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Inhalt

Rückentext

Die Autorin

Die Personen

Pudel, Hengst und Kant

Kein Trieb, kein Stress

Eiszapfen

Körbchengrößen

Roter Pfeffer

Geständnis

Auslauf wegen Madonna

Lolli-Tour

Widder, Löwe, Stier, Jungfrau

*bussiauffangundzurückwerf

Liebeleien

Brief aus der Wüste

Aussicht auf Frieden

Ganz Ohr

Frauenmörder

Magic Man und Zwiebelrostbraten

Quincys Vermächtnis

Für 15 Cent ein dreckiges Wort

Witwenschütteln

Schäbiger Abgang

Essen bei Ada

Bananensuppe

Herzlosigkeit und Herzflimmern

Schon über vierzig

Licht und Schatten

Hausputz

Wer ist 85 Doppel-D?

Caligula und Catilina

Planvoll – Planlos

Fehlanzeige

Schaben und Schleier

Ein Foto für SCUM

Zwei linke Hände

Schöner beichten

Kabel und Kleiderschrank

Stiefelchen und Lockvogel

Um Fische schlagen

Drei Männer und ein Profi

Tücken der Technik

Schöne Grüße

Kopflose Kopulation

Eindeutige Attacke

Der Wahrheit verpflichtet

Alibi und Affären

Idee beim Klavier

Theorien satt

Entdeckung

Kein heißes Wasser

Mal anrufen

Supercool

Die Richtigen und die Falschen

Eifersucht und Nylons

Hexenhammer

Liebe, kein Sex

Verschollen

Eifersucht und eine gute Idee

Weißglut und Wahrsagerei

Duftwolken und Stillosigkeit

Ausgetrickst

Verschwunden und verscharrt

Vergraben

Revolte und Schweigen

Kein Mitleid

Jenseits von allem

Pudel ade!

Provokation und Wahrheit

Gedächtnisschwund

Ausklang

 

»So. Dann fahre ich jetzt zu meinem Astrologen«, kündigte ich an. »Ein Blick in die Sterne kann ja nicht schaden.«

»Du fährst wegen Nagel dorthin?«, fragte Barbara ungläubig.

»Nein. Ich soll ihn für die Single-Show casten.«

»Frag ihn doch nach dem Versteck von Nagel«, schlug die Kamerafrau vor. »Und dann fahren wir beide in den Jemen und befreien ihn. Ich mach die Kamera und du den Text.«

»Das wär mir lieber, als eine Show mit notgeilen Kerlen und schwatzhaften Scharlatanen zu konzipieren.«

 

*

 

Die Reporterin Maria Grappa soll ›aushilfsweise‹ eine Flirtshow für das Regionalfernsehen konzipieren – und das macht ihr gar keinen Spaß. Viel lieber würde sie Bierstadts Oberbürgermeister Nagel suchen, der im Jemen verschollen ist, oder wenigstens die Frau stellen, die fremdgehende Männer in Hotelzimmer lockt und vergiftet. Zumal Grappas Chatpartner Strammer Hengst behauptet, die Reporterin habe etwas mit den Morden zu tun ...

E-Book © 2013 by GRAFIT Verlag GmbH

Originalausgabe © 2003 by GRAFIT Verlag GmbH

Chemnitzer Str. 31, D-44139 Dortmund

Internet: http://www.grafit.de/

E-Mail: info@grafit.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagillustration: Peter Bucker

eISBN 978-3-89425-993-8

Gabriella Wollenhaupt

 

 

 

Grappa im Netz

 

 

 

Kriminalroman

 

 

 

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Die Autorin

 

 

Gabriella Wollenhaupt wurde 1952 in Neuwied geboren und ist als Fernsehredakteurin in Dortmund tätig, wo sie auch seit vielen Jahren lebt.

Als Kriminalschriftstellerin debütierte sie im Frühjahr 1993 mit Grappas Versuchung. Es folgten zahlreiche weitere Romane mit und ohne Grappa. Sämtliche Ermittlungen der rothaarigen Reporterin sind als E-Book lieferbar.

www.gabriella-wollenhaupt.de

Die Personen

 

 

Anton Brinkhoff taucht in eine neue Welt ein

Eberhard weiß alles besser

Maria Grappa verfängt sich im Netz

Der Große Lamborghini sieht nicht viel in den Sternen

Dr. Ada Hecke zieht ihr Programm durch

Guido Hecke wird erwachsen

Peter Jansen erwischt es voll

Dr. Julius Kaligula tanzt auf zu vielen Hochzeiten

Thaurus von Massenberg steckt im Karrierestau

Jakob Nagel überzeugt durch Abwesenheit

Gudrun Ottawa ist ein echter Profi

Tom Piny lockt keine Vögel an

Barbara Rutzo fackelt nicht lange

Jalaluddin Rumi macht viel Wind

Strammer Hengst galoppiert durch die Chatrooms

SCUM jagt in der Wildnis des World Wide Web

Anneliese Schmitz redet noch immer wenig

Franzi Urban holt sich endlich, was sie will

Uli Urban (›Quincy‹) stolpert über sich selbst

Sehnsucht

 

Sehnsucht gab mir ihr weites Kleid,

seine Naht ist lang wie die Ewigkeit.

Streicht die Sehnsucht um das Haus,

trocknen die plaudernden Brunnen aus.

Die Tage kommen wie Tiere daher,

du rufst ihre Namen, sie atmen nur schwer.

Du suchst dich im Spiegel, der Spiegel ist leer,

hörst nur der Sehnsucht Schritt,

du selbst bist nicht mehr.

 

Max Dauthendey (1867–1918)

Für Ilonka Ottawa,

die mich zu kühnen Kombinationen anregte

Pudel, Hengst und Kant

 

 

Ein Trommelwirbel informierte mich darüber, dass eine E-Mail in meiner Box lag. Eberhard lag eingerollt auf dem Sofa. Er schreckte hoch, hob unwirsch den Kopf und blinzelte.

»Sorry, Löwe«, murmelte ich.

Wer isses denn? Wieder das Pferd?, fragte der Kater.

»Der ist kein Pferd, der nennt sich Hengst«, korrigierte ich. »Strammer Hengst!«

Egal, jeder Hengst ist ein Pferd.

»Aber nicht jedes Pferd ein Hengst.«

Jeder Pudel ist ein Hund, aber nicht jeder Hund ein Pudel!

»Eberhard!« Ich war begeistert. »Woher kennst du denn Kant?«

Wieso? Wer ist Kant? Ein Hengst oder ein Pudel?

Ich lachte. »Erklär ich dir später.«

Was schreibt er denn?

»Er fragt, ob ich seine Stute sein will.«

Wieso? Du bist doch kein Pferd, sondern eine Frau!

»Eben. Jede Stute ist ein Pferd – wenigstens meistens –, aber nicht jedes Pferd eine Frau.«

Der Kater verließ das Sofa und fixierte eine Stubenfliege an der Wand.

»Soll ich zum Halali blasen?«, fragte ich.

Doch Eberhard hatte keinen Sinn für waidmännische Rituale – mit einem gewaltigen Satz sprang er gegen die Wand, glitt an ihr ab und landete wenig elegant auf dem Boden.

Die Fliege schwebte gelassen durchs Zimmer.

»Du lernst aber wirklich nix dazu«, seufzte ich. »Wie oft hast du dir nun schon bei der Fliegenjagd die Nase poliert?«

Eberhard schenkte sich die Antwort, berappelte sich und begann, sich das schwarze Fell zu putzen.

Ich wandte mich wieder meinem Rechner zu, las die E-Mail zu Ende. Der Stramme Hengst kündigte an, mir beim nächsten Mal ein erotisches Foto von sich schicken zu wollen. Damit du weißt, was dich erwartet, Kleines!, endete die Nachricht.

Ich gähnte und fuhr den Rechner herunter. Mit Bildern von männlichen Geschlechtsteilen jedweder Größe und jedweden Zustandes hätte ich inzwischen die Wände tapezieren können.

»Das sind die Nachteile der elektronischen Kommunikation«, dozierte ich in Richtung Eberhard, »jeder kann ungehindert in deine Privatsphäre eindringen.«

Zieh doch den Stecker raus, wenn du dich belästigt fühlst, riet mein neunmalkluger Kater.

»Geht nicht«, widersprach ich. »Job ist Job.«

Eigentlich hätte das Wochenende so schön sein können. Schön – das bedeutete in erster Linie: Ruhe. Nur der Kater und ich, abgeschirmt vor den Störungen der feindlichen Welt. Genug zu essen im Haus, ausreichend Wein im Kühlschrank, Bücher, Musik und den Schlüssel von innen umgedreht.

Na gut, Glotze musste auch sein, immerhin war ich seit ein paar Monaten bei einem Regionalsender beschäftigt – aushilfsweise. Der Verleger des Bierstädter Tageblattes hatte sich an einer Trägergesellschaft eines TV-Kanals beteiligt und mich ›ausgeliehen‹. Ich hatte schon früher mal fürs Fernsehen als freie Lohnsklavin gearbeitet und war in einem sechswöchigen Crash-Kurs für den Job wieder fit gemacht worden.

Ich betreute die Rubrik ›Gesellschaft und Polizei‹ – was immer das beinhalten mochte. Jedenfalls war es ein völlig anderer Job als beim Tageblatt, der Zeitung, bei der ich seit über zehn Jahren für die Skandalgeschichten und die Polizeistorys zuständig war. Ein Job, der mich voll ausfüllte und den ich über alles liebte. Jeden Tag passierte etwas Neues, über das es zu schreiben lohnte – ob es nun Politiker auf Abwegen, gequälte Tiere, Massenkarambolagen, Kapitalverbrechen oder die sentimentalen kleinen Geschichten aus der Provinz waren.

Bei der Arbeit beim TV kam es nicht mehr nur auf Worte an, sondern auf Bilder und Töne. Im Schlepptau hatte ich also immer einen Kameramann und einen Tonassistenten. Und das mir, wo ich mit Teamarbeit schon immer Probleme gehabt hatte. Außerdem war so eine verdeckte Recherche nahezu unmöglich.

Der Sender hieß TV Fun und war seit drei Wochen on air. Zunächst mit einem täglichen Magazin von einer halben Stunde.

Jetzt galt es neue Formate zu entwickeln, die das Publikum an den Sender binden sollten. Eine mittägliche Kochshow würde in einer Woche starten. Die Verantwortung dafür war mir zum Glück erspart geblieben, denn hier lag der Schwerpunkt auf den kulinarischen Besonderheiten der näheren Umgebung. Und die gingen nur selten über Pfefferpotthast und Möpkenbrot hinaus. Gesponsert wurde die Show von Bierstädter Brauereien, sodass fast immer nur Bier als Getränk empfohlen wurde, was mir kulturell und auch sonst gegen den Strich ging.

Ich bastelte an einer Sendereihe, die sich mit einsamen Herzen, willigen Körpern und ungestillten Sehnsüchten befassen sollte: Astro-Flirt-Show – so der Titel der Sendung. Eine Live-Show vor Studiopublikum mit männlichen und weiblichen Kandidaten.

Während der Vorbereitung der Flirtsendung hatte ich den Strammen Hengst im Internet kennen gelernt ... und ein paar Männer mehr, mit so fantasievollen Namen wie Schlüpferstürmer, Mister-Lover-Lover und Wilder-Widder.

Es war nicht so einfach, geeignete Kandidaten für die Show zu finden. Deshalb trieb ich mich an manchen Abenden stundenlang in Chatrooms und bei Single-Services herum – auf der Suche nach witzigen und halbwegs intelligenten Männern und Frauen, die fernsehtauglich waren. Ich hatte mir den Nicknamen TV-Frau gegeben.

Leider waren die interessanteren Kandidaten in der Regel erst abends online, außerhalb meiner regulären Arbeitszeit. So hatte ich nach manch anstrengendem Tag im Sender am Feierabend noch ein paar harte Stunden in Chatrooms vor mir.

Eberhard wusste meine abendliche Tätigkeit zu schätzen, weil sie mich an die Wohnung fesselte. Seitdem die männlichen Teile des Katers dem Messer eines Tierarztes zum Opfer gefallen waren, hatte er nicht mehr den Drang, ständig abzuhauen, und war auch insgesamt ruhiger geworden, mochte aber nicht lange Zeit allein sein.

Eberhard und ich waren gerade dabei, uns bettfertig zu machen, als mein Handy klingelte. Ich stand im Bad und hatte die neue Creme gegen Falten im Gesicht verteilt, die Hautschüppchen ablösen und die Zellbildung neu anregen sollte. Da ich die Hände voller Schmiere hatte, ignorierte ich das penetrante Gebimmel.

»Kannst du nicht mal drangehen, Eberhard?«, muffelte ich den Kater an. »Wozu hab ich dich eigentlich?«

Er sah mich mit seinen Opalaugen an und verließ schnurstracks das Bad.

»Du wirst doch wohl nicht ...?«, lachte ich und folgte ihm vorsichtshalber.

Nein, der Kater vergriff sich nicht an meinem mobilen Telefon, er setzte sich mit aufgestellten Ohren davor und starrte auf das Display.

»Meinst du, es ist wichtig?«, fragte ich.

Der Kater schwieg.

Ich guckte selbst nach, es war die Telefonnummer von Tom Piny, die dort erschien.

»Der kann warten!«, entschied ich und ging ins Bad zurück, um meine Toilette fortzusetzen.

Piny war mein Freund und Kollege – leider arbeitete er für die Konkurrenzzeitung. Aber egal. Jetzt war ich ja beim Fernsehen und mit der Veröffentlichung von heißen Storys in der Regel schneller als er – das elektronische Medium hatte eben einen zeitlichen Vorsprung.

Trotzdem war Wadenbeißer Piny, sein Kürzel lautete – eingebildet, wie er war – TOP, manchmal flexibler als ich, weil er nicht ein ganzes Fernsehteam mit sich rumschleppen musste.

Mein Handy signalisierte durch einen Piepston, dass mir Piny eine Nachricht hinterlassen hatte. Ich stellte das Gerät ab.

»Hat Zeit«, gähnte ich. »Komm, Kater, lass uns schlafen gehen.«

Kein Trieb, kein Stress

 

 

Am nächsten Morgen fiel mir Pinys Anruf wieder ein und ich hörte die Mailbox ab.

»Ich weiß etwas, was du nicht weißt«, sagte Piny, »willst du es wissen, rufst du mich an.«

Angeber, dachte ich.

Eberhard saß gähnend vor mir und wartete auf sein Frühstück.

»Erst bin ich dran«, murrte ich. Ich stellte fest, dass kein Brot mehr da war.

Aber zum Glück gab es ja die Bäckerei um die Ecke! Anneliese Schmitz, die Bäckersfrau, hatte sich auf meine Bedürfnisse eingestellt und auch immer eine Notration von Eberhards Nobelfutter auf Lager.

Das Telefon klingelte schon wieder.

»Bist du denn überhaupt nicht mehr neugierig, Grappa-Baby?«, fragte Piny.

»Du erzählst es mir ja doch«, entgegnete ich. »Also?«

»Jakob Nagel ist verschwunden!«, behauptete Tom.

»Ich weiß. Er hat Urlaub.«

»Hatte – bis letzte Woche!«

»TOP! Lass dir die Infos doch nicht aus der Nase ziehen!«

»Ich hatte Freitag einen Termin im Oberbürgermeisterbüro. Und war pünktlich da. Doch Nagel tauchte nicht auf. Plötzlich brach Hektik aus, die Hühner in Nagels Büro wurden völlig nervös. Ich sperrte meine Ohren auf und bekam mit, dass Nagel nicht in seinem Flieger gesessen hat.«

»Und?« Ich war ziemlich desinteressiert. »Dann hat er noch ein paar Tage drangehängt. Und außerdem: Warum machst ausgerechnet du dir Sorgen um den Oberbürgermeister? Wer beklagt denn in schöner Regelmäßigkeit in den Kommentaren seine Führungsschwäche? Wirft ihm Inkompetenz vor? Vielleicht hat er sich das zu Herzen genommen und ist in ein buddhistisches Kloster gegangen.«

»Ich wusste gar nicht, dass es im Jemen Buddhisten gibt«, warf TOP ein.

»Wieso Jemen?«

»Grappa! Er war auf einer Abenteuerreise im Jemen. Ohne Handy, Zivilisation, Ehefrau und seine persönliche Referentin. Seitdem du bei der Glotze arbeitest, kriegst du wirklich nichts mehr mit!«

»Stimmt. Ich habe verdammt nochmal andere Sorgen. Ich kaue an dieser Single-Show herum, von der ich dir erzählt habe. Es nervt mich total.«

»Hättest ja nicht zum TV gehen müssen. Also, was ist? Interessiert dich Nagel oder nicht?«

»Klar. Kannst dich ja melden, wenn du Näheres weißt.«

»Lass mal, Grappa!« Jetzt war er auch noch eingeschnappt. »Ich will mich nicht aufdrängen. Du kannst die Story in meiner Zeitung nachlesen. Ciao!« Er hängte ein.

»Männer!«, sagte ich zu Eberhard. »Sind gleich sauer, wenn sie nicht die ungeteilte Aufmerksamkeit kriegen.«

Der Kater schnurrte und strich um meine Beine.

»Hunger?«, fragte ich.

Natürlich!

Ich nahm das Goldkantenfutter und füllte das Glasschälchen. Der Kater machte sich konzentriert über die Bröckchen her.

Wenig später verließ ich das Haus, hielt bei der Bäckerei Schmitz, um schnell ein belegtes Brötchen zu essen und eine Tasse Kaffee zu trinken.

Die Bäckersfrau räumte gerade die Brote ins Regal.

»Morgen«, sagte ich.

»Morgen«, erwiderte sie. Und schickte das obligatorische »Wie isses?« gleich hinterher.

»Muss.« Ich war wieder dran. »Und selbst?«

»Muss.«

»Dasselbe wie immer?«

»Genau.«

Sie kletterte von ihrer kleinen Stiege und schnappte sich ein Körnerbrötchen. Es sah unglaublich gesund aus und schmeckte auch so. Anneliese Schmitz ließ mich in dem Glauben, dass dieses Gebäck viel weniger Kalorien hatte als die duftenden, goldgelben, knusprigen Brötchen, die in einer Extrakiste neben der Theke standen.

Ein Seufzer entrang sich meiner Brust. Aber mit Anneliese Schmitz wollte ich es mir nicht verderben. Sie hielt mich für unfähig, mein Leben in geordneten bürgerlichen Bahnen zu leben, und hatte es sich zum Ziel gesetzt, dafür zu sorgen, dass ich wenigstens meinen Kater regelmäßig fütterte.

»Sie brauchen einen Mann, der auf Sie aufpasst!« Das war einer ihrer Lieblingssätze. Danach folgten: »Sie essen zu wenig Obst und trinken zu viel Wein«, und: »Wer war denn der nette Mann, der Sie gestern besucht hat?«

Die letzte Frage zu stellen, dafür hatte es jedoch schon einige Monate keinen Anlass mehr gegeben.

Schweigend mümmelte ich mein Brötchen. Gleich musste die Frage nach dem Kater kommen.

»Was macht der Schwatte?« Da war sie.

»Der ist ganz lieb, seitdem die Dinger weg sind«, antwortete ich ohne Schnörkel.

»War klar«, nickte sie. »Kein Trieb, kein Stress.«

»So isses!«, stimmte ich zu.

»Und sonst?«

»Was?«

»Was macht die Liebe?«

»Nix. Viel Stress, keinen Trieb.«

Mit dem Handrücken fegte ich die Krümel vom Bistrotisch. »So, ich muss.«

Sie nahm den Schein und gab mir raus. »Schönen Tach noch!«

Eiszapfen

 

 

Die Redaktion von TV Fun war neben dem Verlagshaus des Bierstädter Tageblattes untergebracht worden – in einem Pavillon, der eigens für diesen Zweck errichtet worden war. Klar, dass die technische Ausstattung vom Allerfeinsten und auf dem neuesten Stand war, dafür waren die Büros der Redakteure mit alten Möbeln ausgestattet worden, die beim Tageblatt keiner mehr wollte. Das Programm sollte möglichst kostengünstig sein und deshalb wurde überall heftig gespart. Auch ich hatte ein Büro bezogen, dessen Mobiliar ziemlich schäbig wirkte. Aber ich arbeitete ja nicht für Schöner wohnen.

Die Uhr an der Wand erinnerte mich an die Programmkonferenz. Sie würde in einer Viertelstunde beginnen und ich hatte heute das Konzept für die Show vorzutragen.

Ich mochte diese Konferenzen nicht. Ein falsches Wort und du bist der Verlierer. Ein richtiges Wort und du hast noch mehr Arbeit an der Hacke.

Ich sortierte meine Vorlagen und las noch einmal den Text, mit dem ich im Internet und in Anzeigen Probanden – aber eigentlich waren es ja Opfer – für die Single-Show suchen wollte:

 

Er sucht sie / Sie sucht ihn / Er sucht ihn / Sie sucht sie: TV Fun sucht humorvolle, originelle, aufgeschlossene Singles, die eine neue Liebe finden wollen, Lust auf netten, lockeren Talk haben und Mut genug, bei der neuen TV-Single-Sendung zum Verlieben ›Astro-Flirt‹ mitzumachen. Bewerbungen bitte an: TV Fun, Abteilung: Unterhaltung, Kennwort: ›Astro-Flirt‹. Voraussetzungen: Sie oder er ist volljährig. Zusätzlich zu den üblichen Angaben (Alter, Größe, Beruf usw.) benötigt die Redaktion eine aussagekräftige Selbstbeschreibung mit einem Foto, einem Motto, das Ihre Lebenseinstellung widerspiegelt, und eine Beschreibung Ihres Traumpartners. In einem Casting werden Sie genau über die Sendung und Ihre Rolle informiert.

 

Mir gefiel der Text – doch das bedeutete nicht viel.

Mit durchgedrücktem Kreuz verließ ich mein Zimmer und stöckelte Richtung Konferenzraum. Zum Glück nahm auch Peter Jansen, mein früherer Chef, an den Sitzungen teil, die von Dr. Ada Hecke, der Programmchefin, geleitet wurden. Jansen sollte auf Wunsch der Verlagsleitung uns TV-Leuten mit aktuellen Informationen auf die Beine helfen.

Dr. Ada Hecke schien einer amerikanischen Anwaltsserie entsprungen zu sein. Gestylt, kühl, niemals verrutschte ihr Make-up, Kleidergröße 38 und diszipliniert bis in die Fingerspitzen. Genau der lebende Vorwurf für mich. Ich war wenig geschminkt, eher aufbrausend als zahm und kämpfte ständig mit dem Gewicht. Meist jedoch konnte und wollte ich mich der Faszination von frischen Mandelhörnchen, trockenen Weinen und italienischer Pasta nicht entziehen.

Es wunderte mich, dass mich der ›Eiszapfen‹, so ihr Spitzname, bisher in Ruhe hatte arbeiten lassen. Ihre ironischen Attacken hatten mich noch nicht ereilt – danach, so ein Kameramann, bliebe einem nur sofortiger Suizid oder winselnde Unterwerfung. Ich hatte mir vorgenommen, keine der beiden Möglichkeiten zu wählen, falls es mich doch einmal treffen sollte.

»Unsere Quoten sind nicht die besten«, empfing uns die Programmchefin. »Und solange wir so im Keller sind, werden wir nicht die Werbung akquirieren können, die wir brauchen, um wenigstens kostendeckend zu arbeiten. Damit begrüße ich Sie alle zur Programmkonferenz und wünsche uns gemeinsam eine kreative Woche.«

Das war ihre Masche: erst eins in die Fresse und dann freundlich aufhelfen.

Die Tür öffnete sich und Peter Jansen schlenderte in den Raum, in der rechten Hand einen Becher Kaffee, in der linken einen Stapel der aktuellen Zeitung.

»Morgen zusammen«, sagte er laut – fast in Eiszapfens Entree hinein. Er legte die Zeitungen auf den Tisch, wir alle bedienten uns.

Jansen unterschied sich schon allein durch seine Kleidung von den geschniegelten Typen, die den Raum bevölkerten. Er trug verwaschene Jeans und keine schmalen Sommerwollhöschen, sein Hemd hatte keinen gestärkten Kragen, die Ärmel waren bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt und einen Schlips hatte ich noch nie an ihm gesehen. An seinen Fingern klebte Druckerschwärze und ihn umwehte allenfalls ein leiser Knoblauchgeruch und kein auf männlich getrimmter Herrenduft.

Jansen setzte sich neben mich, stellte den Kaffeebecher zu rasant auf den Tisch und die Brühe schwappte über.

Dr. Ada Hecke fixierte den nassen Fleck, als würde sein Dasein sie persönlich beleidigen. Jansen griff nach einer Zeitung und legte sie auf die Flüssigkeit, damit sie aufgesaugt wurde.

»Guten Morgen, Herr Kollege.« Dr. Ada Hecke war wieder ganz Chefin. »Schön, dass Sie sich Zeit nehmen konnten.«

»Aber immer«, dröhnte Jansen in die Gesellschaft der dezenten Flüsterer. »Besonders wenn ich etwas beizutragen habe zum Tagesprogramm.«

»Ach, ja?«, dehnte die Programmchefin. Sie hielt die Printmedien für veraltet und überflüssig. »Dann schießen Sie mal los, Herr Jansen.«

»Aber gerne, gnädige Frau. Der Bierstädter Oberbürgermeister Jakob Nagel wird vermisst. Er ist vermutlich während einer Urlaubsreise im Jemen von islamischen Terroristen verschleppt worden.«

Verdammt, dachte ich, es stimmt wirklich, Tom Piny hatte den richtigen Riecher gehabt.

»Woher wissen Sie das?«, fragte Frau Hecke.

»Als Journalist hat man so seine Quellen«, grinste Jansen. »Heute Nachmittag gibt es eine Pressekonferenz zu diesem Thema. Ich nehme an, dass diese Information wichtig für den Sender ist, oder? Tut mir Leid, dass ich Ihr Tagesprogramm damit in Unordnung bringe.«

»Ich werde diesen Termin wahrnehmen«, sagte ich laut und deutlich.

»Das ist eine gute Idee«, meinte Jansen, »Frau Grappa kennt die Abläufe bei Polizei und Stadtverwaltung. Sie war jahrelang die Polizeireporterin beim Blatt.«

»Das ist uns bekannt«, nickte Ada Hecke. »Ich bin damit einverstanden, dass Frau Grappa den Fall bearbeitet. Wie weit sind Sie eigentlich mit Ihrem Konzept für die Single-Show?«

»Ich habe den Text für die Internetaktion kopiert«, erklärte ich. »Und ich hoffe, dass ich in der nächsten Woche ein erstes Casting ansetzen kann. In drei Wochen könnten wir dann auf Sendung gehen.«

»Sehr schön«, sagte Ada Hecke, doch ihre Miene entsprach nicht den Worten, die sie verwandte. »Ich habe hier ein interessantes Angebot von einem Astrologen, der den Teilnehmern im Studio live die Zukunft voraussagen will. Sie verstehen? Zwei Singles interessieren sich füreinander, teilen ihre Daten mit und bekommen gleich ein Horoskop gestellt.«

»Das ist eine gute Idee«, gab ich zu. »Die meisten Leute, die sich für eine solche Show bewerben, dürften zunächst ein bisschen verkrampft sein. Und ein Astrologe könnte diese Momente gut überbrücken.«

»Nehmen Sie Kontakt zu dem Sternendeuter auf«, schloss Ada Hecke das Thema ab. »Und fragen Sie nach den Honoraren für den Humbug. Wenn er nicht zu teuer ist, nehmen wir ihn.«

Ich grinste. Wenigstens in Sachen Astrologie schien Hecke mit mir einer Meinung zu sein.

»Jetzt zu unserer Quote von gestern.« Der Eiszapfen machte eine Kunstpause. Die Zuschaueranalysen waren in Minutenschritte aufgeteilt, sodass jeder Filmemacher erkennen konnte, ob sein Werk goutiert worden war oder nicht.

Das regionale Wetter und die Stauprognose schnitten schon wieder am besten ab. Beim Wetter verstand ich das ja, aber warum interessierten sich die Leute, die abends TV guckten, für die Stauvorhersage, die ohnehin immer dieselben Autobahnen und Bundesstraßen betraf?

Ada Heckes persönlicher Referent verteilte die Kopien der Analyse. Die Nervosität im Raum stieg, auch ich kam mir vor wie in der Schule, obwohl ich gestern keinen eigenen Film im Programm gehabt hatte.

Thaurus von Massenberg – so hieß der Referent. Irgendwann würde ich ihn mal fragen, wer sich den großkotzigen Namen für ihn ausgedacht hatte. Massenberg war ein schmächtiger Giftzwerg. Er hatte den Spitznamen ›Königspudel‹, denn sein Haar war klein gelockt und hing ihm bis zu den Schultern. Und vermutlich hatte auch Massenbergs Hundeblick den Namensfindungsprozess erleichtert – er hing an Heckes Mund, als würde ihm göttlicher Nektar entströmen.

»Widerlich!«, flüsterte Barbara Rutzo, die neben mir saß. »Dieses schmierige Grinsen von dem Kerl!«

Barbara bot dem Sender komplette Beiträge an. Sie war ein Allroundtalent, filmte nicht nur, sondern schnitt ihre Filme auch selbst. Das war für den Sender billiger, als sich noch einen zusätzlichen Kameramann, einen Tonassistenten, einen Cutter und einen Autor zu leisten.

TV Fun arbeitete mit vielen solcher freien Mitarbeiter, die ordentlich Geld verdienen konnten, wenn sie gute Themen vorschlugen und fleißig waren. Es war ein harter Job – trotz allem. Die Freien waren vom Wohlwollen der Redakteure abhängig, wurden gern mal im Preis gedrückt, wenn die Konkurrenz groß war, und im Krankheits- oder Urlaubsfall blieben die Honorare aus. Eine Arbeit, der man nur nachgehen konnte, wenn man jung, clever und ziemlich schmerzfrei war.

Die Analyse lag vor uns. Sie basierte auf zweitausend Zuschauern, die sich einen Decoder an ihr Gerät hatten anschließen lassen, damit die Werte an eine Firma für elektronische Medienanalysen weitergeleitet werden konnten. Der Rest der benötigten Daten wurde durch telefonische Zufallsbefragungen ermittelt – und landeten per E-Mail in Heckes Büro. Der Sender brauchte diese Zahlen, denn sie waren bares Geld wert. Immerhin richteten sich die Preise für die Werbekunden danach.

»Knapp eine Million. Eindeutig zu wenig. Im Konkurrenzprogramm lief das Champions-League-Spiel – das hat die Quote bei allen gedrückt. Auch die Öffentlich-Rechtlichen haben darunter zu leiden gehabt. RTL hatte mit seiner Millionärs-Show wieder mal den größten Marktanteil.«

»Da können wir mit unseren TV-Fun-Regenschirmen nicht mithalten«, warf der Kulturredakteur ein. »Und die Polaroid-Kamera bei unserem Straßenrätsel reißt es wohl auch nicht raus.«

»Wir können uns Formate mit hohen Preisgeldern nicht leisten«, stellte Thaurus von Massenberg fest. »Wir legen Wert auf ein Qualitätsprogramm, in dem es um Inhalte geht.«

Beifallheischend sah er seine Chefin an. Mir wurde übel, ich konnte unterwürfige Menschen nicht ausstehen.

»Präziser hätte ich es nicht ausdrücken können, lieber Thaurus«, lächelte die Hecke – voller Sarkasmus. »Danke, dass Sie mich immer wieder so perfekt interpretieren! Nun zu den einzelnen Beiträgen. Wetter und Stauprognose liegen – erwartungsgemäß – vorn, es folgen die Regionalnachrichten und das Rezept des Tages, unser beliebter Ruhrpott. Was gab es gestern denn Leckeres?«

Die Frage war an die freie Mitarbeiterin gerichtet, die sich um die Kochsendung kümmerte.

»Schwarzwurzeltarte an Pesto-Sabayon im Dialog mit der Hühnerleber«, antwortete sie brav.

Ich prustete los.

»Frau Grappa?« Dr. Ada Hecke guckte irritiert.

»Ich find's komisch«, grinste ich. »Beim Bierstädter Tageblatt hatten wir einen Bombenerfolg mit Pfefferpotthast, Möpkenbrot und süß-sauren Kutteln. Und ich stell mir grad vor, wie das Pesto-Sabayon das Wort an die Hühnerleber richtet und mit ihr in einen Dialog tritt. Was die beiden sich wohl zu sagen haben?«

Auch Peter Jansen lachte. »Sie werden wahrscheinlich die tagesaktuellen Leberwerte diskutieren ...«

»Vielleicht singt die Leber auch ein Lied: Ich wollt, ich wär im Huhn ...«, steuerte Barbara Rutzo zum Thema bei.

Jetzt lachten fast alle am Tisch. Fast. Königspudel Thaurus sah verwirrt zu seiner Chefin und traute sich erst, verhalten zu schmunzeln, als sie die Mundwinkel nach oben zog.

»Es freut mich, dass hier am Tisch so eine gute Stimmung herrscht«, lächelte Dr. Ada Hecke. »Nun schauen wir mal, ob unsere Zuschauer das Programm von gestern im Detail genauso witzig fanden. Also – der Bericht über den Jahresempfang der Industrie- und Handelskammer konnte unsere Kunden nicht begeistern, erst bei den Nachrichten stieg das Interesse wieder. Die Story mit dem Kängurujungen, das aus dem Beutel der Mutter gefallen ist, hatte einen erheblichen Zuspruch. Tiere kommen eben immer gut. Der Bericht war auch sehr liebevoll gedreht – großes Lob für Sie, Frau Rutzo.«

Alle guckten auf Barbara, die entspannt im Stuhl saß.

Der Eiszapfen lobte selten. In den Augen der Reporter, die noch neu waren, blitzte Neid. Für manche lief die Schonzeit bald ab, denn sie lieferten wenig Ideen. Und so groß war der Kuchen nicht, den es zu verteilen galt.

»Nun zu den Themen für unser Regionalmagazin heute Abend. Frau Grappa wird den Film über den verschwundenen Oberbürgermeister machen. Vielleicht bietet sich zu dem Thema sogar ein Studiogast an. Dann sollten wir heute das Firmenporträt über die Technologie-Firma im Industriepark senden. Mit dem Geschäftsführer habe ich telefoniert und er will einige Werbespots schalten. Welches Servicethema steht heute an?«

Die Frage war an den Chef vom Dienst gerichtet.

»Wir senden heute eine weitere Folge des Freibadtestes«, kündigte der Redakteur an. »Und verknüpfen unsere Informationen natürlich wie immer mit einer entsprechenden Internetpräsentation. Dazu plane ich ein Call-in. Die Zuschauer können Infos über ihr Schwimmbad einholen genauso wie Beschwerden oder Lob loswerden.«

»Was sonst noch? Hat noch jemand Themenvorschläge?« Ada Hecke ließ ihren Blick über die Runde schweifen, ohne jemand Bestimmten zu fixieren.

»Es gibt da einen interessanten Prozess vor dem Amtsgericht«, meinte der Gerichtsreporter. »Ein Mann hat Kautabak auf die Motorhaube des Autos seines Nachbarn gespuckt. Der verklagt ihn jetzt.«

»Und?«, fragte der Eiszapfen.

»Der Spucker bestreitet die Tat«, vervollständigte der Kollege seine Angaben, »und nun fordert der Geschädigte eine DNA-Analyse, die beweisen soll, dass der Speichel von dem Beklagten stammt.«

»Das ist gut!«, freute sich der Chef vom Dienst. »Kriegen wir O-Töne von dem Kläger und dem Spucker?«

Der Gerichtsreporter versicherte, sich darum bemühen zu wollen. Der Kollege Uli Urban war schon lange im Geschäft und hatte sich den Hintern auf den harten Gerichtsbänken platt gesessen – ein armes Schwein, das auf die Rente wartete. Jetzt hatte es ihn zum Fernsehen verschlagen – ein Medium, das ihm ganz und gar nicht lag. Aber was blieb ihm übrig? Die großräumige Pleite eines einst milliardenschweren Medienkonzerns im Süden Deutschlands hatte zu großer Arbeitslosigkeit unter Journalisten geführt. TV Fun hatte gnadenlos abgeschöpft – und zwar diejenigen, die im Gehalt nach unten gedrückt werden konnten.

Urban hatte natürlich – wie alle – einen Spitznamen: Er wurde Quincy genannt, wie der Dinosaurier unter den Gerichtsmedizinern in der Uralt-Serie des US-Fernsehens. Das verdankte er seinem zerknitterten Gesicht und dem Job, aus Toten und ihren Hinterbliebenen irgendwelche Storys rauszuquetschen, die einigermaßen bebildert werden konnten.

Der Rest der Konferenz war Alltag. Der Kelch einer öffentlichen Abstrafung war heute an uns allen vorübergegangen.

»Kannst du mir sagen, warum ich mir das antue?«, fragte ich Peter Jansen, als wir durch den Flur gingen.

»Du wolltest doch endlich mal wieder was Neues machen, Grappa-Baby«, erinnerte er mich.

»Echt? Da kann ich mich gar nicht mehr dran erinnern«, log ich.

»Bereust du es etwa?«

»Das werde ich dir sagen, wenn ich wieder in meinem alten Büro sitze und dort meine Mandelhörnchenkrümel verteile.«

»Okay. Ein Indianer kennt keinen Schmerz«, stellte Jansen fest. »Augen zu und durch, Grappa!«

Wenig später trennten sich unsere Wege – Peter Jansen ging geradeaus: zu den vertrauten Räumen des Bierstädter Tageblattes.

Körbchengrößen

 

 

Tom Piny grinste über beide Ohren, als er mich und mein Team erblickte. »Na, siehst du, Grappa, ich hab dir doch gesagt, dass Nagel verschwunden ist. Nicht dass ihn jemand wirklich vermisst.«

Ich ließ mich neben TOP auf den Stuhl fallen. Die Atmosphäre, in der Staatsanwaltschaft und Polizei ihre Pressekonferenzen abzuhalten pflegten, war immer staubtrocken und das künstliche Neonlicht Gift für die Aufnahmen. Es verpasste dem vitalsten Menschen eine gelblich-fahle Blässe und versaute jeden O-Ton, denn die Röhren gaben einen hohen gleichmäßigen Laut von sich, der erst in der Schnittbearbeitung zu hören war. Zu allem Unglück waren die Wände in einem hellen, matten Beige getüncht und die Fenster befanden sich im Rücken des Polizeipräsidenten und des Staatsanwaltes, sodass ihnen das Gegenlicht das Aussehen von Außerirdischen verlieh.

Ich hatte Barbara Rutzo für die Kamera engagiert und mir einen gerade verfügbaren Tonassistenten ›geschossen‹.

TOP sah meine Kamerafrau wohlwollend an. »85 D«, murmelte er verträumt, als Barbara die Kamera auf die Schulter nahm, um sich dem Antlitz des Oberstaatsanwaltes unauffällig zu nähern.

»Nutzt dir nix«, grinste ich. »Die Frau steht nicht auf Männer.«

»Ach, was?« Piny war überrascht. »Welche Vergeudung von Ressourcen!«

TOP war der einzige Mann, den ich kannte, der Frauen über ihre Körbchengrößen definierte und seine Trefferquote war genial. Merkwürdigerweise fühlten sich die ›Opfer‹ niemals in ihrer Würde als Frau verletzt, wenn Piny seinen Kennerblick über ihre Hügellandschaften schweifen ließ.

»Guten Tag, meine Damen und Herren«, hob der Polizeipräsident an. »Ihnen ist ja bereits aus der Einladung bekannt, um was es heute geht. Herr Oberbürgermeister Nagel ist seit etwa einer Woche verschwunden. Niemand kennt seinen Aufenthaltsort. Wie Sie sicher wissen, war Nagel auf einer Urlaubsreise in einem islamischen Land, das nach Auskunft des Auswärtigen Amtes zu dem Rückzugsgebiet der terroristischen Al-Kaida-Kämpfer gehört. Wir machen uns ernsthafte Sorgen um Leib und Leben des Herrn Oberbürgermeisters. Die deutsche Botschaft im Jemen hat Kontakt zu den dortigen Behörden aufgenommen.«

Der Polizeipräsident schaute den Oberstaatsanwalt an.

»Unsere bisherigen Ermittlungen«, begann dieser, »konzentrierten sich auf die Reisegruppe, mit der Herr Nagel unterwegs war. Die Gruppe war gerade auf einer Tour durch die Wüste und wurde von einem einheimischen Fahrer begleitet. Zurzeit läuft eine Suchaktion in dem Gebiet, das ziemlich unzugänglich ist.«

»Gehen Sie davon aus, dass Herr Nagel entführt wurde?«, fragte TOP.

»In den vergangenen Jahren ist das Land leider immer wieder durch die Entführung von Touristen in die Schlagzeilen gekommen«, antwortete der Staatsanwalt. »Diese bedauerlichen Aktionen sind aber – so die jemenitischen Behörden – nicht gegen die Ausländer persönlich gerichtet. Bisher sind meist auf dem Verhandlungsweg Einigungen erzielt worden. Wir gehen also davon aus, dass Herr Nagel – falls er wirklich entführt worden sein sollte – nicht persönlich gemeint ist, sondern durch Zufall Opfer einer Verschleppung wurde. Einen politischen Hintergrund können wir momentan jedenfalls nicht erkennen.«

»Dazu müsste er ja erst mal richtige Politik gemacht haben«, grummelte Piny.

»Hör auf!«, schnauzte ich ihn an. »Hast du denn überhaupt kein Mitleid? Nagel liegt vielleicht schon im Wüstensand und die Geier machen sich über ihn her!«

Piny zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. »Seit wann liest du wieder Karl May?«, flüsterte er. Dann fragte er grinsend in die Runde: »Man hört, dass die Familie des Topterroristen Bin Laden aus dem Jemen kommt. Sehen Sie hier Zusammenhänge? Wollen die Terroristen mit der Entführung Nagels vielleicht einige ihrer Leute aus den Gefängnissen befreien? Oder den US-Präsidenten dazu bringen, die Al-Kaida-Kämpfer in Guantanamo Bay freizulassen?«

Oberstaatsanwalt und Polizeipräsident schwenkten ihre Blicke zu einem Mann, der unauffällig am Fenster stand.

»Die Fragen zur aktuellen Weltpolitik sollte vielleicht Herr Rumi beantworten. Herr Rumi ist Islamexperte des Auswärtigen Amtes.«

Der Mann trat etwas ins Licht, ich gab Barbara Rutzo ein Zeichen, damit sie ihre Kamera auf ihn richtete.

»Die Familie Bin Laden hat ihre Wurzeln tatsächlich im Jemen. Die USA hatten die jemenitische Regierung nach den Terroranschlägen vom 11. September aufgefordert, konsequent gegen islamistische Extremisten im Land vorzugehen. Präsident Saleh hatte daraufhin US-Präsident Bush zugesagt, zwei oder drei Leute festzunehmen, die Osama Bin Laden unterstützt haben sollen. Doch leider handelte die Regierung in Sanaa ausgesprochen halbherzig. Im Dezember 2001 kam es zu einem Panzer- und Luftangriff auf das Gebiet des Al-Dschalal-Stammes im Osten des Landes, weil sich die Stammesführer weigerten, die Verdächtigen auszuliefern.«

»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte der Kollege von der BILD-Zeitung. Die Frage war genial, denn genau das fragten sich wohl alle hier im Raum.

»Wir müssen das Ergebnis der Suchaktion abwarten«, antwortete der Polizeipräsident. »Es ist eine Sonderkommission gebildet worden. Und eine Hotline geschaltet. Lassen Sie uns gemeinsam hoffen, dass unser Oberbürgermeister seine Amtsgeschäfte bald wieder wohlbehalten aufnehmen kann.«

»Die sollen den Teufel nicht an die Wand malen«, wünschte TOP. »Endlich hätte Bierstadt mal eine Chance!«

»Du bist ein herzloser Mensch«, schnaubte ich.

»Sehen wir uns gleich im Catilina?«, fragte Piny.

»Ich komme nach«, versprach ich, »sobald ich mir die Statements von den Vortänzern hier geholt habe. Sag Luigi, er soll die Pizza Diabolo mit der doppelten Dröhnung Peperoni belegen!«

Roter Pfeffer

 

 

Ein Gefühl der Geborgenheit hüllte mich ein, als ich mein Lieblingsrestaurant betrat. Knoblauchduft und der Geruch von frisch gebackenem Brot empfingen mich, die Vorspeisen präsentierten sich frisch und schön drapiert unter einer Glashaube und an einem Tisch im hinteren Bereich des Raumes hockte Tom Piny, der den italienischen Anspruch der Trattoria Catilina durch chronisches Trinken von Bier ignorierte.

Sein Bierstädter Pils hatte er schon zur Hälfte geleert. Ich setzte mich und der Kellner brachte unaufgefordert ein Glas Prosecco und eine große Flasche Wasser.

»So, alles im Kasten«, erklärte ich und nippte am prickelnden Alkohol.

Ich nahm mein Handy und rief das Bildarchiv an. »Ich brauche Bilder von Jakob Nagel, aber bitte aktuell, und alles über den Jemen, was wir kriegen können. Bilder von den Landschaften, der Hauptstadt, der Tihama-Wüste und von touristischen Einrichtungen. Kriegt ihr das in zwei Stunden hin?«

»Wie kompliziert!«, meinte TOP. »Ich hätte nicht den Nerv für so was. Einen Block, einen Bleistift, eine Stunde Zeit – und mein Artikel ist fertig.«

»Ja. Fernsehen ist kompliziert, aber es macht auch Spaß, mit Bildern zu arbeiten. Du kannst viel besser die Emotionen der Leute zeigen. Trotzdem – ich bin wahrscheinlich froh, wenn das halbe Jahr vorbei ist. Ich rieche lieber Zeitungspapier und Druckerschwärze als Herrenparfums und Monte Christos.«

»Du bist auch zu alt, um wirklich endgültig umzuschwenken«, sagte Piny charmant und knabberte Brot.

»Herzlichen Dank«, knurrte ich.

»Nun sei nicht sauer, Grappa«, grinste er.

»Wie könnte ich«, erwiderte ich säuerlich. »Auf der Gebrauchsanleitung meiner neuesten Faltencreme steht, dass meine Leidenszeit in spätestens drei Wochen endgültig vorbei ist.«

»Ist die Creme tödlich?«, fragte er frech.

»Ekel!«

Die Pizzen kamen.