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Inhalt

Die Mitte der Geschichte in der Mitte des Gesichtes

Der Duft von lila Hyazinthen

Berthas Frühling

Eine Tür zum Dach

Ein Wochenende im Zeichen der Steinpilzköpfe

Ich verschenke meinen Traum

Begegnung mit meinem »Traum-Mann«

Die Frau auf dem Dach und ein unerwarteter Gruß

Ein Trip in meine jüngere Vergangenheit

Eine ganz normale Ehe mit kleinen Schönheitsfehlern

Kein Mann für einen festen Job

Ein Bierchen mit BIG Boss

Künstlerelend und Journalistenleid

Ein Früchtchen namens Carola

Steife Haare und »Hab-Sonne-im-Herzen«

Der Mann fürs »grüne Gemüse«

Man gönnt sich ja sonst nichts!

Der erste Tag bei »Teleboss«

Haie beißen nur in der Nähe des Wassers

Rita taucht auf und wieder ab

Es lebe das gute Betriebsklima!

Eine Nachricht von Carola

Fernsehen ist, wenn sich was bewegt

Auswahl unter fünfzehn Galanen

Ein neues Gesicht mit Grübchen

Die Verhandlungen laufen an

Mit Brokkoli gegen Krebs und Migräne

Mein Leben ist ein Jammertal – mit Lichtblick

Kein Stress für Brokkoli

Über die Erotik von Zwiebeln und Knoblauch

Der tiefere Sinn von Rudi Mühlens Migräne

Rosi Ritzenbaum und das Delegationsprinzip

Der Befreiungsschlag im Morgengrauen

Nur nicht in den Spiegel gucken!

Die Großwildjagd an sich und im Besonderen

Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord

Eiche brutal und der Büroklassiker

Nackter Männerhintern sucht Besitzer

Ein Mörderhintern und bewegte Bilder

Endlich: Das eine Ende eines langen Fadens

Ein verwirrter Mann und zehn Tage für jeden Toten

Nur wir zwei – der Wahrheit verpflichtet

Ruf doch mal wieder an!

BIG Boss will seinen Pelz retten

Carolas mentale Sommerfrische

Moschus brutal für Alpha-Männchen

Eine sentimentale Minute und Berthas Geständnis

Die Waldmenschen mischen mit

Flirt für Anfänger und die Mann-Frau-Rituale

Binsenweisheiten und eine abgelegte Akte

Schreie in der Nacht

»Penne« im Haar und ein großes Stück Wahrheit

Jeder spürt den eigenen Schmerz

Vorletzter Ausklang: Sonne, Luft und Musik

Letzter Ausklang

Brokkolis Herzenswunsch

 

»Welche Todesart ziehen Sie vor?«, flüsterte er in mein Ohr.

»Erdrosseln, erstechen, ersäufen oder totficken?«

»Ich habe eine andere Idee«, sagte ich ruhig. »Ich möchte bei einem opulenten italienischen Essen vom Schlag getroffen werden. Aber erst in rund 50 Jahren. Könnten Sie das einrichten?«

 

*

 

Sprang der Bierstädter Fernsehjournalist John Masul freiwillig vom Dach des City-Center in den Tod oder hat jemand nachgeholfen? Maria Grappa erhält den Job des Toten bei der Firma TELEBOSS. Dort dreht man nicht nur über Krötenwanderungen und Schützenfeste Filme …

 

E-Book © 2013 by GRAFIT Verlag GmbH

(korrigiert nach den reformierten Regeln deutscher Rechtschreibung)

Originalausgabe © 1994 by GRAFIT Verlag GmbH

Chemnitzer Str. 31, D-44139 Dortmund

Internet: http://www.grafit.de/

E-Mail: info@grafit.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagillustration: Peter Bucker

eISBN 978-3-89425-983-9

Gabriella Wollenhaupt

 

 

 

Grappa dreht durch

 

 

 

Kriminalroman

 

 

 

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Die Autorin

 

 

Gabriella Wollenhaupt, Jahrgang 1952, arbeitet als Fernsehredakteurin in Dortmund.

Als Kriminalschriftstellerin debütierte sie im Frühjahr 1993 mit Grappas Versuchung. Es folgten zahlreiche weitere Romane mit und ohne Grappa. Sämtliche Ermittlungen der rothaarigen Reporterin sind als E-Book lieferbar (siehe www.grafit.de/service/programm/krimireihen/).

www.gabriella-wollenhaupt.de

Die Personen

 

 

Bettina Blasius überschätzt ihre Möglichkeiten.

Bertha Biber bleibt gelassen.

Bernhard Immanuel Gustav Boss schießt gern auf Tiere.

Alfons Brokkoli mag junges Gemüse.

Elvira G. lebt kurz und stirbt langsam.

Maria Grappa dreht deshalb durch.

Luigi behält den Überblick.

Carola Masul wird gerettet.

John Masul scheitert und fällt.

Rita Masul muss sich umstellen.

Rudi Mühlen hat eine schwache Gesundheit.

Rosemarie Ritzenbaum liebt Kekse und Kerle.

Elvis Wüsten sieht ganz genau hin.

Vanessa telefoniert gern.

Mike Zech hält sich tapfer.

Mord ist der Wollust nah

wie Rauch dem Feuer.

 

William Shakespeare

Die Mitte der Geschichte in der Mitte des Gesichtes

 

 

Er war jung, gemein und beherrschte seinen Job. Der erste Schwinger traf mich an der rechten Wange. Ich riss meinen Arm schützend vors Gesicht. Er holte nicht weit aus, sondern gewann seine Kraft aus kurzen kräftigen Stößen. Die Faust landete in meiner Magengrube, und ich klappte in der Mitte zusammen. Ich ging zu Boden, rollte mich auf die Seite, um ihn mit den Beinen abzuwehren. Jetzt nahm er nicht mehr die Hände, sondern trat zu. Ich spürte, dass irgendetwas in meinem Oberkörper seinen ursprünglichen Platz verließ. Ich schrie zum ersten Mal. Der Laut war pure Angst.

Dann spürte ich keine Schmerzen mehr, hielt mit den Händen mein Gesicht und hoffte, dass es bald vorüber wäre. Stiefel traktierten meinen Rücken. Ich dachte an nichts. Mein Mund füllte sich mit Blut.

Durch einen feuchten, dunklen Schleier nahm ich die Sirene des Polizeiwagens wahr. Der Angreifer stoppte seine Tritte. Ich blickte zu ihm hin. Der Junge war lang, dünn und sehnig. Er hatte den Kopf in die Richtung der Sirene gedreht, schnüffelte, nahm Witterung auf wie ein Tier. Dann türmte er.

Ich hörte Türenschlagen und Menschen, die auf mich zuliefen. Ich war in Sicherheit. Fachkundige Griffe beförderten mich auf eine Trage. Ein Sanitäter sprach beruhigend auf mich ein. Dann wurde mein Blick unscharf, und ich verlor die Besinnung.

Doch – Geschichten sollten von Anfang an erzählt werden und nicht in der Mitte beginnen.

Der Duft von lila Hyazinthen

 

 

Es begann mit einem Überraschungsbesuch. Der Mann war etwa eins achtzig groß und mager. Seine Schuhe waren an den Fußspitzen angestoßen, ein Schnürband war zerrissen und wieder notdürftig zusammengeknüpft worden. Mein Blick fiel auf die Hosenbeine, die unter dem weiten Mantel herausragten. Sie hatten Knitterfalten und waren mit weißem Staub bedeckt, so, als habe er die Nacht auf einer Baustelle verbracht und neben einem Zementsack geschlafen. Ich hatte ihn nicht kommen hören, und jetzt stand er plötzlich da.

Seine Stimme war leise, als er sagte: »Ich bin gerade ermordet worden!«

Na klar, dachte ich, jeder in der Stadt weiß, dass man mir jede Wahnsinnsstory auftischen kann. Grappa, die Frau für die ganz dämlichen Geschichten! Zu diesem Image passte ein gepflegter Dialog mit einem gerade Gemeuchelten.

»So, so«, knurrte ich, »Sie sind also gerade ermordet worden. Und wie haben Sie Ihren Leichnam die fünf Etagen in meine Wohnung geschleppt? Sie haben wahrscheinlich den Lift genommen, oder?«

»Es hat doch noch niemand bemerkt, dass ich tot bin!« Es klang vorwurfsvoll.

»Entschuldigen Sie bitte, dass ich so dumme Fragen stelle! Sie sind also tot. Und warum kommen Sie ausgerechnet zu mir?«

»Weil Sie meinen Mörder finden sollen!«

Ich lachte auf. »Sie haben sich in der Tür geirrt. Das Polizeipräsidium liegt ein paar Blocks weiter. Ich bin Journalistin und kein Bulle. Glauben Sie mir, Sie sind bei mir an der falschen Adresse!«

Mein Einwand beeindruckte ihn nicht, denn er rührte sich nicht vom Fleck. Ich betrachtete ihn. Viele Männer sahen aus wie er. Mittleres Alter, die Figur noch in Form und der Gang noch elastisch. Doch woher wusste ich das überhaupt? Der weite Mantel verhüllte seinen Körper, und seinen Gang konnte ich nicht kennen, denn er war aus dem Nichts aufgetaucht.

»Dieser Geruch! Was riecht hier so stark?« Seine Stimme hatte eine Mittellage, war ohne Akzent oder geografische Färbung. Irgendwie neutral. Zu neutral, um beim ersten Hören sympathisch zu sein.

»Das sind die Hyazinthen auf dem Tisch dort!«, beantwortete ich seine Frage. »Ich mag den Geruch auch nicht. Er ist zu stark, um natürlich zu sein. Er betäubt meine Sinne. Ich weiß gar nicht, wer sie hierher gestellt hat!«

Die schweren wachsartigen Blüten waren dunkellila, der hellgrüne Stängel brach aus einer Zwiebel heraus. Die bleichen Wurzeln ragten in eine mit Wasser gefüllte Schale.

»Übernehmen Sie meinen Fall?«, wollte er wissen.

Wie im Film, dachte ich, ein Unbekannter beauftragt die clevere Privatdetektivin mit einem ungewöhnlichen Fall. Doch dass die Klienten vorgeben, tot zu sein, war eine Variante des Themas, die ich noch nicht kannte.

»Ich arbeite gerade an einer Serie«, log ich, »über Drogenhandel und Prostitution. Ich hätte gar keine Zeit, mich um Ihren Fall zu kümmern. Also gehen Sie besser woanders hin.«

»Ich weiß, dass Sie im Moment unbeschäftigt sind. Auf Ihrem Konto ist kaum Geld, und Sie überlegen, ob Sie wieder eine feste Anstellung annehmen sollen. Das ist die Wahrheit, Frau Grappa!«

Damit hatte er zielsicher ins Schwarze getroffen. Ärger stieg in mir hoch. Was bildete sich dieser Bursche ein? Doch ich konnte nicht leugnen, dass mein Interesse an dem Fall gestiegen war.

»Hören Sie! Was ich tue und lasse, das ist allein meine Sache! Auch der Zustand meines Kontos geht nur mich etwas an. Schauen Sie sich an! Sie stehen plötzlich hier und behaupten, tot zu sein. Ist das etwa die feine Art? Außerdem sollten Sie endlich Ihren dämlichen Hut abnehmen! Ich hasse es, wenn Männer ihr Gesicht im Schatten einer Hutkrempe verstecken!«

Er gab den Blick auf sein Gesicht frei. Die Augen waren rot entzündet und von tiefen Ringen umrahmt. Das volle Haar war ohne Glanz und wirkte verfilzt, als sei es einige Wochen nicht mehr gewaschen worden. Seine Hände waren knöchern und drehten den schwarzen Hutrand entgegen dem Uhrzeigersinn.

Ich deutete auf einen Stuhl. »Bitte setzen Sie sich!«

»Mein Rückgrat ist zerschmettert«, behauptete er, »ich will es aber versuchen.«

»Na also«, lobte ich ihn, nachdem er sich mit einem Seufzer in den Freischwinger hatte fallen lassen, »für einen Toten sind Sie erstaunlich fit. Und jetzt erzählen Sie Ihre Geschichte!«

»Ich bin vom Dach eines achtzehnstöckigen Hochhauses gesprungen. Als ich unten aufschlug, starb ich.«

Das klang plausibel. »Welches Haus war es? Ich kenne gar kein Haus mit achtzehn Etagen in Bierstadt!«

»Das Verlagshaus am Hauptbahnhof. Das City-Center.«

Er hatte recht. Der Bau war gerade fertiggestellt worden. Er überragte mit über 70 Metern alles, was in Bierstadt in den letzten Jahren errichtet worden war. Aber ich hatte nie etwas von einem Sturz gelesen.

»Wenn Sie gesprungen sind, dann war es aber Selbstmord«, widersprach ich, »Sie haben aber eben von Mord geredet!«

Er nickte, erhob sich und ging durch den Raum. Sein Mantel hatte auf der Rückenseite dunkle Flecken, die mich an eingetrocknetes Blut erinnerten.

»Es war Mord«, sagte er dann und wandte mir wieder sein Gesicht zu, »ich bin nicht freiwillig gesprungen!«

»Hat Sie jemand gestoßen?«

»Nein. So war es nicht. Ich bin gesprungen, weil mich mein Mörder dazu gebracht hat.«

»Hören Sie! Wenn Sie selbst gesprungen sind, kann niemand dafür verantwortlich gemacht werden.«

Ich wurde ungeduldig. Da wollte jemand meine Zeit stehlen. Der Duft der Hyazinthen war inzwischen unerträglich geworden und legte sich wie ein schwerer Schleier auf meine Gedanken. Ich musste die Blumenschale wegschaffen. Unsicher griff ich nach ihr. Wo sollte ich sie hinstellen?

Ich erstarrte. Die Wohnungseinrichtung war mir völlig unbekannt. Diese Blümchentapete hatte ich noch nie gesehen, auch die Möbel waren mir plötzlich fremd.

Ich sprang auf, lief zum Fenster und sah in weiße Wolken, über denen sich ein gleißend-blauer Himmel erhob. Eine Wolkengruppe riss auf. Ganz tief unten sah ich die Dächer von Häusern und einige Waldstücke. Wir befanden uns weit über den Wolken!

Meine Hände zitterten. Die Blumenschale fiel hin und zersplitterte.

»Wo bin ich?«, schrie ich voller Panik. »Wer sind Sie?«

Ich drehte mich um. Der Mann war verschwunden. Nur sein Hut lag noch auf dem niedrigen Tisch.

Ich wollte den Raum verlassen, doch meine Beine gehorchten mir nicht. Sie klebten wie Blei am Boden. Ich sah mich plötzlich selbst, wie ich versuchte, ein paar Zentimeter voranzukommen.

Dann ein Schnitt in mein Bewusstsein. Das Telefon klingelte. Ich reagierte nicht sofort, brauchte eine Weile, um zu wissen, dass ich wieder in meiner vertrauten Umgebung war.

Ich griff zum Hörer.

»Hallo, Grappa!«, sagte eine muntere Stimme. »Liegst du etwa noch im Bett? Ich habe frische Brötchen gekauft und komme jetzt gleich bei dir vorbei. Was ist mit dir? Warum sagst du nichts?«

Ich krächzte »Okay«.

Bertha gab einen zufriedenen Laut von sich. Ich wartete eine Weile und setzte mich dann im Bett auf. Es war alles wie immer. Nirgendwo die Spur von einem Unbekannten, der mir weismachen wollte, er sei soeben ermordet worden.

»Das war eine schlechte Nacht!«, sagte ich zu meiner Katze, die um meine nackten Beine strich. Zusammen mit dem warmen Wasser der Dusche verschwand der merkwürdige Traum im Abfluss.

Als ich in meiner Küche die Kaffeemaschine anwarf, glaubte ich, einen Hauch von Hyazinthenduft zu schnuppern.

»Gleich drehst du durch«, murmelte ich.

Berthas Frühling

 

 

Frauen in Berthas Alter fristen ihr Leben normalerweise in einem dieser vielgepriesenen städtischen Altenheime, in denen die alten Leutchen nach den modernsten Erkenntnissen der Geriatrie versorgt und verwaltet werden. Ich konnte mir Bertha allerdings nicht im Spannungsfeld zwischen Stricken, Fernsehen, Kreuzworträtseln und Mahlzeiten vorstellen, in einer Atmosphäre, in der bürgerliche Ehekriege im Nachhinein verklärt wurden und alte Männer drallen Altenpflegerinnen Avancen machten.

Bertha war nicht meine leibliche Tante, obwohl ich sie allen so vorstellte. Ich kannte sie seit knapp zwei Jahren. Eine meiner Sozialreportagen für das »Bierstädter Tageblatt« hatte uns zusammengeführt. Damals musste Bertha Biber ihre alte Villa verlassen, weil sie einzustürzen drohte. Einer von Berthas Mietern, ein labiler junger Mann, hatte an der Gasleitung gespielt und sich in die Luft gesprengt. Liebeskummer. Der Mann war nach dem Bumms hin, das Haus leider auch. Bertha hatte noch nicht mal eine Schramme abbekommen, denn sie wohnte im Erdgeschoss. Die Wucht der Explosion hatte das obere Stockwerk mit den stuckverzierten Erkern weggefegt, so, als sei das Haus mit einem riesigen Rasiermesser geköpft worden.

Die Stadt verfügte, dass das Haus abgerissen werden musste. Da interessierte mich die Story noch nicht.

Als Bertha jedoch 150.000 Mark für die Entsorgung des Bauschutts auf der städtischen Mülldeponie bezahlen sollte, schrieb ich die Geschichte einer alten Frau, die durch die gnadenlose Kombination sturer Bürokratie, abgrundtiefer Dummheit und dreister Geldgier in den Ruin getrieben wurde.

Die Story war schön gemenschelt. Bertha hatte gleich begriffen, auf was es ankam, und ihre silberfarbenen Leggings und die schreigelbe Bluse gegen eine schwarze Hose und eine weiße Batistbluse ausgetauscht, als der Fotograf kam.

Die Lagerungsgebühr wurde der armen alten Frau erlassen, die Versicherung zahlte, und Bertha zog in mein Haus, in dem gerade eine Wohnung freigeworden war.

Bertha war schrill und rüstig wie ein alter Drache, der sein Leben lang junge Prinzen geknuspert hatte. Obwohl sie die Sechzig längst überschritten hatte, fand ab und zu ein männliches Wesen den Weg in ihr Bett. Keine Tattergreise, sondern recht rüstige Exemplare dieser Spezies, auch wenn sie die Rolle vorwärts über die Spüle vermutlich freiwillig aus ihrem Repertoire gestrichen hatten.

Bertha nannte die Herren »Pralinés«. An ihrem 65. Geburtstag hatte sie mich mit der Feststellung überrascht, künftig auf schokoladenüberzogene Appetizer verzichten zu wollen.

»Ab heute bin ich eine würdige alte Dame«, kündigte sie an, »keine Männer mehr. Ich habe keine Lust mehr auf schlaffes Fleisch, endlose Krankengeschichten, Haarschuppen und wehe Füße. Die Heldentaten aus dem letzten Krieg öden mich an, und die Kochrezepte dahingeschiedener Gattinnen rauben mir den Schlaf. Und jetzt geh ich los und kauf mir eine Perlenkette.«

Eine Stunde später kam sie mit einem zweireihigen, vornehm glänzenden Austernprodukt zurück. Es zierte bereits ihren Hals.

»Ist die etwa echt? Natürlich ist die echt! Wie viel?«, fragte ich.

»Ich habe keinen Pfennig dafür bezahlt!«

Sie grinste schelmisch, zog ihren grellroten Lackmantel aus, schlüpfte aus ihren hochhackigen Schuhen und setzte den Hut mit der Straußenfeder ab.

Der Champagnerkorken knallte. Ich wusste, dass Bertha Biber auf ihre eigene Art eingekauft hatte. Am nächsten Tag las ich in der Zeitung über eine Trickdiebin, die den Inhaber eines Juwelierladens auf Bierstadts Goldener Meile verwirrt und um eine Perlenkette betrogen hatte.

Eine Tür zum Dach

 

 

Der Mann aus meinem Traum ließ mich nicht mehr los. Nach einem opulenten Frühstück mit Bertha dachte ich nach. Alles war so konkret gewesen: Das Zimmer, das nicht meins war, die Aussagen des Unbekannten, der sich für tot hielt, und der dreiste Duft der Hyazinthen.

Ich nahm mir ein paar Stunden Zeit und durchforstete das Pressearchiv der Bibliothek. Doch nirgendwo fand ich einen Hinweis auf einen Mann, der sich vom Dach des neuen Verlagshauses in den Tod gestürzt hatte.

Ich war drauf und dran die Sache zu vergessen, sie einfach abzulegen in eine Schublade meines Gehirns, die ich nicht mehr öffnen würde. Er hatte mich aufgefordert, seinen Mörder zu finden, doch wo sollte ich ihn suchen, wenn es noch nicht mal eine Leiche gab?

Ich hatte Bertha von dem beklemmenden Traum erzählt. Doch auch sie wusste keinen Rat.

»Vergiss das Ganze«, meinte sie, »du machst dich sonst völlig verrückt.«

Also vergaß ich das Ganze und wandte mich meinem Tagesgeschäft zu, dem Schreiben von Zeitungsberichten, die den Lesern ein Teil der Wahrheit oder der Wirklichkeit vermitteln sollten.

Das »Bierstädter Tageblatt« war noch immer mein Haupternährer, doch ich arbeitete auch für Radios und Fernsehanstalten, rezensierte Neuerscheinungen und schrieb Kochbücher. Vorzugsweise über die »Italienische Küche«. Für ein Gourmet-Magazin veranstaltete ich ab und zu Wochenendseminare, in denen gut betuchte Managergattinnen für 2000 Mark pro Wochenende lernen konnten, wie man Spaghetti auf den Punkt kocht. Ich war an den Seminaren mit 30 Prozent beteiligt, was die roten Zahlen auf meinem Konto in den schwarzen Bereich brachte.

Ein ruhiges Leben – zu ruhig für meinen Geschmack. Es war Zeit, dies zu ändern.

Etwa eine Woche nach dem Traum fuhr ich mit meinem Auto am Bierstädter Hauptbahnhof vorbei. Eigentlich war ich in Eile, doch als ich das Verlagshochhaus sah, das sich neben der Straße protzig erhob, stoppte ich und suchte mir einen Parkplatz.

Dann stand ich davor. Das Haus bestand aus zwei Gebäudeteilen. Ein fast dreieckiger Bau mit abgerundeten Linien – er wurde »Tortenstück« genannt – schmiegte sich in die Kurve der Straße, dahinter erhob sich der hohe schlanke Turm der achtzehn Etagen. Viel Glas war verbaut worden, Edelstahl und Marmor. An einer schmalen Seite sausten gläserne Fahrstühle auf und ab.

Ich trat durch das Portal und stand verloren in einer fünfstöckigen Halle, die von der Frühlingssonne durchflutet wurde. Mein Blick fiel auf Kunst. Ein überlebensgroßer kupferner Mann reckte zwei lange Arme in die Luft – so, als wolle er die ganze Welt umfassen. Ein Bildhauer aus den neuen Bundesländern hatte hier gewirkt.

Ich sah mir den Burschen näher an. Unter der Brust des kupfernen Kerls wölbte sich ein strammer Hintern, während er die Geschlechtsteile unter dem Rücken trug. Die Skulptur hieß »Aufwärts«. Wohl ein Sinnbild für das engagierte Unternehmertum in Bierstadt.

Der Fahrstuhl schwebte aus halber Höhe nach unten. Ich wollte ihn gerade besteigen, als mich der Pförtner ansprach. Er sei verpflichtet, jeden Besucher in ein Buch einzutragen. Warum nicht? Ohne zu überlegen, nannte ich ihm einen falschen Namen.

Ich betrat den Lift und drückte auf die Nummer 18. Vornehm leise schloss sich die Fahrstuhltür, und ich schwebte – nur von Glas umrahmt – nach oben. In nur 18 Sekunden bis unters Dach, so hatte ich gelesen.

Ich schloss die Augen, als die Autos unter mir immer kleiner wurden und mein Magen Flügel bekam.

Oben angekommen, betrat ich zögernd den marmornen Boden. Und wurde schon wieder mit Kunst konfrontiert. Ein kleiner Bruder des Herrn aus der Halle saß nachdenklich auf einem Stuhl und war in ein Buch vertieft. Seine Augen waren tot.

»Hallo, Süßer!«, sprach ich ihn an. Er regte sich nicht. Ich ließ ihn auch links liegen und schaute mich um. Die Sicht war atemberaubend. Zur Straße hin konnte man die gesamte Stadt überblicken, Miniaturzüge fuhren rückwärts in den Hauptbahnhof ein und rechts sah man einer Bierstädter Brauerei aufs große leuchtende »U«, dem Firmenzeichen. Die Sonne schien, und die Luft war so klar, dass ich kilometerweit sehen konnte. War dies der Blick aus dem Fenster meines Traumes gewesen? Ich wusste es nicht mehr. Wie es wohl ist, von hier oben in die Tiefe zu springen?, fragte ich mich. Wie fühlt sich ein Springer, wenn auf halbem Weg die Gewissheit kommt, eine grundlegend falsche Entscheidung getroffen zu haben?

Ich atmete ein paar Mal tief ein, überzeugte mich, dass ich allein war, und begann mit meiner Suche. Wie war es möglich aufs Dach zu kommen? Alles schien dicht. Ich überprüfte einige Türen in der Nähe des Fahrstuhls. Schwerer Stahl. Ich drückte die Klinken herunter, sie waren verschlossen.

Ein zischendes Geräusch ließ mich erschrecken. Jemand holte sich den Fahrstuhl. Er schwebte leise nach unten und ließ mich allein. Ich hörte den Frühlingswind, der sich unter dem Dach verfing. Ein fremdes, unwirkliches Brausen.

So kam ich nicht weiter. Unschlüssig ging ich einen Flur entlang und überprüfte die Firmenschilder an den weißen Türen. Moderne Dienstleistungsbetriebe tummelten sich hier oben: Druckereien, Fotolabors, Softwarefirmen.

Eine der Türen öffnete sich plötzlich, und ein junger Mann quälte sich auf den Flur. Ich war erleichtert, hier oben jemanden zu sehen. Mit beiden Händen hielt er einen großen Pappkarton. Er fluchte leise, denn das Ding war schwer.

Ich konnte noch nie mit ansehen, wenn Männer schwer tragen müssen. Ich griff zu.

»Danke!«, meinte er verblüfft. Wir schleppten den Karton in Richtung Aufzug.

Der gläserne Korb surrte heran, war da, wir stiegen ein und setzten den Pappbehälter auf dem Boden ab.

»Uff!«, gab er bekannt. »Wollen Sie auch nach unten?«

Ich widersprach nicht. »Arbeiten Sie hier oben?«, fragte ich ihn, nachdem sich die Tür geschlossen hatte. Er blickte mich an, als hätte ich ihn aus wichtigen Gedanken gerissen.

»Ich bin Chef des Computer-Print-Service!«, enttarnte er sich und fügte stolz hinzu: »Das ist ein ganz neuer Betrieb für Text- und Bildverarbeitung. Fotos und Texte können wir in wenigen Minuten druckfertig und in höchster Qualität erstellen. Bis zum postfertigen Mailing.«

»Das ist ja toll!« Ich strahlte ihn an, als hätte ich nur auf diese Enthüllung gewartet. Er war knapp über zwanzig, sah aus wie ein Schuljunge, trug einen Bürstenhaarschnitt, einen Anzug in einem frechen Grau und eine Krawatte mit kleinen Donald Ducks. Er war der Typ des cleveren Jungunternehmers, der das Wort »Arbeiter« nur aus Betriebswirtschaftsbüchern kennt und »Solidarität« für eine ansteckende Krankheit hält.

Ich beschloss, den Dialog mit ihm auf das Wesentliche zu beschränken.

»Wie kommt man eigentlich aufs Dach?«, fragte ich.

»Auf welches Dach?«

»Auf das Dach dieses Hauses!«

»Was wollen Sie denn da oben?«

Er starrte mich an wie eine potenzielle Selbstmörderin.

»Meine Frage ist rein theoretisch«, stellte ich klar, »ich bin nicht schwindelfrei und froh, wenn ich wieder aus diesem Aufzug raus bin und festen Boden unter den Füßen habe.«

Wir waren unten angekommen. Die Tür öffnete sich, um uns in das Foyer auszuspucken. Ich war erleichtert, eine Menge Menschen zu sehen, die kamen, gingen, redeten und warteten.

Ich wiederholte meine Frage nach dem Weg zum Dach.

»Da gibt es eine schmale Treppe«, erinnerte er sich, »ich hab da mal Handwerker raufgehen sehen. Die Stufen führen zu einer schweren Eisenklappe, die geöffnet werden kann. Die Stufen allerdings sind noch mal durch eine Stahltür abgesichert, die immer verschlossen ist.«

»Sind Sie mal auf dem Dach gewesen?«

»Um Himmels willen! Mir reicht die Aussicht aus meinen drei Bürofenstern.«

»Hat sich mal jemand vom Dach gestürzt?«

Er bekam wieder seinen misstrauischen Blick und zögerte mit der Antwort. Die verbale Konfrontation mit dem Leben außerhalb von Post-Mailing und Profit machte ihn unsicher.

»Also – war da mal was? Ein Unfall vielleicht?«

»Nicht, dass ich wüsste!«, kam es dann. »Die Tür ist immer verriegelt. Hab ich Ihnen ja bereits gesagt.«

»Wo ist der Schlüssel zu der Tür?«

»Keine Ahnung. Warum wollen Sie das eigentlich wissen?«

In seinem Blick kamen wieder Zweifel hoch, ob er es nicht doch mit einer lebensmüden Frau mittleren Alters zu tun hatte. Ich ließ ihn stehen, deutete eine Verabschiedung an.

»Moment, ich muss Sie wieder austragen!«, sagte eine Stimme hinter mir. Es war der Pförtner, der seinen Platz hinter dem Empfang verlassen hatte, und mir gefolgt war.

»Warum so viel Aufwand?«, wollte ich wissen.

»Anweisung. Jeder, der das Haus betritt und verlässt, wird ein- und ausgetragen. Sicherheitsmaßnahmen.« In seiner Stimme schwang Stolz über das ausgeklügelte Überwachungssystem.

»Und wenn jemand einen falschen Namen nennt?«

»Ich hab einen Blick für Menschen«, prahlte er. »Sie waren doch Frau Meier, oder?«

Ich nickte und lobte sein Gedächtnis. Zufrieden trollte er sich.

Draußen war die Luft frühlingshaft kühl. Langsam schlenderte ich in Richtung Parkplatz. Warum hatte ich einen falschen Namen angegeben? Ich wusste es nicht. Ich werde langsam komisch, dachte ich, erst dieser blöde Traum und nun eine Lüge, die zu nichts nutze war.

Unter meinem Scheibenwischer prangte ein Gruß des Bierstädter Straßenverkehrsamtes: Man wollte einen Zehner von mir, weil die Parkuhr abgelaufen war. Gerade mal fünf Minuten. »Diese Frauen lauern in Bierstadt hinter jedem Busch«, murmelte ich genervt.

Als ich den Autoschlüssel ins Schloss steckte, erblickte ich einen Lieferwagen, der auf seinem offenen Laderaum Blumen transportierte. Neben den üblichen Frühlingsblumen wie Narzissen und Tulpen hatte er mehrere Paletten Hyazinthen geladen. Ihr Duft streifte beim Vorbeifahren meine Nase.

Ein Wochenende im Zeichen der Steinpilzköpfe

 

 

Die Küche war groß und geräumig. Ich stand an dem Küchenblock mitten im Raum und hatte sieben wissensdurstige Kursteilnehmer um mich versammelt, die von mir schnuckelige Zaubereien aus dem Reich der italienischen Küche erwarteten. Sie sollten kriegen, was sie teuer bezahlt hatten.

Die Kurse fanden auf einem Weingut zwischen Florenz und Siena statt. Sanfte Hügel, dunkle Zypressen, ab und zu ein niedrig gebautes toskanisches Landgut, das sich malerisch in die Landschaft einfügte – die Gegend zog mich seit Jahren magisch an. Es war mir, als spürte ich die gewaltige Geschichte der Landschaft und ihrer schönen Städte, wenn ich ein paar Frühlingswochen hier verbrachte.

Es war Zeit für meinen Einführungsvortrag.

»Ich begrüße Sie alle ganz herzlich zu dem ersten Teil unserer Kochschule, in der ich Ihnen einige grundlegende Kenntnisse vermitteln möchte. Zuerst ein paar Informationen zu dem Land, in dem wir uns befinden. Die stiefelförmig aussehende italienische Halbinsel verbindet Mitteleuropa mit dem afrikanischen Kontinent. Unterschiedlichste Landschaften und Kulturgebiete gehen in den über tausend Kilometern nahtlos ineinander über. Von den italienischen Alpen bis zu den dürren Weiten Siziliens gibt es deshalb auch viele Geschmacksrichtungen und Zubereitungsgewohnheiten. Je weiter südlich, desto derber und ländlicher wird die Küche. Die Menschen werden ärmer, können ihr Essen also nicht so fein und raffiniert herrichten wie die Menschen im Norden.

In diesem Wochenendseminar werde ich Ihnen einen ersten Eindruck über die Vielfalt der italienischen Küche, inklusive ihrer Weine vermitteln.«

Ich hatte diese Einführung schon neunmal zum Besten gegeben. Die heutige Nummer zehn war der Abschluss der »Italien-Kochschule«, die ich im Auftrag des »Gourmet-Magazins« veranstaltete. Kein besonderer Auftrag, der die Gesellschaft politisch ein Stückchen weiter brachte. Immerhin konnte ich hier drei meiner Passionen miteinander verbinden: Die Liebe zu Italien, der dazugehörenden Küche und der Weine.

Ich sah zufriedene Gesichter um mich herum. Dass sieben Leute jeweils 2000 Mark pro Person für etwas bezahlten, das sie in jedem Kochbuch nachlesen könnten, würde ich nie begreifen. Vermutlich gehörte ein Kochseminar bei ihnen genauso zum kulturellen Leben wie der Besuch einer Jazz-Matinee oder die vierteljährliche Urschrei-Therapie. Jeder nach seinem Geschmack, dachte ich.

Die Gruppe bestand dieses Mal aus einem jungen Mann mit schütterem blonden Haar und Nickelbrille, einer flotten Chefsekretärin, einer wohlproportionierten Unternehmerin, einem angegrauten Vorruheständler aus der Stahlbranche, der das Wochenende bei einem Preisausschreiben gewonnen hatte, einem pensionierten Oberst der Bundeswehr mit Bürstenhaarschnitt und einem schwulen Schauspielerpaar. Eine bunte Truppe also.

»Die klassische Küche Italiens besteht aus einer Vorspeise, dem ersten Gang, dem zweiten Gang und dem Dessert. Zu einem italienischen Essen gehört immer Wein, manchmal ein Aperitif und ein Verdauungsschnaps zum Espresso. Bevor wir mit der Vorspeise beginnen, noch eine Bemerkung. Die bekannte Pasta ist keine Vorspeise im klassischen italienischen Sinn, sondern der erste Gang eines kompletten Menüs. Die Antipasti sollen ein Festessen einleiten, den Appetit auf eine nette Weise anregen, die Zunge vorbereiten auf den Genuss, der danach folgt.«

Die Kundschaft raunte andächtig. Doch ich war noch nicht fertig: »Der Fantasie der Hausfrau oder des Hausmannes ist bei den Antipasti keine Grenze gesetzt. Vergessen Sie nie, dass das Auge auch mitspeist. Stimmen Sie die Zutaten farblich aufeinander ab, ordnen Sie sie dekorativ auf dem Teller an. Beginnen wir also. Heute stehen die ›Teste di funghi farcite‹ als Antipasta auf dem Programm. Dafür hat der Veranstalter, das ›Gourmet-Magazin‹, Steinpilze aus den Abruzzen einfliegen lassen.«

Die Unternehmerin stöhnte lustvoll auf. Ich grinste innerlich. Die Nummer mit dem »einfliegen lassen« zog immer, niemand schien zu wissen, dass auf der nördlichen Weltkugel um diese Jahreszeit kein frischer Steinpilz aufzutreiben war. Die Rundköpfe stammten aus der Tiefkühltruhe, sahen aber wie neu aus und dufteten genial.

Ich führte meine Jünger zu einem rustikalen Holzblock, auf dem ich die braunen Kostbarkeiten malerisch ausgebreitet hatte.

»Nehmen Sie sich bitte jeder einen Pilz«, schlug ich vor, »aber seien Sie vorsichtig, dass der Hut nicht zerstört wird. Nun greifen Sie bitte zu den Küchenmessern, die da rechts liegen, und kratzen die Röhren ganz vorsichtig aus. Achten Sie darauf, wie ich das mache!«

»Müssen die Dinger nicht erst mal gewaschen werden?«, schnarrte der Oberst außer Diensten.

»Befehl bereits weise vorausschauend ausgeführt, Herr General!«, gab ich zackig zurück. Die beiden Schwulen kicherten. Dann fingen alle brav an, mit den Messern die Pilze zu bearbeiten.

Als die Hüte hohl waren, ging's mit Elan an die Füllung. Stiele, Knoblauch und Kräuter wurden fein gehackt und mit Salz und Pfeffer gewürzt. Ein würziger Duft zog durch die Küche. Dann zeigte ich meinen Schülern, wie die Farce in die Höhlungen gestrichen wird. Sie sahen gebannt auf meine Hände.

»Und nun werden die ›funghi‹ in eine feuerfeste Form gelegt und bei 180 Grad – der Ofen sollte vorgeheizt sein – eine halbe Stunde gegart. Und fertig ist die Vorspeise!«

»Ich liebe alles, was mit Pilzen zu tun hat! Pilze sind etwas Ur-Weibliches!«, gestand die Chefsekretärin und vertiefte sich in die Augen des Nickelbrillenträgers, der bisher weitgehend stumm geblieben war. Der lächelte schüchtern und rückte einen Meter von ihr ab.

Während die Steinpilze schmorten, erklärte ich die Zubereitung der »Fusilli alla napoletana«, einer Pasta aus gedrehten Bandnudeln, Ricotta und Ziegenfleisch. Zwischendurch kostete ich den guten Tropfen des »San Severo« so intensiv, dass die »Ossibuchi della Festa« eine leichte Übung waren. Meine Schüler schabten, putzten, pfefferten, salzten, enthäuteten und plapperten, dass es eine Freude war.

Völlig erschöpft vom Kochen und Weintrinken – wir hatten drei Rotweinflaschen während des Kochvorgangs geleert – setzten wir uns schließlich an den großen Tisch und genossen ein köstliches Mahl.

Der Oberst erzählte, wie er es dem Russen vor über 50 Jahren gegeben hatte, die Schauspieler brabbelten über die neueste »Orlando«-Inszenierung an ihrer Provinzbühne, die Sekretärin gestand ihre Neigung zu Astrologie, und die Unternehmerin trank Brüderschaft mit dem Vorruheständler aus dem Stahlbetrieb. Alles war gut.

»Und nun gibt's Espresso und einen schönen, sanften Grappa!«, schloss ich den ersten Teil des Seminartages ab. Hier lachten immer alle. Heute war es nicht anders.

Erschöpft durch Lehren, Essen und Trinken fiel ich abends ins Bett meines Einzelzimmers. Morgen noch den Vortrag über italienische Weine, dachte ich, dann habe ich es hinter mir. Was tut der Mensch nicht alles, um finanziell über die Runden zu kommen!

Ich verschenke meinen Traum

 

 

»Du wirst nicht glauben, was passiert ist!«, empfing mich Bertha Biber aufgeregt, als ich müde und mindestens drei Pfund schwerer zu Hause auftauchte. Der Flug von Florenz zum Bierstädter Regionalflughafen war ohne Zwischenfälle verlaufen – wenn man von wetterbedingten Turbulenzen absah, die die kleine Maschine über den Alpen gebeutelt hatte.

»Dann lass dich nicht lange bitten«, sagte ich zu Bertha, »rück raus mit der Story.«

Sie hatte inzwischen den Karton mit Chianti classico entdeckt und blickte ihn sehnsüchtig an.

»Ist da etwa Wein drin?«, kam es dann schüchtern, als ich nicht reagierte.

»Ja, du Schnapsdrossel«, lachte ich, »schöner Chianti mit dem ›Gallo nero‹ auf der Banderole.«

»Als ich dich kennenlernte, habe ich nur Kräutertee gekannt, liebe Grappa«, log sie, »du hast mich in die Mysterien des Traubensaftes eingeführt.«

»Ach ja? Und was war mit diesen brutal süßen Damenlikören, die du jeden Abend lustvoll geschlürft hast?«

Sie überhörte meinen Hinweis auf die Welt des schlechten Geschmackes, denn sie kramte in der Küchenschublade nach dem Korkenzieher.

»Nun erzähl sie schon, deine Story!«, forderte ich, als sie mit zwei Gläsern und der Flasche zurückkam.

»Zuerst trinken wir auf deine Rückkehr!«

Nach dem »Plopp« reichte sie mir die Montagsausgabe des »Bierstädter Tageblattes«. Ich las:

 

Ein Selbstmörder hat am gestrigen Sonntag Polizei und Feuerwehr in Atem gehalten. Der 45-jährige Fernsehjournalist John M. war unbemerkt aufs Dach des Verlagshauses am Bahnhof geklettert und drohte, sich hinunter zu stürzen. Polizei und Feuerwehr, die durch Passanten alarmiert nach wenigen Minuten am Ort des Geschehens eintrafen, gelang es nicht, den Lebensmüden von seiner Tat abzubringen. Wenige Minuten, nachdem der Polizeipsychologe den Mann per Megafon zur Aufgabe zu überreden versucht hatte, sprang der 45-jährige vom Dach des achtzehnstöckigen Neuhaus. Er war sofort tot. John M. hinterlässt Frau und Tochter.

Unklar ist, wie der Tote aufs Dach gekommen ist. Nach Angaben der Polizei ist der Zugang auf das Gebäude normalerweise gesichert. Die Staatsanwaltschaft schließt Fremdeinwirkung aus. Die Ermittlungen dauern an.

 

Ich griff hastig zum Weinglas und trank.

»Das war er!«, rief ich aus. »Das war der Mann aus meinem Traum! Er muss es sein. Das Alter stimmt und die Umstände auch. Hat irgendeine Zeitung ein Foto von ihm veröffentlicht?«

Bertha schüttelte den Kopf. »Das tun die doch nie, das müsstest du doch am besten wissen. Wenn du wirklich wissen willst, ob er es ist, müssen wir seinen Namen rauskriegen und ihn uns im Leichenschauhaus angucken!«

»Deine Ideen sind außergewöhnlich. Aber – was soll das bringen? Selbst wenn er der Mann aus meinem Traum ist, ist er freiwillig gesprungen. Warum sollte ich einen Selbstmord untersuchen? Du hast mir doch auch geraten, den Traum zu vergessen!«

Bertha akzeptierte meine Weigerung nicht. »Da wusste ich aber noch nicht, dass er tatsächlich springt. Grappa! Der Mann in deinem Traum fordert dich auf, seinen Mörder zu suchen! Du hast das zweite Gesicht!«

»Quatsch! So was gibt es nicht. Wenn dich die Sache so interessiert, dann kümmere du dich doch drum!«, schlug ich Bertha vor. »Ich muss mich mit den Dingen befassen, die Geld bringen, denn ich muss meinen Lebensunterhalt verdienen. Also, Bertha, ich trete dir meinen Traum gerne ab! Du kannst ihn nehmen und damit machen, was du willst! Was sagst du zu meinem Vorschlag?«

»Okay«, stimmte sie zu, »doch ins Leichenschauhaus musst du noch mitkommen. Ich habe den Mann schließlich noch nie gesehen.«

»Und wenn er es nicht ist?«

»Dann vergessen wir die Sache.«

»Versprochen?«

Sie nickte.

»Du hast bestimmt schon einen Plan, wie du ins Leichenschauhaus reinkommst«, fragte ich, »oder muss ich mir da etwas einfallen lassen?«