Der süße Wahn

Für meine Mutter

Es war die Eifersucht, die David nicht schlafen ließ, ihn aus dem zerwühlten Bett in der dunklen, stillen Pension hinaus auf die Straße trieb.

Allerdings lebte er mit dieser Eifersucht nun schon so lange, daß die üblichen Begleitbilder und Assoziationen, die direkt aufs Herz zielen, nur mehr unterschwellig auf ihn wirkten. Jetzt ging es bloß noch um die SITUATION, und die war und blieb unverändert, und das seit fast zwei Jahren. Zwecklos, sie im einzelnen aufzudröseln. Die SITUATION war wie ein Stein, ein an die fünf Pfund schwerer Stein, den er Tag und Nacht in der Brust trug, nur daß es abends und nachts, wenn er nicht arbeitete, ein bißchen schlimmer war als bei Tage.

Die Straßen in dem ziemlich heruntergekommenen Villenviertel waren jetzt, kurz nach Mitternacht, finster und menschenleer. David bog in einen abschüssigen Seitenweg ein, der zum Hudson River hinunterführte. Hinter sich hörte er schwach das Tuckern anspringender Automotoren: Das Kino an der Main Street war aus. Er hielt sich hart am Bordstein, um einem verwachsenen Baum aus dem Weg zu gehen, dessen Stamm sich weit übers Trottoir neigte. Aus dem Eckzimmer im Obergeschoß eines zweistöckigen Holzhauses drang ein gelbliches Licht. Liest da einer

Der Weg zur Pension führte ihn an Andys Diner vorbei, einem Aluminiumcontainer, der diagonal zur Fahrbahn auf einem unbebauten Grundstück stand. Obwohl er nichts essen, ja sich nicht einmal aufwärmen wollte, ging David rein. Die beiden einzigen Gäste, zwei Männer, saßen weit auseinander, und David nahm sich einen Hocker etwa in der Mitte zwischen ihnen. Es roch nach brutzelnden Hamburgern und ganz schwach auch nach dem dünnen Kaffee, den David nicht mochte. Sam, ein kräftiger Mann mit schleppendem Gang, führte das Diner zusammen mit seiner Frau. Andy war, so hatte David von irgendwem gehört, vor ein paar Jahren gestorben.

»’n Abend, wie geht’s?« grüßte Sam müde und wischte, ohne aufzusehen, flüchtig mit einem Lappen über die Theke.

»Danke. Ich hätte gern einen Kaffee.«

»Schwarz?«

»Ja, bitte.«

Mit Milch und Zucker schmeckte der Kaffee hier fast

»Guten Abend, Sam«, sagte das Mädchen, und sofort hellte Sams Miene sich auf.

»Hi! Wie geht’s uns heute? Was darf’s sein? Wie immer?«

»Mhm. Mit viel Schlagsahne.«

»Macht aber dick.«

»Ach, damit hab ich keine Probleme.« Sie wandte sich David zu. »Guten Abend, Mr. Kelsey.«

David schrak zusammen und sah sie an. Nein, er kannte sie nicht. »Guten Abend«, erwiderte er, lächelte mechanisch und blickte wieder geradeaus.

Nach einer kleinen Pause fragte das Mädchen: »Sind Sie immer so schweigsam?«

Diesmal sah er sie bewußt an und dachte: Das ist kein Flittchen, bloß ein ganz normales Mädchen. »Doch, schon«, versetzte er wortkarg und zog den Kaffeebecher zu sich heran.

»Sie erinnern sich wohl nicht mehr an mich, wie?« fragte sie lachend.

»Nein, tut mir leid.«

»Ich wohne auch bei Mrs. McCartney.« Sie lächelte strahlend. »Montag abend hat sie uns doch miteinander bekannt gemacht, und im Speisezimmer seh ich Sie auch jeden Abend. Aber ich frühstücke vor Ihnen. Ich heiße

»Ganz meinerseits«, sagte David. »Tut mir leid, daß ich so ein schlechtes Gedächtnis habe.«

»Ach, für Gesichter vielleicht. Aber als Wissenschaftler sind Sie ein genialer Kopf, sagt Mrs. McCartney. – Danke, Sam.«

Sie beugte sich über ihre Schokolade, sog das Aroma ein, und David bekam, auch ohne hinzusehen, mit, wie sie heimlich den Löffel an ihrer Papierserviette abwischte, bevor sie ihn in die Tasse tunkte und anfing, mit dem Sahnehäubchen zu spielen, das sie wieder und wieder in die Schokolade stippte.

»Sie waren heute abend nicht zufällig im Kino, oder, Mr. Kelsey?«

»Nein.«

»Da haben Sie auch nicht viel versäumt. Aber ich bin einfach ein wahnsinniger Kinofan. Vielleicht, weil ich keinen Fernseher mehr habe. Die Mädels, mit denen ich früher zusammenwohnte, die hatten einen, aber er gehörte ausgerechnet der, die dann ausgezogen ist. Zu Hause habe ich selber einen, aber ich bin schon seit einem halben Jahr nicht mehr daheim gewesen, außer zu Besuch. Ich komme übrigens aus Ellenville. Sie sind auch nicht von hier, oder?«

»Nein, aus Kalifornien.«

»Oh, Kalifornien!« wiederholte sie andächtig. »Na ja, da kann Froudsburg wohl nicht mithalten, aber für meine Verhältnisse ist das hier schon eine richtige Stadt.« Wieder zeigte sie ihr strahlendes Lächeln. Sie hatte große, kräftige

David wußte nicht, was er darauf sagen sollte.

»Fühlen Sie sich denn da wohl?« fragte sie.

»Ach, es geht so.«

Sie beugte sich tief über die Tasse und trank einen Schluck. »Na ja, als Mann macht einem das vielleicht nicht soviel aus, aber ich hab doch lieber ein Bad für mich allein. Wohnen Sie eigentlich schon lange dort?«

»Etwas über ein Jahr.« David spürte den Blick des Mädchens auf sich ruhen, obwohl er sie nicht ansah.

»Was? Na, dann muß es Ihnen wohl gefallen.«

Das hatte er auch schon von anderen gehört. Alle Welt und selbst dieses Mädchen, das doch gerade erst bei Mrs. McCartney eingezogen war, wußte, daß er gut verdiente. Früher oder später würde irgendwer aus der Pension ihr auch sagen, was er mit seinem Geld machte.

»Aber Mrs. McCartney hat mir erzählt, daß Sie Ihre kranke Mutter unterstützen.«

Sie wußte es bereits. »So ist es«, sagte David.

»Mrs. McCartney findet das großartig von Ihnen. Ich übrigens auch. Sie hätten nicht zufällig ein Streichholz, Mr. Kelsey?«

»Klar.« Sam schob David im Vorbeigehen mit der freien Hand ein Streichholzheftchen hin.

Das Mädchen hielt sich die Zigarette zwischen zwei Fingern an die Lippen, als erwarte sie, daß David ihr Feuer geben würde, doch er reichte ihr nur lächelnd die Streichhölzer, legte ein Zehncentstück auf die Theke und rutschte vom Hocker. »Gute Nacht dann.«

»Sekunde, ich komme mit. Das heißt, wenn Sie auch nach Hause wollen.«

David blieb stumm, aber er saß in der Falle. Als er ihr notgedrungen die Schiebetür öffnete, erzählte sie gerade, daß sie immer zur Kaffeepause ins Diner komme, weil das Holzlager ganz in der Nähe sei. Sie plapperte unbekümmert drauflos, und David tat so, als ob er zuhören würde. Sie erkundigte sich nach seiner Beratertätigkeit bei Cheswick Fabrics, und er antwortete, es gehe einfach darum, diverse Konkurrenten abzuwimmeln, die in der Fabrik rumschnüffelten, um beispielsweise hinter die Rezeptur ihrer Schaumstoffspülung zu kommen.

»Och, jetzt nehmen Sie mich aber auf den Arm! Mrs. McCartney sagt, Sie sind der Boss bei Cheswick und Sie gehen nicht zu den Leuten hin, sondern die müssen zu Ihnen kommen, weil Ihre Firma Sie auch nicht einen Tag entbehren kann.« Das Mädchen redete wie ein Wasserfall, und ihre klare Stimme hallte laut durch die schlafende Straße.

»Keine Ahnung, wo sie das herhat. Unser Boss ist ein gewisser Lewissohn. Ich bin nur der Chefingenieur. Ein ganz gewöhnlicher Chemiker.«

David, der wußte, worauf sie anspielte, lachte mit. Und unter der nächsten Straßenlaterne schaute er sich das Mädchen genauer an. Sie war knapp einsfünfundsechzig groß, etwa vierundzwanzig Jahre alt, nicht direkt hübsch, aber auch nicht unansehnlich. Ihre hellbraunen Augen blickten freimütig und mit einer gewissen Verschmitztheit zu ihm auf.

»Da wären wir, oder nicht?« fragte sie und wies auf eine dunkle Fassade inmitten der Häuserzeile.

»Doch«, sagte David, der das Haus auch mit verbundenen Augen gefunden hätte, allein durch die Unebenheiten im Trottoir unter seinen Sohlen.

Kurz vor der Tür blieb das Mädchen plötzlich stehen, und im nächsten Moment sah David auch, warum. Dort auf der Vordertreppe saß Wes.

»Na, so was«, sagte Wes leise mit einem Blick auf das Mädchen.

»Du hast doch hoffentlich Mrs. Mac nicht aufgeweckt, oder, Wes?«

»Nein, nein, bloß einen von den alten Knaben im Parterre.« Wes verbeugte sich leicht vor dem Mädchen.

»Ich verabschiede mich jetzt lieber«, sagte David leise zu ihr.

»Willst du uns nicht vorstellen?« fragte Wes.

»Entschuldige. Also das ist Wes Carmichael. Miss …«

»Brennan«, ergänzte sie. »Effie.«

»Guten Abend, Mr. Carmichael. Tja, ich geh schon mal rein. Nacht, Mr. Kelsey.«

»Gute Nacht.«

Noch bevor sie die Haustür aufgesperrt hatte, flehte Wes mit tonloser Stimme: »Dave, du mußt mit zu mir nach Hause kommen. Keine Widerrede! Wir wollen uns nicht streiten, hörst du. Mir reicht der Stunk daheim.«

»Aber Wes, doch nicht mehr um diese Zeit.« David schob sachte Wes’ Hand von seinem Arm.

»Nein, nein, du mußt mitkommen. Wenn du bloß den Fuß in die Tür setzt, kannst du in dem Haus mehr erreichen als ich mit tausend Worten. Worte! Damit ist Laura nicht beizukommen.«

»War wohl wieder schlimm, heut abend?«

Wes legte die Hände vors Gesicht und wiegte sich in den Schultern. »Paar Leute waren auf einen Drink bei uns. Meine Freunde. Und weil die nicht früh genug gegangen sind, ist Laura durchgedreht, noch bevor sie aus dem Haus waren. Komm mit, Dave, bitte. Ich hab den Wagen da.«

»Nein, ich kann nicht.«

»Doch, du mußt. Ihr kennt euch noch nicht, und ich sag dir, heut abend ist die Gelegenheit, euch kennenzulernen.«

»Ich will sie aber gar nicht kennenlernen. Tut mir leid, Wes, aber das ist mein letztes Wort. Und jetzt sei vernünftig. Wir müssen morgen beide um neun im Labor sein.«

»Ach, so spät ist’s doch noch gar nicht. Wieviel Uhr haben wir? Elf?« Wes bemühte sich vergebens, die Ziffern auf seiner Armbanduhr zu erkennen.

»Meinetwegen kannst du fahren, aber du mußt auch mit reinkommen. Mein Gott, wahrscheinlich hat sie inzwischen das ganze Geschirr zertrümmert.«

»Pst! Komm jetzt.« David zog Wes zu dessen Wagen, einem grünen Oldsmobile, der zur Hälfte Mrs. Cartneys Einfahrt blockierte. Als er Wes auf den Beifahrersitz verfrachtet hatte, setzte David sich ans Steuer.

Auf der Fahrt zu den Carmichaels, die zehn Blocks weiter wohnten, erfuhr David Näheres über den Abend, der offenbar nicht viel anders verlaufen war als viele andere zuvor, auch wenn Wes jedesmal beteuerte, daß es so schlimm noch nie gewesen wäre und daß es zwischen ihm und Laura immer ärger würde.

»Und dann soll ich mit ihr schlafen!« rief Wes eben entrüstet. »Aber wie kann ich das? Welcher Mann würde das fertigbringen? Schön, vielleicht könnten’s andere – ich jedenfalls nicht.«

David hörte Wes’ leidenschaftlichen Appell wie ein fernes Echo, das ihn nichts anging. Als das Haus der Carmichaels in Sicht kam, spähte er vorsichtig in die Runde, denn er hatte keine Lust, im Vorgarten oder auf dem Bürgersteig einer tobenden Laura in die Arme zu laufen. Hinten im Haus brannte in einem Seitenfenster Licht, wahrscheinlich die Küche, in der besagtes Geschirr zu Bruch gegangen war. Auch im Obergeschoß war ein Fenster erleuchtet. Aber es schien alles ruhig. David meinte, Laura sei wohl schon schlafen gegangen und es hätte sowieso keinen Sinn, daß er um die Zeit noch mit hineinkäme. Nach ein paar

»Behalt du den Wagen, Dave, dann brauchst du nicht zu laufen. Kannst mich ja morgen früh abholen.«

»Nein, nein, ich komm schon klar. Jetzt rein mit dir.«

Wes straffte sich plötzlich und klopfte David von oben her auf die Schulter. Aber er wirkte immer noch ängstlich, und seine Augen schwammen in trunkener Rührung. »Du bist der beste Kumpel auf der Welt, Dave. Einsame Klasse, ehrlich.«

»Nimm ein Aspirin, und trink reichlich Wasser, bevor du schlafen gehst«, flüsterte David.

»Schlafen, daß ich nicht lache!«

David winkte ihm zu und ging. Er fühlte sich stark und frei, frei von all den tragischen Verstrickungen, mit denen Wes zu kämpfen hatte und die er nur belächelte. Mitleidig schüttelte er den Kopf. David, der Wesley Carmichael kurz nach dessen Flitterwochen kennengelernt hatte, wußte noch gut, wie neidisch er damals auf Wes und dessen Glück gewesen war – beinahe sogar eifersüchtig. In der Fabrik hatten sie geschwärmt, daß Laura eine Schönheit sei und auch, wie unbeschwert und stürmisch Wes um sie geworben habe und so weiter. Vielleicht drei Monate lang hatte Wes dann auch noch diese Glückseligkeit ausgestrahlt – ein kleiner Sterblicher, der sich eine Weile im Glanz der Götter sonnte –, doch die Euphorie schwand so rasch, daß David sich kaum noch daran erinnern konnte. Was folgte, war ein Höllensturz, und der arme Wes verbrachte seine Abende nun oft bei David, nur um Lauras scharfer Zunge und

Das Telefon begann zu klingeln, noch ehe er an der Vordertreppe war. David schloß die Tür auf, tappte den Flur entlang und griff im Dunkeln zielsicher nach dem Hörer. »Hallo«, flüsterte er.

»Dave, ich bin’s, Wes. Du, sie hat zum Glück tatsächlich schon geschlafen. Was sagst du dazu?«

»Sei froh.«

»Hör zu, ich würde mich morgen abend gern mit dir treffen. Was hältst du davon, wenn ich dich irgendwohin zum Essen einlade? Dann trinken wir gemütlich ein paar Bier zusammen, und vielleicht …«

»Morgen ist Freitag, Wes.«

»Ach ja, richtig. Mist.«

»Tut mir leid, Mann. Andernfalls wäre ich bestimmt …«

»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach Wes ihn mit kläglicher Stimme. »Okay, dann also bis morgen.« Und er beendete das Gespräch so hastig, als ob ihm bei dem Gedanken an das bevorstehende lange Wochenende das Heulen käme.

Das Leben war wirklich sehr merkwürdig, doch David Kelsey war felsenfest davon überzeugt, daß er schon damit klarkommen würde.

Jeden Freitagabend gegen halb sechs holte David den blauen Matchsack aus der Pension, in dem Mrs. McCartney ein frisches Hemd, Schlafanzug, Zahnbürste und Rasierapparat vermutete. Tatsächlich wäre es ihm nicht im Traum eingefallen, irgendwelche persönlichen Sachen, die er in Mrs. McCartneys Pension benutzte, mit ins Wochenende zu nehmen. In dem Beutel befanden sich wahlweise Bücher, eine Flasche Wein oder Gin oder auch mal eine Kleinigkeit fürs Haus, aber nichts von dem, was er zwischen Montag und Freitag benutzte. Und eigentlich kam er Freitagabend auch nicht wegen des Matchsacks vorbei, den er ja schon am Morgen in die Firma hätte mitnehmen können, sondern um nachzusehen, ob mit der Zehnuhrpost ein Brief von Annabelle gekommen war. Fast zwanghaft befolgte er dieses Ritual, obgleich Annabelle ihm in den zwei Jahren, die er jetzt in der Stadt wohnte, nur zweimal geschrieben hatte. Auch er hatte ihr bloß vier Briefe geschickt, denn er hielt es für einen gravierenden Fehler, sie mit Post zu überhäufen.

Sein Zimmer war, wie David selbst, immer ordentlich und erinnerte seltsam an eine verblaßte Vergangenheit, die man bei entsprechendem Alter vielleicht noch aus eigener Anschauung, vielleicht aber auch nur aus Büchern oder von

Als es um halb sechs klopfte und David an die Tür ging, sah er den vertrauten Ausdruck von Neugier und dumpfem Staunen auf Mrs. McCartneys Gesicht, sobald sie an ihm vorbei ins Zimmer spähte. Die hagere graue Person mit ihrer rechtschaffenen Tüchtigkeit irritierte David, stieß ihn ab. Er durchschaute das beflissene Lächeln, so falsch wie ihre Zähne, und wußte, daß sie sich nur wieder einmal vergewisserte, ob sein Zimmer, ihr Eigentum bis aufs letzte Fitzelchen, noch in all seiner Häßlichkeit intakt war. Am meisten allerdings schmerzte David der Gedanke, daß zwei Söhne, die in St. Louis wohnten, Mrs. McCartney zur Mutter hatten.

»Entschuldigen Sie die Störung, David«, sagte Mrs. McCartney, »aber Mrs. Beecham läßt bitten, daß Sie noch mal zu ihr hinaufkommen, bevor Sie gehen.« Dann beugte sie sich vor und setzte im Flüsterton hinzu: »Ich glaube, die Gute hat wieder eine Kleinigkeit für Ihre Mutter.«

»Ist gut. Und schönen Dank auch, Mrs. McCartney.«

David warf einen flüchtigen Blick auf das Fenster hinter ihm, ein sehr großes, flankiert von zwei schmalen, hohen, die zusammen einen Erker bildeten. »Keine Spur«, sagte er, »keine Spur.« Durchaus möglich, daß es hineingeregnet hatte, aber er wollte nicht, daß Mrs. McCartney oder George, ihr Faktotum, in seiner Abwesenheit in seinem Zimmer herumschnüffelten.

»Gut. Dann schönes Wochenende, David, und grüßen Sie Ihre Mutter von uns.«

»Danke, ich werd’s ausrichten.« David wartete hinter der geschlossenen Tür, bis ihre Schritte auf der Treppe verklungen waren, dann ging er hinaus und schloß hinter sich ab.

Mrs. Beecham wohnte im dritten Stock, nach hinten hinaus. Die dritte Etage war wesentlich kleiner als die unteren. Hier gab es nur Mrs. Beechams Zimmer, ein Bad hinten in der Mitte und ein Zimmer so groß wie das von Mrs. Beecham zur Linken, in dem Mrs. McCartney schlief. David klopfte leise an Mrs. Beechams Tür, und ihre liebliche, hohe Stimme antwortete prompt: »Kommen Sie herein, David.« Sie kannte seinen Gang.

Mrs. Beecham saß mit Strickzeug und Buch auf dem Schoß in ihrem Rollstuhl. Auf dem Buch lag die rechteckige Lupe, mit der sie die Seite entlangfuhr, während sie gleichzeitig strickte und las. Sie war siebenundachtzig, und seit einem Schlaganfall vor zwanzig Jahren waren ihr linkes

»Setzen Sie sich, David«, sagte Mrs. Beecham und deutete auf einen Stuhl mit löchrigem Rohrgeflecht. »Ich hatte gehofft, daß ich Sie noch erwische, bevor Sie losfahren. Sagten Sie nicht, Ihre Mutter hätte etwa meine Größe?« Unterm Reden hatte sie ihren Rollstuhl geschickt zur Kommode manövriert und seitlich davor plaziert.

»So ungefähr«, antwortete David, wie schon oft. »Sagen Sie bloß, Sie haben schon wieder etwas für sie?« Höflichkeitshalber hatte er lächelnd Platz genommen, aber als Mrs. Beecham ein flauschiges, rosa Etwas aus einer Schublade zog, sprang er nervös auf.

»Es ist bloß wieder ein Bettjäckchen. Sie wissen ja, wie schnell mir die von der Hand gehen, David, und wem sollte ich sie sonst schenken?«

David bewunderte das Bettjäckchen pflichtschuldig und überlegte, womit er sich bei Mrs. Beecham revanchieren könnte. Er hatte ihr schon etliche Geschenke gemacht, aber es fiel ihm jedesmal schwer, sich etwas für sie auszudenken. »Die ist wunderschön, Mrs. Beecham. Aber Mutter trägt immer noch die andere, die Sie ihr gestrickt haben – letztes Jahr.«

»Kann nicht schaden, wenn sie eine zum Wechseln hat. Und Ihnen reichen zwei Paar Socken auch nicht, David. Bringen Sie sie mir auf jeden Fall zum Stopfen, sobald ein Loch drin ist. Im Moment bin ich an einer Jacke und einem Mützchen für mein Urenkelchen, aber als nächstes kommen neue Socken für Sie dran.« Sie war zu alt und grau, um vor

David betastete verlegen die rosa Wollweste und verwarf den Gedanken, sich nach Mrs. Beechams Urenkelkind zu erkundigen, auf dessen Geschlecht er sich nicht mehr besinnen konnte, denn er war nicht sicher, ob ihre Familie den Anstand besessen hatte, ihr ein Foto von dem Baby zu schicken.

»Ich hab das nette Mädchen unten gebeten, mir einen Geschenkkarton mitzubringen, und das wird sie auch bestimmt tun, nur ist sie noch nicht zurück. Ich erkenne sie schon am Gang, David, wirklich.« Durch Brillengläser, die so stark vergrößerten, daß sie David deutlich den grauen Star in beiden Pupillen zeigten, blickte Mrs. Beecham ihn fröhlich an.

»Welches Mädchen?« fragte David.

»Na, Effie Brennan. Sagen Sie bloß, Sie kennen sie noch nicht?«

»O doch, natürlich.« David lächelte. »Tja, Mrs. Beecham, was kann ich Ihnen denn diesmal mitbringen? Wieder ein Stück von dem Käse, den Sie so gern essen? Oder hätten Sie lieber etwas Grünes?« Vor ihren Fenstern, die nach Osten gingen, standen dicht an dicht alle möglichen Topfpflanzen.

»Ist ja kaum noch Platz, David, nicht?« Sie lachte und hob dann warnend den Finger. »Ah, jetzt kommt Effie.«

»Da will ich lieber gehen.« David zog den Reißverschluß an seinem Matchsack auf, den er jetzt mit dem Körper abschirmte, obwohl Mrs. Beecham auf die Entfernung

Doch die alte Dame schien so erwartungsvoll auf die sich nähernden Schritte konzentriert, daß David, der verlegen auf ein Abschiedswort wartete, keine Antwort bekam. Dann klopfte es, und Mrs. Beecham rief mit singender Stimme »Herein«.

Das Mädchen stürzte förmlich ins Zimmer und war so beladen mit einem Riesenstrauß goldfarbener Blumen, daß David, wenn er unhöflicher oder auch nur fixer gewesen wäre, unbemerkt hätte hinausschlüpfen können.

»Da kommt Ihr Geschenkkarton!« rief Mrs. Beecham aufgeregt und nahm dem Mädchen die silberweiß gestreifte Schachtel ab. »Tun Sie’s da rein. Das sieht gleich viel hübscher aus.«

»Hallo!« Effie lächelte strahlend. »Der Karton war also für Sie.«

»Für meine Mutter«, sagte David. »Besten Dank auch, daß Sie sich die Mühe gemacht haben.« Er machte seinen Matchsack wieder auf und zerrte hastig das Bettjäckchen heraus.

Obwohl das gar nicht nötig gewesen wäre, half Effie ihm, die Jacke in das Seidenpapier einzuschlagen, das im Karton lag. Dabei streiften sich ihre Hände, und David zog die seine rasch zurück. Das Mädchen sah ihn an.

Er klemmte sich die Schachtel unter den Arm. »Ich geh dann, Mrs. Beecham. Nochmals danke schön.« Er nickte

Er nahm den Highway in Richtung Norden. Die rasch hereinbrechende Dämmerung kündigte schon den nahenden Winter an. David freute sich darauf. Ihm war die Nacht lieber als der Tag, trotz der melancholischen Anwandlungen, die ihn nachts manchmal überkamen, und er hatte den Winter lieber als den Sommer. Jetzt, auf dem Heimweg, träumte er mit offenen Augen von den bevorstehenden langen Abenden. Er sah sich mit einem Buch am Feuer sitzen oder unten im Keller ein Möbelstück herrichten oder vor dem Kamin auf dem Boden liegen und im Dunkeln Musik hören. Zum Teufel mit Sommerblumen wie Rosen, die, einmal geschnitten, in weniger als einer Woche verwelkten. Aus seinem Wohnzimmerfenster blickte er auf den immergrünen Efeu, der sich dunkel und kräftig an den unebenen Grundmauern emporrankte. Er hatte schon Efeu gesehen, der in Eis einbalsamiert und trotzdem noch grün und lebendig war. Efeu verlangte keine Pflege, auch wenn er sich um den seinen ein bißchen kümmerte, und er war sommers wie winters schön.

An einer Kreuzung in einem Ort namens Ballard, etwa eine Meile von seinem Haus entfernt, hielt David vor

Davids Haus, das ganz allein stand, war aus Ziegeln und Naturstein erbaut, mit einem unverhältnismäßig hohen Schornstein an einem Ende, der den Anschein erweckte, das Haus wäre ursprünglich um ein Stockwerk höher geplant gewesen. Auch die Farben waren naturbelassen, ein mattes Braun mit vereinzelten Grautönen. Irgendwer hatte einmal Rasen angesät, und ein bißchen Gras wuchs immer noch, wurde aber auf drei Seiten rasch vom Wald überwuchert. Und auch auf der vierten, wo Davids Scheinwerfer die Fensterpfosten ausgeleuchtet hatten, standen ein paar Kiefern, die den Schornstein überragten.

David, eine Einkaufstüte im Arm, schloß die Haustür auf und streifte automatisch die Schuhe an der groben braunen Fußmatte ab, bevor er hineinging. Er drehte den Lichtschalter rechts neben der Tür, holte tief Luft und betrachtete zufrieden das hübsche Wohnzimmer mit der weichen Couch, den braunweiß gemusterten Teppichen, den beiden Fotos von Annabelle auf dem Kaminsims und seinen

Während seine Folienkartoffel garte, legte David eine Brahms-Sinfonie auf und deckte den glänzenden Mahagonitisch mit Silberbesteck, Weinglas und Leinenserviette für

Und manchmal, nach den zwei Martinis und einer halben Flasche Wein zum Essen, war ihm, als hörte er, wie Annabelle ihn Bill nannte, und darüber lächelte er, denn wenn das geschah, dann hatte er sich in der eigenen Phantasie verheddert. In diesem seinem Haus stellte er sich gern vor, er wäre William Neumeister – ein Mann, der alles besaß, was er sich nur wünschte, der zu leben verstand, lachen und glücklich sein konnte. David hatte das Haus unter dem Namen William Neumeister gekauft, und auch die wenigen Geschäftsleute am Ort, die Müllabfuhr und sein Immobilienmakler kannten ihn als William Neumeister. Der Name war David eines Tages einfach so eingefallen. Natürlich war ihm von Anfang an klar, was er auf deutsch bedeutete. Andererseits fand er, der Name höre sich gut an, ja klinge nach etwas, und so behielt er ihn.

Als er vor nunmehr fast zwei Jahren von Annabelles

Er hatte das Haus nicht über Nacht erworben. Allein für William Neumeisters Referenzen hatte er wochenlang gebraucht: eine von einem gewissen Richard Patterson, der an einen Post- und Telefondienst in New York angeschlossen war und der Mr. Willis, dem Makler, auf seine Anfrage hin ein glänzendes Empfehlungsschreiben für William Neumeister schickte; ein weiteres Lob kam von John Atherley, auf dessen Namen David eine Woche lang ein Hotelzimmer in Poughkeepsie gemietet hatte, um Mr. Willis’ Brief abfangen zu können. Als letzte kleine Vorsichtsmaßnahme trat er der Bücherei in Beck’s Brook bei, einer kleinen Stadt nördlich von Ballard. Dafür waren aber keine Referenzen verlangt worden. Außerdem hatte er sich ein paar tausend Dollar von seinem Onkel Bert geborgt (und inzwischen zurückgezahlt), um eine respektable Anzahlung auf das Haus leisten zu können. Immobilienmakler waren nicht mißtrauisch gegen Leute, die ein Drittel des Kaufpreises bar auf den Tisch blätterten. Seinem Onkel hatte er gesagt, er brauche das Geld, weil er sich mit dem Gedanken trage, ein Haus zu kaufen, aber ein paar Monate später erzählte er ihm, er hätte sich’s anders überlegt und würde doch in der Pension wohnen bleiben. In der First National Bank von Beck’s Brook hatte er gleichzeitig ein bescheidenes Spar- und Girokonto eröffnet und dabei als Referenzen für William Neumeister wieder Patterson und Atherley angegeben, die in dem Fall allerdings nicht überprüft wurden, oder jedenfalls kam nie eine diesbezügliche Anfrage von der Bank an die fiktiven Adressen.

Nachts schlief er mit ihr oben in dem Doppelbett. Ihr Kopf lag auf seinem Arm, und wenn er sich ihr zuwandte und sie an sich zog, hatte sein heißes Verlangen mehr als einmal den Höhepunkt erreicht und war unter dem eingebildeten Druck ihres Körpers übergeflossen, auch wenn hinterher seine flach auf dem Laken ruhende Hand nur Leere und Einsamkeit signalisierte. Eines Sonntagmorgens warf er das Fläschchen Kashmir fort, das er gekauft hatte, weil es früher Annabelles Lieblingsparfüm gewesen war. Er brauchte solche Requisiten nicht, um sich an sie zu erinnern. Das Parfüm war schon zuviel.

Am Sonntag grillte David zum Abendessen auf einem Holzkohlenfeuer im Kamin das Steak, und danach setzte er sich oben im Gästezimmer an den beigefarbenen Schreibtisch im japanischen Stil, schraubte seinen Füllfederhalter auf und dachte zehn Minuten lang angestrengt nach. Dann, als er den Brief im Kopf formuliert hatte, nahm er aus

Obwohl er ihn schon auswendig kannte, las er ihren letzten Brief noch einmal aufmerksam durch. Ihre Schrift war groß und schwungvoll und verlief sehr geradlinig.

3. Juli 1958

Mein lieber Dave,

ich habe mich sehr gefreut, von Dir zu hören – aber wenn Gerald zufällig der Umschlag in die Hände fällt, dann muß ich wieder endlos erklären und Beteuerungen abgeben. Es freut mich, daß Du beruflich weiter so gut vorankommst. Von zu Hause schreiben sie mir oft, wie erfolgreich Du bist. Meinen Glückwunsch!

Auch ich erinnere mich an die schöne Zeit, die wir miteinander hatten. Mein Leben hier ist nicht besonders aufregend oder interessant, aber damit muß man sich wohl abfinden. Geralds Laden geht soweit ganz gut, nur haben wir eine Menge Unkosten. Du fragst, ob ich an

Jetzt ist dieser Brief schon so lang geraten, und dabei muß ich noch Berge von Sandwiches für morgen zum Picknick herrichten!

Alles Liebe und Gute für Dich,

Annabelle

Diese traurigen Wendungen – muß ich wieder endlose Beteuerungen abgeben … Mein Leben hier ist nicht besonders aufregend oder interessant –, die ihn seit Erhalt des Briefes tagtäglich bedrückt hatten, gingen ihm jetzt aufs neue qualvoll zu Herzen. Sie liebte Gerald nicht und hatte ihn nie geliebt. Diese Ehe gehörte annulliert, und David hatte versucht, Annabelle dazu zu überreden, sobald er von der Heirat erfuhr, die damals erst einen Monat zurücklag. Kopfschüttelnd knirschte er mit den Zähnen bei dem Gedanken daran, daß er alles verdorben hatte, weil er damals den verhängnisvollen Fehler machte, noch einen Monat in Froudsburg zu bleiben. Und das bloß, weil Cheswick ihn

Er schrieb das Datum und »Meine geliebte Annabelle«, doch dann griff er zuerst nach einem Kuvert und adressierte es, aber ohne Absenderangabe.

Deine Briefe [schrieb er] sind derzeit mein einziger Lichtblick, zugleich aber auch mein größter Kummer. Du hast mir einmal gestanden, daß Du ihn nicht liebst, und ich frage mich, ob Du das vergessen hast oder ob Du – so allein und ohne Beistand – vor dem sogenannten Schicksal kapitulierst? Darling, was Du dort in Hartford durchmachst, das ist nicht das Leben. Ganz im Gegenteil! Du liebst diesen Mann nicht, und er hat nicht mal Geld. Nicht, daß ich das irgendwem zum Vorwurf

Hast Du etwa Angst, Dich mit mir zu treffen? [Den Satz strich er wieder durch. Nun würde er den Brief noch einmal abschreiben müssen. Aber das war fast jedesmal so.] Ich möchte Dich unbedingt sehen, Darling, und ich glaube, ich weiß einen besseren Treffpunkt als Hartford. Es ist noch lange hin, Du kannst also in aller Ruhe darüber nachdenken. Ich schlage vor, daß wir uns in New York treffen, und zwar irgendwann zwischen dem 21. und 24. Dezember (ich weiß, daß Du Weihnachten zurück sein mußt). Bitte gib mir bald Bescheid, damit ich von der Vorfreude zehren kann. Sag Gerald, Du müßtest etwas ganz Bestimmtes kaufen, was Du nur in New York bekommst. Wenn Du es einrichten kannst, werde ich mir im Algonquin ein Zimmer nehmen, also merk Dir das als Treffpunkt für den Tag, an dem Du Dich freimachen kannst. Oder wenn Dir das lieber ist, hole ich Dich auch vom Bahnhof ab, wenn Du mich wissen läßt, wann Dein Zug ankommt. Du kannst mir schreiben, wann immer Du magst, vergiß das nicht: 137½ Ash Lane, Froudsburg, N.Y.

Es reicht schon, wenn Du eine halbe Stunde Zeit hast

Hier fiel ihm Mrs. Beechams rosa Bettjäckchen ein. Das war eine lustige Geschichte, aber die konnte er Annabelle nicht erzählen. Denn noch wollte er ihr nichts über das Haus verraten, in dem er seine Wochenenden verbrachte, nichts über die Bücher und Platten, die er dort, immer mit dem Gedanken an sie, zusammentrug. Ach, er konnte sie noch nicht einmal bitten, ein Wochenende mit ihm in seinem Haus zu verbringen, weil Annabelle so etwas nie tun würde. Ein Schwein hatte sich ihre Treue gekauft. Nicht einmal das, der Kerl hatte bloß die Hand ausgestreckt und zugelangt. Einen Moment lang träumte er davon, ihr sein Haus anzutragen. Er stellte sich vor, wie er ihr davon schrieb, wie sie einwilligen und ein Wochenende mit ihm hier verbringen würde, so wie er es sich jedes Wochenende ausmalte – eine Annabelle aus Fleisch und Blut, die wirklich und wahrhaftig hier mit ihm am Tisch saß. Aber das war ja undenkbar. David entsagte seinem Traum, unterschrieb den Brief mit all seiner Liebe und fügte noch ein Postskriptum hinzu:

Du machst es Dir leicht und vertröstest mich mit meiner Arbeit. Aber ohne Dich bin ich nur ein halber Mensch.