläubigen, von Mohammed zu seinem Gott. Die Eingebung, den Gläubigen direkt – ohne Vermittlung eines Priesters, einer Institution – mit Allah in Verbindung treten zu lassen, war revolutionär. Diese »göttliche Sekunde«, die das Einssein mit Allah als Ekstase und rein individuelle Erleuchtung erleben ließ, rief aber selbst in Mohammeds naher Verwandtschaft Verunsicherung hervor und stieß in der mekkanischen Gesellschaft auf Ablehnung. Denn damit tauchte in der kollektiv organisierten Stammesgesellschaft so etwas wie ein »Individuum« auf, der allein Gott verantwortliche Einzelne, dem sein Glaube Tugenden wie Demut und Dankbarkeit abverlangt. Diese Vorstellung einer individuellen Verantwortung fand keinen Widerhall, ja, sie wurde noch in Mekka geradezu in ihr Gegenteil verkehrt, wenn Mohammed im Koran die Menschen als triebhaft und böse erscheinen lässt und Furcht vor dem Einzigen verbreitet.

Diese Widersprüchlichkeit zieht sich durch den Islam: Einerseits gründet er im Kern auf den einfachen Annahmen, dass der Mensch direkt mit Allah in Verbindung steht und dass vor Gott alle Menschen gleich sind. Andererseits schien die Überzeugung zu bestehen, dass Gottes Herrschaft ohne irdischen Führer keinen Bestand haben würde. Nun kam die Umma ins Spiel. Die spirituelle Begeisterung des mekkanischen Mohammed wandelte sich noch in Mekka mit der »Himmelsreise«, seinem Aufstieg in Himmel und Hölle, und der Hidjra, dem Auszug von Mekka nach Medina, in das »System Islam«. Durch »Rechtleitung«, das Wissen über Gut und Böse und die »wahre Religion«, wurde der Einzelne der Herrschaft der Umma unterstellt und die Religion zum Herrschaftssystem. Davon zeugen die Suren der medinischen Periode, sie enthalten Gesetze, rituelle Vorschriften und administrative Anweisungen. Sie widersprechen zum Teil den Offenbarungen der mekkanischen Zeit – auch weil Mohammed inzwischen erkennen musste, dass sich weder die Juden noch die Christen zu seinem Glauben bekehren lassen wollten. Manche Ungereimtheiten im Koran mögen sich daraus erklären.

Oft berufen sich die Muslime nicht nur auf den Koran, sondern auf die Sunna, was so viel wie »Weg«, »Benehmen«, »Tradition« heißt, die in dem Heiligen Buch an zehn Stellen als »Sunna Gottes« auftaucht. Darunter werden die Verhaltensweisen des Propheten, seine Aussprüche und die von ihm praktizierten Bräuche verstanden, die in Hadithen13› Hinweis, den Prophetentraditionen, überliefert sind. Für den islamischen Theologen Al-Ghazali und andere frühe Rechtsgelehrte ist der Koran erste und letzte autoritative Quelle von Gottes Wort, und die Hadithe sind der für den Gläubigen richtige Weg, sich Gottes Willen zu nähern. Denn im Islam geht es nicht um Gotteserkenntnis, die Mohammed am eigenen Leib glaubte erfahren zu haben, sondern um bedingungslose Hingabe und die Unterwerfung unter Allahs Willen, die Mohammed nach der »Himmelsreise« predigte.

Aus dem Leben des Propheten

Nehmen wir einmal an, dass Mohammed gelebt hat. Sicher ist das nicht, denn alles, was wir über den Propheten wissen, fußt auf mündlicher Überlieferung und stammt aus zweiter oder dritter Hand. »Niemand weiß heute genau, welche Erzählungen über Mohammed wahr sind und welche als fromme Erfindung verstanden werden müssen«14› Hinweis, meint nicht nur der Islamwissenschaftler Hans Jansen aus Utrecht. Der erste Biograf, Ibn Ishaq (704–768), schrieb Mohammeds Leben erst 120 Jahre nach dessen Tod auf und berief sich dabei auf Personen, die jemanden kannten, der wiederum den Propheten noch gekannt haben könnte.15› Hinweis Sowohl in der islamischen Welt selbst wie auch unter westlichen Islamwissenschaftlern gibt es denn auch erhebliche Zweifel an der Echtheit der einschlägigen Quellen, und über ihre Deutung wird kontrovers diskutiert. Denn das Leben des »letzten Propheten« wurde überdies mit Mythen und Geschichten aus ganz anderen Traditionen16› Hinweis und anderen historischen Zeiten angereichert oder »überschrieben« und dann im Laufe der Zeit islamisch angepasst. Das gilt auch für die »Himmelsreise«, die einen jahrhundertealten persischen Vorläufer hat. Die zarathustrischen Priester erzählten in ihrer heiligen Schrift »Das Buch von Arda Viraf« eine bis in die Dialoge ähnliche Geschichte vom Aufstieg in Himmel und Hölle. Mohammed hätte Allahs endgültige Fassung einer auch in der Bibel stehenden Geschichte übermittelt, wobei Mohammed in der »Himmelsreise« ja selbst Protagonist der Geschichte ist. Dass die zarathustrische Erzählung wie auch die biblischen Geschichten, auf die für bestimmte Stationen von Mohammeds Leben zurückgegriffen wird, in Mekka bekannt waren, ist vielfach belegt.

Aber um eine kritische Überprüfung der Authentizität dessen, was uns aus dem Leben des Propheten und seinen Offenbarungen überliefert ist, geht es mir nicht. Denn unabhängig davon, wie »wahr« die einzelnen Episoden sind, haben sie eine Wirkungsgeschichte hinterlassen, die Realitäten geschaffen hat. Milliarden gläubiger Muslime auf der Welt folgen der islamischen Überlieferung, für sie existiert, woran sie glauben.

»Die nächtliche Reise«, die 17. Sure des Korans, beschreibt eine Begebenheit aus dem Leben Mohammeds im Jahr 620 n. Chr., die als Al-Isra in der Überlieferung der Muslime, der Sunna, fortlebt und Dichter und Maler inspiriert hat. In dieser Geschichte wird erzählt, wie der Erzengel Gabriel den Propheten eines Nachts auf eine Reise führte, zuerst nach Jerusalem, wo Mohammed die anderen Propheten traf, und dann auf die »Himmelsreise« (Al-Miradsch), durch die sieben Himmel zu Allah und ins Paradies.

In den tausend Wörtern dieser Erzählung ist alles enthalten, was den Islam im Folgenden ausmachen wird, seine Abgrenzung zu Juden- und Christentum, sein Weltbild, seine Ökonomie, seine politischen Ambitionen. In dieser Sure wird der Anspruch auf Herrschaft formuliert, den Bekehrten Beute versprochen, mit Allah gefeilscht und ein Rechtssystem aufgestellt, das die Frauen unter die Herrschaft der Männer zwingt.

Der Legende nach hat Mohammed die Vision von dieser Himmelsreise kurz vor seiner Flucht aus Mekka gehabt. Nachdem er mit seinen Bemühungen gescheitert war, Anhänger für seine monotheistische Religion zu gewinnen, entschloss er sich zur Hidjra, der Auswanderung nach Yathrib, das später Medina hieß – ein programmatischer Wendepunkt in der Geschichte des damals noch jungen Islam, der später als Beginn der islamischen Zeitrechnung gefeiert wurde.

Die »Himmelsreise« verdeutlicht vielleicht stärker als manche andere Legende, die sich um das Leben des »letzten Propheten« rankt, wie eng seine überlieferten Lehren mit seinen eigenen Erfahrungen und der wechselvollen politischen Geschichte der damaligen Zeit verbunden sind. Wer ihre Bedeutung verstehen will, muss die Vorgeschichte kennen: die Geschichte von Mohammeds Scheitern in Mekka.

Mekka und seine Göttinnen

Wir schreiben das Jahr 620 nach Christi Geburt. Mohammed, ein Kaufmann, ist fast fünfzig Jahre alt und predigt, beseelt von den ersten Offenbarungen, die er zehn Jahre zuvor empfangen hat, den Mekkanern seinen Glauben an den »einen Gott«. Aber er ist nicht der Einzige, der um die Aufmerksamkeit der Menschen buhlt, denn zu dieser Zeit gibt es in Arabien viele Religionsgemeinschaften, die Hunderte anderer Gottheiten verehren. Neben den »Buchreligionen« der Juden und Christen sind hier auch die Polytheisten vertreten, die männliche und weibliche Götter, Gestirne, heilige Steine und Bäume anbeten, an Geister und Dämonen glauben. Mehrheitlich setzen die in Stämmen organisierten Bewohner Mekkas allerdings auf die drei weiblichen Gottheiten Al-Lat, Al-Manat und Al-Uzza, die drei Schutzgöttinnen der Kaaba, denn sie sind die Hauptattraktion für die vielen Pilger, die in die Oasenstadt kommen. Alle Stämme konkurrieren deshalb um die Kontrolle über die Kultstätte Kaaba. Sie ist das kulturelle, politische und ökonomische Zentrum Mekkas, seine Geschäftsgrundlage.

Mohammed gehört durch die Heirat mit der Kauffrau Chadidscha zwar zu dem einflussreichen Stamm der Quraisch, hat aber, nachdem 619 seine Frau und auch sein Onkel, Pflegevater und Beschützer Abu Talib gestorben sind, keinen wirklichen Rückhalt in seiner Heimatstadt. Die Schar seiner Anhänger ist klein, und nun ist er auch noch ohne anerkannte Fürsprecher, nicht einmal sein eigener Stamm will ihm folgen – eine geradezu lebensgefährliche Situation in einer Gesellschaft, in der Stammesgesetze über Wohl und Wehe des Einzelnen bestimmen. In den Augen der anderen stellt seine monotheistische Lehre von dem »einen Gott« nicht nur »Brauch und Sitte« infrage, er verlangt von jenen, die dem neuen Gott dienen, auch noch, sich betend auf den Boden zu werfen und Almosen zu geben.

Vor allem aber sehen die anderen Stämme ihre Geschäfte bedroht. Ein einziger Gott, so fürchten Händler und Kaufleute, würde den Strom der Pilger ausdünnen, die Handel und Wohlstand in die Stadt bringen. Es kommt zu Auseinandersetzungen, Mohammed ist anfänglich kompromissbereit: Die drei Schutzgöttinnen, so habe ihm eine Offenbarung verkündet, seien ins Haus des Islam als »Töchter Allahs« zu übernehmen. Den Mekkanern scheint das zuzusagen, können sie so doch auch weiterhin ihre Göttinnen verehren. Aber nachdem Mohammed der Erzengel Gabriel erneut erschienen ist und erklärt hat, eine solche Deutung sei des Teufels, es gäbe nur einen Gott und der habe weder Töchter noch Söhne, widerruft Mohammed die »satanischen Verse«, die Göttinnen lässt er auslöschen.17› Hinweis Damit stellt er das ganze bisherige Wirtschafts- und Sozialgefüge des Pilgerortes infrage18› Hinweis und bringt die mächtigen Vertreter der Stadt gegen sich auf. Sie sehen ihre Interessen verletzt.

Langfristig allerdings wird sich Mohammeds Strategie als erfolgreich erweisen. Als der Prophet Jahre später Mekka zurückerobert, erhebt er die Kaaba zum islamischen Heiligtum, nimmt heidnische Riten in den islamischen Kult auf, erklärt Abraham und seinen Sohn Ismail zu Mekkanern, denen er den Bau der Kaaba zuschreibt, und ernennt die Hadsch, die Pilgerreise nach Mekka, zur Pflicht eines jeden Muslims. Das sollte sich als die beste Geschäftsidee des Kaufmanns Mohammed herausstellen – eine Jahrtausendidee. Auch heute noch ist Mekka mit der Kaaba für Abermillionen Pilger jährlich die größte Attraktion; das Gelände um sie herum wird gerade zur größten Devotionalienhandlung und Shoppingmall der Welt ausgebaut.

Hidjra nach Medina

Im Jahr 620 aber steht Mohammed, geht man den Legenden auf den Grund, vor dem Scherbenhaufen seines bisherigen Wirkens. Man drängt ihn, Mekka zu verlassen. Ein Teil seiner Anhänger siedelt bereits in Yathrib, dem späteren Medina, das nur wenige Tagesreisen von Mekka entfernt ist. Trotz der Gewissheit, von Gott berufen zu sein, sieht Mohammed ein, dass er die Verhältnisse in seiner Heimatstadt nicht ändern kann, und bereitet deshalb seine Auswanderung nach Yathrib vor. Dort hofft er mehr Verbündete gewinnen und größeren Einfluss erringen zu können und verhandelt deshalb mit den dortigen Stammesführern über eine Übersiedlung, denn die suchen gerade nach einem Schiedsmann für die dort lebenden, miteinander rivalisierenden Stämme. Mohammed scheint geeignet, verfügt er doch über Charisma, und außerdem ist seine Anhängerschaft nicht so groß, dass er eigene Herrschaftsansprüche stellen könnte.

Es ist eine schwere Entscheidung, die Mohammed nun zu treffen hat. Mit der Hidjra verlässt er seinen Stamm und damit den damals üblichen Schutzraum. Er kennt die Regel der Wüste: »Wer die Karawane verlässt, geht verloren. Eine Karawane, die auseinanderfällt, geht zugrunde.«19› HinweisAber er versteht es, aus der Not mangelnden Rückhalts in Mekka durch programmatische Umdeutung eine »Tugend«, eine Offensive zu machen: Nicht mehr der Stamm soll künftig das Ordnungsprinzip sein, das Schutz gewährt, sondern der Glaube, zu dem sich die zunächst lokale, später globale Gemeinschaft der Gläubigen, die Umma, zusammenfindet. Sie wird ermächtigt, nach den Geboten Gottes über Gut und Böse zu richten und die Einhaltung des Gesetzes zu überwachen. Über alle ethnischen Grenzen hinweg sollen von dem einen Gott bestimmte Regeln und Gesetze gelten, die notfalls mit dem Schwert durchzusetzen sind.

In dieser schwierigen existenziellen Situation hat Mohammed seine Vision, die wir als »nächtliche Reise« kennen. Ibn Ishaq erzählt von dieser Reise ähnlich, wie sie auch in unterschiedlichen Hadithen kolportiert wird: Mohammed schläft in der Kaaba, andere sagen: im Haus einer Bekannten, als der Erzengel Gabriel zu ihm kommt, ihn weckt, auf ein weißes Reittier mit Flügeln setzt und mit ihm nach Jerusalem reitet: »Der Prophet ritt zusammen mit Gabriel bis nach Jerusalem. Dort fand er Abraham, Moses und Jesus inmitten anderer Propheten. Mohammed trat als Vorbeter vor sie hin und betete mit ihnen. Sodann wurden ihm zwei Gefäße gebracht, das eine mit Wein gefüllt, das andere mit Milch. Der Prophet nahm das Gefäß mit der Milch und trank davon. Das Gefäß mit dem Wein aber ließ er stehen. Da sprach Gabriel zu ihm: ›Rechtgeleitet wurdest du für die Schöpfung und rechtgeleitet wurde dein Volk, oh Mohammed! Der Wein ist euch verboten.‹«

Diese eigentlich triviale Begebenheit – die Entscheidung zwischen Milch und Wein – wird im Verlauf der weiteren islamischen Geschichte zum Abgrenzungsmerkmal der Muslime gegenüber Christen und Juden, gegenüber allen »Ungläubigen« und »Unreinen«. Letztlich begründet die Unterscheidung, wie wir noch sehen werden, den Überlegenheitsanspruch des Islam über die beiden anderen monotheistischen Religionen, mit denen er den abrahamitischen Ursprung gemein hat.

Durch sieben Himmel

Im Anschluss an die nächtliche Reise, so Ibn Ishaq, findet Mohammeds »Himmelsreise« statt, die Nacht, in der der Koran als Ganzes »herabgesandt« (Sure 97) worden sein soll. Nach Ibn Ishaq befindet sich die »Himmelsleiter«, auf die Mohammed steigt, nachdem ihm Gabriel bei den Engeln Einlass verschafft hat, auf dem Tempelberg, in der heiligen Stadt Jerusalem. Auf seiner Reise durch sieben Himmel entwickeln sich grundlegende Elemente der islamischen Lehre.

Im ersten Himmel sieht er Menschen mit Lefzen wie Kamele, andere schlucken Glut. Das seien Männer, die das Vermögen von Waisenkindern veruntreut haben, Wucherer, Huren und Frauen, die ihren Männern außerehelich gezeugte Kinder untergeschoben haben, wird ihm gesagt. Hier werden sie – es ist der einzige Ort, an dem ihm Frauen begegnen – offensichtlich ihrer Bestrafung zugeführt.

Im zweiten Himmel trifft er Jesus und Johannes den Täufer, im dritten Josef, im vierten