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Marcus Hasselhorn
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1. Auflage 2015
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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-021693-8
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epub: ISBN 978-3-17-029692-3
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• Wie kam es historisch zu der wissenschaftlichen Betrachtung der kindlichen Entwicklung?
• Was versteht man unter dem modernen Entwicklungsbegriff?
• Welche Faktoren wirken auf die kindliche Entwicklung?
• Welche Anwendungsfelder gibt es in der Entwicklungspsychologie?
• Was ist das Ziel der translationalen Forschung?
Die Entwicklungspsychologie der Kindheit befasst sich mit Veränderungen und Stabilitäten des kindlichen Verhaltens und Erlebens im Laufe der ersten 10 bis 12 Jahre. Dieser Zeitraum ist weit mehr durch Veränderungen als durch Stabilitäten geprägt. Allein im ersten Lebensjahr verändert sich so viel wie in keinem anderen Lebensjahr. Während ein neugeborenes Kind körperlich, motorisch und geistig noch sehr stark von Bezugspersonen abhängig ist, kann sich ein einjähriges Kind meist schon allein fortbewegen und die ersten Worte sprechen. Aber auch in den sich anschließenden Lebensjahren findet in den verschiedenen Inhalts- und Funktionsbereichen des kindlichen Verhaltens und Erlebens noch eine beeindruckende Fülle von Veränderungen statt. Diese führen dazu, dass mit 10 Jahren dann die Motorik der Kinder, ihre Wahrnehmung, ihr Gedächtnis und ihre Sprache voll entwickelt sind. Auch ihr Denken, ihre sozial-emotionale Entwicklung und ihr Selbstkonzept haben wesentliche Etappen in Richtung der Erwachsenenwelt genommen.
Gegenwärtig ist es selbstverständlich, dass wir in der Kommunikation mit Kindern und in den an das Kind gestellten Aufgaben und Erwartungen ihr jeweiliges Entwicklungsgeschehen mitberücksichtigen. Es wird versucht, die verschiedenen Bildungsprogramme genau auf die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Kinder abzustimmen. Betrachtet man jedoch historisch früher vertretene Auffassungen über die Kindheit, so wurde der kindlichen Entwicklung zum Teil keine größere Bedeutung beigemessen. Erst seit dem 17./18. Jahrhundert wurde ihr besondere Aufmerksamkeit geschenkt und in diesem Zuge etablierte sich vor ungefähr 100 Jahren auch eine wissenschaftliche Betrachtung der kindlichen Entwicklung, die insbesondere auf die Kindheit fokussierte.
Auf diese historische Perspektive wird im vorliegenden Kapitel zunächst näher eingegangen. Darauf aufbauend wird erläutert, welche aktuellen Auffassungen über Entwicklung der Entwicklungsbegriff beinhaltet und worin derzeit Konsens besteht. Anschließend wird dargestellt, welche Faktoren die kindliche Entwicklung beeinflussen. Hierbei wird ausführlich beleuchtet, welche Bedeutung der Genetik und der Umwelt eines Kindes zukommt. Des Weiteren wird beschrieben, welche Anwendungsfelder in der Entwicklungspsychologie der Kindheit existieren. Hier werden sowohl die kindliche Entwicklung in verschiedenen pädagogischen Kontexten erläutert, als auch dargelegt, von welchen psychischen Störungen die Kindheit betroffen sein kann. Daran anknüpfend wird der sogenannte translationale Ansatz der Entwicklungspsychologie vorgestellt. Dieser Ansatz soll als übergeordneter Bezugsrahmen des gesamten Buches gelten.
Der translationale Ansatz zielt darauf ab, die grundlagenorientierte Entwicklungspsychologie, die vor allem auf die typische Entwicklung fokussiert, für das Verstehen der untypischen kindlichen Entwicklung und die Beantwortung entwicklungsbezogener Anwendungsfragen nutzbar zu machen.
Zwar faszinierte schon die Philosophen der Antike die Entwicklung des Menschen, jedoch gab es Zeiträume wie das Mittelalter, in denen die Entwicklung des Menschen kaum eine besondere Rolle zu spielen schien. So herrschte z. B. in der europäischen Gesellschaft des Mittelalters die Vorstellung vor, dass Kinder ab ungefähr dem Alter von 7 Jahren durchaus in die Arbeitswelt der Erwachsenen integriert werden sollten. Kinder verrichteten Feldarbeit oder erlernten ein Handwerk. So früh wie möglich trugen sie Erwachsenenkleider und nahmen an damals typischen, erwachsenen Freizeitbeschäftigungen teil (Aries, 1962). Nur ganz spezifische Bedürfnisse der Kinder wurden in dieser Zeit berücksichtigt. Es wurde erkannt, dass spezielle Kinderkrankheiten existieren (Kroll, 1977) und dass Eltern sowohl für das finanzielle wie seelische Wohl ihrer Kinder Verantwortung tragen (Pollock, 1983).
Erst danach, im 17. und 18. Jahrhundert zur Zeit der Aufklärung, betonten insbesondere zwei Philosophen, der englische Philosoph John Locke und der französische Philosoph Jean Jacques Rousseau, die explizite Besonderheit der Kindheit. Locke beschrieb das neugeborene Kind als sogenannte tabula rasa (Locke, 1961). Er vertrat die Auffassung, dass ausschließlich die Umwelterfahrungen die Gesamtheit des kindlichen Daseins prägen würden. Somit unterstrich er die entscheidende Bedeutung früher kindlicher Erfahrungen und damit die wichtige Rolle von Erziehung. Rousseau (1895) dagegen ging davon aus, dass Kinder sich aufgrund natürlicher Instinkte im Einklang mit einer menschlichen sozialen Ordnung entwickeln würden. Er stellte besonders die aktive Rolle des Kindes im Entwicklungsprozess heraus. Kinder würden durch ihre natürliche Neugier die Welt entdecken. Sowohl Locke als auch Rousseau forderten, die Kindheit als Zeitraum anzuerkennen, der einer besonderen Berücksichtigung bedarf, womit sie den Weg für eine wissenschaftliche Betrachtung der Kindheit ebneten.
Für den ontogenetischen Ursprung der menschlichen Entwicklung interessierten sich Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst Biologen. Der Biologe Charles Darwin (1877) wollte den Ursprung der menschlichen Spezies ergründen und beobachtete zu diesem Zweck seinen Sohn über die ersten 3 Lebensjahre hinweg ähnlich wie auch der Biologe Wilhelm Preyer (1882/1888–1889) ausführlich das Verhalten innerhalb der ersten 3 Lebensjahre seines Sohnes beschrieb.
Der Beginn einer eigentlichen wissenschaftlichen Entwicklungspsychologie kann ungefähr um die Jahrhundertwende angesiedelt werden. Der amerikanische Psychologe G. Stanley Hall (1891) gehörte zu den ersten Forschern, die nicht nur die Entwicklung eines einzelnen Kindes betrachteten, sondern größere Gruppen von Kindern hinsichtlich verschiedener Inhaltsbereiche befragten und diese dann entlang verschiedener Variablen wie dem Geschlecht oder der Herkunft der Kinder verglichen.
Der französische Psychologe Alfred Binet beobachtete die unterschiedliche Entwicklung des Denkens seiner beiden Töchter und rückte die individuellen Unterschiede in der Entwicklung geistiger Fähigkeiten in den Mittelpunkt seines Forschungsinteresses. Zusammen mit Theodore Simon (Binet & Simon, 1905) stellte er eine Sammlung von Aufgaben zusammen, die diese Unterschiedlichkeit mentaler Fähigkeiten messen konnten. Beide Forscher gelten heute als Begründer des Intelligenztests.
Die entwicklungspsychologischen Überlegungen des beginnenden 20. Jahrhunderts wurden auch durch den Kanadier James Mark Baldwin (1930) geprägt, der damals schon die heute so bedeutsame Sicht vertrat, dass sich die kindliche Entwicklung stets aus einer reziproken Interaktion mit der Umwelt ergibt. Er befasste sich vor allem mit der sozialen Entwicklung des Kindes und der Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit. Auch Sigmund Freud (1933) leistete in dieser Zeit einen wichtigen Beitrag dazu, die kindliche Entwicklung und die frühen Kindheitserfahrungen als bedeutsam für die Gesamtentwicklung des Menschen zu verstehen. Er fokussierte sich nahezu ausschließlich auf die psychosexuelle Entwicklung des Kindes, für die er sowohl die Reifung des Kindes als auch seine Umwelterfahrungen verantwortlich machte. Freud wurde insbesondere dafür kritisiert, dass er Kinder nicht selbst beobachtete, sondern seine Erkenntnisse aus Berichten von Erwachsenen gewann, die über ihre Kindheit reflektierten.
Bis ungefähr zur Mitte des 20. Jahrhunderts interessierten sich die ersten wissenschaftlichen Entwicklungspsychologen wie Karl und Charlotte Bühler (1918, 1933) vor allem dafür, was sich genau entwickelt und beschrieben die Entwicklung von Kindern in verschiedenen Bereichen ( Abb. 1.1). Man erstellte z. B. Normen für die motorischen Etappen, die ein Kind durchläuft, fragte nach der kindlichen Entwicklung von sprachlichen Fähigkeiten und interessierte sich dafür, wie sich Emotionen entwickeln und wann Kinder spezifische Wertvorstellungen erwerben.
Erst später wurde die Frage, warum Kinder sich auf eine spezifische Weise entwickeln, immer bedeutender und es wurde
Abb. 1.1: Karl und Charlotte Bühler
erkannt, dass die Gründe für Entwicklung in vielfältigen eng miteinander verschränkten Faktoren zu suchen sind. Dies führte dazu, dass die heutige Entwicklungspsychologie immer interdisziplinärer geworden ist.
Gegenwärtig werden nicht nur Sichtweisen verschiedener Fächer der Psychologie (Neuropsychologie, klinische Psychologie oder vergleichende Psychologie) in entwicklungspsychologische Betrachtungen einbezogen, sondern auch Erkenntnisse aus anderen Disziplinen wie Anthropologie, Medizin oder Biologie gewonnen und berücksichtigt. Hiermit geht einher, dass in der entwicklungspsychologischen Forschung eine große Vielfalt an methodischen Verfahren verwendet wird. Die pure Beobachtung spielt eine weit geringere Rolle als früher. Stattdessen wird vielfach experimentalpsychologisch geforscht, wobei je nach Alter der Kinder Blickzeiten, Reaktionszeiten, elektrophysiologische oder andere neurophysiologische Maße und auch verbale Urteile erhoben werden. Je nach Fragestellungen kommen auch verschiedene Testverfahren oder Trainingsstudien zum Einsatz ( Kap. 3).
Die Interdisziplinarität entwicklungspsychologischer Forschung und ihre Methodenvielfalt hat die heutige Erkenntnis erbracht, dass die kindliche Entwicklung keinem gleichförmigen Prinzip zu folgen scheint. Vielmehr macht neuere Forschung deutlich, wie außerordentlich variabel die kindliche Entwicklung sein kann: in verschiedenen Inhaltsbereichen, in verschiedenen Kulturen und Kontexten und abhängig von spezifischen Erfahrungen in bestimmten Zeitfenstern. Aktuelle Ansätze versuchen aber auch zu zeigen, dass das komplexe Entwicklungsgeschehen systemischen und dynamischen Regeln folgt, bei denen verschiedene Entwicklungsverläufe nicht unabhängig, sondern in enger Abstimmung miteinander existieren und aufeinander reagieren. Ein weiterer aktueller Trend neuerer Forschung ist darin zu sehen, dass man versucht, systematisch zu erarbeiten, wie sich die grundlagenbezogenen Forschungserkenntnisse über die kindliche Entwicklung in die Anwendung übertragen lassen. In der Entwicklungspsychologie hat man sich zwar schon früher intensiv mit schwierigen Entwicklungsverläufen und auch der Kompensation von benachteiligten Kindern befasst, eine systematische Translation von Grundlagenerkenntnissen in Anwendungsfragen der Entwicklungspsychologie wird jedoch erst in jüngster Zeit angestrebt ( Kap. 1.4).
Die Geschichte der wissenschaftlichen Entwicklungspsychologie hat es mit sich gebracht, dass sich auch der Begriff der Entwicklung im Laufe der vergangenen 100 Jahre gewandelt hat. Im Folgenden wird zuerst auf die historisch ältere Sichtweise im Sinne eines Stufenbegriffs und anschließend auf die aktuelle Vorstellung über den Entwicklungsbegriff eingegangen.
Im Zuge der Forschungsabsicht z. B. von Karl und Charlotte Bühler (1918, 1933), Entwicklung in erster Linie beschreiben zu wollen, entstand die Vorstellung, dass die kindliche Entwicklung sich in einer Abfolge von Stufen vollziehe. Hauptanliegen war, jede Stufe genau darzustellen und ihre Funktion zu verstehen. Der Stufenbegriff war durch folgende Charakteristiken gekennzeichnet (s. Montada, Lindenberger & Schneider, 2012). Man ging davon aus, dass in einem Fähigkeitsbereich wie beispielsweise der Entwicklung des Sprechen-Lernens, eine Veränderungsreihe vorlag, in der mehrere Schritte durchlaufen wurden. Diese Abfolge von Schritten sollte unumkehrbar sein, was bedeutet, dass keine Stufe übersprungen werden konnte. Jede frühere Stufe stellte die Voraussetzung für die nachfolgende dar und war an ein bestimmtes Lebensalter gebunden. Die verschiedenen Stufen wurden als qualitativ voneinander verschieden verstanden, im Gegensatz zu einer bloßen quantitativen Unterscheidung der Stufen, z. B. einer bloßen Zu- oder Abnahme einer Fähigkeit. Es herrschte die Vorstellung vor, dass die Stufenabfolge auf einen höheren Reife- oder Endzustand zusteuerte, die sich wie nach einem inneren Bauplan entfaltete, der universell, also kulturübergreifend wirkte. Als Beispiel für eine solche Stufenabfolge wurde oft die motorische Entwicklung insbesondere innerhalb des ersten Lebensjahres gesehen. Aktuelle Arbeiten zeigen zwar, dass die Motorik im ersten Lebensjahr tatsächlich einer typischen Abfolge von Veränderungen folgt, jedoch finden diese z. B. in verschiedenen Kulturen nicht im gleichen Lebensalter statt. Während Säuglinge, die in einer westlichen Kultur aufwachsen, in der Regel mit 6 Monaten sitzen können, sind Säuglinge aus einer kamerunischen, ländlichen Kultur dazu schon mit 3 Monaten in der Lage (Vierhaus et al., 2011). Generell ist man zu der Ansicht gelangt, dass alle Charakteristiken des Stufenbegriffs relativiert werden müssen, woraus dann der moderne Entwicklungsbegriff entstanden ist.
Der moderne Entwicklungsbegriff bezeichnet Entwicklung als geordnete Veränderung (Pinquart, 2011). Hiermit ist gemeint, dass man Veränderungen dann als Entwicklung bezeichnet, wenn eine aktuelle Entwicklung von der vorherigen abhängt. Zufällige oder passagere Veränderungen zählen nicht dazu. Zeigt ein Kind z. B. aufgrund einer Erkältung eine geringere Leistungsfähigkeit, so markiert diese Veränderung keine Entwicklung. Ist die Erkältung nämlich abgeklungen, wird die Leistungsfähigkeit wieder ansteigen. Man interessiert sich also nur für nachhaltige Veränderungen.
Auch wird heute nicht davon ausgegangen, dass Entwicklungsveränderungen immer qualitative Veränderungen sein müssen. Veränderungen, die quantitativen Charakter haben, werden ebenso als Entwicklung aufgefasst. Vergrößert sich z. B. die Menge an Information, die Kinder im Arbeitsgedächtnis aufrecht halten können, so drückt dieses einen mengenmäßigen Zuwachs aus, der eine Entwicklungsveränderung darstellt.
Auch die Vorstellung, dass die Entwicklung des Kindes immer auf einen höheren Zustand hinsteuert, wird heute relativiert. Diese Entwicklungsrichtung existiert zwar durchaus, aber es bestehen zudem auch Entwicklungsveränderungen, in denen Rückwärtsbewegungen erfolgen, z. B. durch Verluste, Abbau oder Umstrukturierungen. Insbesondere im Kindesalter können immer wieder Rückwärtsschritte beobachtet werden, die sogenannte u-förmige Entwicklungsverläufe zur Folge haben. U-förmige Entwicklungsverläufe sind dadurch charakterisiert, dass eine bestehende Fähigkeit abnimmt, und im weiteren Verlauf dann wieder ansteigt, also ein U beschreibt. Es wird diskutiert, inwieweit solche möglicherweise nur vermeintlichen Rückwärtsschritte notwendig sind, um größere Entwicklungsfortschritte zu erzielen. Ein solcher Rückschritt einer Fähigkeit lässt sich häufig beim Übergang zwischen Säuglings- und Kleinkindalter feststellen. Frühe Säuglingskompetenzen setzen sich nicht einfach ins Kleinkindalter hin fort. Während Säuglinge in ihrem Blickverhalten beispielsweise ausdrücken, dass sie wissen, wann Objekte eine stabile Lage haben (Baillargeon, 2002), zeigen Kleinkinder dieses Verständnis nicht mehr (Krist, 2010). Es kann angenommen werden, dass Kleinkinder im Zuge ihres Spracherwerbs ihr Wissen in eine neue, eher sprachgebundene interne Repräsentationsform umstrukturieren. Dies hat dann kurzfristig zur Folge, dass relevante Leistungen abfallen, um sich dann langfristig so aufbauen können, dass sie ein Niveau erreichen, das weit über dem von Säuglingen liegt.
Die Einschränkung des Stufenbegriffs, nur auf universelle Veränderungen zu fokussieren, muss ebenfalls relativiert werden. Diese werden auch beim modernen Entwicklungsbegriff zwar weiterhin thematisiert, jedoch werden in den Entwicklungsbegriff auch differenzielle Veränderungen eingeschlossen. Hierbei geht es darum zu ermitteln, inwieweit es für einen Entwicklungsbereich interindividuelle Verläufe gibt. Selbst in einem so grundlegenden Entwicklungsbereich wie der Motorik existieren diese differenziellen Entwicklungsverläufe.
Der moderne Entwicklungsbegriff bezeichnet die Entwicklung des Kindes als geordnete und nachhaltige Veränderung, die vorwärts- und rückwärts gerichtet, qualitativ und quantitativ, universell und interindividuell unterschiedlich sein kann.
Während innerhalb des ersten Lebensjahres ca. zwei Drittel der Kinder das Laufen vom Sitzen über das Krabbeln und Stehen erlernt, erlernt ein Drittel der Kinder das Laufen ohne den Zwischenschritt des Krabbelns. Diese Kinder erreichen das Laufen direkt vom Sitzen und Stehen (Largo, Weber, Comenale-Pinto & Duc, 1985; Pikler, 1988). Für solche individuell unterschiedlichen Entwicklungsverläufe werden sowohl genetische Unterschiede aber auch unterschiedliche Umwelterfahrungen verantwortlich gemacht.
Eine Kernfrage der Entwicklungspsychologie befasst sich damit, welche Faktoren die kindliche Entwicklung beeinflussen. Diese Frage ist deshalb von so immenser Wichtigkeit, weil ihre Beantwortung besagen kann, ob und inwiefern in eine Entwicklung von außen, beispielsweise durch gezielte Maßnahmen, eingegriffen werden kann. Es wird schon seit langem diskutiert, auf welche Weise sowohl das kindliche Erbe durch die Eltern als auch spezifische Umwelterfahrungen zur Entstehung psychologischer Merkmale beitragen, z. B. dazu, dass ein Kind eine hohe Intelligenz, Sportlichkeit oder Musikalität entwickelt. Zudem steht außer Frage, dass der allgemeine soziale und kulturelle Kontext, in dem Kinder aufwachsen, entscheidend für ihre Entwicklung ist. Man geht generell davon aus, dass diese verschiedenen Faktoren vielfältig und kontinuierlich miteinander interagieren und dass sich erst aus dieser Interaktion heraus die Entwicklung eines Kindes ergibt. Dieses verschränkte Bedingungsgefüge aufzudecken, stellt eine große methodische Herausforderung dar. Es ist prinzipiell nicht möglich, dieses Gefüge für einen einzelnen Menschen zu erklären. Aber es ist möglich, den relativen Anteil genetischer Einflüsse auf Unterschiede in relevanten Verhaltensweisen innerhalb einer Population zu bestimmen. So könnte man z. B. untersuchen, wie hoch der genetische Anteil der beobachteten Unterschiede in der Intelligenz einer Gruppe von 6-jährigen Kindern ist.
Alle Menschen stimmen darin überein, dass sie über 23 Paare von Chromosomen verfügen. Auf den Chromosomen befinden sich die Gene, die sich dadurch spezifizieren, wo sie sich auf der DNA Doppelhelix befinden und welche Funktion sie im Stoffwechsel des Menschen besitzen (Asendorpf, 2012, Kap. 4). Durch dieses für den Menschen typische Genom lassen sich sämtliche für den Menschen spezifische Gemeinsamkeiten erklären (Herrmann, 1991). Jeder einzelne Mensch, mit Ausnahme eineiiger Zwillinge, ist jedoch genetisch einzigartig, da bei der Zeugung die Gene von Mutter und Vater gemischt werden und damit die individuelle Genetik eines Menschen entsteht.
Die Bedeutung genetischer Einflüsse auf die Entwicklung von Kindern kann anhand von Zwillingsstudien untersucht werden. Hierbei macht man sich die Tatsache zunutze, dass eineiige Zwillinge 100% ihrer Gene teilen. Wenn man z. B. bei einer Gruppe 6-jähriger eineiiger Zwillingspaare die Intelligenz untersucht, berechnet man die Korrelation der gemessenen Intelligenz zwischen den Zwillingen. Würden die Werte innerhalb aller Paare identisch sein, so gäbe es gar keine Varianz, und die Korrelation würde 1 betragen. Diese Korrelation der Intelligenz wird dann mit der einer Gruppe 6-jähriger zweieiiger Zwillinge verglichen. Zweieiige Zwillinge teilen nur 50% ihrer Gene. Wenn die Korrelation der Intelligenz der eineiigen Zwillinge größer ausfällt als die der zweieiigen Zwillinge, kann man auf das Wirken genetischer Faktoren schließen. Die doppelte Differenz dieser Korrelationskoeffizienten stellt eine angemessene statistische Schätzung der Erblichkeit dar.
Die Erblichkeit der Intelligenz 6-jähriger Kinder kann auch geschätzt werden, indem man 6-jährige leibliche Geschwister, die – wie zweieiige Zwillinge – 50% gemeinsame Gene teilen, mit 6-jährigen Adoptivgeschwistern vergleicht, die auf keine gemeinsamen Gene zugreifen, aber – wie leibliche Geschwister – eine gemeinsame Umwelt
Bei Studien mit eineiigen und zweieiigen Zwillingen geht man davon aus, dass die Umwelterfahrungen der Zwillinge, wenn sie gemeinsam aufwachsen, ähnlich sind. In der Realität ist dies aber häufig nicht der Fall. Da eineiige Zwillinge oft zum Verwechseln ähnlich sind, werden sie von ihrer Umwelt, wie Eltern oder Lehrern, oft sehr viel ähnlicher behandelt als zweieiige Zwillinge, die von der Umwelt viel eindeutiger unterschieden werden und durchaus auch anders behandelt werden können. Die Umwelten eines eineiigen Zwillingspaares sind also meist sehr viel ähnlicher als die eines zweieiigen Zwillingspaares. Dies kann dazu führen, dass der Einfluss genetischer Faktoren überschätzt bzw. der der Umwelt unterschätzt wird. Diese Verzerrungen können kompensiert werden, wenn man in solche Studien auch Gruppen von Zwillingspaaren, am besten sowohl eineiige als auch zweieiige, aufnimmt, die schon früh nach der Geburt voneinander getrennt wurden. Hierbei ist es dann wahrscheinlich, dass jeder Zwilling eines Paares eine unterschiedliche Umwelt erfahren kann.
teilen. Fällt die Korrelation der Intelligenz bei leiblichen Geschwistern höher aus als die bei Adoptivgeschwistern, so spricht dieses für die Erblichkeit der Intelligenz. Wiederum wird die Erblichkeit geschätzt aus der doppelten Differenz beider Korrelationskoeffizienten.
Bezogen auf die genetische Verankerung psychologischer Merkmale kann davon ausgegangen werden, dass diese für die Intelligenz bei ungefähr 50% liegt. Jedoch ist unklar, welche Gene diesen genetischen Anteil genau ausmachen. Es wird angenommen, dass viele verschiedene Gene an diesem hoch komplexen Merkmal der Intelligenz mitwirken und dass durch diese sogenannte polygene Steuerung das Auffinden der einzelnen Gene erschwert ist. Bei einem anderen Persönlichkeitsmerkmal wie Pessimismus – Optimismus dagegen konnten Caspi et al. (2003) einen Zusammenhang zu einem spezifischen Gen, dem Serotonin-Transporter-Gen 5-HTTLPR feststellen. Es bleibt weiterhin Forschungsaufgabe, diese genetischen Zusammenhänge zwischen psychologischen Merkmalen und ihrer genetischen Verankerung auszumachen.
Gene wirken jedoch nicht direkt auf die Entwicklung, sondern zeigen ihre Wirkung immer nur in Wechselwirkung mit der Umwelt. Nach Scarr (1992) kann hierbei zwischen verschiedenen Anlagewirkungen unterschieden werden ( Kap. 4). Bei der passiven Anlagewirkung geht es darum, dass Kinder allein aufgrund der Tatsache, dass sie einen Teil ihrer Gene mit ihren Eltern teilen, in eine Umwelt geboren werden, die auch zumindest teilweise zu ihren Genen passt. So kann es z. B. sein, dass die Sportlichkeit eines Elternteils an das Kind vererbt wurde. Dadurch, dass der sportliche Elternteil sich eine Umwelt geschaffen hat, in die sportliche Aktivitäten einbezogen sind, erfährt das sportlich begabte Kind somit auch eine sportbetonende Umwelt. Mit einer evozierenden Anlagewirkung ist gemeint, dass ein Kind selbst durch sein Verhalten eine spezifische Umwelt hervorruft, die zu ihm passt. Zeigt ein Kind z. B. viel sportliches Verhalten und begeistert sich generell für Sport, so ist anzunehmen, dass Eltern dieses Verhalten bemerken und das Kind beim Sportverein anmelden, damit es seiner Sportlichkeit weiter nachgehen kann. Bei einer aktiven Anlagewirkung geht es darum, dass Kinder ihre Umwelt gemäß ihrer Anlage selbst gestalten. Ein sportliches Kind würde auch im Alltag viele Gelegenheiten nutzen wollen, sich sportlich zu betätigen und seine Eltern bitten, beim Sportunterricht angemeldet zu werden. Man geht davon aus, dass Kinder mit zunehmendem Alter immer aktiver an der Gestaltung ihrer Umwelt mitwirken. Bei jungen Kindern dominieren dagegen vor allem passive und evozierende Anlagewirkungen.
Nach Asendorpf (2012) folgen genetische Wirkungen generell einem kumulativen Prinzip. Hiermit meint er, dass genetische Wirkungen aus früheren Entwicklungsphasen durchaus weiter wirken können, auch wenn die betreffenden Gene nicht mehr aktiv sind. Gene können demnach z. B. im Säuglingsalter einen bestimmten Prozess in Gang setzen, der dann in den weiteren Lebensjahren weiter wirkt.
Gene wirken aber nicht nur auf die Umwelt, sondern neue Erkenntnisse zur sogenannten Epigenetik besagen, dass auch die Umwelt Einfluss auf die Gene nimmt ( Kap. 4). Dieser Einfluss sieht aber nicht so aus, dass sich tatsächlich das Genom eines Menschen ändert. Es handelt sich vielmehr darum, dass die Umwelt Einfluss auf die Genaktivität von Zellen nehmen kann, indem sie bestimmte Gene an- und abschalten kann. Diese Art von Programmierung kann dann bei Zellteilung an Tochterzellen weiter gegeben und sogar an Nachkommen vererbt werden. Viele Beispiele dieses epigenetischen Wirkprinzips stammen aus der Tierwelt. Müller und Bale (2008) setzten in ihren Experimenten z. B. weibliche schwangere Mäuse Stress aus und beobachteten, dass die männlichen Nachkommen auch noch in ausgewachsenem Alter eine größere Stressanfälligkeit zeigten. Aber auch im Humanbereich existiert Forschung zur Epigenetik, wobei besonders eindrücklich die Studie von Fraga et al. (2005) an eineiigen Zwillingspaaren im Alter zwischen 3 und 74 Jahren ist. Die Autoren werteten Gewebeproben im Hinblick auf verschiedene epigenetische Codes aus. Zum einen stellten sie dabei fest, dass jüngere Zwillingspaare (unter 28 Jahren) sich epigenetisch ähnlicher waren als ältere (über 28 Jahren). Zum anderen waren die epigenetischen Unterschiede größer bei Zwillingspaaren, die länger getrennt voneinander gelebt hatten, also unterschiedlichen Umwelteinflüssen ausgesetzt waren, als bei Zwillingspaaren, die länger zusammen gelebt hatten. Durch solche Änderungen in der Genaktivität kann es also trotz des genannten kumulativen Prinzips genetischer Wirkungen zu jedem Zeitpunkt der Entwicklung zu genetisch verursachten Entwicklungsveränderungen kommen.
Die Umwelt ist für ein sich entwickelndes Kind lebensnotwendig. Sie ist außerordentlich komplex und lässt sich nach Bronfenbrenner (1994) in verschiedene Systeme unterteilen, die schon ab Beginn der Entwicklung auf ein Kind wirken ( Abb. 1.2). Nach der Geburt befindet sich das Kind zunächst vor allem in dem sogenannten Mikrosystem, das von dem Kind selbst zusammen mit seinen Bezugspersonen gebildet wird. Dies sind in der Regel die Eltern, aber möglicherweise recht bald auch Personen, die das Kind fremdbetreuen. Mikrosysteme sind alle Umwelten, in denen sich das Kind direkt mit anderen Personen, sozusagen im Face-to-Face-Kontakt befindet. Im Laufe der Entwicklung werden die Mikrosysteme immer vielfältiger. Das Kind befindet sich im Mikrosystem Kindertagesstätte, Großeltern, Gleichaltrige und in Mikrosystemen, die die Schule betreffen. Nach Bronfenbrenner bildet die Gesamtheit der kindlichen Mikrosysteme, das sogenannte Mesosystem. Hierin werden die Einflüsse der verschiedenen Mikrosysteme untereinander betrachtet. So ist es z. B. von großer Wichtigkeit festzustellen, inwieweit die Werte, die in den verschiedenen kindlichen Mikrosystemen vertreten werden, wie im Elternhaus, in der Schule und bei den Gleichaltrigen, konsistent sind oder einem Kind möglicherweise Widersprüchliches vermitteln, um zu vermeiden, dass Kinder dadurch in Konflikte geraten. Kinder werden aber auch durch Umwelten beeinflusst, mit denen sie sich nicht direkt im Face-to-Face-Kontakt befinden, sondern die nur indirekt auf sie einwirken, weil diese ihre Interaktionspartner beeinflussen. Ein solches System wird von Bronfenbrenner als Exosystem bezeichnet. Beispiele hierfür sind das Klima am Arbeitsplatz der Eltern, Erfahrungen, die Geschwister in der Schule machen oder Lebensereignisse, die auf Freunde der Kinder einwirken, wie Scheidung der Eltern dieser Kinder. Alle diese Systeme werden nach Bronfenbrenner von einem System, dem Makrosystem umfasst. Dieses System umfasst die gesamte Kultur, in der ein Kind aufwächst. Sie hat Einfluss auf alle genannten Systeme, die Mikrosysteme, das Mesosystem und die Exosysteme eines Kindes. Solche kulturellen Vorgaben, die z. B. die Entwicklungsziele und Entwicklungsaufgaben des Kindes oder die kulturellen Modelle elterlicher Strategien formen (s. u.), sind den Beteiligten der Systeme oft nicht explizit bewusst, sondern existieren meist nur unausgesprochen. Sie haben aber eine enorme Wirkung, die insbesondere beim Vergleich unterschiedlicher Kulturen offenbar wird.
Generell kann man davon ausgehen, dass die Systeme, in denen Kinder aufwachsen, ihnen verschiedene Umwelterfahrungen vermitteln. Sie stellen ihnen eine materielle Grundlage zur Entwicklung bereit und schaffen auch die Kontexte, in denen sich ein Kind sozial und emotional entwickelt. Das Kind lernt zunehmend die Entwicklungsziele und
Abb. 1.2: Modell der Umweltsysteme nach Bronfenbrenner (1994)
-aufgaben dieser Kontexte kennen und sich mit ihnen auseinander zu setzen. Im Folgenden wird auf diese Aspekte genauer eingegangen.
Materielle Umwelt. Die materielle Umwelt spielt bereits pränatal eine Rolle, wenn man mögliche schädigende Einflüsse auf den Embryo oder Fötus betrachtet, wie z.B. Strahlung oder Umweltverschmutzung. Auch der Konsum von Alkohol, Drogen und Rauchen sowie Stress, Infektionskrankheiten und psychische Erkrankungen der Mutter können negative Einflüsse auf die Gesundheit des Fötus ausüben. Diese können auch postnatal dauerhafte Schädigungen des Kindes hervorrufen. Eine weitere Voraussetzung der materiellen Umwelt des Kindes stellt die Ernährung dar. Kindliche Mangel- oder Unterernährung sind schreckliche Beispiel dafür, die zeigen, dass der Körper ernährt werden muss, um sich entwickeln zu können. Pränatale Mangelernährung kann erhebliche Schäden des Zentralnervensystems verursachen, insbesondere, wenn die mangelhafte Ernährung der Mutter im letzten Schwangerschaftsdrittel stattfindet. Besonders in dieser Zeit ist es notwendig, dass sich die Mutter mit allen grundlegenden Nährstoffen ernährt (Morgane et al., 1993). Kann eine solche Ernährung nicht erfolgen, wird u. a. die Entwicklung des kindlichen Immunsystems gehemmt, was eine hohe Krankheitsanfälligkeit des Kindes nach der Geburt zur Folge hat. Genauso wirkt sich eine Unterernährung nach der Geburt auf sämtliche Körperfunktionen aus und bewirkt u. a. eine Unterversorgung des Gehirns, wodurch dann psychologische Beeinträchtigungen sichtbar werden (Gale et al., 2009; Nyaradi, Li, Hickling, Foster & Oddy, 2013). Die Ernährung bildet auch deshalb einen wichtigen Umweltfaktor innerhalb der Kindheit, weil frühe Essgewohnheiten darüber, was gegessen wird, wann gegessen wird und inwieweit Essen auch als Verstärker für spezifisches Verhalten eingesetzt wird, weitreichende Auswirkungen für die spätere Gesundheit haben können (Lohaus & Glüer, 2014).
Ebenso besitzt die materielle Umwelt im Sinne des sozioökonomischen Status (SÖS) der Familie, in der ein Kind aufwächst, eine sehr große Bedeutung für die Entwicklung. Hiermit ist nämlich nicht nur bestimmt, inwieweit Kinder finanziell unterstützt werden können, sondern oft die Art und Weise verbunden, wie in einer Familie interagiert wird und wie Kinder erzogen werden.
Der sozioökonomische Status einer Familie wird in der Regel durch die Dauer und die Art der Ausbildung von Vater und Mutter und das Familieneinkommen definiert.
Sozial-emotionale Umwelt. Wie schon aus dem Blickwinkel des Modells von Bronfen
Mit Kindern aus Familien mit hohem SÖS wird im Klein- und Vorschulalter generell mehr gesprochen, ihnen wird häufiger vorgelesen und sie erleben insgesamt ein anregendes Umfeld. Eltern geben ihren Kindern mehr Erklärungen, mehr Wärme und mehr Lob. Negatives Feedback und körperliche Strafen findet man häufiger in Familien mit niedrigem SÖS (Bradley & Corwyn, 2003). Kinder aus Familien mit hohem SÖS erfahren meist eine langjährige und gesellschaftlich angesehene Ausbildung. Sie werden von ihren Eltern darin unterstützt, über abstrakte und persönliche Ideen nachzudenken. Sie stärken ihre inneren Werte. Kinder aus Familien mit niedrigem SÖS erfahren dagegen mehr strenge disziplinarische Maßnahmen (Conger & Donnelan, 2007).
brenner erläutert, besteht die sozial-emotionale Umwelt eines Kindes nach der Geburt vor allem aus den unmittelbaren Bezugspersonen, die meistens die Eltern sind. Kinder sind vor allem nach der Geburt vollständig auf Unterstützung angewiesen. Nach Bowlby (1969, Kap. 10) existiert evolutionär bedingt ein angeborenes Pflegeverhaltenssystem auf Seiten der Bezugspersonen und ein dazu komplementär ausgerichtetes Bindungssystem auf Seiten des Kindes. Das Zusammenspiel dieser Systeme gewährleistet, dass für die kindlichen sozial-emotionalen Grundbedürfnisse gesorgt wird. Damit ist auch gemeint, dass Kinder emotional stark von ihren Bezugspersonen abhängen, da sie sich oft nicht selbst beruhigen können, sondern hierzu die Unterstützung ihrer Bezugspersonen brauchen ( Abb. 1.3). Nach Erikson ( Kap. 2) führt eine einfühlsame Fürsorge der Bezugspersonen dazu, dass die Kinder ein sogenanntes Urvertrauen entwickeln. Die altersgerechte Anleitung mit entsprechendem Verhaltensspielraum führt dazu, dass Kinder im ersten Lebensjahr eine altersgemäße Autonomie entwickeln. Die Bezugspersonen dienen auch als Ausgangspunkt, um emotional oder sozial unsichere Umweltereignisse adäquat interpretieren zu lernen ( Kap. 10). Im Zuge dieses Austausches mit den Bezugspersonen entwickeln Kinder eine Bindung ( Kap. 10), deren Charakter ausdrückt, für wie verlässlich die Bezugspersonen erlebt werden. Werden Bezugspersonen als verlässlich erlebt, so stellt dies eine günstige Ausgangsbasis für die weitere kindliche soziale und auch kognitive Entwicklung dar.
In den sich anschließenden Lebensjahren werden die sozialen Beziehungen des Kindes immer vielfältiger. Es entstehen nicht nur Beziehungen zu erwachsenen Personen, sondern zunehmend auch zu Gleichaltrigen, die jedoch zunächst kaum in die eigenen Aktivitäten, wie das kindliche Spiel, integriert werden. Erst später, im weiteren Verlauf der Kindheit werden Gleichaltrige in das
Abb. 1.3: Bindung
eigene Tun integriert und es werden echte Freundschaften geschlossen. Diese spielen für das kindliche Erleben der Umwelt eine sehr wichtige Rolle.
In der späteren Kindheit verstehen Kinder auch zunehmend die moralischen Vorgaben einer Gesellschaft. Sie befolgen nicht nur das, was die Umwelt von ihnen fordert, sondern versuchen, auch den Sinn moralischer Regeln zu verstehen. Kinder investieren viel Kraft, um sich dementsprechend zu verhalten und von der Umwelt als beliebt und sozial kompetent wahrgenommen zu werden.
Ein wichtiger sozial-emotionaler Umweltfaktor stellt die Art und Weise dar, wie Kinder erzogen werden. Nach Baumrind (1971) unterscheidet sich ein wirkungsvoller Erziehungsstil in den folgenden drei Aspekten von einem weniger wirkungsvollen ( Abb. 1.4). Eltern, die einen wirkungsvollen Erziehungsstil umsetzen, sind engagiert, akzeptieren und kontrollieren ihr Kind. Sie gewähren ihm oder ihr Autonomie, sind liebevoll, aufmerksam und einfühlsam für die Bedürfnisse ihres Kindes. Dieser Erziehungsstil wird als autoritativ bezeichnet. Er ist deswegen wirkungsvoll, weil er mit einer Vielzahl positiver Entwicklungsergebnisse verbunden ist, wie z. B. positiver Emotionalität, Selbstkontrolle, Ausdauer, Kooperationsbereitschaft, sozialer und moralische Reife sowie guten Schulleistungen der Kinder (Amato & Fowler, 2002; Aunola, Stattin & Nurmi, 2000; Gonzalez & Wolters, 2006; Mackey, Arnold & Pratt, 2001; Steinberg, Darling & Fletcher, 1995). Autoritäre Eltern sind dagegen ihrem Kind gegenüber wenig engagiert, akzeptieren es kaum, gewähren wenig Selbstständigkeit und ordnen dem Kind Anweisungen an. Sie machen den Gehorsam ihres Kindes zur Bedingung für ihre Zuneigung. Kinder, die eine solche Erziehung erfahren, sind meist ängstlich, haben ein geringes Selbstwertgefühl und erbringen meist nur geringe Schulleistungen. Eltern, die einen permissiven Erziehungsstil ausüben, sind zwar liebevoll und das Kind akzeptierend, aber sie sind unbeteiligt und setzen ihren Kindern keine Grenzen. Ihre Kinder sind meist impulsiv, sehr fordernd, wenig ausdauernd und zeigen schlechte Schulleistungen. Eltern zeigen nach Baumrind einen vernachlässigenden Erziehungsstil, wenn sie sich generell wenig mit ihrem Kind beschäftigen, sich kaum mit Erziehungsfragen auseinandersetzen, ihrem Kind keine Grenzen setzen und ihnen die Selbstständigkeit ihres Kindes gleichgültig ist. Kinder mit solchen Erziehungserfahrungen erleben meist eine gestörte Entwicklung. Sie entwickeln nur eine schwache Selbstkontrolle, oft antisoziales Verhalten und zeigen schwache Schulleistungen (Aunola et al., 2000; Kurdek & Fine, 1994).
Kultur. Wie schon dargelegt, umfasst die Kultur, in der ein Kind aufwächst, sämtliche Umweltsysteme eines Kindes und ist deshalb für die Entwicklung von entscheidender Wichtigkeit. Es ist zu bedenken, dass die Entwicklung jedes Kindes immer in einem spezifischen kulturellen Kontext stattfindet. Die
Abb. 1.4: Erziehungsstile nach Baumrind (1971)
Bewältigung sogenannter Entwicklungsaufgaben und Entwicklungsziele für spezifische Altersbereiche spiegelt die entwicklungspsychologischen Überzeugungen einer Kultur wider. Die Konzeption solcher Entwicklungsaufgaben geht auf Theoretiker wie Erikson ( Kap. 2) und Havighurst (1972) zurück, die die menschliche Entwicklung als eine Abfolge von Problemen strukturieren, die als Entwicklungsaufgaben bezeichnet werden und die von einer Kultur an ein Kind herangetragen werden. Betrachtet man z. B. die Theorie von Erikson, so bestehen die wesentlichen, sich aufeinander aufbauenden Entwicklungsaufgaben der Kindheit darin, Vertrauen aufzubauen, Autonomie zu gewinnen, Vertrauen in die eigene Initiative zu erleben und den eigenen Wert und Vertrauen in eigene Leistungen zu erfahren.