Informationen zum Buch

»Ich kann diese brillante, gradlinige Schriftstellerin nicht nachdrücklich genug empfehlen.« James Wood, The New Yorker

1971 geschrieben, 2014 erstmals veröffentlicht – der letzte Roman der großen australischen Schriftstellerin Elizabeth Harrower, die damit neu zu entdecken ist.

Sydney, in den 60er Jahren. Zoes Bruder Russell bringt eine Zufallsbekanntschaft mit in ihr Elternhaus: den geheimnisvollen Stephen Quayle und seine Schwester Anna. So unterschiedlich die Kreise auch sein mögen, aus denen die Geschwisterpaare kommen, von nun an sind die Lebenswege der vier unausweichlich miteinander verbunden. Ein großer Roman von präziser, bildstarker Sprache und psychologischer Genauigkeit, der uns neu über Familie und Liebe, Tyrannei und Freiheit nachdenken lässt.

»Harrower trifft mitten ins Herz.« Washington Post

Elizabeth Harrower

In gewissen
Kreisen

Roman

Aus dem Englischen übersetzt
und mit einem Nachwort
von Alissa Walser

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Teil eins

Teil zwei

Teil drei

Anhang

Alissa Walser: Von Zeit zu Zeit

Anmerkungen

Über Elizabeth Harrower

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Teil eins

»Ich höre Russell lachen.« Die Stimme seiner Mutter klang bedrückt, gequält.

Zoe stand sofort von ihrem Liegestuhl auf und setzte sich aufs Geländer der Veranda. Sie schaute durch den Garten zum Tennisplatz hinunter, wo vier Gestalten zum Netz liefen und stehen blieben, um einen komplizierten Punkt der Spielregeln zu diskutieren.

»So außergewöhnlich ist das nicht. Er lacht ziemlich oft. Und bringt mich oft zum Lachen.« Es war unmöglich, nicht zu lächeln. Zoe liebte ihn über alles. Doch der unnötige Kummer ihrer Mutter war ihr unangenehm: Derartiges lag ihr nicht. Immerhin war er am Leben – im Gegensatz zu vielen seiner Freunde war er unversehrt aus Kriegen zurückgekehrt. Zoe hatte im Abitur Geschichte gehabt und wusste, dass Männer immer schon aus Kriegen zurückgekehrt waren. Ihrer Mutter war das vielleicht nicht ganz klar. Normalerweise war das ein Grund zur Freude.

Gewiss (auf einmal starrte sie deprimiert auf die vier, die jetzt in die Ecken des Platzes zurückrannten, als wären sie an einem Maibaum befestigt), gewiss, die Zeitungen hatten wochen- und monatelang Schreckliches berichtet, grauenhafte Fakten. Eine Weile hatte sie die Zeitungen versteckt, und alle hatten irritiert herumgerätselt und die Schuld auf den Nachbarshund geschoben, einen Cockerspaniel, der für solche Diebereien bekannt war. Dann sprach plötzlich keiner mehr über den Hund, und Zoe war klar, dass man sie beobachtet hatte, und sie gab es auf. Zeitungen verschwinden zu lassen war sowieso nicht so leicht. Ungefähr eine Woche lang war sie bei schönem Wetter im Mantel spazieren gegangen, den Arm krampfhaft an die Seite gepresst, der ganze Körper schweißüberströmt.

Zoe warf ihrer Mutter einen verständnisvollen Blick zu. In den Jahren, in denen er weg gewesen war und man damit rechnen musste, dass er tot war, hatte sie sich äußerlich kaum verändert. Als sie ihn wiederhatte und ihre schlimmsten Phantasien nicht nur offiziell bestätigt, sondern noch übertroffen wurden, alterte sie sichtlich, welkte dahin, als wäre eine innere Stütze, irgendein geheimer Jungbrunnen verschwunden. Sie wurde stiller, blasser, puderte sich zu. Allen fiel das auf. Zoe hatte das Gefühl, ihre Erschütterung zu zeigen passe nicht zu ihrer Mutter. Es ließ sie schwächer wirken, sterblich. Zoe war überrascht und wütend. Jetzt spürte sie unter ihrer Hand den warmen Stein der Säule, auf dem das Dach der Veranda ruhte. Sie war in diesem Haus zur Welt gekommen.

Unten auf dem Platz ging das Spiel weiter. Mrs Howard verfolgte das Spektakel aus der Ferne mit dem Entsetzen einer einstigen Spitzenspielerin.

»Dein armer Vater«, murmelte sie. »Die denken wohl, sie tun ihm einen Gefallen. Ich glaube, ich kann das nicht länger mit ansehen.«

Nachdem Russell seiner Familie wieder Leben eingehaucht hatte, indem er lebendig zurückgekehrt war, hatte er seinen Eltern nur noch Sorgen und Enttäuschungen beschert. Denn er lehnte all die Aktivitäten ab, die sie für passend hielten. So griff er zum Schläger, noch ehe seinem Vater klar war, dass nun gespielt werden sollte.

»Hättest du doch gespielt und nicht die Kleine. Du weißt wenigstens in etwa, worum es geht.« Mrs Howard erhob sich aus dem niedrigen Bambussessel. »Ich hole uns was Kaltes zu trinken. Dann haben sie einen Grund, aufzuhören.«

»Bei der Hitze hätte ich sofort einen Sonnenbrand gekriegt.« Zoe berührte ihre blasse Wange.

»Anna ist auch hell.«

»Sie bekommt wahrscheinlich trotzdem Farbe. Viele helle Typen werden braun.« Zoe gähnte und fuhr sich mit den Fingern noch einmal über ihr glattes weißes Gesicht. »Wer spielt heute schon noch Tennis. Ihr könntet da unten einen Eins-a-Pool bauen. Das wär doch was.«

Das sagte sie nicht zum ersten Mal.

»Sei nett, falls sie raufkommen, solang ich in der Küche bin. Du weißt ja, Anna ist eine arme Waise.«

Zoe gab einen unbeschreiblichen Laut des Ekels von sich. Sie warf den Kopf herum und schien sich gar nicht mehr fassen zu können. »Eine Waise! Und wenn schon, ihr Bruder ist auch Waise, und du kannst nicht so tun, als müsse man ihn bemitleiden.« Mit einer eleganten schwungvollen Bewegung stand sie neben ihrer Mutter an der Tür und lächelte ihr ins Gesicht, ungeduldig, flehentlich, voller Temperament, aber wohlwollend, neckend, doch auch verletzlich. »Warum spielst du nicht?« Ihre Stimme klang sanft, fast zärtlich.

»Ich habe keine Puste mehr.«

»Soll ich dir helfen? Ich hole die Getränke. Setz du dich hin.«

»Ich habe genau im Kopf, was ich will. Wenn ich dich brauche, rufe ich.« Mrs Howard sah ihre Tochter bewundernd und liebevoll an, berührte ihre Schulter und ging ins Haus.

Zoe legte sich wieder hin, blickte über den Garten und die Lorbeerbäume hinweg dorthin, wo ihr Vater, ihr Bruder und die beiden Waisen, die ihr Bruder vor kurzem aufgelesen hatte, in der Sonne herumsprangen. Ob der Ausdruck, der sich erst seit kurzem in ihrem Gesicht zeigte, ihren strahlenden Augen geschuldet war oder der Form ihres Mundes oder ihrem Wesen, konnte bis jetzt weder ihre Mutter sagen noch Zoe selbst: Sie war erst siebzehn.

Zoe war in dem quadratischen Steinhaus nördlich von Sydney Harbour aufgewachsen. Schon früh hatte sie von ihren Eltern und deren Freunden gelernt, dass sie bemerkenswert war. Es gab einen riesigen Garten. Und Leute ihres Formats, die ihr Gesellschaft leisteten. Am Ende der kurzen Straße mit den alten Häusern in den vor langer Zeit angelegten Gärten befand sich ein weißer, geschwungener Strand mit Felsblöcken, Felsenpools, sanften Wellen, Muscheln, Kieseln, feinem Sand. Sie hatte schwimmen gelernt, noch ehe sie laufen konnte.

Einmal, auf einem Schulausflug, hatten sie die Überbleibsel aus der alten Kolonialzeit besichtigt. Im Wartezimmer eines Gerichtsgebäudes ritzte ein Mädchen ihre Initialen in einen rauchgeschwärzten Stuhl. Alle hatten sich in einer Schlange aufgestellt, um die Zellen zu besichtigen: die Eisenteile, die den Verurteilten an Hals und Beinen hingen, in einer anderen Welt, einer Fiktion, an die sie nicht im Geringsten glaubten.

Die Schülerin mit dem Messer wurde auf frischer Tat ertappt. »Ah! Patricia hat soeben kommenden Generationen mitgeteilt, an welchem Tag sie hier war. Ist ja auch wahnsinnig interessant! Ein so herausragendes Mädchen wie Patricia.« Das Mädchen murmelte etwas. Ihre Schulkameraden schwiegen. Der ziemlich genervte Lehrer sagte: »Ihr taugt doch alle nichts.« Konnte es etwas Schlimmeres geben? Vor allem, da es nicht einmal der Wahrheit entsprach.

Zoe gehörte zu denen, deren Eltern in Zeitungen und Magazinen als »bekannte Persönlichkeiten« galten. Ihre Mutter und ihr Vater waren Biologen. Sie hatten Lehrbücher geschrieben und andere für normale Leser, die im Ausland veröffentlicht waren. Sie waren weit herumgekommen. Sie wurden zu öffentlichen Diskussionen eingeladen. Sie wurden interviewt und fotografiert und standen auf einer Liste von Leuten, deren Meinungen über alles und jedes, von Kriminalität bis Mayonnaise, für die ganze Stadt von Interesse zu sein hatten.

Mrs Howard galt als das exemplarische Beispiel einer Frau, die eine erfolgreiche Karriere mit einem glücklichen Familienleben vereinte. Wann immer dieses Phänomen illustriert werden sollte, dachten Journalisten und Verleger und wahrscheinlich alle anderen in der Stadt sofort an Mrs Howard.

Glaubte man den Büchern, so war Sydney eine der größten Städte der englischsprachigen Welt. Und an diesem Ort – in Sydney, das in den Zeitungen ständig angepriesen wurde – besetzten Zoes Mutter und Vater ziemlich herausragende Positionen; kannten alle; wussten immer, wohin und bei wem man sich sehen lassen sollte; wussten, wer auf seinem Gebiet der jeweils Beste war; wussten, wie man um etwas bittet und wie man sich revanchiert. Und genau diese Eltern, die von Außenstehenden für etwas Besonderes gehalten wurden, hatten Zoe beigebracht, dass sie ihnen in allem noch weit überlegen war, einfach weil sie sie selbst war. Sie und Russell bekamen sehr viel Aufmerksamkeit, was auf Russell, der von Anfang an sein eigenes Ding gemacht hatte, nie eine Wirkung hatte. Zoe hielt Aufmerksamkeit und Lob für ganz normal, als gehörten sie zur öffentlichen Versorgung wie Strom und fließendes Wasser. Sie war berauscht von dem Interesse, das man an ihr zeigte, und sie hielt es für völlig berechtigt.

Der Welt überdrüssig wie eine internationale Berühmtheit und so selbstbewusst, dass sie sich durch kaum eine Meinung beeindrucken ließ, siebzehn Jahre alt, furchtlos – so sah sie den drei Dilettanten zu, wie sie die Nerven ihres Vaters auf dem Tennisplatz massakrierten.

Ihr Vater. Clive Howard. Dr. Howard. Warum war er nicht Farmer geworden. Sein Gesicht wirkte bäuerlich. Auf eine Hacke gestützt, gab er ein stimmiges Bild ab. Ihre Mutter fühlte sich wohl auf dem Land. An Feiertagen spielte sie Pionierin und zog einen Schwung Scones aus einem alten Ölofen. Sie besuchten entfernte Verwandte auf einer Schaffarm, Hunderte von Meilen von der Stadt entfernt. Ihr Vater ging reiten. Ihre Mutter gärtnerte und plauderte. Die Farm glich einem luxuriösen Camp mitten in der Wüste, doch sie passten hierher, wirkten völlig natürlich. Draußen im Busch wirkte ihr Stadtleben wie eine künstliche Rolle, die man ihnen willkürlich übergestülpt hatte, eine Rolle, über die sie unbewusst seufzten. Sie waren nett und klug und hatten es weit gebracht, doch sie waren naiv, dachte Zoe, und im Vergleich zu Russell hatten sie vom wirklichen Leben keine Ahnung. Höchstens von Würmern, Seesternen und Fliegen.

Und ja, das Wort treu liebend beschrieb sie auch. Treu liebend. Zoe erkannte, dass ihr eigenes Leben deswegen so idyllisch verlief, doch spürte sie seit einigen Jahren den Druck eines zu warmen, engstirnigen elterlichen Interesses an ihrem zukünftigen Liebesleben. Wenn die Eltern dem so hoffnungsvoll entgegenblickten, dann vertrug sich das nicht mit Zoes Selbstverständnis als eigenständiger Persönlichkeit. Das ist ja beinahe voyeuristisch, dachte sie und spürte den starken Wunsch ihrer Eltern, sie zu beraten, dabei zu sein, einbezogen zu werden.

»Zo! Ich komme nicht durch.« Mrs Howard stand mit einem Tablett in der Hand neben ihrer auf dem Rücken liegenden und offensichtlich abwesenden Tochter.

»Oh!« Liegestühle wurden hin und her geschoben, bis die halbe Terrasse verbarrikadiert war. Zerknirscht trug Zoe das schwere Tablett zum Tisch, begutachtete Gläser, Eis, Fruchtsaft und die verschiedenen Flaschen. »Ich habe über Eltern und Waisen nachgedacht.« Sie lächelte ihr zu: Ihr zierliches Gesicht mit den hellgrauen Augen war, wenn sie ganz still hielt, wirklich bezaubernd, und in Aktion konnte es regelrecht schön sein. Ihr immer wieder erstaunliches Lächeln ließ jeden, dem es galt, innehalten und sich heimlich eingestehen, dass ihm soeben eine unerwartete Gnade oder Weihe zuteilgeworden sei. Ihre Mutter hielt also einen Moment inne, sie hatte sich nie an diese verwirrend unterschiedlichen und sehr direkten Blicke gewöhnt.

»Bei Waisen denkt man immer an Märchen.« Zoe rückte die Gläser auf dem Tablett in eine Reihe. »Hand in Hand tauchen sie aus dem Wald bei uns auf, geheimnisvoll, vernachlässigt, schmutzig. Ich kannte bislang keine einzige Waise.«

»Das heißt nicht, dass es sie nicht gibt«, meinte ihre Mutter. »Wenn ich an manche meiner Studenten denke, wird mir klar, dass du ein sehr behütetes Leben führst.«

»Ach ja?« Zoe lachte ungläubig. Sie, die Schulsprecherin, die Herausgeberin der Schülerzeitung, auf die sich das ganze Redaktionsteam verließ. Sollte das heißen, dass man ihr all das nur aus purer Philanthropie angetragen hatte? Und das Segeln? Hatte sie da draußen im Hafen nicht mehr Rennen gewonnen als alle anderen Mädchen ihres Alters? Sie ging regelmäßig zu Konzerten. Sie kannte sich ziemlich gut mit Filmkameras aus und mit Autos sogar besser als ihr Vater. Sie war eine gute Köchin. Mit den wenigen Jungs, die sich für Politik interessierten, hatte sie an Versammlungen jeder Couleur teilgenommen, und aus Texten kannte sie die Propheten und ihre Anhänger. Sie hatte Millionen von Büchern gelesen. Und obwohl sie wunschlos glücklich war, war ihr schon als Kind ganz von selbst die Armut in den Straßen aufgefallen. Gedanklich hatte sie sich mit alldem beschäftigt. Abrakadabra! Weg mit dem Elend! In einer Mischung aus Spiel und Pflichtgefühl verwandelte sie in ihrer Phantasie Menschen und Häuser. Je älter sie wurde, desto schwieriger wurde das Verwandeln. Doch sie hatte geholfen, Geld für wohltätige Zwecke zu sammeln, und vor zwei oder drei Jahren hatte sie mit einer Kirchengruppe wochen- und monatelang alte Menschen besucht, die allein wohnten. Sie bestand nur aus Tugenden! Und dann verlor sie für lange, lange Zeit Russell, der doch ihr Ein und Alles war.

»Ich soll ein behütetes Leben führen?«, wiederholte sie verunsichert. »Wo ich ständig auf Achse bin, im Vergleich zu deinen Studenten.«

»Ruf die anderen, Zoe, bevor das Eis schmilzt und alles lauwarm ist.«

Zoe tat es mit einigem Widerstreben.

»Ich meinte«, Mrs Howard setzte sich und strich sich ein paar Haare aus dem Gesicht, »im Vergleich zu Russell und den beiden Waisen.«

»Ach, komm. Russell und dieser Typ sind älter als ich. Da werde ich auch anders sein.« Auch wenn sie weiterhin keinen Krieg kannte und kein Gefängnis, keine Folter und keinen Hunger, wie sie hoffte. Als Russell in ihrem Alter oder jünger gewesen war, hatte die Erfahrung ihn nicht verschont – er war ernsthaft krank geworden, und zwei seiner engsten Freunde waren umgekommen. Sie hatten an einem Tag im Herbst an einem menschenleeren Strand gebadet, und die drei Jungs waren in eine starke Rippströmung geraten und wurden bis über die Landzunge hinausgetrieben. Russell war von einer riesigen Welle ohnmächtig auf einen Felsen gespült und von einem Fischer gerettet worden. Die Leichen der beiden anderen Jungs hatte man nie gefunden. Zoe wurde berichtet, was geschehen war. Aber für sie war nur wirklich, was sie selbst miterlebte: Russels Schock, Russels Schmerz.

»Da kommen sie.« Mrs Howard begann die Gläser zu füllen. Wenn sie sich, wie kürzlich, nicht gut fühlte, behielt sie es für sich und ging zum Arzt. Sie war eher gelassen und tat übertriebene Empfindlichkeit als neurotisch und geschmacklos ab. Sie war bestrebt, unter allen Umständen eine glatte, gesellige Oberfläche zu wahren, und wenn sie sich mal weniger gut fühlte, war das kein Grund, es zu ändern. In diesem Moment setzte sie alles daran, dass sich Russels doch recht unnahbarer Freund Stephen Quayle und dessen kleine Schwester willkommen fühlten, und sie beobachtete, wie sie den Steinweg aus dem Garten heraufkamen. Leuchtend rosa Oleanderblüten lagen in Halbkreisen, wie gespiegelt, unter den Bäumen. Starker Wind hatte die Blumen in der Nacht zu Boden gedrückt.

Stühle und Gläser wurden verteilt. Geborgte Strandschuhe abgelegt. Mr Howard leerte sein Glas in einem Zug, dann zeigte er lächelnd seine außergewöhnlich guten Zähne. »Die Marx Brothers hätten einiges lernen können, wenn sie uns zugeschaut hätten. Ach, was soll’s. Wenigstens bringt er uns eine Schwiegertochter, die weiß, wie’s geht. Lily ist eine Rakete. Kennt ihr sie?«

»Sie werden sie bald kennenlernen. Seht ihr das Schieferdach da unten zwischen den Bäumen?« Russell zeigte von der Verandabrüstung die Richtung. »Dort wohnt Lily. Sie hat heute Nachmittag ein paar Studenten da, sonst wäre sie hier.«

Indem sie sich Anna zuwandte, die neben ihr saß und deren helle Haut, wie Zoe feststellte, unten auf dem Platz tatsächlich gelitten hatte, erläuterte sie: »Lily ist Dozentin. Für Deutsch. Obwohl sie noch so jung ist. Sie ist wie ein Feuerwerk.«

Und weil sie begriff, dass besser sie selber gespielt hätte und nicht dieses fünfzehnjährige Mädchen mit den ernsten und zu ihrer legendären Lebenssituation passenden Augen, und weil Anna es wahrscheinlich genossen hätte, mit Mrs Howard auf der schattigen Terrasse zu sitzen und eine Art Mutterbindung aufzubauen (was ihre Mutter, da war Zoe sicher, nur zu gern angeregt hätte), lächelte sie das junge Mädchen besonders aufmerksam an, ehe sie begriff, dass ihre gemischten Absichten bemerkt worden waren. Anna war zwar schüchtern und nervös und still, ihr Blick aber wirkte ganz anders. Ihre Augen erinnerten Zoe an irgendjemanden. Ihr Kleid und die Schuhe sahen billig und abgetragen aus: Sie hatte keine Ahnung, was ihr stand. Diese Zeichen der Bedürftigkeit stießen Zoe ab. Ich führe ein behütetes Leben, dachte sie und sagte spontan: »Komm uns doch mal wieder besuchen. Dann fahren wir mit dem Boot raus oder gehen ins Kino.«

Es war ein weiterer kleiner Schock für Zoe, dass das Mädchen ohne jegliches Ressentiment diese Einladung offenbar nicht ernst nahm. Warum sollte sie auch?, fragte sich Zoe und nippte an ihrem eiskalten Ananassaft. Ich habe schon oft Sachen leichthin gesagt. Ich sage oft etwas, was ich nicht meine. Einen Moment lang fühlte sie sich geläutert, ohne zu wissen, wodurch. Dann wehrte sie sich gegen ihr Einknicken und Zweifeln. Ihre spontanen Schmeicheleien waren schließlich eher ein Üben, etwa so, wie man sich eine Sprache beibringt oder tauchen lernt, als wären der möglichen Leistung keine Grenzen gesetzt. Alles, was sie sagte, war auf diese Weise ein Experiment. Sie kam sich fast vor wie eine Entdeckerin, die weit reiste und sich wieder und wieder herausforderte, ohne ein einziges Hindernis auf ihrem Weg zu finden. Derart aufregend abstrakte Bilder wirbelten ihr durch den Kopf, und wunderbare Phantasien über ihre eigenen unendlichen Möglichkeiten lösten eine jähe Freude in ihr aus. Nein, sie war nicht nur oberflächlich! Sie meinte, was sie sagte. Sie wollte nett sein, wollte freundlich sein zu diesem jüngeren Mädchen, dessen Leben offensichtlich viel weniger privilegiert war als ihr eigenes.

Zoes Eltern hatten sich mit Stephen unterhalten und ihn für unkommunikativ befunden. Zoe war sich dessen unterschwellig bewusst und spürte, dass ihre Eltern kurz davor waren, Anna für das möglicherweise empfänglichere Individuum zu halten. Sie rückten ihre Stühle in ihre Nähe. Mit professioneller Gewandtheit drangen sie in Anna und stellten ihr Fragen über die Schule. Marmelade, die Katze, gesellte sich zu ihnen und unterbrach für kurze Zeit diesen Druck geballter Erwachsenenaufmerksamkeit – einer sichtlich neuen und erschöpfenden Erfahrung. Zoe hörte unaufmerksam zu: Bildung, die nicht sie selbst betraf, langweilte sie. Das Telefon klingelte, und Mr Howard blieb bis zum Mittagessen verschwunden.

Russell und sein Freund unterhielten sich leidenschaftlich auf der anderen Seite der Veranda. Zoe entschied, dass der Freund wie ein Anarchist aussah oder wie ein Musikstudent. Ein Büschel dichtgewelltes hellbraunes und unzähmbar wirkendes Haar war hauptsächlich verantwortlich für diesen Eindruck, doch auch seine Größe und seine schlanke Gestalt und die helle Haut trugen dazu bei sowie die Brille, die er mit langen zierlichen Fingern abnahm und wieder aufsetzte. Und seine Augen, dieser Blick waren auf jeden Fall furchteinflößend. Wo gabelte Russell solche Leute auf?

Bis jetzt war ihr aufgefallen, dass dieser Stephen – sobald seine Eltern mit ihm zu reden versuchten – nervös schien, gereizt, voller angestauter Wut, wie jemand, der vor lauter drängender Gedanken keine Zeit für eine Unterhaltung hat. Der Blick aus den auffallend goldfarbenen Augen wich den Blicken aller anderen aus. Hatte er eigentlich jemanden außer Russell direkt angeschaut? Ein- oder zweimal hatte er ihrem Vater sogar erschreckend ungeduldig und gereizt geantwortet. Er glich einem verschrobenen, jähzornigen Charakter aus einem tiefgründigen russischen Roman.

Zoe hatte aus einiger Entfernung zugesehen, ihr Gesicht halb in ihr glattes, kaltes Glas getaucht, und als er völlig unerwartet lachte, hinterließ das bei ihr den Eindruck eines lauten, in Moll gestimmten Gongs. Sie war einen derartigen Missklang nicht gewohnt, fand ihn jedoch seltsamerweise anregend. Unsicher, dabei voller Neugier und Interesse, analysierte sie dieses Waisenkind. Armer Junge, dachte sie, da sie ihre Mutter immer von armen Jungen reden hörte. Bedürftig. Das fiel ihr zu ihm und Anna ein. Er wirkte schmuddelig, nicht so bis ins letzte Atom hinein sauber wie Anna. Ihre Mutter führte sein bedürftiges Aussehen auf einen ungestillten Hunger nach Sex zurück, doch darauf führte sie immer alles zurück. Wenn man so genau wusste, dass das die Antwort auf alle menschlichen Probleme war, dachte Zoe, dann blieb auf jeden Fall massenhaft Zeit, um alles Übrige zu lösen. Irritiert durch die Oberflächlichkeit und Absehbarkeit dieser Diagnose, hatte sich Zoe die Erwiderung angewöhnt: »Ein Glück für die Prostituierten! Sie müssen ganz schön ausgeglichen sein!«

»Wie viele Prostituierte hast du schon gesehen?«, fragte ihre Mutter.

»Ich bin ja nicht blind.«

Sie klickte mit ihren Fingernägeln an das Glas in ihrer Hand und behielt Stephen im Blick, während im Hintergrund Mrs Howard auf Anna einredete. Sie betrachtete den Strahlenkranz seiner Haare, seine hübschen Ohren, eines davon so sonnendurchleuchtet, dass sie sein Blut strömen sah.

Im Haus klingelte es wieder, dann die Stimme ihres Vaters: »Russell! Lily fragt nach dir!«

Russell stand an der Tür. »Zoe, kümmer dich um Stephen. Sprich mit ihm, anstatt hier ständig zu posieren.«

Zoe lächelte, weil er sie so genau kannte und durchschaute, dass er nicht einmal auf ihre extrem natürlich wirkenden Posen, deren sie sich selbst kaum bewusst war, hereinfiel. Sie ging zu Stephen Quayle hinüber und setzte sich neben ihn.

»Und was machst du so?«, fragte sie mit einem nahezu strahlenden Lachen. Es spielte keine Rolle, was sie zu Männern sagte: Sie liebten alles, was von ihr kam.

»Ich arbeite als Handelsvertreter.«

»Oh!« Sie war abgeblitzt. Sie gefiel nicht. Er hatte ihr Äußeres überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Sie war ein ungezogenes Kind, das einen fremden Bischof bei seinem Vornamen angesprochen hatte. »Was verkaufst du?«, bohrte sie weiter.

»Verpackungsmaterial. Paketband. Packpapier. Wellpappe.«

Offensichtlich ihr Fehler! Ihr Blick wich ihm aus, huschte umher. »Das ist wahrscheinlich sehr interessant, man lernt bestimmt viele unterschiedliche Menschen kennen.«

Sie sprach und hatte dabei den Eindruck, es geschehe etwas nicht gerade Erfreuliches mit ihr, etwas Unabänderliches, Magisches und Unvermeidbares. Ihrem Intellekt wurde ein verzaubertes Vorhängeschloss verpasst, zu dem es keinen Schlüssel gab. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie auf einen Mann gestoßen, der über sie urteilte. Dass er sich dazu entschieden hatte, verlieh ihm Autorität, machte ihn zweifellos überlegen. Irgendwie spürte sie auch, dass ihr ein wesentliches und für ihr Leben äußerst wichtiges Element genau zum richtigen Zeitpunkt gegeben worden war. Hätte er sie in dieser Sekunde nicht angeschaut, hätte er nicht genau diese Worte gesprochen, sie hätte die nächste Stunde vielleicht nicht überlebt.

»Total interessant«, pflichtete er bei. »Ich laufe mit einer Tasche voller Verpackungsmuster durch die Stadt und die Vororte und warte in vermieften Dienstzimmern auf die Bürochefs. Eine Stunde ist da gar nichts. Und dann wird der Büroassistent angewiesen: ›Werden Sie ihn los! Diesen Monat brauche ich nichts.‹«

Dieser Zorn! Zoe fiel nichts ein, was sie hätte erwidern können.

»Du betrachtest meine Schuhe«, sagte er.

»Ich betrachte doch nicht deine Schuhe.« Plötzlich starrte Zoe auf die Schuhe.

»Normale Sohlen laufen sich zu schnell ab. Ich kenne einen Schuhmacher, der mir zusätzliches Leder anbringt.« Er drehte seinen rechten Fuß seitlich und runzelte die Stirn. »Unten auf dem Platz habe ich sie nicht getragen.«

Zoe wagte einen Blick in seine Augen, obwohl sein Blick auf ihre Nerven wie ein elektrischer Schlag wirkte. »Von mir aus kannst du sie auch in der Badewanne tragen«, sagte sie ungehalten. Als hätte sie nichts Besseres im Kopf als seine Schuhe! Er hält mich für eine Fetischistin, dachte sie. Oder konnten nur Männer Fetischisten sein?

Er betrachtete die dicht stehenden Bäume, zwischen denen das Wasser durchschimmerte, die lichtlosen Schatten und die leuchtenden Grüntöne unter dem enorm weiten Himmel. »Wie im Botanischen Garten. Du hast vielleicht ein Glück.« Er streckte sich im gepolsterten Sessel aus und wandte den Blick von den vielen leuchtenden Farben hin zu dem weiß getünchten Verandadach und sagte: »Kein menschliches Wesen ist dafür gemacht, Vertreter oder Angestellter zu sein.«

»Sondern wozu?«, fragte Zoe belustigt. Keiner der Jungs, die sie kannte, machte je solche Bemerkungen. »Was hast du danach vor? Ich meine – wenn du damit aufhörst.«

»Ich höre nicht auf.«

Zoe sagte nichts. Sehr wahrscheinlich war er der einzige Mensch auf der Welt, der ihr überlegen war, jedenfalls war er bis jetzt der einzige, der das deutlich machte, und deshalb konnte, was er sagte, unmöglich wahr sein. Ein Mann, der Zoe überlegen war, konnte unmöglich sein Leben als Verkäufer verbringen. So viel hatte sie gelernt. Irgendwie hatte er nie eine faire Chance bekommen. Solche Männer waren bereit für den Kommunismus. Das Wort »bereit« wurde in diesem Zusammenhang immer benutzt. Sie fragte ihn danach.

Die wütenden goldenen Augen flackerten auf. »Wie alt bist du?«

Sie sagte es ihm und fügte hinzu: »Letztes Jahr haben wir Utopia durchgenommen.«

»Gefiel es dir?«

»Wenn du es nicht vor kurzem gelesen hast, hat es keinen Sinn, darüber zu diskutieren.« Nachdem sie gezeigt hatte, dass auch sie vernichtend sein konnte, sagte sie: »Warum machst du es also, wenn du es nicht ausstehen kannst?«

Er seufzte, vergaß sie und rieb mit einer schmalen Hand seine Brust auf und ab, dann verharrte er, tastete in einer Art persönlicher Verzweiflung die Knöpfe an seinem Hemd ab, ein Anblick, der sich sofort in Zoes Gedächtnis bohrte.

»Ich mache es eben« – noch hielt er einen Knopf zwischen Zeigefinger und Daumen – »ich glaube, ich mache es, um über die Runden zu kommen. Für dieses Hemd. Für ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen. Damit ich mir die Haare schneiden und die Zähne plombieren lassen kann. Um den Bus zu bezahlen, mit dem ich ins Büro fahre, wo ich Geld verdiene, um über die Runden zu kommen.«

Zoe war überrascht und geschockt, einem solchen Menschen in natura zu begegnen. »Und Anna?«

»Ich nehme an, aus Anna wird mal eine dieser Angestellten, die von der Hand in den Mund leben. Sie wird andere Angestellte kennenlernen, und vielleicht heiratet sie einen von ihnen.«

Zoe spürte den Blick auf ihre ausgestreckten nackten Beine und zog ihre Shorts zurecht. »Wahrscheinlich stellst du es viel trostloser dar, als es ist.« Vielleicht war das seine Art Witz – britisches Understatement verkehrt herum. Dieses Gejammer aus einer Position der Schwäche heraus wirkte einfach nur lahm. »Könntet ihr nicht alle beide Stipendien bekommen? Können nicht eure Verwandten und Bekannten was drehen?«

Plötzlich sah sein Gesicht sehr müde aus. Er wirkte so erschöpft, obwohl doch dreiundzwanzig allenfalls mittelalt, aber keineswegs alt war.

Zoe wandte sich abrupt ab und rief ihrer Mutter zu: »Soll ich Mrs Perkins nach dem Abendessen fragen?«

Mrs Howard empfing das Signal der konfliktgeladenen Situation: »Anna und ich gehen vor. Wir rufen euch dann.«

So mühte sich Zoe weiter mit dem Freund ihres Bruders ab. »Worüber hast du dich mit Russell unterhalten, bevor er gegangen ist?«

Stephen lächelte. »Die Relativitätstheorie. Habt ihr die schon durchgenommen?«

Sie warf ihm einen feindseligen Blick zu. Noch nie hatte man sie so gequält, noch nie für den Zustand der Welt verantwortlich gemacht, noch nie dermaßen verspottet. Plötzlich fiel ihr Blick auf ein Stück apricotfarbenes Fell. »Marmelade gräbt den Garten um. Ich muss gehen. Du willst ja sicher nicht – schon wieder in die Sonne.«

Sie rannte die Treppe hinunter, und so, wie sein Stuhl über den Boden scharrte, wollte er sehr wohl. Doch wie frei fühlte sie sich, während sie davonrannte! Marmelade war bereits verschwunden, und zwei der neuen Pflänzchen ihrer Mutter waren lädiert. Sie drückte sie in den Boden zurück und ordnete ihre schlaffen Blätter. Sie würde dafür sorgen, dass diese Person in der Sonne blieb, bis sie umkippte, auch wenn das bedeutete, sich selbst einen Sonnenbrand zu holen. Sie hörte ihn über die Wiese näher kommen, drehte sich zögernd um, und sie sahen einander an, bis er neben ihr stand.

»Irgendwo habe ich dich schon mal gesehen«, sagte er. »Oder ein Foto von dir.«

Zoe konnte keinen klaren Gedanken fassen, während sie ihn anstarrte und versuchte, die Art dieser neuen Attacke einzuschätzen. »Vor einem Monat habe ich einen Wettbewerb gewonnen. Im Herald war ein Foto abgedruckt. Oder vielleicht auf einer Party oder so.« Sie verlor den Faden. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er die Gesellschaftsseiten las. Und das Gewinnen eines Wettbewerbs war für den ritterlichen Stephen einfach nur belanglos.

»Ja, wahrscheinlich war’s das.«

Sie schlenderten zum Haus zurück, atmeten die feuchte, salzige, duftende Luft.

»Besuch für dich, Zoe!« Russell kam ihnen im Garten entgegen, und sie lief mit den Worten los: »Ich hab’s total verschwitzt. Ich gehe heute Mittag essen.«

Dinah und Tony und Philip standen da und unterhielten sich mit Mr und Mrs Howard. Die jungen Männer studierten Jura und waren legendäre Fußballspieler. Zoe hörte, wie Russell genau das Stephen erzählte, als sie, nachdem sie sich kurz umgezogen hatte, wieder zu ihnen stieß. Gewiss bedurfte die physische Statur der beiden einer Erklärung. Über eins achtzig groß, männliche Gesichter, dichte Locken – für Zoe waren sie griechische Kämpfer oder Liebhaber oder Athleten im Fries eines ionischen Tempels. Wenn sie draußen auf dem Spielfeld standen, erreichte Zoes Verehrung ihren Höhepunkt. Ihre Augen konnten dann nie entscheiden, ob sie sie rennend aufregender fanden oder wenn sie stehen blieben und aufs Tor zielten.

Außerhalb des Spielfelds, na ja, außerhalb des Spielfelds sahen sie zwar immer noch wie Helden aus, waren aber so kompliziert wie ein Comicstrip. Das Übliche. Durchschnitt. Trotz ihres Aussehens. (Das war ihr gerade klargeworden.) Sie fixierten Zoe mit dem üblichen Raubtierblick und hatten kaum einen Einfluss auf ihre Gefühle. So nüchtern wie heute hatte sie noch nie über sie nachgedacht, und doch hätte sie sofort mit Freuden eingewilligt, ihr Leben mit beiden zugleich zu verbringen.

Mit einer Art Trotz legte sie ihre rechte Hand in Tonys Hand und ihren linken Arm um Philips Taille. Das blieb nicht unbemerkt. Lachend eilten die vier den Weg zum Tor hinunter, hinter dem zwei scharlachrote MGs parkten.

Als sie stehen blieb und zurückblickte in Richtung des Hauses und ihrer Familie und dieser lästigen Waisen, die jetzt hinter den Bäumen verborgen waren, fühlte Zoe einen Stich in der Brust, der sie seufzen ließ. Philip sah sie an. »Außer Atem«, sagte sie und lächelte zu ihm hinauf.

*

Noch bevor eine der Waisen wieder im Howard-Haus auftauchte, hatte Zoe aus Russell die Lebensgeschichte der beiden herausgequetscht und die Umstände, unter denen sie sich kennengelernt hatten.

»Leg dich mit mir an den Strand. Erzähl mir was. In ein paar Wochen werde ich keine Zeit mehr haben. Es werden heute Tausende von Leuten ins Haus kommen. Du wirst dich nicht mehr rühren können und dich langweilen.« Und vorsichtig sagte sie: »Mir bedeutet es mehr als allen anderen, mit dir zusammen zu sein«, und der Form halber fügte sie hinzu: »Mit Ausnahme von Lily wahrscheinlich.«

»Ja, und das hätte ich schon viel früher gesagt, wäre es menschenmöglich gewesen.«

Sie lächelten.

»Aber pack uns ein nettes Lunchpaket, Zoe, dann können wir eine Weile bleiben.«

So lagen sie also am Strand. Seit er aus dem Lager zurück war und die ärztlichen Pflichtbesuche hinter sich gebracht hatte, aß und trainierte Russell mit einem so zielgerichteten Eifer, dass niemand etwas sagen konnte. Zoe sah ihren Bruder an. Er war schlank, athletisch gebaut, mittelgroß. Trotz seiner Jugend begann sein braunes Haar bereits zu ergrauen. Er hatte die freundlichen, unregelmäßigen Züge seiner Mutter, hohe Wangenknochen, eine leichtgebogene Nase und einen großen Mund mit sehr weißen, ebenmäßigen Zähnen. Seine Beine waren narbenbedeckt, und als er sich in den schwarzen Badeshorts im Sand ausstreckte, konnte man die Narben auf seinem Rücken sehen. »Geschwüre«, hatte er sie genannt, und dabei blieb es. Zoe hatte gelernt, diese Male wirklich zu betrachten, ohne dabei etwas zu denken und zu fühlen, und nicht nur so zu tun.

Sie verteilte kaltes Hühnchen und Salat. »Aber wie hast du die Quayles kennengelernt?«, wollte sie wissen. »Anna ist nett, aber er ist … seltsam.«

»Ist er nicht. Was hat er zu dir gesagt?« Russell schaute interessiert auf seinen Teller.

»Es war nicht, was er sagte … Er hat mich gefragt, ob wir die Relativitätstheorie durchgenommen hätten.«

Russell sah sie mit großen Augen an, und wie so oft musste Zoe lachen und dabei seine Augen genauestens inspizieren. Sie waren leuchtend blau.

»Die Relativitätstheorie! Das mag seine Vorstellung von Small Talk sein. Wir haben uns einfach so kennengelernt.«

Russell hatte ein oder zwei Stunden im Zug gesessen, um in einer der Vorstädte die Frau eines Freundes zu besuchen, der im Lager ums Leben gekommen war, und im Abteil saß einer, der sich später als Stephen Quayle vorstellte. Ein rätselhafter Halt auf freier Strecke hatte sich so lange hingezogen, dass sein Weggefährte gezwungen wurde, von seinem Buch aufzuschauen. Russell wurde dabei ertappt, wie er, um den Titel zu lesen, den Hals verdrehte, denn in diesem Vakuum durfte keine gedruckte Zeile, die sich ihm bot, ungelesen bleiben.

»Die Relativitätstheorie?« Zoe biss lustlos in ihr Hühnchen.

»Das ist nicht das Einzige, was ihn interessiert. Es ging um Katholizismus, Existentialismus.«

»Ist er Existentialist?«

»Stephen doch nicht.«

Nachdem sie am Bahnhof schließlich auseinandergegangen waren, hatten sie sich in der Stadt zum Abendessen wiedergetroffen und sich danach in Stephens stadtnahem Zimmer weiter unterhalten.

Zoe wollte gerade einwenden: »Aber du hast so viele Freunde. Warum unterhältst du dich ausgerechnet mit diesem Verkäufer?« Sie hielt inne. Es stimmte nicht. Zu viele seiner Freunde lebten nicht mehr. Sie redete sich ein, dass sie sich lieber freuen sollte über seine Bereitschaft, ein neues Leben zu beginnen.

»War er mal weg?«

»Er wurde ausgemustert. Wegen der Augen.«

Die beiden Männer hatten sich dreimal getroffen, bevor die Quayles zu Russell nach Hause kamen und seine Familie kennenlernten. Da es zufällig Samstag und Stephen an der Reihe war, etwas mit Anna zu unternehmen, war sie mitgekommen; sie wohnte noch bei Onkel und Tante, ihren Erziehungsberechtigten, und Stephen traf sich alle vierzehn Tage mit ihr.

Der Vater der beiden war aus England nach Australien gekommen, um für die Eisenbahngesellschaft, bei der er angestellt war, Vertragsverhandlungen zu führen und eine neue Zweigstelle aufzubauen. Auf einer Dinnerparty in Sydney lernte er ein Mädchen – Stephanie Boyd – kennen, und einen Monat später heiratete er sie. Als Stephen sieben oder acht Jahre und Anna erst wenige Monate alt war, kamen ihre Eltern bei einem Unfall an einem Bahnübergang ums Leben.

»Ihr Wagen wurde von einem Zug gerammt? Sie müssen noch ganz jung gewesen sein«, stellte Zoe erschrocken fest und sah Russell an, als wolle sie, dass er seine Geschichte ändere.

Er zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. Er lehnte sich zu dem Korb hinüber und warf ein paar Hühnerknochen in einen leeren Behälter.

»Waren die Kinder im Wagen?«

»Ich glaube, ja. Ich weiß es nicht. Um eine graphische Darstellung hab ich nicht gebeten. Man quetscht die Leute nicht aus, Zo.«

Sie schälte eine Banane, biss hinein und verzehrte sie langsam. »Waren sie nett – seine Mutter und sein Vater?« Sie musterte sein Gesicht. »Er hat dir doch Fotos von ihnen gezeigt. Wie waren sie?«

Russell schwang sich hoch, wischte sich den Sand von Brust und Schultern und sagte: »Du und Lily, ihr wisst immer schon alles. Ihr braucht mich gar nicht. Ich geh mal schwimmen – du kannst so lange …«

»Haha!« Indem sie ins Schwarze getroffen hatte, war sie zu weit gegangen, zu weit vorgeprescht. Sie kannten einander sehr gut. Er stapfte zum Wasser, wurde kleiner und kleiner wie in einer dynamischen Perspektiveübung.

Du bist gut, beteuerte sie sich in Gedanken, während sie mit versteinerter Miene auf die Stelle starrte, wo er im flachen grünen Wasser verschwunden war. Auch wenn ihr bewusst war, dass dieser Gedanke sie so wenig beschäftigen sollte wie die Narben und vieles andere. Sie rollte sich herum, richtete sich auf und rannte zum Wasser.

Eine Viertelstunde später kehrten sie gemeinsam zurück zu Korb und Sonnenschirm, den Büchern und Sandalen, glänzend, tropfend, nach Luft schnappend.

»So toll war das Wasser schon lange nicht mehr«, sagte Russell, trocknete sich ab, breitete das Badetuch aus und legte sich darauf.

»Das sagst du jedes Mal. Ich finde, die sollten Hainetze aufspannen. Erzähl noch ein bisschen von deinem schrecklichen Freund.« Zoe gelang ein völlig neutraler Ton.

Russell drehte sich um und schaute sie an, wie sie, nach vorn über ihre ausgestreckten Beine gelehnt, ihre Knie taxierte, als wären sie etwas sehr Kostbares. Sie sagte: »Schieß los. Ich bin ganz Ohr.«

»Er ist witzig. Ich mag ihn. Vielleicht machen wir demnächst zusammen Geschäfte.«

»Geschäfte? Was für Geschäfte? Du würdest doch nur alles verschenken.«

»Warten wir’s ab.« Er fixierte sie. »Willst du mehr hören oder nicht?«

»Bitte.« Sie saß geduldig still, spielte das brave kleine Mädchen.

Nach dem Unfall kamen die Geschwister Quayle zum Bruder ihrer Mutter, einem Anwalt mittleren Alters, und seiner Frau. Der Bruder ihres Vaters, ein Londoner Junggeselle, schrieb und schickte Geld, und man kam überein, dass die Kinder dort bleiben sollten, wo sie waren. Doch trotz der Zuwendungen aus England waren sie keineswegs gut versorgt. Im Glauben an den zukünftigen Wohlstand hatten die Quayles bis an die Grenzen ihrer Verhältnisse gelebt. Es war eine internationale Firma, und Quayle war sehr anerkannt; jedermann hätte bestätigt, dass seine Erwartungen wohl begründet waren. Für den unwahrscheinlichen Fall seines eigenen frühen Todes hatte er keine Vorkehrungen getroffen.

Der Onkel in Parramatta, Charles Boyd, sorgte sich in dem Maße um seine zwei Mündel, wie es ein kinderloser Mann mit einer psychisch kranken Frau nur irgend kann. Er hoffte, dass sich Nicole für die Kinder interessieren und ihr Geisteszustand sich dadurch verbessern werde. Seit ihm aufgegangen war, dass das gesellschaftliche Leben wahrscheinlich die Ursache für ihre vielen tiefliegenden, doch undefinierbaren Schwierigkeiten war, entband er sie von allen Aufgaben und Verantwortlichkeiten, so dass ihr Leben zwar äußerst müßig, doch nicht weniger qualvoll verlief.

Im Haus war immer jemand, der half – mal Haushälterin, mal Krankenschwester –, doch keiner blieb lange. Und in diesem Nacheinander von fremden Menschen mussten die Kinder Zuwendung und Trost finden. Der Onkel war hauptsächlich auf seine Arbeit und seine Frau konzentriert. Ihre Melancholie und ihre Stimmungen hatten ihn verunsichert. Er sehnte sich nach Ruhe, gab seiner Frau in allem nach und fand keine Ruhe.

Immer wieder waren Sparaktionen angesagt: Es wurde Strom gespart, Lebensmittel und Heißwasser, und die Putzmittel wurden scharf überwacht. Dann wiederum wurden Unsummen für Kleider ausgegeben, die keiner je trug, für Uhren, Teppiche, Essbestecke in einem Haus, in dem sich solche Gegenstände bereits stapelten. Manchmal bekamen die Kinder handgenähte Kleider, während die hysterische und zunehmend auch autoritäre Nicole nicht erkannte, was eigentlich gebraucht wurde. Die Ansprüche und das Interesse anderer Erwachsener an zwei Kindern, die keinem gehörten, verflüchtigten sich hinter den Türen des hübschen alten Backsteinhauses. Nicole reagierte absolut merkwürdig, wenn man sie ausbremste.

Zu Beginn wurde ein Kindermädchen eingestellt, das sich um Anna kümmern sollte. Als Anna alt genug war, kam sie in die Krippe. Stephen besuchte die Schule vor Ort. Er und seine Schwester lernten, still zu sein, sobald die Tante auch nur auf eine Meile in die Nähe kam. Gedanklich waren sie ständig mit ihr, von der ihr Überleben abhing, beschäftigt.

Zoe sagte: »Parramatta. Ein so trister, trockener, eintöniger, heißer Ort und dann noch eine durchgeknallte Tante. Da habe sogar ich Mitleid.«

»Auch wenn er dir komische Fragen gestellt hat?«

Ungeduldig rüttelten Zoes Hände an ihm. »Wie geht es weiter? Wohnt Anna noch dort? Ist alles immer noch so?«

»Soviel ich weiß.«

»Und wann ist Stephen da weg? Sobald er volljährig war, vermutlich. Aber warum in diese grässliche Sackgasse? Sein Onkel ist doch Anwalt, hätte er ihm nicht was Besseres besorgen können? Er ist doch wahrscheinlich in allem gut.«

»Er ist ziemlich schlau«, stimmte Russell zu. »Aber es war einfach kein Geld da.«

Zoe sah aus, als hätte sie so etwas noch nie gehört.

»Ökonomie«, fuhr Russell fort. »Sein Onkel war keine Hilfe. Sein Verstand hat sich vernebelt, weil er jahrelang versucht hat, wie sie zu denken.«

»Wie bitte? Er ist auch durchgeknallt?

Russell betrachtete sie und sah, dass sie schnippischer klang, als sie beabsichtigt hatte. »Er ist am Ende. Ausgelaugt. Mit geduldigem Ertragen heilt man keine Psychose.«

Zoe packte ihr dunkles nasses Haar energisch mit beiden Händen, zwirbelte es herum, hielt es mit der linken Hand über ihren Kopf, während sie in ihrer Tasche nach einer Schildpattspange wühlte. Sie befestigte sie, wo sie hingehörte. »Ich hab Stephen nach Stipendien gefragt, aber er ist einfach nicht drauf eingegangen.«

»Es gab auch vor ein paar Jahren kaum welche. Das waren andere Zeiten. Studieren war einfach nicht drin.«