Woran erkannt man eine Depression?

Beispiel 1

Herr Schmidt hat sich in letzter Zeit verändert. Er ist über längere Zeit antriebslos und hat zu nichts Lust. Seine Lebensfreude ist ihm über große Strecken verloren gegangen. Alte Hobbys interessieren ihn nur noch wenig. Seine Familie macht sich große Sorgen um ihn. Nachts kann er nicht mehr richtig schlafen; er liegt oft stundenlang da und seine Gedanken kreisen immer wieder um dieselben Sorgen. Vereinzelt ertappt er sich sogar bei sehr negativen Phantasien über ein mögliches Lebensende. Herr Schmidt hat auch kaum noch Appetit und er geht nur noch selten mit den Kollegen zusammen essen. Er nimmt deutlich an Gewicht ab. Langsam macht ihm der Zustand Angst, weil er ihn nicht richtig kontrollieren kann. Hinzu kommen Schuldgefühle und ein schlechtes Gewissen. Zum Teil erlebt er sich als Versager. Manchmal ärgert Herrn Schmidt dieser Zustand auch; er wird dann richtig wütend und verliert die Beherrschung. Seine Kollegen nehmen ihn dann als gereizt und aufbrausend wahr, ihn, der früher immer als sehr ausgeglichen galt. Bei der Arbeit kommt es zu Konzentrationsstörungen und Fehlentscheidungen, sodass der Herr Schmidt noch weniger Selbstwertgefühl hat. Schließlich bittet ihn sein Vorgesetzter zu einem Gespräch und man vereinbart, dass sich Herr Schmidt Hilfe bei einem Arzt sucht.

Herr Schmidt aus unserem Beispiel leidet an einer Depression. Er ist damit nicht alleine. Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass die Depression schon bald eine der häufigsten Erkrankungen überhaupt sein wird. In Deutschland schätzt man, dass durchschnittlich jeder zehnte Bürger an einer Form von Depression erkrankt ist (die sogenannte Prävalenz), wobei leichte und schwere Verlaufsformen unterschieden werden. Man rechnet außerdem mit einer hohen Dunkelziffer, d. h., viele Depressionen werden nicht richtig erkannt. Schauen wir uns dazu das nächste Beispiel an:

Beispiel 2

Frau Müller ist schon älter. Sie ist verwitwet und vereinsamt. Sie hat immer wieder diverse körperliche Symptome, mit denen sie sich regelmäßig beim Hausarzt vorstellt, z. B. ein Druck- und Engegefühl in der Brust. Ihr Rücken schmerzt und sie ist häufig verspannt. Hinzu kommen Kopfschmerzen, Schwindel und Atembeschwerden. Manchmal ist ihr übel und sie hat oft keinen Appetit. Ihr Hausarzt kann allerdings keine organische Ursache entdecken. Er deutet die Beschwerden als „alterstypisch“ und führt sie zum Teil auf Nebenwirkungen von Medikamenten zurück, die Frau Müller einnimmt.

Auch Frau Müller leidet an einer Depression, die sich aber auf der körperlichen Ebene ausdrückt und nicht die klassischen Melancholiesymptome aufweist. Fachleute nennen die körperlichen Symptome einer Depression auch „Somatisierung“ (übersetzt: „Verkörperlichung“). Das liegt daran, dass Körper und Seele zwei Seiten einer Münze sind und sich gegenseitig beeinflussen.

Fortsetzung Beispiel 2

Frau Müller ist eine starke Frau, die den Krieg mitgemacht und alle möglichen Entbehrungen kennengelernt hat. Sie hat es gelernt, keine Schwäche zu zeigen und niemanden mit ihrem seelischen Befinden zu belasten. Sie hat ihre Probleme mit sich selbst ausgemacht und in sich hineingefressen. Erst jetzt, im Alter, kommen manchmal belastende Erinnerungen hoch. Frau Müller glaubt aber, dass das zum Leben gehört und man sowieso nichts dagegen tun kann. Sie käme daher auch nicht auf die Idee, z. B. bei einem Psychologen um Rat zu fragen.

Herr Schmidt und Frau Müller sind zwei typische Beispiele für eine Depression. Im Volksmund kennt man noch eine dritte Form: Man redet von „himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt“. Was ist damit gemeint?

Beispiel 3

Herr Schulze geht zu seinem Bankberater und bittet um einen ungewöhnlich hohen Kredit. Er habe eine neue Geschäftsidee, die todsicher sei. Herr Schulze ist in dem Gespräch verhaltensauffällig. Der Bankberater merkt, dass er „überdreht“ wirkt. Er sprudelt mit unzähligen Ideen heraus und plant mehrere Projekte gleichzeitig. Seine Risikobereitschaft ist dabei völlig überzeichnet und Herr Schulze überschätzt sich und seine Fähigkeiten um ein Vielfaches. Zum Glück hat der Bankberater von Herrn Schulze auf einer Schulung von solchen Fällen gehört, sodass er nicht darauf eingeht und versucht, Zeit zu gewinnen. Er schlägt einen neuen Termin vor. Tatsächlich ist Herr Schulze beim Folgetermin nicht mehr so euphorisch, sondern wesentlich „gebremster“. Zu den ursprünglichen Ideen besteht nun viel mehr Abstand und er wirkt eher bedrückt und völlig gegenteilig im Vergleich zum letzten Termin. Es stellt sich heraus, dass Herr Schulze inzwischen auf Drängen seiner Familie einen Therapeuten aufgesucht hat.

Herr Schulze leidet an einer wesentlich selteneren Form der Depression, einer sogenannten „bipolaren Störung“. Das heißt, er schwankt zwischen zwei Polen: auf der einen Seite einer Depression, die wir auch schon in den ersten beiden Beispielen kennengelernt haben, und auf der anderen Seite eine „Manie“ oder manische Phase, gekennzeichnet durch übersteigerten Antrieb, Ideenflut und Selbstüberschätzung mit erhöhter Risikobereitschaft. In der manischen Phase erlebt sich der Betroffene meist nicht als krank, sondern hält sich für besonders kreativ und energiegeladen. Meistens müssen die Familie und der Freundeskreis einschreiten und für eine Behandlung sorgen.

Beispiel 4

Blicken wir nun noch auf Frau Meier. Man kennt sie im Kollegium als „missmutig“ und oft schlecht gelaunt. Sie ist in ihrer Grundstimmung eher pessimistisch und dem Leben gegenüber sehr skeptisch. Auch Frau Meier fühlt sich oft niedergeschlagen und „müde“. Manchmal plagen sie auch Ängste und Unsicherheitsgefühle. Insgesamt sind die Symptome aber schwächer als in den anderen Beispielen und Frau Meier hat auch Phasen, in denen sie sich als „glücklich“ erlebt. Sie kann außerdem ihrer Arbeit nachgehen und ihren Alltag bewältigen, sodass auch ihr Umfeld nicht auf die Idee käme, dass Frau Meier an einer leichteren Form der Depression leidet, einer sogenannten „Dysthymie“.

Wir haben jetzt die wichtigsten Spielarten einer Depression kennengelernt. Eine Depression kann außerdem unterschiedlich verlaufen. Verläuft sie „unipolar“, wie in Beispiel 1, spricht man von einem einmaligen Ereignis oder einer Episode. Die Depression kann aber auch mehrere Episoden umfassen und sich wiederholen, wie in Beispiel 2. Die Stimmung kann zwischen den beiden Polen hin und her schwanken, wie in Beispiel 3, oder unterschwellig anhaltend sein und sich immer mal wieder intensivieren, wie in Beispiel 4. Zusätzlich wird noch unterschieden, wie schwergradig die depressiven Symptome sind, also ob man nur wenige Symptome hat, über einen kurzen Zeitraum, oder mehrere Symptome und diese vielleicht auch noch besonders stark und über einen längeren Zeitraum. Fachleute sprechen dann von leichten oder schweren depressiven Episoden.

Grundsymptome:

Zusatzsymptome:

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Bei leichter bis mittlerer Depression bestehen mindestens zwei, bei schwerer Depression alle drei Grundsymptome (s. Aufzählung). Von den Zusatzsymptomen bestehen bei leichter Depression mindestens zwei, bei mittlerer mindestens drei und bei schwerer Depression mindestens vier. Körperliche Symptome wie in Beispiel 2 können bei allen Schweregraden vorhanden sein.

Alltagsbewältigung als weiterer Hinweis

Als Richtwert und zusätzliche Daumenregel für die Beurteilung des Schweregrades gilt, ob der Betroffene seinen Alltag noch bewältigen kann oder nicht. Leichte Störung: Häusliche, familiäre und berufliche Verpflichtungen können noch aufrechterhalten werden. Mittlere Störung: Aufrechterhaltung nur noch unter er-heblichen Schwierigkeiten Schwere Störung: Die Betroffenen können ihre häuslichen, familiären und beruflichen Verpflichtungen überhaupt nicht mehr nachkommen. Die depressiven Symptome sind fast immer vorhanden. Meistens besteht auch ein erhöhtes Selbstmordrisiko. Eine stationäre Krankenhausbehandlung ist hier unausweichlich.

Der Selbsttest oder: Bin ich selbst betroffen?

Sicherlich sind Sie nun neugierig geworden, ob Sie selbst oder jemand in Ihrem Umfeld betroffen ist. Es gibt dazu verschiedene Fragebögen unterschiedlicher Qualität, die allerdings wegen urheberrechtlicher Gründe nicht ohne Weiteres hier abgedruckt werden können. Ich habe Ihnen Auszüge aus verschiedenen Fragebögen zusammengestellt. Ganz allgemein gilt, dass Ihr Depressionsrisiko erhöht ist, wenn Sie mehrere Fragen mit Ja beantworten. Je mehr Fragen positiv beantwortet sind, desto höher das Risiko und umgekehrt. Falls Sie bei dem Test ein erhöhtes Risiko feststellen, insbesondere bei Selbstmordgedanken, empfehle ich Ihnen dringend, sich in ärztliche und psychotherapeutische Behandlung zu begeben.

Selbstaussagen bezogen auf den Zeitraum der letzten vier Wochen:

Trifft zu

Ich bin trauriger als sonst.

Meine Zukunft sieht nicht gut aus.

Ich habe in letzter Zeit oft versagt.

Das Leben macht in letzter Zeit keinen Spaß mehr.

Ich kann mich selbst nicht leiden.

Ich bin hässlich/sehe hässlich aus.

Ich habe oft ein schlechtes Gewissen.

Ich mache mir viele Vorwürfe.

Ich denke manchmal an Selbstmord.

Ich muss häufig weinen.

Ich bin reizbarer und aggressiver als sonst.

Ich esse nur noch wenig und habe abgenommen.

Ich habe kein Interesse mehr an Sexualität.

Menschen sind mir egal geworden und ich ziehe mich immer mehr zurück.

Ich bin dauernd müde.

Ich habe starke Schlafstörungen.

Ich muss mich zu den meisten Tätigkeiten antreiben und zwingen.

Ich kann mich schlechter entscheiden als sonst.

Ich bin unkonzentrierter als sonst.

Ich habe viele körperliche Beschwerden, für die mein Hausarzt keine Ursache findet.

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Umgekehrt sollten Sie diesen kleinen Test auch nicht überbewerten. Jeder kann mal einen oder zwei schlechte Tage haben. Das ist noch keine Depression! Wie Sie aus dem bisher Gesagten ja schon entnommen haben, müssen die Symptome über einen langen Zeitraum bestehen und in ihrer Häufigkeit einen Trend zur Zunahme aufzeigen.

Unterschied zum Burn-out

In einem Buch über Depressionen darf natürlich ein Kapitel über das Burn-out-Syndrom nicht fehlen.

Die Lager der Fachleute zu diesem Thema sind gespalten. Die einen halten das Burn-out-Syndrom für ein ganz neues Phänomen der heutigen Zeit, das durch die Komplexität des modernen Lebens immer mehr zunimmt und noch nicht ausreichend verstanden wird. Die anderen halten den Begriff „Burn-out“ nur für eine Mode und sehen darin nichts anderes als eine Spielart der Depression (also keine eigenständige Erkrankung). Immerhin empfiehlt inzwischen selbst eine Fachgesellschaft wie die DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde) eine Depression zusätzlich mit dem „Risikofaktor“ Burn-out (in diesem Fall die Ziffer Z 73.0) zu verschlüsseln, wenn eine erhöhte berufliche Überbelastung höchstwahrscheinlich im Zusammenhang damit vorliegt oder vorgelegen hat.

Blicken wir einmal auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Krankheitsbilder:

Es ist richtig, dass die beiden Krankheitsbilder viele sehr ähnliche Symptome haben, die sich teilweise überlappen. Besonders in der Spätphase ist eine Depression vom Burnout kaum noch zu unterscheiden. Zumindest in diesem Punkt sind sich die Fachleute einig.

Einem Burn-out geht aber meistens eine Phase erhöhter Aktivität voraus, weil der Betroffene sehr stark dem Leistungsprinzip („höher, schneller, weiter“) folgt. Das heißt, es besteht vorher ein hohes Selbstwertgefühl und eine erhöhte Leistungsbereitschaft. Dadurch überschreitet ein Burn-out-Kandidat über einen längeren Zeitraum seine eigenen Grenzen und seine Kräfte. Es wäre somit die Krankheit der „Macher und Leistungsträger“.

Ein von einer Depression Betroffener würde eher weniger von sich überzeugt sein und ein geringeres Selbstwertgefühl haben (siehe Stichwort: „erlernte Hilflosigkeit“ auf Seite 20). Das Gefühl der inneren Leere kann daher schon viel früher bestehen und stellt sich nicht erst nach völliger Verausgabung ein. Das Leistungsprinzip würde einen depressiven Patienten eher wenig interessieren. Eine Depression ist oft unabhängig von äußeren Ereignisse.

Der Betroffene kann meist nicht sagen, warum er depressiv ist, es gibt keinen eindeutigen Auslöser. Beim Burn-out sind es meistens die Rahmenbedingungen, die gepaart mit hohem Ehrgeiz irgendwann zur Erschöpfung führen. Man kann den Auslöser relativ schnell identifizieren. Daher sagen manche Autoren, dass das Burn-out immer „kontextbezogen“ (meist arbeitsbedingt) ist, während eine Depression von innen heraus, „kontextunabhängig“ sein kann. Ein „Ausbrenner“ kennt aus der Zeit vor dem Burn-out und dem übermäßigen Energieverbrauch lange unbeschwerte Lebensabschnitte. Ein Depressiver kann auch vorher schon ohne anhaltende Belastungen zur Melancholie geneigt haben. So zumindest die sehr stark vereinfachende Betrachtung.

Ein Burn-out ist oft auf einen bestimmten Lebensbereich beschränkt (z. B. die Arbeit). Der Betroffene kann sich am Anfang noch ausreichend von den Stressoren distanzieren und Ausgleich finden (z. B. in Hobbys). Eine Depression betrifft hingegen alle Lebensbereiche, sowohl Beruf als auch Privatleben. Wie schwierig und künstlich hier die Unterscheidung ist, sieht man daran, dass auch beim Burn-out früher oder später die anderen Lebensbereiche zwangsläufig mit betroffen sind.

Trotzdem wird gerne die Metapher gebraucht, dass bei einem Millionengewinn im Lotto das Burn-out schnell vorbei sei, während der Depressive sich selbst daran nicht erfreuen könne und weiter in seiner Depression verbleibe.

Die Unterschiede in der Entstehung sind wichtig für die Behandlung, weil ein depressiv Erkrankter vor allem eine Stimmungsaufhellung und eine Antriebssteigerung benötigt. Der von Burn-out Betroffene benötigt gerade das Gegenteil, also eine Ausbalancierung seiner Kräfte, die sogenannte „Work-Life-Balance“, viel Entspannung und Ruhe. Eine erneute Antriebssteigerung und übersteigerte Aktivität würden den Burn-out nur unnötig verstärken. Ein Urlaub hilft einem Burn-out-Patienten, sich zu distanzieren und innezuhalten, ist also eine Art „Puffer“, um sich zu regenerieren und neu zu sortieren. Ein Depressiver nimmt seine Depression mit in den Urlaub, d. h., es tritt höchstwahrscheinlich keine Veränderung ein. Während der Burn-out-Patient viel Ruhe, Erholung und Schlaf benötigt, würden vermehrter Schlaf und viel Ruhe eine Depression wahrscheinlich noch mehr verstärken. Ein Depressiver benötigt viele kleine Aufgaben, die seiner Existenz wieder einen Sinn geben; er muss seine Lethargie überwinden. Ein Burn-out-Patient hingegen muss mehrere Gänge runterschalten und sein Leben ruhiger angehen. Letztendlich kann ein guter Kliniker durch eine genaue Erhebung der Krankengeschichte ziemlich genau sagen, ob eher die Kriterien für ein Burn-out-Syndrom oder eher die einer Depression erfüllt sind.

Hier noch einmal die Unterschiede in der Übersicht:

Burn-out

Depression

Erschöpfung

Freudlosigkeit

Baut sich langsam auf

Ist plötzlich da

„Kämpfer“

„Erlernte Hilflosigkeit“

Erhöhter Energieverbrauch

Verminderter Antrieb

Selbstbewusst

Wenig Selbstwertgefühl

Kontextabhängig

Kontextunabhängig

Nur ein Bereich

Übergreifend

Vorher unbeschwerte Phasen

Schon öfter melancholische Phasen in der Vorgeschichte

Erkennbare Ursache

Manchmal „endogen“,

ohne ersichtlichen Auslöser

Benötigt Regeneration und Ruhe

Benötigt Aufmunterung

und Antriebssteigerung

Keine eigene anerkannte Diagnose, sondern ein

„Risikofaktor“

Eigenständige Diagnose

Was sind die Ursachen?

Kommen wir nun zu den Ursachen einer Depression. Fachleute gehen von mehreren möglichen Ursachen aus:

Erbfaktoren

Befürworter der Erbtheorie haben in Zwillingsstudien ein erhöhtes Erbrisiko nachgewiesen. In Familien mit mehreren an einer Depression erkrankten Familienmitgliedern scheint das Risiko erhöht zu sein. Es kann aber auch sein, dass das depressive Verhalten „erlernt“ ist und man es sich von den anderen depressiven Familienmitgliedern sozusagen „abgeguckt“ hat.

Seelische Belastungen