Buchinfo

Große Brüder denken oft, dass sie was Besonderes sind. Sie denken, sie können dir sagen, was du zu tun hast. Bei meinem Bruder ist das jedenfalls so. Jeppe will sich meinen geheimen Keller unter den Nagel reißen. Und bevor er alles kaputtmacht, werde ich dir unser Geheimnis erzählen. Du sollst aber verstehen, was ich bei dir ablade. Wenn du das hier gelesen hast, gibt es keinen Weg zurück!

„Ich finde das Buch wunderschön. Dem Autor ist mit Hidde eine großartige Figur gelungen, sensibel und erfindungsreich, und seine etwas skurrile Leidenschaft für Insekten macht ihn noch liebenswerter.“

Mirjam Pressler

Autorenvita

© Chris van Houts

Simon van der Geest, geboren 1978, ist einer der bedeutendsten niederländischen Nachwuchsautoren. Für Krasshüpfer, sein drittes Buch, gewann er 2013 bereits zum zweiten Mal den Goldenen Griffel.

21. Juni

Du weißt nicht, was du in den Händen hältst.

In diesem Heft, das du jetzt vor dir hast, habe ich den Krieg beschrieben, den Krieg zwischen mir und meinem Bruder.

Auf diesen Seiten habe ich vor einem Monat begonnen, alles über meine Insekten zu erzählen. Und über meinen Bruder und unsere Geheimnisse.

Damals wusste ich nicht, dass alles aus dem Ruder laufen würde. Ein paar Geheimnisse bleiben besser verborgen, am besten tief unter der Erde. Manche Geheimnisse kriechen von selbst ganz langsam heraus. Andere stinken und fressen überall Löcher hinein. Lass dieses Heft ja nicht in die falschen Hände fallen!

Ich weiß nicht, ob du richtige oder falsche Hände hast. Ich kenne dich nicht, trotzdem erzähle ich dir alles.

Jemand muss es ja erfahren.

Du sollst aber verstehen, was ich bei dir ablade. Wenn du das hier gelesen hast, gibt es keinen Weg zurück. Du musst wissen, dass ich dich in unseren Krieg mit hineinziehe. Wenn du darauf keine Lust hast oder dich nicht traust, musst du jetzt aufhören zu lesen und dieses Heft verstecken. An einem Ort, wo es nur jemand findet, der Geheimnisse bewahren kann. Jemand mit richtigen Händen. Aber ich glaube nicht, dass du das tun wirst, denn du liest ja immer noch. Siehst du: Du hast richtige Hände.

Diesen Zettel klebe ich vorne rein, damit du weißt, worauf du dich einlässt. Vor einem Monat war dieses Heft noch leer. Ich habe es aus dem Schrank geholt, habe mich in meinen Keller gesetzt und die ersten Seiten geschrieben. Es war der Tag, an dem mein Bruder mir den Krieg erklärte.

Freitag

20. Mai

Lieber Ichweißnichtwieduheißt,

ich werde meine Tiere verlieren. Alle. Mein Bruder wird sich meinen Keller unter den Nagel reißen. Drei Jahre lang habe ich an meinem Insektenlabor herumgewerkelt und es aufgebaut. Drei Jahre lang habe ich Insekten gesammelt und gepflegt. Und plötzlich sollen sie alle verschwinden?

Er hat es gerade gesagt, bei den Spaghetti, einfach ganz nebenbei. Wir saßen uns am Tisch gegenüber. Mam war nicht da – mein Bruder und ich essen normalerweise zu zweit oder jeder allein, weil Mam oft bis spätabends arbeitet.

Er sagte: »He, Spinnerling1, hör zu. Ich kriege ein Schlagzeug. Das Schlagzeug kommt in den Keller. Ich richte mir dort einen Übungsraum ein. Also musst du abzischen.«

Ich weiß nicht, ob du einen Bruder hast. Ich weiß nicht, ob er älter oder jünger ist. Meiner ist älter. Große Brüder denken oft, dass sie was Besonderes sind. Sie denken, sie können dir sagen, was du zu tun hast, nur weil sie zufällig ein paar Jahre früher geboren wurden als du. Sie kümmern sich nicht um dich, und wenn sie dir irgendetwas abnehmen wollen, sagen sie seelenruhig: zisch ab.

»Wir haben Michel aus der Band geworfen«, erzählte Jeppe weiter. »Er hat’s nicht gebracht. Hat ständig seine Stöcke kaputt geschlagen. Und ist immer zu spät gekommen. Jetzt werde ich der neue Schlagzeuger.«

»Kannst du denn Schlagzeug spielen?«, stotterte ich.

»Natürlich, du Schmeißfliege. Aber ich muss viel üben. Deshalb bekomme ich jetzt das Schlagzeug.«

Er stopfte sich ein Hackfleischbällchen in den Mund und schmatzte weiter: »Stiers Bruder hat einen Bus, damit kommt er nächsten Mittwoch und bringt es vorbei. Bis dahin muss der Keller leer sein. Du hast also noch anderthalb Wochen, um dein Ungeziefer rauszuräumen.«

Ich starrte ihn an. Es war, als würde mein Stuhl verschwinden, der Tisch und der ganze Raum. Ich schwebte ins Nichts.

»Hallooo?« Er fuchtelte mit der Hand vor meinen Augen rum.

»Aber …«, bekam ich heraus, »warum kann das Schlagzeug nicht in dein Zimmer?«

»Siehst du es vor dir? Mein Zimmer ist viel zu klein. Ein Schlagzeug gehört in den Keller, Mann.«

Ich machte den Mund auf, aber kein Ton kam heraus. Es war ein Gefühl, als hätte ich einen Ballon in der Kehle, der immer größer wurde. Bis er platzte.

»Und was ist mit dem Deal?« Ich schnappte, als könnte ich das Wort wieder verschlucken, aber es schwebte schon durch den Raum. Es war seltsam, es nach all dieser Zeit laut auszusprechen.

Jeppe erstarrte. Eine Sekunde. Dann hob er den Arm und rammte mit einem lauten Schlag seine Gabel in den Tisch. Die Gabel blieb zitternd in der Tischplatte stecken. Jeppe schaute mich unter seiner fetten Haarlocke an. »Aufpassen, Spinnerling. Damals waren wir klein. Und ich habe nie gesagt, dass du den Keller für ewig haben kannst. Du hast ihn lange genug gehabt. Jetzt bin ich an der Reihe.«

Er stand auf, öffnete die Spülmaschine, warf seinen Teller hinein und verzog sich in sein Zimmer. Ich bekam keinen Bissen mehr runter.

Jetzt sitze ich also im Keller. Ich schreibe das auf. Meine Hand zittert noch immer. Die Grashüpfer und Grillen zirpen so laut, als würden sie einen Wettkampf austragen.

Ich schaue mich um, und ich sehe die Lichter in den Glasbehältern scheinen, ich sehe die Tiere über das Glas krabbeln, ich sehe die Tische mit meinen Büchern und meinen Sachen, meine Tabellen an der Wand, ich sehe den halben Drachen, den Ward an die Wand gemalt hat. Ich habe das alles schon tausendmal betrachtet, und trotzdem ist es jetzt anders.

Der ganze Keller leer – ich versuche, es mir vorzustellen. Der ganze Keller leer und kahl und dunkel.

Jeppe hat noch nichts getan, noch ist nichts kaputt, meine Tiere leben noch, und trotzdem fühlt es sich an, als ob alles zerbricht und zusammenstürzt. Ich muss die Geschichte erzählen, bevor es zu spät ist. Ich hoffe, dass du mir zuhörst, auch wenn du mich nicht kennst.

Mein geheimer Keller ist der beste Platz für eine Insektensammlung. Er ist ruhig, dunkel und feucht, das mögen sie. Außerhalb des Kellers sterben meine Tiere.

Ich habe so lange daran gearbeitet. Ich habe stunden-, nein tagelang nach neuen Insekten gesucht. Im Wald, auf der Heide, auf Äckern. Ich habe alle Terrarien Stück für Stück eingerichtet, mit Zweigen, Steinen, Erde, Sand und Muscheln, ich habe Lämpchen anmontiert. Ich habe kleine Leitern zusammengeklebt für die Rosenkäfer, aus meinem alten Eisenbahntunnel habe ich einen Kletterfelsen für die Grillen gemacht. Ich habe sogar ein Blinklicht für mein Glühwürmchen gebaut, damit es sich nicht so allein fühlt.

Mein Labor ist das Schönste, was ich habe.

Wenn mein Labor bald weg ist und niemand was davon weiß, ist es, als hätte es nie bestanden. Als wäre alles umsonst gewesen. Deshalb muss jemand dieses Heft später lesen. Wer, das weiß ich noch nicht. Vielleicht ist es auch egal, wer es ist. Hauptsache, irgendjemand liest es.

Dieser jemand bist jetzt also du. Deine Augen gleiten über diese Buchstaben. Sogar wenn es meinem Bruder gelingt, sich den Keller unter den Nagel zu reißen und bald nichts mehr von meinem Labor und meinen Insekten übrig ist, dann hast du doch dieses Heft gelesen. Du kannst erzählen, wie es hier war. Und wie mein Bruder alles kaputt gemacht hat.

Aber ich hoffe, ich kann meinen Keller behalten. Ich hoffe, ich kann meinen Bruder auf andere Gedanken bringen. Das ist schwer, denn wenn Jeppe etwas will, donnert er wie ein Nashorn darauf zu.

Momentan habe ich:

2 verschiedene Arten Tausendfüßer

2 Arten Grashüpfer (ein Grüppchen Sandgrashüpfer und eine Gottesanbeterin: Die nenne ich Jackie Chan)

4 Arten Würmer

3 Arten Schnecken

1 Art Grillen

1 Art Ohrwürmer

1 Art Blattheuschrecken

2 Arten Stabheuschrecken

Und fünf Arten Käfer: Rosenkäfer, Totengräber, Nashornkäfer, ein Glühwürmchen (Glühwürmchen sind auch Käfer)

und einen Goldglänzenden Rosenkäfer (er heißt Tessa).

Außerdem habe ich noch ein paar Schachteln mit besonderen toten Insekten.

Der Goldglänzende Rosenkäfer ist das aller-allerseltenste Insekt. In den Niederlanden seit 1967 nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich habe ich das letzte Exemplar der Niederlande gefunden. Während ich dies schreibe, sehe ich ihn gerade unter seiner Lampe durchlaufen. Sein Panzer schillert in unzählbaren Farben.

Ich kann meine Insekten nicht verlieren. Dann bleibt mir nichts.

Blöd, dass ich nicht verstanden habe, worauf Jeppe hinauswollte. Dass ich es nicht vorausgesehen habe. Ich hätte besser aufpassen sollen. Vorgestern hat er sich schon anders benommen als sonst. Ich fange mal damit an, was da passiert ist.

Vorgestern

Mittwoch

18. Mai

Die Mittwoche sind am schönsten. Da habe ich den ganzen Nachmittag frei und kann in meinem Keller sein. Nach der Schule schmierte ich mir ein paar Brote, nahm einen Apfel und eine Banane für die Käfer und die Schnecken. Ich wollte gerade in den Keller gehen, als Jeppe in die Küche kam.

»Hidde, du musst mir dein Labor mal wieder zeigen. Ich bin schon so lange nicht mehr da gewesen.« Er setzte sich mit einem Sprung auf die Anrichte.

Ich starrte ihn an. Er nennt mich nie bei meinem richtigen Vornamen. Ich murmelte, ich müsse erst noch aufräumen.

»Das macht nichts, echt. Einfach mal anschauen«, sagte er. Seine Beine baumelten. Seine Absätze knallten an die Türen.

Warum wollte er plötzlich mein Labor sehen? Er hat sich doch nie für meine Tiere interessiert. Er nennt sie »Viecher«. Er nennt sie »Ungeziefer«. Er nennt sie »Flöhe«. Dabei gehören Flöhe ausgerechnet zu den Insektenarten, die ich nicht habe.

»Hast du neue?«, fragte er.

»Hmm.«

»Welche?«

»Eine Kuckuckshummel.«

»Was ist das?«

»Willst du das wissen?«

»Ich habe doch gefragt, oder?«

»Eine Hummelart. Aber viel schlauer.« Sonst sagte ich nichts.

Ich kann stundenlang über Insekten reden, aber bei meinem Bruder muss ich immer aufpassen. Meist kommt ein blöder Witz. Diesmal kam nichts. Er legte den Kopf schräg.

»Wieso? Erzähl doch mal.«

»Die Weibchen sind zu faul, um selbst ein Nest zu bauen. Deshalb benutzen sie einfach die Nester von anderen Hummeln.«

»Wow.«

Ich wartete auf einen dummen Spruch. Aber er hörte einfach nur zu. Vielleicht war er plötzlich klüger geworden. Vielleicht wollte er wirklich mehr über Kuckuckshummeln wissen.

Also fing ich an. Ich erzählte, dass die Kuckuckshummel heimlich in das Nest von gewöhnlichen Hummeln krabbelt. Wie sie sich dort ein paar Tage versteckt, um den Duft anzunehmen. Wie sie dann eines Tages plötzlich den großen Angriff startet, die Königin totsticht und danach ihre Eier legt und sie von den Arbeiterinnen der ermordeten Königin versorgen lässt. Ich erzählte und erzählte. Jeppe hörte mit großen Augen zu.

»Zeig«, sagte er und sprang von der Anrichte.

Ich hätte es besser wissen müssen. Ich hätte nicht reinfallen dürfen. Aber ich dachte, er fände es wirklich interessant. Dass er wenigstens einmal etwas sehen wollte, das mir gehörte. Und dass er dann in der Schule angeben würde: »Mein kleiner Bruder weiß alles über Insekten.«

Kurz darauf liefen wir die Treppe hinunter.

»Nicht zu laut sprechen«, sagte ich noch.

Er knipste das große Licht an. »Nein, nicht!«, rief ich und schlug ihm auf die Hand, sodass es sofort wieder ausging.

»Tut mir leid, aber das Licht darf man nie anmachen.« Ich drückte noch immer seine Finger. Seine Hand fühlte sich warm an. Ich zog meine Hand zurück.

»Entspann dich«, flüsterte er. »Und schrei nicht so, das halten sie nicht aus.« Er grinste.

Wir liefen zwischen den Tischen hindurch. Es roch gut. Das beruhigte mich. Mein Labor riecht immer, wie soll ich sagen, ein bisschen muffig, aber es riecht auch ein bisschen nach getrocknetem Gras und nach Wald im Sommer. Manchmal rieche ich einen Hauch Alarmdüfte der Tausendfüßer oder der Nashornkäfer. Das riecht wirklich nicht gut, trotzdem. Ich rieche, dass das mein Platz ist. Mein Labor.

Jeppe lief zwischen den Terrarien herum. Er berührte die Wände. Schaute zur Decke. Ich dachte mir nichts dabei.

»Willst du sie sehen?«, fragte ich.

»Wen denn?«

»Meine Kuckuckshummel, natürlich.«

»Oh. Ja. Zeig sie mal«, sagte Jeppe, während er eine Steckdose betastete.

Ich holte die Schachtel hervor.

»Aber die ist ja tot«, rief er.

»Was hast du denn gedacht? Ich kann doch keine lebende Hummel in einer Schachtel halten? Die brauchen mindestens eine ganze Wiese als Territorium.«

Jeppe starrte mich dumm an und schnauzte, ich solle nicht so schlau tun. Ich wischte schnell das Lachen aus meinem Gesicht und legte die Schachtel zurück. Jeppe war wieder Jeppe. Er stellte sich mitten in den Keller, zwischen die Grashüpfer und die Nashornkäfer. Er breitete die Arme wie Flügel aus und ließ den Blick noch mal herumwandern.

Er grinste. »Ich habe genug gesehen. Danke.« Er stampfte die Treppe wieder hinauf und schlug die Luke mit einem Knall zu.

Ich blieb mit einem seltsamen Gefühl zurück, ein bisschen, als wäre ich nackt. Die Regenwürmer waren bei dem Gestampfe aus der Erde gekrochen und ringelten sich erstaunt auf dem Boden. Ich hatte seinen Plan nicht durchschaut.

Je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr finde ich, dass Jeppe ein Einsiedlerkrebs ist.

Ein Einsiedlerkrebs ist ein Krebs in einer Muschel. Du hast vermutlich schon mal welche am Strand gesehen. Sie sehen ganz witzig aus: wandernde Muscheln mit einer einzigen großen Schere. Aber sie sind nicht witzig. Wenn ein Einsiedlerkrebs zu groß für seine Muschel wird, dann macht er sich auf die Suche nach einer neuen. Er misst ihre Größe mit seinen Scheren ab. Hat er eine passende gefunden und wohnt zufällig ein anderer Krebs darin, der schwächer ist, jagt er ihn hinaus. Er kneift den kleinen Krebs so lange, bis der sich ergibt und aus der Muschel flieht. Und der große Einsiedlerkrebs quetscht sich rückwärts in die eroberte Muschel.

»Ein Schlagzeug gehört in einen Keller, Mann.«

Das werden wir schon noch sehen, Jeppe. So leicht gebe ich nicht auf.

Wir wohnen zu dritt in diesem Haus. Wir sind wie Ameisen, denke ich manchmal. Jeder hat seine eigenen Wege. Haustür-Küche-Fernseher-Schlafzimmer-Küche und so weiter. Manchmal begegnen wir uns. Dann bleiben wir kurz stehen. Wir sagen meist nicht viel. Ameisen tippen sich an und schlagen sich auf die Schulter, so geben sie weiter, wo Futter liegt. Mam macht nur eine Handbewegung und sagt: »Im Kühlschrank ist Eintopf.« Oder sie schreibt es auf einen Zettel.

Eine Ameisenkolonie ist eine Familie mit Tausenden Ameisen. Eine Mutter – die Königin – und Tausende Töchter. Sie haben auch einen Vater, aber der fliegt sofort davon. Den gibt es eigentlich nicht.

Unser Vater ist auch weggeflogen. Schon lange her, ich war noch sehr klein. So klein, dass ich mich an fast nichts erinnere. Nur an Sandpapierwangen und einen Schnurrbart, nicht mehr. Meine Familienkolonie besteht jetzt nur noch aus uns dreien. Einer Mutter und zwei Söhnen. Das kann man eigentlich kaum eine Kolonie nennen.

Früher waren wir mehr. Jeppe und ich hatten noch einen Bruder. Er hieß Ward. Er war der Älteste. Er konnte durch die Nase pfeifen. Er konnte mich auf seinen Schultern tragen. Er konnte wunderbar Drachen malen. Er hatte eine Plastikschachtel mit knallroten und blauen Pillen, von denen er jeden Tag ein paar nahm. Für seine Superkräfte, sagte er immer. Ich glaubte ihm. Ich wollte ihm glauben.

Er war stärker als Jeppe. Manchmal rollten sie durchs Gras, und dann setzte Ward sich auf ihn, drückte ihn auf den Boden und setzte seine Knie auf seine Muskelpakete. Ein seltsamer Gedanke, dass Jeppe auch einmal einen großen Bruder gehabt hat. Jetzt merkt man kaum noch, dass es Ward früher gegeben hat. Sein Stuhl ist auf Mams Wunsch am Tisch stehen geblieben. Darauf liegen immer Prospekte und Zeitschriften, dann sieht er weniger leer aus.

Heute

Freitagabend

20. Mai

Draußen dämmert es schon, aber ich sitze noch hellwach an meinem Schreibtisch im Keller. Die Grashüpfer und Grillen zirpen eifrig. Mam ist nach Hause gekommen. Sie denkt bestimmt, ich würde schon im Bett liegen. Als ob ich jetzt schon schlafen könnte.

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich kann meinen Keller nicht verlieren. Wo soll ich mit all meinen Tieren hin? Übrigens, es ist mein Keller. Das ist eine Abmachung. Jetzt und für immer. Was nun zu »damals waren wir klein« geworden ist. Ich bin gerade mal ein Meter einundvierzig. Das kann man nicht groß nennen.

Ich werde den Keller verbarrikadieren müssen.

Ein Schloss an die Luke. Ich habe noch ein Kettenschloss von meinem Fahrrad, wenn ich das durch den Griff schiebe und an einem Tischbein von der Werkbank festbinde, kann ich den Keller abschließen.

Aber dann kann er mir noch immer auflauern. Du wirst sehen: Er legt sich in einen Hinterhalt, und gerade wenn ich den Schlüssel ins Schloss stecke, springt er auf mich, dreht mir den Arm auf den Rücken, nimmt mir den Schlüssel ab, ja, und dann? Hätte ich bloß einen Stechrüssel.

Oder giftige Härchen mit Juckpulver wie die Raupe des Ritterfalters.

Oder Boxarme wie die Gottesanbeterin.

Vielleicht denkst du jetzt ja: Warum der Streit über einen Keller? Wenn der Keller dir gehört und dein Bruder stellt sich weiter an, dann hol doch einfach deine Mutter?

Das geht nicht. Und zwar darum:

1. Unsere Mutter ist unsichtbar.

2. Sie weiß nicht einmal, dass es einen Keller gibt.

Wir halten den Keller geheim. Nicht ein bisschen geheim, nicht klein-Kinder-spannend-spannend-geheim, nein, wirklich geheim-geheim. Nur ich und Jeppe wissen davon. Und früher noch Ward. Wir haben ihn zu dritt entdeckt.

Wir waren gerade in die Wstraße2 gezogen. Ward, Jeppe und ich wollten nicht unbedingt aus dem alten Haus ausziehen, wir fanden es dort prima, aber Mam wollte einen »frischen Anfang«. Ich habe nicht so recht verstanden, was an einem Umzug »frisch« war. Es gab vor allem einen Haufen Staub.

In dem neuen Haus funktionierte die Heizung noch nicht. Vielleicht hat sie das gemeint. In den ersten Wochen saßen wir in Decken gewickelt am Tisch.

Das neue Haus war kleiner. Dachten wir. Wir hatten den Keller noch nicht entdeckt.

Damals spielten Jeppe und ich noch zusammen. Und natürlich mit Ward. Es war ein altes Haus und zum Glück nicht sehr aufgeräumt, also gab es viel zu erkunden.

Auf dem Dachboden entdeckten wir eine Schachtel mit falsch zusammengeklebten Flugzeugen.

Entweder hatte der ehemalige Bewohner sehr schlechte Augen oder er war dabei, ein neues Stuntflugzeug zu entwerfen, das besonders gut Kurven fliegen konnte. Wir probierten es aus: Ward stand oben an der Treppe und ließ die Dinger fliegen, Jeppe und ich standen unten, um sie aufzufangen. Sie flogen hübsche Kreise. Das Fangen klappte nicht, weil wir uns vor Lachen bogen. Es kam zu spektakulären Notlandungen.

Wir erforschten den Gartenschuppen. Wenn man bei uns durch die Küchentür in den Garten geht, steht er dort rechts, direkt am Haus. In dem Schuppen lag alles mögliche alte Gerümpel. Rohre, rostige Farbdosen, ein Sack Zement, der steinhart geworden war, Teppichrollen, verstaubte Bretter, eine alte Werkbank mit einem rostigen Schraubstock und ein kaputtes Fahrrad. Wir wollten schon wieder rausgehen, als Jeppe ein paar Bretter wegtrat und eine verschlissene Fußmatte verschob.

»He, ein Ring!«

Aus dem Boden ragte ein Ring.

Wir zogen die Bretter und die Matte zur Seite, wischten den Staub ab. Es war eine metallene Luke von ungefähr einem Meter mal einem Meter.

Jeppe zog mit aller Kraft an dem Ring. Nichts. Ward konnte die Luke auch nicht bewegen. Wir bildeten eine lebende Kette: Ward zog am Ring, Jeppe zog an Ward und ich hing an Jeppe. Es ging nicht. Das Ding bewegte sich keinen Millimeter. Die Luke war festgerostet.

Ward und Jeppe stöhnten und zerrten. Jeppe stieß sich den Kopf an der Werkbank an, fluchte und gab Ward die Schuld. Ich sagte: »Cola.«

Jeppe rieb sich den Kopf. »Was soll das, Cola?«

»Cola löst Rost auf. Vielleicht lässt sie sich dann bewegen.«

Ward grinste. »Klugscheißer. Besserwisser. Kommt.«

Kurz darauf gossen wir drei Flaschen Cola in die Ritzen der Luke. Ich hatte Angst, dass Mam böse würde, aber Jeppe meinte, sie würde es bestimmt gar nicht merken.

Danach versuchten wir noch einmal, an der Luke zu ziehen. Sie knarrte und bewegte sich ein kleines bisschen. Meine Brüder hatten beide einen roten Kopf und auf ihren Oberlippen standen Schweißtröpfchen. Ihre Augen funkelten. Wir versuchten es mit einer Stange als Hebel.

Endlich begann die Luke zu quietschen und nachzugeben. Mit einem Ruck klappte sie auf und wir taumelten alle drei zu Boden.

Ich könnte schwören, dass ich das Loch erleichtert seufzen gehört habe. Kalte Luft stieg aus der dunklen Öffnung herauf. Der Anfang einer Treppe war zu sehen. Der Rest wurde von der Dunkelheit verschluckt.

Es kitzelte bis in unsere Zehen, so gern wollten wir hinunterlaufen.

Wir riefen uns gegenseitig zu, das sei bestimmt ein Geheimkeller oder ein Folterkeller oder ein mittelalterlicher Kerker. Wir holten Taschenlampen und leuchteten in die Öffnung. Die Treppe führte zu einem Keller unter unserem Haus. Er schien endlos tief zu sein.

Ward ging voraus. Schritt um Schritt stiegen wir die Treppe hinunter. Das Licht seiner Taschenlampe glitt über die Stufen, auf denen eine dicke Schicht Staub lag.

Jeppe war vor mir. Mit einer Hand hielt ich mich an seinem Pullover fest.

»Jep?«, flüsterte ich.

»Ja?«

»Was ist, wenn jetzt das Dach einstürzt?«

Ich war damals noch ein kleiner Hosenscheißer.

»Das kommt darauf an. Wenn wir unter dem Schutt begraben werden und du übrig bleibst, dann darfst du unsere Legosteine haben.«

Ich blieb stehen.

»Das war doch nur ein Witz! Das Dach stürzt nicht ein.«

»Das weiß ich ja«, murmelte ich, ging aber keinen Schritt weiter.

»Wart mal eben, Ward«, sagte Jeppe und drehte sich wieder zu mir um. »Hör zu, Hidde. Wir haben das hier gemeinsam entdeckt und gehen also auch gemeinsam hinein.« Er nahm meine Hand. Da fand ich es nicht mehr so unheimlich. Wir stiegen die Treppe weiter hinunter.

Die Wände waren aus grauem Beton. Die Decke war nicht sehr hoch, Ward konnte sie fast mit der Hand berühren, wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte. Oben in einer der Wände war ein Gitterrost, an der Straßenseite. Eine Efeuranke wuchs herein. Der Raum war rechtwinklig und groß und leer. Bis auf zwei Tische und ein paar Stühle. Sonst nichts. Der Keller musste sich unter dem ganzen Haus erstrecken.

»Wow.« Jeppe unterbrach die Stille. Es hallte.

»Unser Keller«, sagte Ward.

»Unser Keller«, sagte auch ich. Ich horchte, wie das klang.

Jeppe stand zwischen uns. Er legte uns die Hände auf die Schultern. »Mam braucht hiervon nichts zu wissen.«

»Natürlich nicht«, sagte Ward.

»Niemand braucht etwas davon zu wissen«, sagte Jeppe.

»Nur wir, nicht wahr?«, sagte ich.

Meine Brüder nickten. Jeppe kniff mich sanft in die Schulter. Das weiß ich noch.

Wir hatten große Pläne. Es sollte ein Musik- und Eisenbahnraum werden. Und eine Schreinerwerkstatt und ein Raum für Lichtshows, aber auch ein Stall für Nachttiere.

Wir würden die Wände mit Leuchtfarbe anstreichen.

Wir würden Fledermäuse züchten.

Wir sprachen Codes ab, geheime Schlüsselwörter, die bedeuten sollten: »Nicht aufmachen. Mam in der Nähe«, oder: »Alles sicher, ich bin’s«. Und jeder von uns hatte seinen eigenen Code.

Wenn die Schule aus war, rannten wir sofort nach Hause.

Wir kehrten den Boden. Wir strichen anderthalb Wände weiß. Jeppe hängte eine Lampe auf. Ich brachte meine Stabheuschrecken hinunter. (Damals hatte ich erst einen Glasbehälter.) Ward zeichnete mit einem Stift einen halben Drachen an die Wand. Weiter ist er nie gekommen. Wir hatten den Keller erst eine Woche, da ist Ward gestorben. Es lag an seiner Krankheit. Ich kann wenig darüber sagen, ich habe alles vergessen.

Danach gehörte der Keller mir. Jeppe kam nicht mehr herunter.

Es ist seltsam, das aufzuschreiben.

Als wäre Ward wieder da, als würde er zwischen den Seiten dieses Hefts herumlaufen.

Und es ist seltsam, dass Jeppe und ich jemals so zusammengehalten haben. Das geht mir jetzt einfach nicht mehr in den Kopf.

Samstagmorgen

21. Mai – Noch elf Tage, bis Jeppe mit seinem Schlagzeug kommt

Mittwoch in einer Woche will er hier rein. Ich muss meinen Keller so schnell wie möglich zu einem Bunker umbauen. Heute Nacht habe ich mir ein paar Sachen überlegt.

BUNKERPLAN

1. Ein Alarmsystem:

– Überall dünne Drähte spannen, wie ein Spinnennetz. Möglichst tief, damit sie nicht auffallen. Im Schuppen, im Garten (dem Gartenweg!) und an der Hintertür.

– Eine Klingel daran befestigen. Es muss schon mit dem Teufel zugehen, wenn ich ihn dann nicht hören würde.

2. Abschreckung mit einem falschen Wespennest:

– Schwebfliegen züchten und sie im Schuppen frei herumfliegen lassen. Am besten sind Wespenschwebfliegen, die sehen genau aus wie Wespen, aber sie können nicht stechen. (Jeppe hasst Wespen. Als er klein war, ist er mal in ein Wespennest gefallen.)

3. Wenn er es doch durch die Luke schafft: ein Schleimgeländer!

– Schleim von Nacktschnecken sammeln. (Ihr Schleim ist der übelste Schleim, den es gibt. Er klebt an allem fest, und sogar nach achtmal Waschen stinken deine Hände noch.)

– Mit einem Messerchen abschaben und in einer Dose aufheben. (Die Schnecken mit einem Stöckchen anstochern, dann sondern sie besonders viel Schleim ab.)

– Den Schleim an das Geländer der Kellertreppe schmieren. (Ich selbst kann es dann natürlich auch nicht mehr benutzen.)

Für das falsche Wespennest habe ich schon ungefähr zwanzig Schwebfliegenpuppen. Ich bin zum Ländchen geradelt, da habe ich sie gefunden.

Das Ländchen ist eine Stelle am Rand des Dorfs hinter dem Friedhof. Dem Friedhof, auf dem Ward begraben liegt. Ich radle oft dorthin, um Insekten zu suchen und frische Zweige und Blätter zu holen. Manchmal gehe ich auch zum Grab, aber ich weiß nie so genau, was ich dort tun soll. Auf seinem Stein ist ein Drache. Den betrachte ich dann, bis ich von einem schönen Mistkäfer abgelenkt werde. Oder von einem Totengräber. (Den Käfer meine ich, nicht den Kerl, der sich um die Gräber und Sträucher kümmert, der kann mir gestohlen bleiben.) Dann gehe ich schnell zum Ländchen, weil dort viel mehr besondere Tiere zu finden sind. Auf dem Friedhof selbst habe ich den Totengräber (den Mann) manchmal mit Giftspritzen hantieren sehen. Als ob hier nicht genug Tote liegen würden.

Das Ländchen ist ein Feld mit ein paar Bäumen, mit Sträuchern und Brennnesseln. An drei Seiten gibt es Wassergräben und an der vierten die Friedhofshecke. Nun, im Frühling, kann man hier viele Insekten finden. An einer Öffnung befindet sich der Komposthaufen des Friedhofs. Der ist immer voller verblühter Blumen. Dort habe ich zum Beispiel die Kuckuckshummel gefunden, im Kelch einer Lilie.

An der Hecke liegen auch lose Backsteine. Die braucht man nur anzuheben, und schon entdeckt man irgendein schönes Insekt.