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Inhalt

Dieses Buch ist Peter Mathews gewidmet. Ohne die Auseinandersetzung mit ihm, ohne seine Fragen, seine Ermutigung, seine Hilfe hätte ich es nicht schreiben können. Dafür danke ich ihm. In Liebe.

Vorwort

Einige Wochen nach Erscheinen meines Buches, am 7. Februar 2005, wurde die 23-jährige Kurdin Hatun Sürücü ermordet. Ihre drei Brüder wurden kurz darauf verhaftet und angeklagt, die Tat gemeinsam begangen zu haben. Der Verdacht der Polizei: Die Schwester musste sterben, weil die mutmaßlichen Täter meinten, sie habe durch ihre Lebensweise die »Ehre der Familie« beschmutzt. Der älteste Bruder soll die Waffe besorgt, der zweite Schmiere gestanden und der Jüngste der Schwester in den Kopf geschossen haben. Es war der fünfte so genannte »Ehrenmord« in Berlin in Jahresfrist.

Hatun war in Berlin geboren und von ihren Eltern als 16-Jährige mit einem Cousin in Istanbul zwangsverheiratet worden. Sie bekam einen Sohn, konnte sich aber von ihrem gewalttätigen Mann lösen und nach Berlin zurückkehren. Sie kam zuerst in einem Wohnheim unter und begann eine Lehre. Später hatte sie ihre eigene Wohnung, vor der sie dann ermordet wurde.

Ich habe den Prozess beobachtet. Die Anwälte der Brüder hatten sich eine feine Strategie ausgedacht. Sie präsentierten zu Prozessbeginn den jüngsten Bruder Ayhan als Einzeltäter. Als Jugendlicher kann er für den Mord nur mit maximal zehn Jahren und nicht mit Lebenslänglich bestraft werden. Er bedauere, seiner Familie Unglück bereitet zu haben, sagte er, und bereue die Tat. Sein Geständnis und die Einlassungen der beiden anderen Angeklagten wurden nicht von ihnen selbst, sondern von ihren Verteidigern verlesen, die dem Gericht mitteilten, dass die Angeklagten lieber schweigen wollen. Und das ist auch während des ganzen Prozesses so geblieben. Kein Familienangehöriger hat ausgesagt, weder die Angeklagten noch die Eltern, noch die Schwestern und Schwägerinnen. Niemand fand sich bereit, auch nur ein Wort zu Hatuns Verteidigung zu sagen. Zur Strategie der Verteidiger gehörte es ferner, die Aussa gen der Kronzeugin der Anklage, der ehemaligen Freundin von Ayhan, zu widerlegen. Sie setzten alles dran, die 18-Jährige unglaubwürdig erscheinen zu lassen, ihr gar eine Mitschuld zu unterstellen. Stundenlang versuchten sie, die junge Frau in Widersprüche zu verwickeln. Unter dem Gejohle der Angeklagten wurde sie gefragt, warum sie denn auf einmal Angst habe vor Ayhan, der sie doch heiraten wolle, ob ihr die Antworten, die sie jetzt gebe, in der Therapie beigebracht worden seien.

Der Täter soll gesagt haben, er könne seit dem Mord wieder ruhig schlafen, weil er seinen Vater nicht enttäuscht habe. Im Sinne der Familientraditionen und mit Hilfe des Korans hatte Ayhan nicht seine Schwester ermordet, sondern ein Problem gelöst. Die Söhne sind in diesen Kreisen der dem Kollektivgedanken des Clans verhafteten Menschen die Ordnungsmacht der Familien. Sie dürfen den Vater nicht enttäuschen, sie haben versagt, wenn die Schwester oder Frau nicht gehorcht. Der Jüngste hat mit der Beseitigung der Schwester die Schande von der Familie genommen.

Arzu, Hatuns Schwester, trat als Nebenklägerin in diesem Prozess auf – ein Kuriosum, das offenbar dem Zweck diente, ständig vollständige Akteneinsicht zu haben, um den Brüdern hilfreich zur Seite zu stehen. Arzu ging es nicht darum, ihrer Schwester Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. »Meine Schwester ist im Paradies. Ihr geht es gut«, sagte sie lächelnd unter dem stramm gebundenen Kopftuch. Es ging ihr auch nicht um die Rechte des kleinen fünfjährigen Sohnes von Hatun, dem die Mutter genommen wurde. Azun verteidigte – und auch das gehört zur archaischen Tradition – die Männer der Familie.

Hatun wurde zwangsverheiratet, geschlagen, eingesperrt und zum Schluss ermordet. Alles unter Berufung auf die Tradition und den Koran. Hatun wollte leben wie eine Deutsche. Das wurde ihr zum Verhängnis. Die Schüsse in ihren Kopf galten unserer Gesellschaft.

In diesem Buch berichte ich aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland, über Zwangsheirat und arrangierte Ehen, ich erzähle von Frauen, denen ihre Familien die elementarsten Rechte verweigern. Der Mord an Hatun Sürücü ist die extremste Form der Verachtung, die diesen Frauen entgegengebracht wird. Wovon ich berichte, gehört dagegen eher zum Alltag vieler türkischer Frauen.

Trotzdem hat das Buch seit seinem Erscheinen eine heftige öffentliche Diskussion ausgelöst, wohl weil es gegen eines der bestgehüteten Tabus der türkischen Gemeinschaft verstößt – es macht das Schicksal der gekauften Bräute öffentlich, die mitten in Deutschland ein modernes Sklavendasein führen.

Das Buch hat mein Leben verändert. Für die einen bin ich seitdem diejenige, die endlich die Dinge beim Namen nennt; für andere bin ich eine Kronzeugin jener Ewiggestrigen, die immer schon etwas gegen Ausländer und besonders gegen Muslime hatten. In türkischen Medien galt ich nach Erscheinen des Buches als Nestbeschmutzerin, als eine, die »uns schlecht macht«.

Ich war nicht die einzige Persona non grata – ein ähnliches Urteil traf die in Berlin praktizierende Anwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ates sowie Serap Cileli, die sich mit einem Bericht über ihre Zwangsheirat ebenfalls engagiert für Frauenrechte eingesetzt hatten. Wochenlang waren wir drei Gegenstand einer bösartigen Medienkampagne von türkischer Seite. Ein türkischer Reporter machte sich auf die Suche nach den Frauen, von deren Schicksal ich in diesem Buch erzähle. Deren Identität hatte ich aus gutem Grund verändert. Aber in Moscheekreisen hatte sich herumgesprochen, in welchen Gemeinden ich die Frauen getroffen und mit ihnen gesprochen hatte. »Die Frauen hatten danach keine Angst vor der Öffentlichkeit, sondern vor ihren Männern«, berichtete mir der Hodscha jener Moschee, die die meisten dieser Frauen besuchten. Er wurde inzwischen ebenso in eine andere Gemeinde versetzt wie die Frau Hodscha, die die Frauenarbeit in der Moschee organisiert hatte. Obwohl zum Freitagsgebet immer zwei- bis dreihundert Männer gekommen waren, wurde die Moschee inzwischen »mangels Bedarfs« geschlossen; der Vereinsvorsitzende, der mir die Vorstellung meines Buches in den Räumen des Kulturvereins der Moschee ermöglicht und sich dabei über die Weisung des Religionsattachés des türkischen Konsulats hinweggesetzt hatte, wurde – offiziell natürlich aus anderen Gründen – abgesetzt.

Aber ich habe auch viel Zustimmung erhalten. Ich bekomme Briefe von Frauen, die mir von ihrer Zwangsverheiratung erzählen; Strafgefangene, die mit dem hiesigen Gesetz in Konflikt geraten sind, bitten um Rat; Lehrerinnen flehen mich an, eine ihrer Schülerinnen vor der frühen Verheiratung zu bewahren; aber es sind auch viele hoffnungsfrohe Briefe in meiner Post von Frauen und Männern, die Mut gefasst haben, ihren eigenen Weg zu gehen. Und selbst die türkische Zeitung, die sich anfangs so vehement gegen mein Buch gewehrt hatte, initiierte einige Monate später eine Kampagne »gegen Gewalt in der Familie« und befragt seit Monaten täglich auf ganzen Seiten beruflich erfolgreiche Türkinnen zu den Themen Gewalt und Selbstbestimmung. Es tut sich etwas.

Auch die deutsche Politik hat sich des Themas angenommen. Die große Koalition hat gesetzliche Maßnahmen gegen Zwangsheirat angekündigt, unter anderem soll das Zuzugsalter bei Familienzusammenführungen auf 21 Jahre erhöht werden – ein erster richtiger Schritt in Richtung einer anderen Integrationspolitik, die die Integration fördert, aber von den Migranten auch fordert, sich zu diesem Land, seinen Gesetzen und Werten zu bekennen. Und eben das hat auch Gegner auf den Plan gerufen.

Im Februar 2006 kritisierten 60 »Migrationsforscher«, ich hätte »Einzelfälle zu einem gesellschaftlichen Problem aufgepumpt, nur um mir unverdiente Aufmerksamkeit zu erschleichen. Würden sie Schulen, Beratungsstellen, Frau enärzte oder Moscheen besuchen und das Gespräch mit den Frauen suchen, würden sie erfahren, dass es in diesem Land verbreitet Zwangsheirat, Gewalt in der Ehe, Vergewaltigungen und sogar die Mehr-Ehe gibt; dass es kurdische Familienväter gibt, die ihre minderjährigen Nichten nach Deutschland holen, sie als ihre Töchter ausgeben – dabei Kindergeld beziehen – und mit ihnen in Polygamie leben. Ich empfehle darüber hinaus die Lektüre der Studie des Frauenberatungszentrums SELIS vom Stadtrat von Batman in Ost-Anatolien von Ende Januar 2006. Diese Studie berichtet, dass 62 Prozent der Frauen von ihren Familien verheiratet wurden, ohne vorher nach ihrer eigenen Meinung gefragt worden zu sein. »Einzelfälle«?

1991 hat der Ethnologe Werner Schiffauer seine Studie »Die Migranten aus Subay« veröffentlich – ein Meilenstein der Migrationsforschung. Anhand von acht Menschen, deren Schicksal er auf ihrem Weg von Anatolien bis nach Deutschland verfolgte, zog Schiffauer seine Schlüsse über »die Türken in Deutschland«. Er ging damals davon aus, dass der Weg der Einwanderer in die Moderne unaufhaltsam mit einer Ablösung von ihrer Herkunftskultur und ihrer Neuorientierung an den Werten der westlichen Gesellschaft verbunden sei. Die politisch Aufgeschlossenen der Bundesrepublik sind nur zu gern dieser Theorie gefolgt, sie schien das Versprechen zu beinhalten, die Integration der Türken und Muslime erledige sich gleichsam »von selbst«. Die Wirklichkeit hat diese Theorie inzwischen widerlegt.

Auch ich habe noch in meiner 2002 erschienenen Dissertation über »Islam im Alltag« ähnlich wie Schiffauer gedacht und die Macht des islamischen Weltbildes sträflich unterschätzt. Aber ich habe in den letzten zehn Jahren genau hingesehen und die Veränderungen registriert, die seitdem zu beobachten sind. Als ich 1995 in Berlin Kopftuch tragende junge Türkinnen interviewen wollte, musste ich selbst in Berlin-Kreuzberg lange suchen, um überhaupt die eine oder andere »Verschleierte« anzutreffen. Geht man heute zum Kottbusser Tor in Kreuzberg, findet man kaum noch eine muslimische Frau ohne Kopftuch.

Auch die 60 »Migrationsforscher« hätten solche Veränderungen registrieren können. Gerade sie hätten die Fragen stellen können, die ich gestellt habe – oder auch andere. Für sie stand allerdings nie die Frage der Integration im Zentrum ihres Interesses – die erledigte sich ja angeblich von selbst –, sondern eher die Frage, wie man die Herkunftsidentität der Migranten bewahren und schützen kann. Deren »eigene Kultur« wurde immer wieder als Rechtfertigung bemüht, wenn es um Praktiken ging, die frauenfeindlich und menschenrechtsverletzend sind, etwa dass die Söhne muslimischer Migranten auf eine starre Kultur der Ehre verpflichtet oder die Töchter in die Türkei an einen Ehemann verkauft werden. Die 60 »Migrationsforscher« hätten in den vergangenen Jahrzehnten die Mittel und den Apparat gehabt, die Probleme von Zwangsheirat, arrangierten Ehen und Ehrenmorden zu untersuchen und damit einen Beitrag zur Integrationspolitik zu leisten. Das haben sie nicht getan. Sie gefielen sich in der Rolle vermeintlicher Fürsprecher der Muslime, deren Probleme aber haben sie nicht sehen wollen. Damit haben sie ein Tabu akzeptiert, die Verletzung von Menschenrechten und das Leid anderer zugelassen.

Bei den Recherchen zu diesem Buch habe ich mir auch angesehen, wie die Nachbarländer Deutschlands mit der Integration muslimischer Bürger umgehen. Die Politik der Niederlande scheint mir – neben der der skandinavischen Länder – mit ihrem eindeutigen Bekenntnis zu den Errungenschaften der Demokratie und mit ihrer liberalen, aber durch Prinzipien geprägten Praxis in vielem weiter zu sein als die deutsche Politik.

Die Niederländer haben aus dem Mord an dem holländischen Filmemacher Theo van Gogh gelernt. Auch für mich war mit diesem Verbrechen jede Hoffnung zerstört, dass es zwischen dem gelebten Islam und einer zivilen Gesellschaft auf absehbare Zeit einen konstruktiven Dialog geben kann. Da helfen auch die Vorhaltungen einiger Muslime und Islamversteher nicht weiter, die nach Erscheinen meines Buches in Deutschland immer wieder behaupteten, dass das, was ich über den Islam schreibe, nichts mit »dem« Islam zu tun habe. Ich würde Falsches über den Propheten und über die türkischen Muslime verbreiten. Nur hat mir bisher keiner der Religionswächter oder Türkenretter nachweisen können, wie denn der »echte« oder »wahre« Islam im Gegensatz zu »meinem« Bild beschaffen sei. Dabei gibt es in der Tat gravierende Unterschiede zwischen uns: Für die selbsterklärten Hüter der Religion ist der Koran »heilig«, er kommt direkt von Allah und gilt Wort für Wort. Aber wer sich weigert, den Koran als historisches Dokument zu sehen, wer sich weigert, den Propheten als einen Mann aus der Mitte des 7. Jahrhunderts zu erkennen, der unter bestimmten Umständen und Verhältnissen gelebt hat, die auf das Hier und Heute nicht übertragbar sind, der plädiert auch für die Scharia und eine Welt, in der Frauen nicht die gleichen Rechte wie die Männer haben. Wer nicht nur den Koran, sondern auch den Propheten und die Überlieferungen, also praktisch die gesamte religiöse Praxis für »heilig« hält und Kritik daran als Blasphemie ächtet, verweigert sich jeder Veränderung. Er proklamiert ein Weltbild, das seine Ideale aus dem tiefsten Mittelalter schöpft. Und es gibt Menschen, die wollen einem solchen Weltbild mitten im Europa des 21. Jahrhunderts nacheifern. Immer, wenn dem Islam vorgeworfen wird, er würde die Menschenrechte nicht achten, wird von den Islamvertretern gesagt, das habt ihr falsch verstanden. Dabei spricht die gelebte Realität des Islam eine allzu deutliche Sprache.

Der Schriftsteller Salman Rushdie, einst von dem Ayatollah Chomeini mit dem Todesurteil einer Fatwa überzogen, hat das Dilemma dieser Position auf den Punkt gebracht. Er schreibt, die Diskussion über den Islam »erinnert mich ein bisschen an das, was die Sozialisten während der schlimmsten Exzesse in der Sowjetunion behauptet haben. Das ist nicht wirklich Sozialismus, sagten sie. Es gibt einen wahren Sozialismus, in dem es um Freiheit, soziale Gerechtigkeit und so weiter geht, aber das tyrannische Regime dort drüben, der real existierende Sozialismus hat nichts mit dem wirklichen Marxismus zu tun. (…) Ich glaube, man fängt an, diese Trennung auch in der Debatte über den Islam zu machen. Es gibt aber einen aktuellen existierenden Islam, der überhaupt nicht liebenswert ist.« Und dieser Islam existiert nicht nur im Iran, in der Türkei oder in Marokko, sondern vor unserer Haustür.

Bevor dieses Buch in Deutschland erschien, gab es immer wieder den einen oder anderen Bericht über Zwangsheirat und »kulturell« bedingte Morde, eine offene und kritische Diskussion über die Praxis der archaischen, islamisch fundierten Leitkultur aber fand nicht statt. Inzwischen sind fast ein Dutzend Bücher von Frauen erschienen, die über ihr Leid berichten, werden »Ehrenmorde« und Gewalt gegen Frauen von der Presse aufmerksam registriert. Bei den Vertretern der Muslime selbst scheinen die Verbrechen keine Fragen auszulösen. Mit Terror, Ehrenmorden und Zwangsheirat, so geben sie in Presseerklärungen bekannt, haben sie nichts zu tun. Ihre Sorge gilt nicht den Entstehungsursachen solcher Verbrechen, sondern nur der Frage, welches Bild von den Muslimen in der öffentlichen Wahrnehmung entsteht, wenn über diese Verbrechen berichtet wird.

Eine Diskussion innerhalb oder mit der muslimischen Community über Demokratie, Menschenrechte und Individualismus wird bisher sträflich vernachlässigt. Gern »erklären« die Muslimvereine den Ungläubigen den Islam. Sie wollen »verstanden« werden. Eine theologische Auseinandersetzung innerhalb des Islams und über den Islam, sein Menschen- und Weltbild – so wie es das im Judentum und im Christentum immer wieder gegeben hat – findet innerhalb der muslimischen Gemeinschaft nicht statt. Es wird sorgfältig darauf geachtet, dass nichts aus der Umma, der Gemeinschaft der Muslime, nach außen dringt. Aber auch die westlichen Intellektuellen haben auf diesem Feld einen großen Nachholbedarf.

Ich habe lange in Hamburg gewohnt, und die schönsten Spaziergänge kann man in Norddeutschland auf den Deichen machen. In einem der Gasthäuser im Alten Land, einem von Holländern erschlossenen Obstanbaugebiet nördlich der Stadt, habe ich den Spruch gelesen »Wer nich will dieken, de muss wieken« – wer nicht deichen will, muss weichen. Deichbau ist Bürgerpflicht, denn wer sein Haus nicht schützt, den holt die Flut. Für Niederländer und Norddeutsche ist die Erkenntnis, dass man wehrhaft die eigenen Errungenschaften verteidigen muss, sicher eine Binsenweisheit, aber ich, ein Mädchen aus Istanbul, musste das erst lernen. Mir scheint das ein passendes Bild für die Verteidigung der Demokratie und der Menschenrechte in Europa zu sein. Wir verteidigen damit unser Leben gegen den Tod.

Ayaan Hirsi All, Theo van Gogh und Leon de Winter sind für mich Deichgrafen der Aufklärung. Leon de Winter hat Recht, wenn er den Islamismus als den Faschismus des 21. Jahrhundert charakterisiert, und Ayaan Hirsi All hat Recht, wenn sie Mut und Konsequenz von uns Demokraten einfordert und sich gegen die Kulturrelativisten wendet. Ich bewundere sie für das, was sie geschrieben hat und wofür sie einsteht. Ich möchte mich auch bei Alice Schwarzer bedanken. Sie war eine der Ersten, die sich unerschrocken über den Islamismus äußerte, als noch niemand etwas von dem Thema hören wollte. Und sie war es auch, die mich ebenso unerschrocken gegen meine Kritiker in Schutz nahm und sich damit den Zorn der Islamversteher zuzog. Sie hat mir Mut gemacht.

Mut möchte auch ich meinen Leserinnen und Lesern machen, genau hinzusehen, was mit den muslimischen Frauen und Mädchen geschieht. Lassen Sie nicht zu, dass – im Namen welchen Gottes, welcher Kultur oder Tradition auch immer – Menschenrechte missachtet werden.

Necla Kelek, im März 2006

Türkische Hochzeit

oder Das Fest des Lebens

Dies ist eine wahre Geschichte. Sie handelt von Liebe und Sklaverei, von Ehre und Respekt, von türkischem Mocca und verkauften Bräuten. Sie erzählt von meiner Familie, die aus Anatolien über Istanbul nach Deutschland kam, und sie erzählt von meinem Weg in die Freiheit. Sie berichtet von türkischen Frauen, die in arrangierten Ehen von ihrer Familie nach Deutschland verheiratet werden – gegen den Brautpreis Deutschland – und hier Fremde in der Fremde bleiben, oft genug wie Sklavinnen gehalten. Sie beschreibt und ergründet, woran und warum die Integration meiner türkischen Landsleute in Deutschland immer wieder scheitert. Ich möchte, dass sich das ändert.

Türkischen Mocca rührt man besser nicht um, heißt es, denn der Kaffeesatz am Grund ist bitter. Ich habe kräftig darin herumgerührt, und die Geschichten, die ich Ihnen hier erzählen werde, enthalten einige bittere Wahrheiten, die vielen nicht schmecken werden: meinen türkischen Landsleuten nicht, meinen deutschen Mitbürgern nicht. Mein Buch richtet sich an beide Gruppen, denn beide müssen manches ändern, soll die Integration künftig gelingen.

Bei den Eingangssätzen dieses Kapitels höre ich schon die ersten empörten Zwischenrufe: »Ja, kennen Sie denn nicht die vielen tausend Türken, die seit Jahren in Deutschland leben, hier Geschäfte aufgemacht haben, ihre Kinder an deutschen Universitäten studieren lassen und deren zweite Heimat Deutschland ist?«

Ja, die kenne ich. Und ich gehöre dazu. Aber gerade wer es »geschafft« hat, in diesem Land anzukommen, darf am wenigsten die Augen vor den Schwierigkeiten verschließen, die andere haben und deren Ursachen gesellschaftlich, kulturell und politisch begründet sind. Wir Migranten haben eine doppelte Verantwortung – dem Land gegenüber, das uns aufgenommen hat, und unseren türkischen Landsleuten gegenüber, damit es nicht nur ein Nebeneinander, sondern ein Miteinander gibt.

Aus einer anderen Ecke kommt der nächste Zwischenruf: »Bei uns kann jeder nach seiner Fasson selig werden. Wir können doch unseren Ausländern nicht vorschreiben, wen sie heiraten. Das ist deren Angelegenheit. Und außerdem: Unterschiede machen ein Land erst lebendig.« Eben da liegt das Problem. Alles, was »anders« ist, steht bei vielen gutmeinenden Deutschen unter Naturschutz. Das ist heilig, daran darf nicht gerührt werden, im Gegenteil: Es bedarf besonderer Obhut und Pflege. Zumal hierzulande jedwede Kritik an Ausländern sehr schnell als Diskriminierung, womöglich gar als Rassismus unter Verdacht steht. Kritik an fremden Kulturen ist politisch nicht korrekt. Denn jede Kultur wird »an sich« als Bereicherung erachtet. Auch wenn sie barbarische Praktiken gutheißt, wie Zwangsheirat oder Ehrenmorde. Für mich endet diese Seligkeit, wo Menschenrechte missachtet werden.

Ich möchte den Teufelskreis von falscher Toleranz und Schweigen aus Solidarität aufbrechen und helfen, Vorurteile und Abgrenzung durch einen offenen Dialog abzubauen. Ich mische mich ein, weil ich die Integration will. Allerdings hat Integration auch ihren Preis. »You can’t have the cake and eat it« gilt auch hier. Integration ist keine wechselseitige Liebeserklärung, eher schon eine Art Vertragsverhältnis. Für beide Seiten gelten bestimmte Bedingungen, und die müssen eingehalten werden. Und daran hapert es. Auf beiden Seiten.

Unvermeidlich wird dieses Buch vielen Leserinnen und Lesern nahe treten. Den Türken und Muslimen, weil ich aus dem Inneren ihrer Gesellschaft berichte, was versteckt, verschwiegen, verdrängt wird – weil sie meinen, dies ginge niemanden etwas an. Und auch einigen Deutschen nicht, die sich seit Jahren redlich um den Abbau von Ausländerfeindlichkeit bemühen und denen ich sage: Verschenkt euch und vor allem eure Verfassung nicht. Und es wird die »falschen Freunde« geben, die triumphieren werden: »Wir haben das doch immer schon gewusst!« Wer gegen lieb gewonnene politische Vorurteile verstößt, ist vor ungebetenem Beifall nicht gefeit. Aber mir geht es nicht darum, Vorurteile zu bestätigen. Es geht um Klarheit und darum, einen gemeinsamen Weg zu finden. Integration ist keine Einbahnstraße.

Es ist das Schicksal von Migranten, in einem fremden Land zu leben. Das deutsche Wort »Elend« spielt etymologisch darauf an – E-Lend, aus dem Land, in der Fremde. Wir verstehen dieses Schicksal heute als einen beklagenswerten Zustand. Aber das muss nicht zwangsläufig so sein. Zuweilen gibt es auch ein Happy End – und damit möchte ich beginnen.

Der Falke auf der Reise

An einem wunderschönen Abend im August 2002 findet in Mudanya am Marmara-Meer die Hochzeit meines Bruders statt. Die Sonne ist seit einer Stunde untergegangen, die Häuser stehen wie schwarze Schatten um den kleinen Platz. Junge Frauen mit brennenden Kerzen in den Händen bilden Spalier, Musiker mit Geige, Trommel und Ud spielen ein melancholisches Lied, als die Braut in einem roten bestickten Kaftan erscheint, auf dem Kopf die traditionelle Kappe der Partisanen, an deren Rand goldene Münzen an kleinen Häkchen befestigt sind. Ihr Gesicht ist hinter einem durchsichtigen Schleier verborgen, der über ihre Schultern fällt. Sie wird zu einem Stuhl in der Mitte des Platzes geführt. Ihre beste Freundin trägt ein Tablett mit Kerzen und einer Schale mit Henna vorweg, die zukünftige Schwiegermutter, meine Mutter, geht zur Braut, tupft ihr ein wenig Paste in die rechte Handfläche und bindet ein weißes Tuch darum, damit der Fleck tief in die Haut eindringt. Jetzt ist die Braut befleckt, unsere Familie hat ihre Marke gesetzt, was so viel bedeutet wie: Du gehörst jetzt zu uns. Die Frauen gehen im Kreis um die Braut herum und singen: »Möge die Mutter uns verzeihen, dass wir ihr nehmen, ein Stück von ihrem Leben / Gehe mit Sehnsucht von meiner Mutter, von meinem Vater, von meinem Dorf.«

Der Henna-Abend ist der Tag, an dem die Braut sich von ihrer Familie verabschiedet. Mutter und Tochter sehen sich an diesem Abend zum letzten Mal. Manchmal ist es ein Abschied für immer. Tränen fließen. So soll es sein, sagen die Wächterinnen der Bräuche, die mit ihren Kopftüchern am Rand sitzen.

Aber an diesem Abend ist alles anders. Der Abschied ist fröhlich, die Stimmung ausgelassen. Es ist der Abend vor dem Tag, an dem ein Mann seine Liebste heiraten wird. Die Braut tanzt kurz darauf im schicken kurzärmeligen Kleid mit ihrem zukünftigen Mann in der Mitte des Kreises. Die Musik wird schneller und wilder, bald strömt die ganze Gesellschaft in den Kreis und feiert. Nur die Familie der Braut hält sich zurück. Es scheint ihr nicht schicklich, so ausgelassen und fröhlich zu sein.

Am nächsten Tag findet die Hochzeit statt. Sie beginnt mit dem Einzug des Brautpaares. Der Bräutigam sitzt hoch zu Pferde. Er trägt die Festtracht der Tscherkessen, einen langen roten Rock mit schwarzem Revers, ein weißes Hemd mit Stehkragen, einen Gürtel mit einem silbernen Dolch und Patronentaschen, schwarze Hosen und Reitstiefel. Er sitzt kerzengerade auf dem großen braunen Pferd, vor ihm die Braut im Damensitz mit einem Tüllschleier, einem schulterfreien engen Bustier aus rotem Taft und einem weißen Tüllrock mit Schleppe. Sie hat das Hochzeitskleid in einer englischen Zeitschrift gesehen und nachschneidern lassen. Das Paar reitet langsam auf ein Zelt zu, das auf der Wiese aufgebaut ist, eine Jurte mit weit aufgestelltem Eingang, darin Kelims, Kissen und Tabletts auf schmalen Füßen. Neben dem Hochzeitszelt kurbelt ein kleines Mädchen ein Fass mit Ayran, dem Joghurtgetränk. Drei Hammel drehen am Spieß, und aus den Lautsprechern schallt das Lied, das sich die Braut für ihren Mann ausgesucht hat: »Du hast mich so glücklich gemacht, mit deinen schönen Worten / und als die Sterne leuchteten, lag ich in deinen Armen. / Umarme mich ganz warm, ich möchte vergessen, was war / In deinen Augen, in meiner großen Liebe wurde ich geboren.« Ein Hund bellt, und das Pferd scheut, es fürchtet sich vor der lauten Musik und den Menschen, die auf der Wiese stehen und klatschen. Der Bräutigam beruhigt es, steigt ab, hilft seiner Zukünftigen aus dem Sattel und gemeinsam schreiten sie zum Zelt, setzen sich auf die Kissen.

Mein Onkel Enischte steht unter den Gästen und ruft: »Das ist das Fest des Lebens! Ich wünsche allen ledigen Männern, dass sie die Nächsten sind!« Die Gäste klatschen. Es sind fast dreihundert.

Der Nikah Memuru, der Standesbeamte, kommt und fragt die Braut nach ihrem Namen, dem Namen ihrer Eltern und dem der Schwiegermutter. Dann sagt er: »Sie haben den Antrag gestellt, die Ehe zu schließen, und ich möchte Sie fragen, ob Sie das getan haben, ohne dazu von irgendjemandem gezwungen worden zu sein.« Und die Braut antwortet: »Evet«, ja. Er stellt dieselbe Frage an meinen Bruder und bekommt dieselbe Antwort. Damit ist die Ehe geschlossen. Dann küssen die Brautleute sich auf die Wangen – auf den Mund wäre unschicklich, das gehört sich nicht in der Öffentlichkeit. Ein Orchester beginnt zu spielen, das Lied der Tscherkessen »Scheich Schamil«, das vom verletzten Falken erzählt und für mich so etwas wie die Hymne der Migration ist; frei übersetzt lautet es: »In die Fremde flog der Falke / Mit Sehnsucht im Herzen flog und stürzte der Falke / Und wieder schwang er sich auf / Halte ihn nicht, fessle ihn nicht / Er ist auf der Reise, auf dem Weg in die Fremde.« Junge Männer aus meiner Familie sind in die Mitte gesprungen und tanzen mit flinken Füßen, kerzengerade und mit ausgebreiteten Armen, als würden sie wie der Falke über die Wiese fliegen. Man sieht förmlich die Säbel unter ihren Füßen blitzen, so schnell tanzen sie.

Alle Gäste stellen sich an, um dem Brautpaar zu gratulieren. Die Frauen legen der Braut Gold an, Armreifen und Ketten, und stecken ihr Goldtaler ans Kleid. Es ist das Brautgeld, das die Braut als Aussteuer und Versicherung behalten darf. Diskret organisiert mein Bruder per Handy die eigene Feier, wann das Essen serviert wird, wann die Musik einsetzt, wann das Feuerwerk beginnen soll.

Seine Frau ist 27 Jahre alt und Lehrerin für Wirtschaftsenglisch. Sie hat ihren Mann bei der Arbeit kennen gelernt. Mein Bruder ist 43 Jahre alt und kaufmännischer Direktor einer internationalen Firma. Er wollte seine Englischkenntnisse aufbessern und buchte Einzelunterricht. Nach der ersten Stunde war klar, dass er noch eine Menge lernen musste, nach der zweiten hatten er und seine Lehrerin sich ineinander verliebt. Eine dritte Lektion gab es nicht mehr. Die Eltern erfuhren von der Heiratsabsicht der beiden, als alles bereits beschlossene Sache war.

Diese Hochzeit war wie eine Revolution. Noch nie hatte jemand im türkischen Bursa eine Tscherkessenhochzeit gefeiert. Aber noch ungewöhnlicher war, dass mein Bruder und seine Frau alles selbst bestimmt hatten. Die Hochzeit ist in der türkisch-islamischen Gesellschaft traditionell eine Sache der Eltern, die Selbstbestimmung der jungen Leute darüber ist nicht vorgesehen. Mein Bruder aber – er ist ein Jahr jünger als ich – hat es einfach anders gemacht, als die Tradition es gebietet. Er hat zwar einen türkischen Pass, aber er ist in allem von seinen Erfahrungen in Deutschland geprägt, wo er wie ich aufgewachsen und zur Schule gegangen ist. Er hat Betriebswirtschaft und Finanzwissenschaft studiert und war von seiner Firma auch wegen seiner Sprachkenntnisse in die Türkei geschickt worden – in das Land, das er vor 38 Jahren als kleiner Junge verlassen hatte und dessen Traditionen, Sitten, Bräuche, Religion ihm so fremd waren wie jedem anderen deutschen Manager.

Bis dahin hatten Betriebsergebnisse und technische Innovationen ihn mehr interessiert als das Land seiner Herkunft. Wenn es jemanden gibt, der in Deutschland mit Kopf, Füßen, Herz und Verstand angekommen ist, dann ist das mein kleiner Bruder. Rationales Denken und selbstbestimmtes Handeln sind ihm zur zweiten Natur geworden. Wenn ich ein Beispiel für eine gelungene Integration geben müsste, dann würde ich ihn nennen. Heute lebt er mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn in Bursa, einer Industrieregion und islamistischen Hochburg, ein paar Autostunden von Istanbul entfernt. Ich bin stolz auf ihn.

Wir, ihr und ich

Diese Hochzeit markiert das vorläufig glückliche Ende meiner Familiengeschichte, die ich Ihnen in diesem Buch erzählen möchte. Sie ist auf eigentümliche Weise eng mit den Veränderungen in der türkischen Gesellschaft verbunden, mit der Geschichte der Migration, der Sklaverei und der Demokratie in den letzten hundert Jahren.

Mein Urgroßvater war ein Tscherkesse aus dem Kaukasus, der nach Anatolien kam und durch den Verkauf von Sklavinnen an den Harem des Sultans reich wurde. Mein Großvater war Partisan und kämpfte gegen Atatürk, der die Türkei nach Westen blicken hieß. Mein Vater hingegen war ein Anhänger eben dieses Mustafa Kemal Atatürk. Aber er verließ Anatolien, um zunächst in Istanbul und dann – als einer der ersten Türken – in Deutschland Arbeit zu suchen.

Ich werde Ihnen vom Leben meiner Familie erzählen, und ich werde meine Geschichte erzählen, die Geschichte eines kleinen Mädchens aus Istanbul, das nach Deutschland kam. Es ist keine dramatische Geschichte, sondern eine, wie so viele Mädchen aus der Türkei sie erleben, die in der Fremde aufwachsen und dabei doch nach Regeln erzogen werden, die mit dem Land, in dem sie leben, wenig zu tun haben. Und ich möchte Ihnen davon erzählen, wie schwer es ist, sich davon wieder zu lösen und endlich in der neuen Heimat anzukommen. Und von Frauen, die dieses Glück nicht haben.

Zeynep ist 28 Jahre alt und hat drei Kinder. Sie lebt seit zwölf Jahren in der Freien und Hansestadt Hamburg, versorgt den Haushalt ihrer Großfamilie und spricht kein Wort Deutsch. Sie verlässt die Wohnung nur zum Koranunterricht. Sie ist eine »Import-gelin«, eine Importbraut, eine moderne Sklavin. Wie für Tausende anderer türkischer Frauen, die von ihren Familien nach Deutschland »vermittelt« wurden, gelten für Zeynep die demokratischen Grundrechte faktisch nicht. Sie kennt sie nicht, und es ist niemand da, der sich für ihr Schicksal interessiert. Die türkisch-islamische Gemeinde schweigt betreten, redet von kulturellen Traditionen, versteckt die Frauen unter Kopftüchern und grenzt sich von der deutschen Gesellschaft ab – auch wenn sie mit aller Kraft danach strebt, dass die Türkei in die Europäische Union aufgenommen wird. Dabei beruft sie sich auf die Glaubensfreiheit und findet dafür Verständnis bei den liberalen Deutschen, die im Zweifelsfalle eher bereit sind, ihre Verfassung zu ignorieren, als sich Ausländerfeindlichkeit vorwerfen zu lassen. Ich möchte, dass dieser Zustand beendet wird und auch in Deutschland die Menschenrechte ohne Ausnahme gelten.

»Was tun wir Türken für Deutschland?« Als ich 25 Kopftuch tragenden Frauen, die in den Bänken der Koranschule einer Hamburger Moschee vor mir sitzen, diese Frage stelle, regen sich alle auf. »Was soll das denn heißen? Ich habe dreißig Jahre lang hier gearbeitet, das dürfte doch wohl reichen!« – «Die Deutschen tun doch nichts für uns, sie streichen ja sogar die Nachhilfe, und es gibt nicht mal einen Gebetsraum in der Schule!« – »Sie wussten doch, dass wir Türken sind, als sie uns geholt haben!« Ich könnte die Fra ge, leicht verändert, auch türkischen Männern stellen: »Was könnten die Türken für Deutschland tun?« Die Reaktionen wären ähnlich verständnislos. Warum, fragen sich alle, soll man etwas für Deutschland tun? Und sofort würden sie mit Gegenfragen kontern: Warum zahlt der Staat keinen Sprachunterricht? Warum dürfen Lehrerinnen kein Kopftuch tragen? Warum werden wir Türken diskriminiert?

Die Stimmen der Frauen vor mir überschlagen sich. »Die Deutschen interessieren mich nicht. Ich bin nicht nach Deutschland gekommen, sondern in eine Familie«, sagt eine von ihnen. »Wir brauchen die Deutschen nicht. Wir haben hier unsere Moschee, unseren koscheren Laden, unser eigenes Fernsehen, wir brauchen sie nicht«, sagt eine andere ganz beleidigt.

Gülistan sitzt in der ersten Reihe und holt einen Zettel aus der Tasche: »Sie haben gegen uns gesprochen«, sagt sie streng an mich gewandt.

»Was meinen Sie damit?« frage ich sie.

»Ich habe Sie im Fernsehen gesehen, da haben Sie gegen das Kopftuch gesprochen.«

»Das stimmt, ich habe gegen das Kopftuch bei Kindern gesprochen. Aber nicht gegen die Türken.« Den Unterschied sieht sie nicht. Für sie sind alle Türken Muslime – Brüder und Schwestern im Glauben –, und die müssen gegen die Ungläubigen zusammenhalten. Die Welt ist zweigeteilt. In Innen und Außen. Innen, das sind die Türken, das sind die Muslime, das ist die Türkei. Draußen, das sind die Deutschen, die Ungläubigen, das ist Deutschland. Zwischen diesen zwei Welten gibt es keine Verbindung. Bist du für oder gegen uns, gehörst du zur Umma, zur Gemeinschaft der türkischen Muslime, oder nicht? Bist du rein oder unrein? Das sind die Fragen, die das Leben, den Alltag und den Umgang miteinander bestimmen. Ich möchte erklären, warum das so ist, warum es sich so schwer ändern lässt und doch geändert werden muss.

Manchmal verstehe ich die Deutschen nicht, besonders wenn sie alles verstehen. Da erzählt mir eine Lehrerin auf einer Veranstaltung in Glinde, wie sehr sie sich freue, dass die kleine türkische Schülerin jetzt wie alle anderen in der Klasse Kopftuch trage und damit endlich auch von ihren türkischen Mitschülern anerkannt werde. »Sie ist jetzt glücklich, weil sie ihren Glauben gefunden hat.« Wie kann sich eine deutsche Lehrerin daran erfreuen, dass ihre türkische Schülerin sich dem Druck des Kollektivs beugt? Wäre es nicht vielmehr ihre Aufgabe, dem Mädchen zu mehr Selbstbestimmung zu verhelfen?

Ich verstehe nicht, warum ein sozialdemokratischer Bürgermeister einer Freien und Hansestadt dafür wirbt, dass es Frauen als Lehrerinnen erlaubt sein müsse – meist angeblich aus »religiösen Gründen« –, ihr Haar zu verbergen. Wo bleibt bei diesem Politiker das Bewusstsein davon, dass wir in einem Rechtsstaat leben, der auf der Trennung von Religion und Staat beruht?

Ich verstehe nicht, warum Frauen, die sich einst als Feministinnen verstanden und heute Staatsämter innehaben, tatenlos zuschauen, wenn junge Frauen mitten in Deutschland wie Sklavinnen gehalten werden. Sie könnten doch etwas dagegen tun! Ist der Artikel 1 des Grundgesetzes: »Die Würde des Menschen ist unantastbar« nicht verpflichtend?

Ich verstehe nicht, wenn deutsche Richter auf mildernde Umstände für kurdische Killer entscheiden, die ein junges Paar ermordet haben, das sich den Gesetzen der Umma nicht fügen wollte. Ich verstehe nicht, dass der Respekt vor den »kulturellen Eigenheiten« der Kurden bei ihnen größer ist als der Respekt vor Artikel 2 des Grundgesetzes: »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.«

Manchmal verstehe ich die Deutschen einfach nicht.

Ich bin in der Türkei geboren und habe inzwischen einen deutschen Pass. Manchmal aber kommt es mir vor, als gehörte ich zu den ganz wenigen, die stolz darauf sind.

Wasser in den Schuhen

oder Ali, der Sklavenhändler

Wie es dazu kam, dass mein Urgroßvater dem Sultan Abdul Hamid II. Frauen für den Harem lieferte, warum Schönheit und Sklaverei verwandt sind und der Harem von der Schwiegermutter beherrscht wird

Am besten kann man mit meiner Mutter in der Küche reden. Das ist ihr Reich und für Männer harem, eine verbotene Zone. Wenn sie mich besucht, habe ich, spätestens nachdem sie ihre Taschen abgestellt hat, das Hoheitsrecht über diesen Raum verloren. Sie stellt sich vor den Kühlschrank und fragt, was man möchte, um es sogleich hervorzuzaubern. Während sie kocht und backt, ist sie in ihrem Element. Man darf gar nicht erst versuchen, ihr zu helfen. Das wäre ein Eingriff in ihre Intimsphäre und würde unweigerlich zu schlechter Stimmung führen. Während sie gekochten Reis in Kohlblätter wickelt, Schafskäse in Blätterteig rollt oder die herrliche Mischung aus Pinienkernen, Rosinen, Reis und Gewürzen mischt und in kleine Paprikaschoten füllt, kann man mit ihr reden. Die Hände funktionieren unabhängig von dem Geschehen ringsum. Ich bekomme gelegentlich etwas zum Probieren hingestellt, aber ansonsten sind ihre Hände unermüdlich tätig, und sie selbst ist zugleich ganz konzentriert beim Gespräch.

Ich sitze auf der Küchenbank und versuche, etwas über unsere Familie zu erfahren. Das Einzige, was ich von meinem Urgroßvater besitze, ist eine kunstvoll gearbeitete viereckige tscherkessische Silberbrosche mit einem roten Stein, die ich sehr liebe und besonders in schwierigen Situationen wie ein Schutzamulett trage. Meine Mutter erzählt, dass sich einst viele solcher Schmuckstücke im Familienbesitz befanden. Sie hat ein phantastisches Gedächtnis für alles, was sie einmal gehört oder gelesen hat, ganz besonders für Geschichten, die lange zurückliegen. Obwohl sie nie eine richtige Schule besucht hat, sondern nur die Koranschule, hat sie in ihrem Leben einen Schatz von Wissen angehäuft, mit dem sie aber, wie mit bestimmten Gewürzen, sparsam umgeht. Ich taste mich ganz vorsichtig an ihren Erinnerungen entlang, mache mir Notizen, um das, was sie mir sagt, später bei anderen Gesprächen mit anderen Verwandten und Gewährsleuten, Büchern oder Dokumenten bestätigt zu finden, zu ergänzen oder zu verwerfen.

Ich erzähle ihr, dass ich mich mit meinem Onkel Enischte getroffen habe, um zu erfahren, wie mein Urgroßvater gelebt haben mag. Onkel Enischte ist eigentlich der ideale Gesprächspartner, wenn es um türkische Geschichte geht. Er ist Archäologe und inzwischen pensionierter Museumsdirektor in Ankara. Es ist ein Erlebnis, mit ihm durch »sein« Museum zu gehen und all die Geschichten von Hethitern und Assyrern zu hören, die er erzählen kann. Er wusste, dass ich etwas über die Familie und über Hochzeiten schreiben wollte, und hatte sich entsprechend präpariert. Als ich ihn zur Familiengeschichte befragte, bekam ich einen langen, einen sehr langen Vortrag über die Größe der Türkei und des verehrungswürdigen Atatürk zu hören. Er möchte, dass seine Heimat und seine Familie in bestem Licht dastehen, der Republik und der Fahne verpflichtet. Die Osmanen und die unappetitlichen Geschehnisse des Bürgerkriegs sieht er, da ist er sich mit den türkischen Historikern einig, wie die Muslime die Zeit vor Mohammed als Djahiliya, die Zeit der Unwissenheit.

Ich liebe meinen Onkel Enischte, er ist eine hohe Persönlichkeit, mit Herz und Verstand, klein von Statur, aber mit großem Charisma. Er kommt nicht in einen Raum, er tritt auf. In Gesellschaften spricht er nicht mit den Menschen, sondern er hält Vorträge, wie er sie vor Tausenden von Menschen gehalten hat, die er durch sein Museum führte. Wenn er in ein Geschäft geht, um etwas zu kaufen, fragt er den Verkäufer als Erstes, wie er heißt und aus welchem Ort er stammt. Dann erklärt er dem verblüfften Mann, dass er, Enischte, seine Familie kenne oder zumindest jemanden kenne, der sie kenne, sie also quasi Verwandte oder zumindest Freunde seien. Er nennt ein paar Namen und Ereignisse, und die Freude seines Gegenübers ist groß. Es gibt kein Dorf, keine Stadt in der Türkei, das oder die mein Onkel nicht kennt. Einmal allerdings hat er bei einem solchen Einkauf offensichtlich seinen redebegabten Meister getroffen. Anstatt mit einem leichten Sonnenhut, den er sich für den Sommerurlaub kaufen wollte, kam er mit einer Ballonmütze zurück, wie man sie von Bildern russischer Revolutionäre kennt. Als seine entsetzte Frau ihn fragte, was das denn für ein scheußliches Ding sei, war er empört. »Die habe ich bei einem Freund gekauft«, sagte er, »der würde mich niemals schlecht beraten.«

Onkel Enischte ist ein kluger Mann und ein Patriot. Als 2001 die sozialdemokratische Regierung bei den Parlamentswahlen weniger als drei Prozent der Stimmen bekam und die islamistische AKP von Tayyip Erdogan die Regierung übernahm, marschierte er zum Mausoleum Anit Kabir in Ankara, legte einen Blumenstrauß am vierzig Tonnen schweren Marmorsarg des Mustafa Kemal Pascha nieder und bat den Vater der Türken persönlich um Entschuldigung.

Als ich ihn nach meinem Urgroßvater fragte, erzählte er mir von den großartigen Leistungen dieses Mannes, der es, aus dem Kaukasus kommend, in Anatolien zu großem Wohlstand gebracht und dem Land vieles gestiftet hätte – unter anderem eine Moschee und eine Schule. Es hätte nicht viel gefehlt und Onkel Enischte hätte auch noch den Frühling und die kristallklaren Bäche in unserem Heimatort Pinarbashe als Geschenke gepriesen, die wir meinem Urgroßvater zu verdanken haben. Dass er diese Gegend als neue Heimat für sich und damit für unsere Familie ausgesucht hatte, dafür dankte er ihm besonders.

Als ich Onkel Enischte fragte, womit denn der Urgroß vater seinen Reichtum erworben hätte, es gäbe da Gerüchte, wonach er mit Frauen gehandelt haben soll, sah mein Onkel mich streng an und sagt: »Meine Tochter, davon weiß ich nichts.« Thema beendet.

Mein Onkel ist ein überzeugter Türke, ein nationalistischer Republikaner, die Moschee betritt er zum Freitagsgebet und zu wissenschaftlichen Zwecken. Sein Leben und seine Auffassung von dem, was man tut und lässt, sind allerdings ganz von der türkisch-muslimischen Kultur geprägt. Und in dieser herrscht das Prinzip der Umma, der muslimischen Gemeinschaft. Wenn jemand etwas gegen die Verhältnisse in der Türkei sagt oder die Politik der Türkei nach außen kritisiert oder eben Fragen stellt wie ich, dann wird die Gemeinschaft verteidigt, mag man selbst auch vieles daran in Zweifel ziehen – die Umma geht vor. In seinem Fall ist es die Türkei, die Fahne, die Republik und die Familie, auf die kein Schatten fallen darf. Ich erfuhr von ihm viel über das moderne Anatolien, über die Mandelblüte und wie man aus frischem Schnee und Sirup Speiseeis macht, aber nichts über die Ereignisse jener Zeit, als die Männer aus dem Kaukasus nach Anatolien kamen.

Meine Mutter kann sich besser erinnern, und ausgerüstet mit ihren Stichworten mache ich mich auf die Suche nach Ali, meinem Urgroßvater, dem Tscherkessen, seiner Frau und seiner Verbindung zum Harem des Abdul Hamid II.

Der Exodus der Tscherkessen