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Buchinfo

Das letzte Jahr an der Gallagher Akademie hat begonnen! Doch an normale Abschlussprüfungen ist nicht zu denken. Denn Cammies geheime Mission – der finale Kampf gegen den Cavan-Zirkel – übertrifft jedes normale Schulexamen bei Weitem. Als Cammie und ihre Freunde den bösen Masterplan des Zirkels aufdecken, ist klar, dass ab jetzt jede Sekunde zählt, denn nichts Geringeres als die Zukunft der Welt steht auf dem Spiel! Der New-York-Times Bestseller erstmals auf Deutsch!

Autorenvita

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© Shevaun Williams

Ally Carter stammt aus Oklahoma. Ihre Mutter war Lehrerin, ihr Vater Landwirt und Viehzüchter. Sie hat eine ältere Schwester. Nach dem Studium arbeitete sie ein paar Jahre in der Agrar-Industrie, bis sie sich ganz dem Schreiben zuwandte. 2005 wurde ihr erster Roman veröffentlicht. Ihre Bücher erscheinen in mehr als zwanzig Ländern und waren auf den Bestseller-Listen der New York Times, USA Today oder des Wall Street Journal. Heute lebt und arbeitet sie in Oklahoma.

   Ally Carter– Aus dem Amerikanischen– von Gerda Bean– Planet Girl

Für alle Gallagher Girls –
die ehemaligen, die gegenwärtigen
und die zukünftigen

Kapitel Eins

Das Wasser lag still, als wir am Ufer entlanggingen. Ein einzelner Ruderer schoss wie ein Pfeil über den Kanal, und ich starrte ihm unwillkürlich und ziemlich neidisch hinterher.

»Hier ist es schön, Cammie, oder?«, hörte ich meine Mutter fragen. Sie legte den Arm um meine Taille. Es fühlte sich gut und sicher an.

Ich brachte nur mühsam ein Nicken zustande und fügte nicht gerade begeistert »Jaja« hinzu.

»Interessieren Sie sich fürs Rudern?«, fragte der Mann mit der Tweedkappe und dem braunen Trenchcoat, der uns begleitete. Er sah aus wie jemand aus der Werbung für den Regenmantelhersteller London Fog. Oder wie eine Sherlock-

Holmes-Imitation. Oder wie ein berühmter Wissenschaftler an einer britischen Universität. Ich wusste natürlich, dass Letzteres zutraf.

»Cam, Dr. Holt hat dich was gefragt.« Mom knuffte mich in die Seite.

»Oh. Ja. Klar. Rudern scheint … Spaß zu machen.«

»Rudern Sie an Ihrer Schule?«

Er klang interessiert und sah sogar interessiert aus. Aber ich war geschult worden, herauszuhören, was Leute nicht sagten, und Dinge zu sehen, die besser im Verborgenen blieben. Also wusste ich, dass Dr. Holt sich nur bemühte, nett zu sein.

»Nein, wir machen … andere Sachen«, erklärte ich und versicherte mir, dass es keine Lüge war. Ich hielt es allerdings auch nicht für nötig, hinzuzufügen, dass ich mit anderen Sachen meinte: zu lernen, wie man einen Mann mit rohen Spaghetti tötet und Atomwaffen mit Karamellbonbons entschärft. (Das hatte ich beides zwar nicht gemacht – noch nicht –, aber mir stand ja auch noch ein Semester an der Gallagher Akademie bevor.)

»Nun«, er schob seine Hornbrille auf dem Nasenrücken hoch, »Cambridge ist eine vielseitige Universität. Und ich bin sicher, dass wir Ihnen all die Aktivitäten, die Ihnen Freude bereiten, bieten können.«

Das möchte ich bezweifeln, dachte ich im selben Augenblick, in dem meine Mutter »Oh, das glaube ich gern« sagte.

Dr. Holt ging einen Weg hinauf und meine Mutter und ich folgten ihm. Der großflächige Rasen war grün, sogar im Winter. Aber der Himmel über uns war grau und drohte mit Regen. Ich zitterte in meiner Daunenjacke, denn ich war zwar nicht mehr so dünn wie am Anfang der zwölften Klasse, aber immer noch etwas untergewichtig. Und obwohl Grandma Morgan den größten Teil meiner Weihnachtsferien damit verbracht hatte, mich mit soßengetränkten Gerichten zwangszuernähren, fühlte sich meine Jacke zu groß an. Meine Schultern fühlten sich dagegen zu schmal an, und ich dachte mit einem Stich im Herzen an alles, was mir im Sommer passiert war. Selbst Gallagher Girls sind nicht immer so stark, wie sie sein sollen.

»Cammie?«, sagte Dr. Holt und riss mich in die Gegenwart zurück. »Ich wollte wissen, an welchen anderen Universitäten Sie –«

»Oxford, Yale, Cornell und Stanford«, beantwortete ich die Frage, die ich nur halb gehört hatte, indem ich die Namen der Hochschulen herunterrasselte, die Liz auf meine Liste der engeren Wahl gesetzt hatte.

»Das sind alles hervorragende Universitäten. Nach Ihren Prüfungsergebnissen zu urteilen, können Sie sich bestimmt aussuchen, wohin Sie gehen wollen.«

Er klopfte mir auf den Rücken, und ich versuchte mir vorzustellen, was er sah. Einen durchschnittlich aussehenden, durchschnittlich klingenden amerikanischen Teenager. Ich trug einen Pferdeschwanz, und meine Schuhe waren abgelaufen. An meinem Kinn spross ein Pickel, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war, und an meinem Haaransatz waren ein paar Narben, die mich zu einem Pony gezwungen hatten, der mir allerdings überhaupt nicht stand.

Dr. Holt konnte unmöglich wissen, wie ich meine Sommerferien verbracht hatte. Aber es gibt Narben, die auch ein Pony nicht verbergen kann, und sie waren immer noch da. Ich konnte sie spüren. Und ich konnte Dr. Holt nicht die Wahrheit sagen – dass ich eine vollkommen normale Zwölftklässlerin in der allerbesten Schule der Welt für Spione war.

»Und dies, Cammie, ist die Crawley Hall. Was halten Sie davon?«

Ich sah mir das große Steingebäude an. Es war sehr schön und alt. Ehrwürdig. Aber ich hatte seit meinem zwölften Lebensjahr in einem alten, ehrwürdigen Haus gelebt und konnte deshalb die Begeisterung, die sich Dr. Holt wahrscheinlich wünschte, nicht aufbringen.

»Unsere wirtschaftswissenschaftliche Fakultät ist weltberühmt. Hab ich richtig verstanden, dass Sie sich für Volkswirtschaft interessieren?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Klar.«

»Können wir reingehen?«, fragte meine Mutter. »Uns mal umsehen?«

»Ach, das tut mir leid.« Dr. Holt schob seine Brille wieder hoch. »Die Universität ist während der Winterferien geschlossen. Ich fürchte, wir machen ohnehin schon eine Ausnahme.«

Meine Mutter berührte ihn sanft am Arm. »Und ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben. Wie Sie wissen, sind wir nur für ein paar Tage in England, und Cammie hat sich so darauf gefreut.«

Dr. Holt sah mich an. Ich probierte vergeblich, das Lächeln meiner Mutter nachzuahmen, während er weiterging.

»Hier haben wir die Bibliothek. Einige behaupten, sie sei das Glanzstück unseres Campus«, sagte Dr. Holt. »Wir besitzen die größte Sammlung seltener Bücher auf der Welt. Erstausgaben von Austen und Dickens – wir haben sogar eine Gutenberg-

Bibel.«

Er drückte stolz seinen Brustkorb heraus, aber ich brachte nur ein »Nett!« über die Lippen.

»Wenn wir jetzt diesen Weg hier hochgehen, finden Sie –«

»Entschuldigen Sie, Dr. Holt«, unterbrach ihn meine Mutter. »Wäre es okay, wenn Cammie sich selbst ein wenig umschaut? Ich weiß, dass im Moment keine Vorlesungen stattfinden, aber so könnte sie vielleicht ein Gefühl für den Ort entwickeln.«

»Also, ich …«

»Bitte«, sagte meine Mutter.

»Ja, natürlich. Natürlich.« Dr. Holt sah mich an. »Was meinen Sie, Cammie? Treffen wir uns in etwa einer Stunde wieder hier?«

Irgendetwas kam mir in diesem Augenblick seltsam vor. Monatelang war ständig jemand an meiner Seite gewesen. Meine Mutter. Meine Mitbewohnerinnen. Mein Freund (und das sage ich nicht einfach nur so – er ist wirklich mein Freund). Jemand war immer da und passte auf mich auf. Oder beobachtete mich.

Es war wirklich mehr als seltsam, dass meine Mutter nickte und meinte: »Ist schon okay, meine Kleine. Geh nur! Ich bin hier, wenn du zurückkommst.«

Also machte ich mich auf den Weg und erinnerte mich daran, dass einem als Spionin manchmal nichts anderes übrig bleibt, als weiterzugehen und einen Fuß vor den anderen zu setzen, wohin einen der schmale Pfad auch führen mag.

Bevor ich um die Ecke bog, hörte ich Dr. Holt noch sagen: »Was für ein … reizendes Mädchen.«

Meine Mutter seufzte. »Sie hat ein schweres Jahr hinter sich.«

Aber Mom versuchte nicht, die Sache zu erklären. Wie könnte man auch zu jemandem sagen: Oh, ja, meine Tochter war früher mal, bevor sie gefoltert wurde, ein richtiger Schatz? Also schwieg sie dazu, und das war auch gut so. Dr. Holt hatte sowieso nicht die Erlaubnis, alles zu erfahren.

Ich umrundete das große alte Gebäude und sah einen mit Efeu überwucherten Bogen und die Statue von einer Person, die ich nicht kannte. Die Luft war feucht und kühl. Ich fühlte mich allein, als ich an zwei Gebäuden vorbeiging und dann wieder auf den Fluss starrte. Wieder glitt ein Ruderer über das Wasser, der nach hinten schaute, während er sich vorwärts bewegte. Dies schien entgegen jeder Logik zu funktionieren, aber der Mann kämpfte weiter gegen die Strömung an, und ich fragte mich, wie er es schaffte, das Ganze so leicht aussehen zu lassen.

»Ach, du bist auch hier?«

Die Stimme haute eine Schneise in meinen Gedankengang, aber ich zuckte nicht zusammen. Ich drehte mich einfach um.

»Haben sie dich aufgenommen?«, fragte Bex, meine beste Freundin. Der britische Akzent hörte sich in ihrem Heimatland noch stärker an als sonst, und sie lächelte unheimlich verschmitzt, als sie die langen Arme verschränkte. Der Wind blies ihr die schwarzen Haare aus dem Gesicht. Sie sah lebendig und unternehmungslustig aus. Also hielt ich die Zugangskarte hoch, die ich Dr. Holt aus der Tasche gezogen hatte.

»Bist du bereit?«, fragte ich.

Sie hängte sich bei mir ein. »Cammie, meine Liebe, ich bin schon bereit auf die Welt gekommen«, sagte sie. Dann ging sie auf die Crawley Hall zu und zog die Karte durch.

Als das grüne Licht blinkte, sagte sie: »Komm schon!«

Kapitel Zwei

Die Crawley Hall schien leer zu sein, als Bex und ich die Tür hinter uns zumachten. Unsere Schritte hallten durch den Korridor. Wir kamen an schweren Holzbögen und Buntglasfenstern vorbei. Die Schule wirkte eher wie ein Museum, und nicht zum ersten Mal in meinem Leben schritt ich durch die heiligen Hallen der Bildung und verstieß dabei gegen sämtliche Regeln.

»Also, was denkst du, Cam? Bist du ein Cambridge-Mädchen? Oder hältst du dich eher für eine Oxonian

»Oxonian?«, wiederholte ich.

»Jemand, der in Oxford studiert. Und jetzt beantworte bitte meine Frage!« Bex hob die Schultern und lehnte sich an eine Tür, die anders als die übrigen war, die wir passiert hatten, nämlich nicht aus schwerem Holz, sondern aus Stahl. Überwachungskameras richteten sich darauf, und Bex brauchte eine Sekunde, um sich vorbeizuschleichen.

»Cambridge ist nicht schlecht. Aber sie könnten bessere Schlösser verwenden«, sagte ich.

»Also nicht Cambridge.« Bex nickte. »Wie wär’s mit Yale? Du könntest natürlich auch mit mir zum MI6 gehen. Wir beide zusammen – draußen in der wirklichen Welt!«

»Bex«, sagte ich und verdrehte die Augen. »Wir haben keine Zeit für solche Sachen.«

»Was?«, fragte Bex. Sie stemmte ihre Fäuste in die Hüften und musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. »Wir haben doch Winterferien!«

»Ich weiß.«

»Und wir sind Zwölftklässlerinnen.«

»Ich weiß«, wiederholte ich.

»Bist du nicht … neugierig?«

»Worauf?«

»Auf das Leben. Da draußen. Das Leben! Sag mir, Cameron Ann Morgan, was möchtest du denn mal sein, wenn du groß bist?«

Wir waren an eine andere Tür gekommen, und ich blieb stehen. Ich blickte zur Kamera hinauf, die den Eingang überwachte, und sagte leise: »Am Leben.«

Dreißig Sekunden später befanden wir uns im Foyer der größten Bibliothek, die ich je gesehen hatte. In der Mitte standen alte Eichentische. An den Wänden reihten sich zehn Meter hohe Bücherregale. Erstausgaben von Thackeray und Forster waren hinter Glas ausgestellt, und Bex und ich durchquerten den menschenleeren Raum wie ein äußerst belesenes Diebespaar.

Wir gingen die Treppe hoch und bahnten uns unseren Weg durch ein Labyrinth aus Regalen und kleinen Nischen, die sich perfekt zum Lernen eigneten.

»Wir hätten Liz mitbringen sollen«, sagte ich und stellte mir vor, wie sehr die Bibliothek unserer kleinsten, klügsten und … na ja … ein bisschen unbeholfenen Mitbewohnerin gefallen hätte. Aber als Bex abrupt stehen blieb, fiel mir ein, warum Liz gerade bei diesem Ausflug nicht dabei sein durfte.

Ich spähte um Bex’ Schultern herum und sah, wie sich ein Schatten über den Fußboden bewegte. Die Lampen brannten nicht und auf dem Flur war es still. Trotzdem glitt eine Gestalt im Licht, das durch die Buntglasfenster schien, wie eine Marionette in einer Aufführung, die nur wir zu sehen bekamen, an uns vorbei.

Ich hörte, wie eine Tür geöffnet und geschlossen wurde. Bex und ich schlichen uns auf den Treppenabsatz und einen schmalen Gang entlang, bis wir an eine Tür kamen, die nur angelehnt war.

Wir blieben kurz stehen, und Bex fragte lautlos: »Bist du sicher?«

Aber ich antwortete nicht. Ich war schon so weit vorangekommen – ich wollte das hier viel zu sehr. Also zögerte ich nicht. Ich stieß die Tür auf und betrat das Zimmer. Mein Puls raste, aber meine Hände blieben ruhig und waren für alles bereit, was ich vorfinden würde.

»Stehen bleiben!«, schrie der Mann. »Wer seid ihr? Was macht ihr hier? Ich rufe den Sicherheitsdienst! Stehen bleiben!«, kam es wie aus der Pistole geschossen. Er holte zwischen seinen Befehlen kaum Luft. Jedenfalls gab er uns keine Zeit zum Antworten.

»Hände hoch! Hoch! Hoch, hab ich gesagt!«, brüllte er, obwohl er keine Waffe in der Hand hielt. Seine Haare waren viel zu lang und grau. Er trug einen schmutzigen, zerknitterten Anzug und sah aus, als ob er tagelang nicht geduscht hätte.

»Mr Knight?«, fragte Bex. Sie kam langsam näher. »Sir Walter Knight?«

»Das hier ist Sperrgebiet!«, schrie er. »Der Campus ist geschlossen. Ihr solltet nicht hier sein!«

»Ich sollte vieles nicht sein«, sagte ich. »Ich heiße Cammie Morgan.«

Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, huschte ein Schatten über sein Gesicht. Es war, als ob er ein Gespenst anstarrte.

Mich.

Er starrte mich an.

Ich sollte eigentlich nicht am Leben sein. Aber ich lebte.

»Ich sehe, Sie haben keine Leibwächter«, bemerkte Bex und schaute sich um. Es war ein Büro, nicht besonders groß, aber groß genug für einen alten Schreibtisch, einen Stuhl und ein kleines Ledersofa, das unter dem einzigen Fenster stand. Auf dem Sofa lagen ein zerknautschtes Kissen und eine Decke, und der Abfalleimer quoll über – Pappschachteln vom Imbiss und alte Zeitungen.

»So ist das also«, bemerkte Bex. »Sie wissen nicht, wem Sie vertrauen können, stimmt’s?«

»Ich weiß, wie sich das anfühlt«, sagte ich. Als ich sah, dass er zitterte, fügte ich hinzu: »Machen Sie sich keine Sorgen. Sie brauchen keine Angst vor uns zu haben.«

»Oh, da bin ich mir aber nicht so sicher.« Bex lachte. »Er sollte sich schon ein bisschen fürchten.«

Bex rückte näher, und Walter Knight wich zurück, bis er an den Schreibtisch stieß und nicht mehr weiter zurück konnte.

Als Bex wieder redete, flüsterte sie beinah. »Elias Crane der Sechste ist tot, Sir Walter. Sie haben bestimmt von seinem Autounfall gehört.« Bex formte mit den Zeigefingern Anführungsstriche, um das Wort zu betonen. »Oh, ich wette, das hat Sie verrückt gemacht – sich fragen zu müssen, ob es wirklich ein Unfall war. Schließlich kann es ja sein, dass er zu viel getrunken hatte, als er seinen BMW über die Klippe fuhr. Aber als Charlene Dubois verschwand, als sie ihre Kinder zur Schule brachte …« Bex zog die Worte in die Länge. Sie machte ts ts. »Das konnten Sie nicht dem Zufall zuschreiben. Also flüchteten Sie.« Bex breitete die Arme in dem kleinen Raum weit aus. »Und kamen hierher.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden!«, brüllte Sir Walter, aber Bex schüttelte den Kopf.

»Oh, doch! Warum würden Sie sonst auf der Couch in einem angeblich verlassenen Büro schlafen, anstatt in Ihrer Londoner Wohnung? Oder in Ihrer französischen Villa? Oder in Ihrem Chalet in der Schweiz? Ich muss schon sagen: Das war eine sehr kluge Entscheidung. Eine Bibliothek zu besetzen. Clever. Ich wette, eine Menge Leute wissen gar nicht, wie stolz Cambridge ist, dass ein früherer britischer Premierminister hier ehrenhalber ein Büro hat. Nett. Wir haben eine Weile gebraucht, um Sie aufzuspüren. Aber wir haben Sie natürlich aufgespürt. Und wir werden nicht die Einzigen sein.«

»Regel Nummer eins beim Weglaufen, Sir Walter«, erklärte ich. »Niemals an einen Ort gehen, den jeder kennt.«

Er schüttelte den Kopf und schrie: »Nein, nein! Ihr habt den Falschen!«

»Nein, wir haben den Richtigen«, sagte ich. »Sie sind Walter Knight, Sohn von Avery Knight, Urururenkel von Thomas Avery McKnight. Hat Ihr Urgroßvater den Familiennamen eigentlich geändert, weil es für einen Iren um die Jahrhundertwende dann leichter war, in der britischen Regierung aufzusteigen? Oder hatte der Zirkel was damit zu tun?«

»Worauf wollt ihr hinaus?«

»Ich habe den Namen Ihres Urururgroßvaters auf einer Liste gesehen.« Ich steckte die Hand in die Hosentasche und befühlte das Stück Papier, das immer dort drin war, mit den Fingern, während ich die Liste vor mir sah. Sie war seit Jahren in meinem Unterbewusstsein gewesen, aber nachdem ich mich wieder an sie erinnert hatte, konnte ich sie nicht mehr vergessen. Die Namen, die darauf standen, würden mich verfolgen, bis ich den Nachkommen jedes Einzelnen gefunden und Rechenschaft eingefordert hätte. »Es war eine Liste wütender – sehr mächtiger – Männer, deren Nachkommen jetzt sehr mächtige und einflussreiche Leute sind. Und jemand will Sie, wie Sie wissen, Sir Walter, tot sehen.«

»Raus!«, brüllte er und zeigte auf die Tür. »Raus hier, bevor ich –«

»Bevor Sie was?« Bex packte ihn am Kragen.

»Hier sind Sie nicht sicher«, sagte ich und beobachtete, wie meine Worte ankamen. Sie hauten ihn von den Socken. Er ging ans Fenster, sank auf die Couch und schob das Kissen und die Decke beiseite.

»Weiß die CIA, dass ihr hier seid?«, fragte er. »Erzählt mir nicht, dass sie jetzt kleine Mädchen losschicken, um die Drecksarbeit für sie zu erledigen.«

Ich hätte beleidigt sein können. Schließlich hatten dieser Mann und die Schlägertrupps, die für ihn arbeiteten, seit Monaten versucht, mich umzubringen. Kein anderer hätte es besser wissen sollen als dieser Typ, dass man ein Gallagher Girl nicht unterschätzen durfte. Aber aus Erfahrung weiß ich, dass Typen Mädchen fast immer unterschätzen. Und wir Gallagher Girls wollen es ehrlich gesagt auch gar nicht anders.

Sein Blick wanderte von Bex zu mir. Er sah uns an, als ob er erwartete, dass eine von uns sich wegbeamen und mit Verstärkung zurückkehren würde.

»Ihre frühere … Partnerin … Catherine Goode. Sie hat Crane umgebracht. Das wissen Sie, stimmt’s?«, fragte ich, aber er sagte nichts. »Und Charlene Dubois ist nicht einfach nur aus Spaß mit dem Auto losgefahren und hat dann vergessen, nach Hause zu kommen.«

»Charlene … ist sie tot?«

»Vielleicht. Wahrscheinlich. Aber Sie kennen Catherine besser als wir. Also sagen Sie uns – warum, glauben Sie, knallt sie die Anführer des Cavan-Zirkels ab?«

»Sie ist verrückt«, sagte der Mann mit finsterem Blick. Ich wusste aus Erfahrung, dass er recht hatte. »Sie hasst uns. Sie will die Kontrolle über alles haben und was sie nicht kontrollieren kann, vernichtet sie.«

Ich dachte an Catherine Goodes Sohn. Sie hatte es nicht geschafft, ihn unter ihre Kontrolle zu bringen. Bedeutete das, dass sie auch ihn eines Tages töten würde?

»Sie sind hinter Ihnen her, Sir Walter.« Ich schüttelte den Kopf. »Und sie werden nicht so nett sein wie wir.«

»Ich gehöre nicht zum Cavan-Zirkel«, schnauzte er uns an.

Bex schüttelte langsam den Kopf. »Falsche Antwort.«

»Wirklich nicht!« Jetzt brüllte er. »Ich gehöre nicht mehr dazu!«

»Das sind keine Pfadfinder«, sagte ich. »Sie lassen einen nicht einfach so gehen.«

»Ich bin erledigt. Und … und … es ist deine Schuld.« Er zeigte auf mich. »Du hättest den Anstand haben sollen zu sterben, als es Zeit war.«

»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich mache gerade eine Art rebellische Phase durch. Ich verspreche, sie ist bald vorbei.«

»Dann seid ihr also hier, um mich zu kidnappen?«, fragte er.

»Sie nennen es kidnappen. Wir nennen es: An einem sicheren Ort festhalten, bis wir Sie den zuständigen Behörden gefahrlos übergeben können«, erwiderte Bex grinsend. »Aber jedem das Seine.«

»Wenn wir Sie schon gefunden haben, Sir Walter, ist es doch nur eine Frage der Zeit, bis es Catherine gelingt«, erklärte ich. »Und nun kommen Sie! Wir bringen Sie in Sicherheit!«

Ich griff nach seinem Arm, aber er zog ihn mit einem Ruck zurück.

»Kein Ort ist sicher. Ihr versteht es nicht. Schaut euch doch mal an! Aber wie solltet ihr das auch verstehen. Ihr seid Kinder. Wenn ihr wüsstet, was die anderen vorhaben … Was der innere Zirkel plant … Das habe ich nicht gewollt!«

»Wieso?«, fragte Bex. »Was haben sie vor?«

Mr Knight schüttelte den Kopf. Seine Lippen zitterten sogar, als er antwortete: »Das wollt ihr nicht wirklich wissen.«

Er schien sich zu fürchten, als er uns zum ersten Mal sah und von Catherine und den Leuten sprach, die sie getötet hatte. Aber in diesem Moment wurde aus seiner Angst Entsetzen. Er wiegte sich vor und zurück. »Man kann es nicht aufhalten. Niemand kann es aufhalten. Es ist –«

»Wovon reden Sie?«, schrie Bex und packte ihn an den Schultern. »Sagen Sie uns, wovon Sie reden, und wir halten es auf – egal, was es ist.«

»Ihr Dummköpfe!« Er lachte. »Es hat ja schon begonnen

Bex sah mich an. Wir waren mit einer einzigen einfachen Mission hierhergekommen: Thomas McKnights Nachkommen zu finden und festzunehmen. Doch damit hatten wir nicht gerechnet. Falls die Anführer des Zirkels – der innere Zirkel, wie Knight sie genannt hatte – etwas planten, konnte dies alles verändern.

Bex sagte plötzlich ziemlich ernst: »Schauen Sie, wir fordern Sie höflich auf. Catherine wird sich nicht die Mühe machen, Sie so höflich zu bitten, wenn sie hier erscheint. Also, kommen Sie jetzt bitte mit!«

Der Mann blaffte: »Und wenn nicht?«

Ironie ist eine komische Sache. Vielleicht war das Zimmer verwanzt und jemand hörte den arroganten, herablassenden Ton seiner Stimme. Oder es war einfach nur Schicksal, das den Schützen veranlasste, genau in diesem Moment abzudrücken. Wir werden es wohl nie erfahren.

Plötzlich zersplitterte Glas, und im Raum ging ein Schauer aus glitzernden Scherben nieder. Bex und ich tauchten hinter dem Schreibtisch ab, als ein zweiter Schuss fiel. Ich hörte das Zischen der Kugel, sah den dunklen Fleck, der sich auf Sir Walters Brust bildete, und beobachtete, wie er auf die Knie sank.

Sein Oberkörper war immer noch aufrecht, als ich zu ihm kroch.

»Sir Walter!«, schrie ich. Er gehörte zu den Leuten, die einen Killer auf mich gehetzt hatten, weil sie mich und die Liste in meinem Kopf beseitigen wollten. Aber ich empfand keine Genugtuung. Welche Geister auch immer mir bis hierher gefolgt waren – sie würden sich nicht damit zufriedengeben, nur ihn sterben zu sehen.

»Sir Walter!«, brüllte ich wieder.

Über seine Unterlippe lief ein Tropfen Blut. Während er sein Leben aushauchte, kippte er auf den Fußboden.

»Cam!« Ich hörte, wie Bex meinen Namen rief. Sie hatte meinen Arm fest umkrallt und zog mich auf die Füße. Aber ich konnte mich nicht rühren. Ich war wie erstarrt und schaute durch das zerborstene Fenster auf die Frau, die auf dem gegenüberliegenden Gebäude stand, einen Granatwerfer in die Hände nahm und auf uns richtete.

»Catherine«, sagte ich.

Und dann zielte die Mutter meines Freundes wieder auf unser Fenster. Und drückte ab.

Glas knirschte unter meinen Füßen.

Blut floss in meine Augen.

Die Granate musste eine Gasleitung getroffen haben, weil Rauch um mich herumwirbelte und ich die Hitze der Explosion im Rücken spürte. Aber Bex’ Hand war immer noch in meiner, und wir beide blieben geduckt und rannten unter dem schwarzen Qualm den Korridor entlang, weg von der Leiche und den Flammen.

Als wir das Ende des Flurs erreichten, blickte ich aus dem Fenster und sah Zachs Mutter, die über den Rasen rannte. Sie musste geahnt haben, dass ich dort stand, da sie verharrte und sich dann umdrehte, eine Hand hob und winkte, als ob sie mich erwartet und gehofft hätte, mich zu sehen.

Dann lief sie wieder los, und ich wusste, dass ich sie finden und mich an ihr rächen müsste – dass ein Teil von mir, solange sie dort draußen war, niemals heilen würde.

»Cam!«, schrie Bex, als Sirenen losheulten.

Die Vorlesungen hatten noch nicht wieder begonnen, aber die Universität war immerhin eine der angesehensten in ganz England. Es gab Rauchmelder und Glasbruchdetektoren, und Leute würden denjenigen suchen, der so etwas gemacht hatte, und wenn sie kämen, müssten wir weit weg sein.

»Cam, nun komm schon!«

»Sie ist hier!«, brüllte ich und versuchte, mich loszureißen.

Aber Bex hielt meinen Arm fest und ließ mich einfach nicht laufen. »Sie ist weg.«

Kapitel Drei

Ich war schon früher einmal bei Bex zu Hause gewesen. Schließlich ist sie meine beste Freundin. Aber wenn die beste Freundin die Tochter zweier Superspione ist, bedeutet dies, dass die beste Freundin umzieht. Und zwar ziemlich oft. Als ich mit meiner Mutter die Wohnung der Baxters betrat, schaute ich mich deshalb natürlich um. Neue Zimmer, neue Wände – aber die gleiche Atmosphäre wie in all den bisherigen Wohnungen.

Obwohl mir alle Spioninnen und Spione, die ich kannte (also eine Menge), in den vergangenen Wochen erklärt hatten, dass ich in Sicherheit sei – dass es, sobald ich mir die Namen auf der Liste eingeprägt hätte, für den Zirkel keinen Grund mehr gäbe, mich zum Schweigen zu bringen –, fühlte es sich immer noch ziemlich komisch an, durch die Wohnung der Baxters zu gehen, ohne dass jemand vorher die Zimmer nach irgendetwas Verdächtigem untersucht und die Vorhänge an den Fenstern zugezogen hatte. Stattdessen nahm mich Bex’ Mutter in die Arme. Ihr Vater gab mir einen Kuss auf die Wange. Sie fragten meine Mutter über Sir Walter Knight aus und erzählten alles, was bei dem britischen Geheimdienst MI6 über die Explosion in einer der berühmtesten Universitäten der Welt berichtet wurde.

Aber keiner machte sich Sorgen um mich. Jedenfalls nicht, bis ich fragte: »Und was tun wir als Nächstes?«

»Also, ihr lieben Mädchen«, warf Mr Baxter ein. »Ich dachte, ihr wüsstet, dass heute eine Ausnahme war.«

»Knight ist tot«, sagte Bex. »Crane ist tot. Dubois wird vermisst.« Dann fügte sie noch etwas lauter hinzu: »Mit ihren beiden Kindern! Ich finde Cams Frage total berechtigt: Was tun wir als Nächstes?«

»Wir gehen wieder in die Schule«, sagte meine Mutter. »Wir kehren in die Schule zurück und überlassen es –«

»Wen?«, fragte Bex.

»Rebecca!«, fauchte Bex’ Mutter.

»Tut mir leid.« Bex hob die Schultern. »Wem«, verbesserte sie sich, obwohl ich stark bezweifelte, dass ihre Mutter sich an ihrer Grammatik gestört hatte.

»Sie haben Knight nicht reden hören«, richtete ich mich an sie und schüttelte den Kopf. »Er war nicht nur ein bisschen ängstlich. Es ging nicht nur um Catherine. Was auch immer der innere Zirkel plant, muss so gewaltig und schrecklich sein, dass sogar er sich davor fürchtete, obwohl er doch selbst fast sein ganzes Leben lang dem Zirkel angehört hatte.«

Ich zog das zerknitterte Stück Papier aus der Tasche, das Liz’ Handschrift trug. Winzige Papierfetzen hingen an der linken Seite des Blatts, das sie vor wenigen Wochen aus einem Notizblock gerissen hatte. Ich hatte es zusammengefaltet und in meine Tasche gesteckt, wo es sich seitdem befunden hatte, nie von meiner Seite gewichen und immer in greifbarer Nähe geblieben war.

Das Papier war inzwischen weich und abgegriffen, aber ich behielt es bei mir, obwohl ich jedes Wort auswendig konnte. Ich wollte es nie mehr hergeben und konnte es doch kaum erwarten zu sehen, wie es verbrannte.

»Hier«, sagte ich und klatschte den Zettel auf den Tisch, wo ihn die anderen sehen konnten. »Sieben Namen stehen hier! Sieben Namen!«, brüllte ich fast. Trotz allem hatte ich immer noch das Gefühl, ihnen die Sache begreiflich machen zu müssen.

Ich schaute auf Liz’ zarte Schrift, auf die Namen, die ich seit Jahren in meinem Unterbewusstsein mit mir herumgetragen hatte.

Elias Crane

Charles Dubois

Thomas McKnight

Philip Delauhunt

William Smith

Gideon Maxwell

Samuel P. Winters

»1863 haben diese Männer gemeinsam mit Iosef Cavan den Zirkel gegründet«, erklärte ich.

»Das wissen wir«, antwortete meine Mutter, aber ich redete weiter, als ob sie nichts gesagt hätte.

»Diese Männer haben ihn überlebt. Und ihre Kinder haben den Familienbetrieb weitergeführt. Und dann ihre Enkel. Und so weiter und so weiter – und jetzt, jetzt ist Elias Crane der Sechste tot.« Ich nahm einen Markierstift und strich den Namen Elias Crane durch.

»Dubois’ Ururururenkelin ist wahrscheinlich tot«, sagte Bex und ich strich den nächsten Namen durch.

»Und McKnights Nachkomme ist jetzt auch weg vom Fenster.« Ich strich den dritten Namen durch.

»Wir haben also drei Nachfolger gefunden«, meinte Mr Baxter. »Drei sind ein guter Anfang.«

Ich wusste, was Mr Baxter damit sagen wollte. Die Männer und Frauen, die auf der Liste standen, waren keine guten Leute. Sie hatten Extremisten Waffen geliefert und auf führende Persönlichkeiten Attentate verüben lassen – Terror, um Gewinn zu machen, nannte es Mr Townsend immer. Und ich hasste sie dafür. Ich hasste nur einen Menschen noch mehr.

Ich dachte an die Frau auf dem Dach. Sie hatte mich gekidnappt und gefoltert, um an die Namen dieser Leute heranzukommen. Und jetzt brachte sie einen nach dem anderen um und schaltete damit ihre Konkurrenz auf die übelste Art und Weise aus. Wenn Catherine die Anführer des Zirkels tot sehen wollte, mussten wir versuchen, wenigstens einen davon lebendig zu fassen.

»Drei von ihnen sind tot«, sagte ich und holte tief Luft. »Aber wir haben noch vier Namen. Jetzt müssen wir die Nachkommen der anderen Mitglieder finden. Wir müssen sie finden und daran hindern, ihre Pläne auszuführen. Denn was sie nun vorhaben, muss, wie Knight sagte, etwas Schreckliches und Gewaltiges sein.«

»Darüber braucht ihr Mädchen euch aber keine Sorgen zu machen«, sagte Mrs Baxter, und Bex riss daraufhin die Hände in die Luft.

»Und wer macht sich Sorgen? Der MI6? Die CIA?«

Wir sahen alle meine Mutter an, die ihre Hände fest an die Hüften stemmte.

»Ihr wisst, dass das nicht möglich ist.«

»Genau!«, sagte Bex, als hätte meine Mutter ihr gerade recht gegeben. »Der Zirkel hat Maulwürfe auf allen Ebenen der CIA. Auch beim MI6. Und bei Interpol. Wer weiß, wo sonst noch alles? Und deshalb braucht ihr uns

Bex’ Vater schüttelte den Kopf. »Es war eine einmalige Sache«, erklärte uns Mr Baxter. »Walter Knight war Politiker. Ein Intellektueller. Ein … Streber. Er stellte keine körperliche Bedrohung dar, und deshalb und nur deshalb haben wir euch erlaubt, heute dabei zu sein. Das gilt jedoch nicht für die anderen Fälle.«

»Aber ihr könnt das nicht alleine schaffen«, protestierte Bex. »Es wird viel zu viel Rennerei geben. Ihr braucht uns.«

Bex’ Mutter faltete die Hände. »Nein, wir brauchen euch nicht.«

Ich dachte an die verschlossene Bürotür meiner Mutter und an die vielen Agenten und Informanten, die in den Wochen vor Weihnachten bei uns aus und ein gegangen waren. Die Aufgabe, den Zirkel zu zerstören, war eine derart geheime Mission, dass nur meine Mutter, meine Lehrerinnen und Lehrer und ihre zuverlässigsten Freunde eingeladen waren, daran teilzunehmen. Bex und ich hätten inzwischen wissen müssen, dass man uns nicht gestatten würde, dabeizusein.

»Wo ist Mr Solomon?«, fragte ich. »Und was ist mit Zach? Sie haben doch seine Mutter verfolgt, oder nicht? Wissen sie überhaupt, dass Catherine heute hier war? Habt ihr mit ihnen gesprochen? Ist mit ihnen alles okay?«

»Cammie«, sagte Mom. »Joe Solomon ist der Letzte, um den du dir Sorgen zu machen brauchst. Und Zach ist bei ihm.«

»Und was ist mit Mr Townsend? Jemand muss ihn doch einweihen. Und Tante Abby. Sie und Townsend sind auf Mission, stimmt’s?« Ich sah Bex’ Eltern an. »Haben Sie –«

»Cammie!«, sagte meine Mutter laut und schnitt mir damit das Wort ab. »Es reicht! Ihr zwei steckt schon viel zu tief in der Sache drin. Tiefer geht es nicht. Es ist zu eurem Besten.«

Mrs Baxter glitt leichtfüßig durch den Raum und legte eine Hand auf den Rücken ihrer Tochter. »Bex, warum gehst du mit Cam nicht ein bisschen spazieren? Amüsiert euch!«

Wir drehten uns beide um und schauten aus dem Fenster auf die Menschen, die draußen vorbeigingen. Ich wusste nicht, was seltsamer war – dass drei Elternteile ihre Töchter im Teenageralter baten, an Silvester das Haus zu verlassen, oder dass Bex und ich nicht die geringste Lust hatten, aus dem Haus zu gehen.

»An der Themse findet ein tolles Feuerwerk statt«, sagte Mrs Baxter. »Vom Park aus sieht man es am besten.«

Aber Bex und ich hatten schon mehr als genug Explosionen erlebt. Wir brauchten keine weiteren.

»Wir wissen, wo wir noch einen Nachkommen finden können«, sagte ich.

»Nicht jetzt, Cammie«, warnte meine Mutter.

»Wir wissen, dass Samuel Winters Ururururenkel den gleichen Namen hat und amerikanischer Botschafter in Italien ist. Wahrscheinlich hält er sich gerade in Rom auf, und Preston ist bei ihm.«

»Darüber reden wir jetzt nicht schon wieder. An den Botschafter ist schwer ranzukommen. In der Botschaft ist er in Sicherheit. Und das bedeutet, dass auch Preston nicht in Gefahr ist.«

»Charlene Dubois’ Kinder waren nicht in Sicherheit«, sagte ich und dachte daran, wie ich Preston Winters zum ersten Mal begegnet war. Er hatte ein Dauergrinsen aufgesetzt, weshalb er übereifrig auf mich wirkte. Seine Arme waren so schnell gewachsen, dass der Rest seines Körpers nicht nachgekommen war. Er war ein Trottel gewesen. Aber jetzt war er mein Freund.

Inzwischen gab es Leute auf der Welt, die Prestons Vater töten wollten – vielleicht sogar ihn selbst. Man kann sich seine Familie nicht aussuchen. Oder den Familienbetrieb. Bex und ich wussten darüber bestens Bescheid. Und ich konnte nur dankbar sein, dass mein Familienbetrieb für die Guten arbeitete. Preston hatte nicht so viel Glück.

»Sind Zach und Mr Solomon in Rom?«, fragte Bex, die Führung übernehmend. »Weil nämlich jemand in Rom sein muss. Jemand muss Preston dort rausholen.«

»Wie ich Joe Solomon kenne«, sagte Mr Baxter und klang sehr weise, »ist er dort, wo er gebraucht wird. Wo genau das ist, kann ich euch jedoch nicht sagen.«

»Aber –«, begann ich.

»Nichts aber«, sagte meine Mutter. »Ich bin sicher, dass es Preston gut geht.«

»Sie ist aber da draußen!«, stieß ich hervor. Meine Stimme schwankte, und ich hasste mich dafür, aber ich redete weiter. »Catherine läuft frei rum und macht Jagd auf dieselben Leute, die wir verfolgen, und –«

»Und deshalb gehst du zurück in die Schule!« Ich weiß nicht, ob meine Mutter merkte, dass sie schrie, aber ihre Worte hallten richtig durch den kleinen Raum. »Du gehst in die Schule, und ein Semester lang wird niemand auf dich schießen und dich jagen und … nur ein Semester lang werde ich mich nicht ständig fragen müssen, ob meine Tochter ihren Schulabschluss erleben wird oder nicht.«

»Wir sind Zwölftklässlerinnen«, sagte ich. »Im nächsten Monat werde ich achtzehn.«

»Dann benimm dich auch so!«

Die Worte meiner Mutter trafen mich wie eine Ohrfeige. Für sie und Bex’ Eltern war diese Diskussion zu Ende. Sie hatten uns besiegt.

»Schaut euch das Feuerwerk an!« Bex’ Mutter legte ihren Arm um meine Schultern. »Geht und seid jung! Amüsiert euch! Genießt den Abend!«

Observierungsbericht

Die Agentinnen Baxter und Morgan wurden um 23 Uhr mit der Aufforderung, sich zu amüsieren, vorübergehend aus ihrem sicheren Unterschlupf in London verbannt. Die Agentinnen waren derzeit jedoch nicht mit den Regeln des »Amüsierens« vertraut und beschlossen daher, sich über ihre Einsatzziele Sorgen zu machen.

Die Leute auf der Straße trugen komische Hüte und sangen Lieder, die ich nicht kannte, während sie lachend zum Trafalgar Square, zum Piccadilly Circus, auf Partys und in Kneipen gingen.

Weder ich noch Bex lächelten. Sie hängte sich bei mir ein und sah chic, cool und europäisch aus. Ich selber fühlte mich lahm, ungeschickt und amerikanisch.

»So«, fragte Bex, »wie hat dir deine erste Erfahrung an der Uni gefallen?«

»Ich hab, ehrlich gesagt, keinen großen Unterschied zu meiner Erfahrung an der High School festgestellt.«

Bex seufzte. »Ich weiß, was du meinst. Falls ich jemals einen Punkt in meinem Leben erreiche, an dem ich nicht von Scharfschützen umgeben bin, werde ich vielleicht verrückt. Oder ich backe. Ich könnte wirklich anfangen zu backen. Was meinst du?«

»Liz hat angefangen zu backen«, gab ich Bex zu bedenken.

»Ja, aber ich wäre besser. Aus mir würde eine super Bäckerin werden.«

Aber irgendetwas sagte mir, dass ihr die Scharfschützen doch wesentlich lieber wären.

Die Menschenmengen wurden dichter. Wir kamen an Frauen mit Federboas um den Hals und an Studenten mit hochgeschlagenen Kragen vorbei. Ich hatte das Gefühl, in der Masse zu verschwinden, und kam mir trotzdem wie das auffälligste Mädchen der Welt vor.

»Alles ist okay, Cam«, sagte Bex.

»Was?«, fragte ich.

»Jetzt hast du dich zum vierten Mal in den letzten neunzig Sekunden nach unserem Beschatter umgeschaut.«

»Du machst das auch!«, sagte ich.

»Ja, klar. Weil ich entsprechend geschult worden bin. Und nicht, weil ich Angst habe.«

»Ich habe keine Angst.«

»Nach allem, was du im vergangenen Jahr erlebt hast, kannst du nur ängstlich oder verrückt sein«, sagte Bex. Ich musste an Dr. Steve denken und mich fragen, wie viele Spiele er mit meinem Kopf veranstaltet hatte, als meine beste Freundin hinzufügte: »Und du bist nicht verrückt.«

Bex lächelte mich genau wie ihre Mutter an. Was sie gesagt hatte, hätte ihr Vater auch so formuliert. Ich kannte keinen anderen Menschen, der zu gleichen Teilen genau wie seine Mutter und sein Vater war. Aber vielleicht täuschte ich mich. Vielleicht war ich selbst ja auch zur Hälfte wie mein Vater. Doch mein Vater war weg. Tot. Und ich würde es nie erfahren.

»Sag’s mir noch mal!«, forderte ich Bex auf.

»Die Anführer des Zirkels – auch der innere Zirkel genannt«, fügte Bex augenzwinkernd hinzu, »wollten dich töten, damit du der psychotischen Mutter deines Freundes … und meiner Mutter … und deiner Mutter nicht sagen könntest, wer den Zirkel vor ewigen Zeiten gegründet hat. Ohne Liste hätte niemand erfahren, wer zu dem inneren Zirkel gehört. Aber du hast dich erinnert, meine geniale Freundin. Du hast dich erinnert, wer auf der Liste stand, und jetzt wissen wir alle, wer auf dieser Liste stand, und deshalb brauchst du für den inneren Zirkel nicht mehr tot zu sein.«

»Gut«, sagte ich und nickte.

»Sie würden dich wahrscheinlich trotzdem töten. Aus reiner Bosheit, verstehst du? Aber, Cam, auf dich ist kein Kopfgeld mehr ausgesetzt. Du bist jetzt eher in Sicherheit.«

Ich nickte wieder und dachte an die andere Angst, die ich nicht loswurde. »Ist Preston in Sicherheit?«

»Meine Eltern glauben es jedenfalls. Und meine Eltern haben die extrem unangenehme Angewohnheit, immer recht zu behalten«, sagte Bex, aber ich musterte meine beste Freundin und die vielleicht talentierteste Spionin, die mir je begegnet war.

»Und was denkst du

»Ich denke, Preston ist wahrscheinlich momentan in Sicherheit, aber nicht für immer.«

»Ja, und ich denke andauernd …«

»An Knight?«, fragte Bex. Sie holte tief Luft. »Ich auch. Sollen wir raten, wovon er geredet hat? Wenn die Anführer des Zirkels etwas so Gewaltiges und Furchtbares planen, dass sich sogar Typen wie Knight fürchten, dann krieg ich selbst Panik.«

Bex ist der mutigste Mensch, den ich kenne. Ich übertreibe nicht, wenn ich das sage. Es ist die reine Wahrheit. Und ich kenne eine Menge extrem mutiger Leute. Aber in diesem Moment zitterte Bex – sie zitterte am ganzen Körper, als ob ihr Rückgrat prickelte. Als ob der Tod über ihr Grab gelaufen wäre.

»Wir werden es schon irgendwann rausfinden«, meinte ich.

»Stimmt.«

Keiner von uns sagte, was er dachte: dass ›es herauszufinden‹ der Teil war, der uns Angst machte.

Dann sah Bex mich wieder an. »Aber wir werden gewinnen, Cam. Wir werden die anderen Nachkommen der Leute auf der Liste finden und fertigmachen. Und wir werden Zachs Mutter finden und ihr das Handwerk legen. Wir werden es schaffen und …« Meine beste Freundin brach mitten im Satz ab. »Übrigens.«

»Was?«

»Frohes neues Jahr!«

Im selben Augenblick fingen die Autos an zu hupen. Lichter flackerten. Es knallte, und lila Streifen tauchten am Himmel auf und funkelten über London. Genau ein Jahr war vergangen, seit ich Zach hier gesehen hatte, seit Mr Solomon sich auf die Flucht begeben und meine Welt sich auf den Kopf gestellt hatte. Ich schaute in das Feuerwerk, das den ganzen Himmel einzunehmen schien. In genau so einem Moment tauchte Zach immer gerne auf, um etwas Schlaues zu sagen und mich zu küssen.

Ich erwartete fast, dass er in der Menschenmasse erschien, in einem Taucheranzug aus dem Fluss krabbelte oder sich von einem schwarzen Hubschrauber abseilte.

Aber es gab keinen Kuss.

»Frohes neues Jahr, Bex!«, sagte ich zu meiner besten Freundin. Dann drehte ich mich zu meinem Beschatter um und wusste, dass es so etwas wie einen neuen Anfang nicht gab. Und ich hatte keine Ahnung, ob dieses neue Jahr genau wie mein vorheriges sein würde.

Kapitel Vier

VOR- UND NACHTEILE, WENN MAN NACH FAST EINEM MONAT IN DIE GALLAGHER AKADEMIE ZURÜCKKEHRT:

VORTEIL: Wäsche. Grandma Morgan ist zwar eine hervorragende Büglerin, aber die Gallagher Akademie benutzt so ein super nach Lavendel duftendes Waschmittel, das tollste Zeug überhaupt.

NACHTEIL: Nichts kann einen so stark daran erinnern, dass man eine Menge Arbeit hat (und ich meine EINE MENGE), als wieder in der Schule zu sein.