Über dieses Buch

«Grundeinkommen von A bis Z» ist eine verständlich geschriebene Vertiefung und ein Argumentarium für die Diskussion um eine für viele irritierende Idee. Es nimmt sich die wichtigsten Fragen und Einwände für und gegen das Grundeinkommen vor: Wer arbeitet dann noch? Wer soll das bezahlen? Ist das gerecht, wenn man auch ohne Arbeit genug zum Leben hat? Ist das eine Lohnkostensubvention für private Unternehmen? Kommen dann mehr Migranten? Was ist der Wert, was die Zukunft der Arbeit?

Neben den wichtigsten Fragen mit ihrem Dafür und Dawider erzählen die Autoren auch die Geschichte dieser Idee und gehen gründlich auf die Frage der Finanzierung ein.

ENNO SCHMIDT
DANIEL STRAUB | CHRISTIAN MÜLLER

GRUNDEINKOMMEN
VON
A BIS Z

LIMMAT VERLAG

ZÜRICH

Enno Schmidt

Geboren 1958, hat an der Hochschule für Bildende Künste in Frankfurt am Main Malerei studiert. Ausstellungen im In- und Ausland. Er ist Mitbegründer des Un­ternehmens Wirtschaft und Kunst – erweitert GmbH. 2006 gründete er mit dem Unternehmer Daniel Häni in Basel die Initiative Grundeinkommen und realisierte 2008 den Film «Grundeinkommen – ein Kulturimpuls». Enno Schmidt ist als Autor, Filmemacher und Redner für die Initiative Grundeinkommen in der Schweiz und weltweit tätig. Enno Schmidt lebt in Basel.

Daniel Straub

Geboren 1967, hat in Luzern Wirtschaft, in Kalifornien Politik und in Bern Psychologie studiert. Er war un­ter anderem bei IBM tätig, hat als IKRK-Delegierter gearbeitet und eine Montessorischule geleitet. Heute ist er Publizist und hat zusammen mit Christian Müller die Schweizer Volksinitia­tive für ein bedingungsloses Grundeinkommen in die Wege geleitet.

Christian Müller

Geboren 1981, ist Ökonom und Journalist. Er engagiert sich in kooperativen Landwirtschaftsprojekten und entwirft als Mitgründer des Instituts Zukunft anschlussfä­hige Wege für Arbeit und Wirtschaft von morgen. Auch er ist Mitglied des Initiativkomitees der eidgenössischen Volksinitiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Der Vater von zwei Kindern lebt mit seiner Familie in Zürich.

Das bedingungslose Grundeinkommen auf ­einen Blick

Die Idee

Jeder hat ein Einkommen, das ihm zu leben ermöglicht, ohne dass dieses Einkommen mit Bedingungen verknüpft ist. Es richtet sich nicht auf eine bestimmte Arbeit oder besondere Lebensumstände, sondern allein auf die Lebensgrundlage, die jedem damit frei gewährt ist.

Wer bekommt es?

Berechtigt ist jede Person, die als Staatsbürgerin oder Staatsbürger oder mit einer Aufenthaltsbewilligung im Land lebt. Das Grundeinkommen kann für Minderjährige geringer sein als für Erwachsene. Für Kinder wird es an die Eltern ausgezahlt.

Wie hoch soll der Betrag sein?

Die Frage nach der Höhe des Grundeinkommens richtet sich an alle, weil es von allen für alle mitgetragen wird und jeder es auch selbst bekommt. Was gestehen wir uns zu? Was ist ein Minimum zum Leben? Was ist realistisch? Das Grundeinkommen soll der ganzen Bevölkerung ein menschenwürdiges Dasein und die Teilnahme am öffentlichen Leben ermöglichen.

Als Beispiel für eine Annäherung wird in der Debatte in der Schweiz der Betrag von 2 500 Franken für Erwachsene und 625 Franken für Minderjährige genannt. Diese Zahlen sind kein fixer Vorschlag, sondern eine Größenordnung. Wie hoch der Betrag wirklich sein wird, ist in weiteren Schritten demokratisch abzustimmen und kann sich auf dem Weg einer Einführung stufenweise entwickeln.

Spielregeln des bedingungslosen Grundeinkommens

– Es ist ein Einkommen, das ohne Auflagen und Bedingun­gen ausbezahlt wird.

– Es bezieht sich nicht auf einen Haushalt, sondern auf die Person.

– Es ist unabhängig von Familien-, Vermögens- und Ar­beitsverhältnissen.

– Es ist nicht individuell bedarfsbezogen.

– Es steht jedem sein Leben lang zu.

Voraussetzungen für ein bedingungsloses Grundeinkommen

– Dass jemand lebt und zu der Gemeinschaft gehört, in der ein bedingungsloses Grundeinkommen aus­ge­zahlt wird.

– Dass die wirtschaftliche Produktivität hoch genug ist, um alle mit allem Notwendigen zu versorgen.

– Dass die Mehrheit der Bevölkerung ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle will.

Das bedingungslose ­Grundeinkommen
Eine Einführung

Der Vorschlag zu einem bedingungslosen Grundeinkommen erscheint als positive Vision des 21. Jahrhunderts: Er ermöglicht jedem Menschen mehr individuelle Freiheit und gesellschaftliche Verantwortung. Damit wird allen ein wenig mehr Verfü­gungsgewalt über das eigene Leben in die eigene Hand gege­ben und eine freie persönliche Existenzgrundlage gewährt. Dies in Zeiten von großen Veränderungen durch technologische Neuerungen, Szenarien des Klimawandels und geopolitischer Unsicherheiten. Parallel zu diesen Entwicklungen tritt das Grundeinkommen als menschlich-soziale Innovation auf.

Es ist erstaunlich, dass die Idee überhaupt ernst genom­men wird, denn das bedingungslose Grundeinkommen widerspricht ja allem, was wir gewohnt sind. Dass jeder ein Einkom­men zum Leben braucht, steht außer Frage. Aber doch nicht bedingungslos? Wer von dem leben will, was andere tun, muss selber etwas beigetragen haben. Wer das nachweislich nicht kann, dem wird solidarisch geholfen. Aber nicht, wenn jemand gesund ist und arbeiten könnte, aber einfach nicht will.

Im Verlauf der Menschheitsgeschichte gab es immer wieder umstrittene Visionen. Einige der «utopischen» Forderungen der Aufklärung sind mit der Zeit Wirklichkeit geworden. Auch damals wollten viele, dass es bleibt, wie es ist. Ein Stimmrecht für Menschen ohne Vermögen sah man als Einzug der Verantwortungslosigkeit in die Politik. Bevor es Rentenversicherungen gab, sahen viele die Selbstverantwortung in Gefahr. Im Frauenstimmrecht sah man eine Gefahr der Verwahrlosung der Familie.

Visionen von früher erleben wir heute als Selbstverständlichkeit und vergessen meist, dass die Menschheit einen Weg in der Geschichte zurückgelegt hat. Jede Idee geht durch verschiedene Stufen vom ersten Auftreten über die Verbreitung bis hin zur Akzeptanz. Jede Stufe hat seine Zeit und seine Berechtigung.

Als politischer Vorschlag kam der Gedanke zu einem Grundeinkommen in der Zeit der Aufklärung auf. Thomas Paine (1736–1809), einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika und einer der Begründer der Menschenrechte, merkte an, dass die Menschenrechte nur Buchstaben auf dem Papier seien, wenn die Mehrzahl der Menschen in existenzieller Abhängigkeit von den Landbesitzern seien und sich nicht selbst versorgen können.

Thomas Spence (1750–1814) argumentierte bereits für ein bedingungsloses Grundeinkommen für jeden ein Leben lang und verband diesen Vorschlag mit der Gleichberechtigung von Mann und Frau, einem allgemeinen Wahlrecht und direkter Demokratie. Er war sich sicher, dass Ethik und Moral dadurch zunehmen würden, die Bildung gefördert würde und dass mehr Kaufkraft in den Händen von vielen die Wirtschaft aufblühen ließe.

Dass der Gedanke eines bedingungslosen Grundeinkommens mit der Jahrtausendwende in die öffentliche Diskussion kam, hat seine äußeren Gründe in der Flexibilisierung der Arbeit, in der Globalisierung der Märkte, in der Rationalisierung und Automatisierung aller Bereiche der Wirtschaft. Vollbeschäftigung in Erwerbsarbeit ist eine Forderung, die an der Vergangenheit festhält. Ein Festhalten an Altem auf Kosten der Gegenwart und eine restriktive Handhabung eines überforderten Sozialsystems. Letzteres zeigt sich in verschiedenen Formen, zum Beispiel in der Zunahme des Niedriglohnsektors, der Verbreitung stressbedingter Krankheiten und der Arbeitsüberlastung für die einen und Ausgrenzung aus dem Arbeitsmarkt für andere.

Doch auf all das kann es auch andere Antworten als ein bedingungsloses Grundeinkommen geben. Das Grundein­kom­men würde diese Probleme nicht einfach lösen. Es könnte nur eine bessere Rahmenbedingung mit mehr Bewegungsfreiheit bieten. Es setzt Eigenaktivität voraus. Und wo die ist, lässt sich auch heute vieles lösen. Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist kein Versprechen auf bessere Verhältnisse oder bessere Menschen. Es setzt sie auch nicht voraus.

Was sich jemand vom Grundeinkommen verspricht, verspricht er sich selbst. Ob im Negativen oder im Positiven. Zwar kann ein bedingungsloses Grundeinkommen auch als eine Gesellschaftsutopie aufgefasst werden. Aber dann un­terscheidet sie sich von anderen Utopien darin, dass sie keine Ideologie ist, kein Bild vom Menschen kreiert, wie er sein sollte, sondern dass sie lediglich das Mehr zum Zuge kommen lässt, was jeder ist und je nach den gesellschaftlichen Not­wen­digkeiten werden kann. Das Grundeinkommen bestimmt nichts, wenn es bedingungslos ist. Darin liegt das Missverständnis vieler Kritiken, dass sie es als eine Bestimmung zu etwas sehen. Gerade das ist es nicht. Und gerade das ist das Neue bei diesem Einkommen.

Das bedingungslose Grundeinkommen ist also nicht, wie es manchmal heißt, die Lösung aller Probleme oder gar eine Generallösung. Es ermöglicht nur mehr Lösungen aus individueller Anschauung und eigener Kraft dort, wo Prob­le­me auftreten. In den Berufen und außerhalb davon. Die Vorstellung eines bedingungslosen Grundeinkommens kann auch Probleme deutlicher zum Vorschein kommen lassen und Krisen auftun. Es lässt die Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern mehr zur Sprache kommen. Es lässt die Frage offener stellen: In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Und wie will ich leben?

«Es wird fast immer übersehen», sagt der Ökonom Klaus Wellershoff, «dass der Industrialisierung die Aufklärung vor­angegangen ist.» Das bedingungslose Grundeinkom­men entfacht eine neue Aufklärung und bringt dabei die Demokratie noch einmal mehr ins Spiel. Eine Aufklärung, die der kommenden Digitalisierung, der Industrialisierung 4.0, vorangehen sollte.

Das Grundeinkommen lässt Glaubenssätze wanken. Es zwingt dazu, manches neu anzuschauen und neu zu denken. Das ist unangenehm. Zumindest unbequem. Was wird Leistung sein in der künftigen Leistungsgesellschaft? Welche Faktoren haben die Wirtschaft in den westlichen Ländern erfolgreich gemacht? «Nicht Druck», sagt Klaus Wellershoff, «sondern Kreativität. Dieses Gefühl, die Sache immer noch etwas besser machen zu wollen.»

Eigenverantwortung, eigene Initiative und selbständige Wahrnehmung für das, was besser gemacht werden kann und woran es fehlt. Alles Dinge, die in der Wirtschaft von heute gefragt sind. Dinge, die ein bedingungsloses Einkommen her­ausfordert, weil es sie einem nicht abnimmt? Kommt das bedingungslose Grundeinkommen der Mentalität und den Anforderungen des heutigen Arbeitslebens entgegen? Macht es nur auf der Einkommensseite bewusst, was in der Erwerbsar­beit schon längst gefragt ist?

Viele meinen, nein. Sie befürchten, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen demotiviert, den Wert der Arbeit untergräbt, das Gefühl der Würde nimmt, für sich selbst zu sorgen. Weiter ist die Befürchtung, dass die Freiheit viele ohne Struktur in Träumerei versinken ließe. Da kann sie dann auch keiner mehr herausholen, wenn das Grundeinkommen bedingungslos ist. Kann es ein Recht auf Leben geben ohne Pflicht zur Arbeit?

Das Grundeinkommen wäre aus den Bedingungen einer Erwerbsarbeit oder der Sozialleistungen gelöst. Es wäre also nicht mit Auflagen verbunden, wäre nicht eine Hilfe bei besonderer Bedürftigkeit, es wäre keine Bezahlung, die eine Ge­genleistung verlangt, keine Aufforderung zu einem bestimmten Verhalten. Es gäbe jedem bedingungslos den Grundbetrag zum Lebensunterhalt ein Leben lang. Das ist das Neue an dem Gedanken. Es wäre unabhängig von Vermögen, Familienstand, vom Wohnort und davon, welcher Arbeit jemand nachgeht und ob jemand eine bezahlte Arbeit verrichtet.

Das bedingungslose Grundeinkommen soll für alle sein und ist nicht vornehmlich zur Armutsbekämpfung. Es ist nicht nur für einen Teil der Gesellschaft. Es soll den Teil des Einkommens bedingungslos machen, der für ein Leben in Würde und die Teilnahme am öffentlichen Leben unabdingbar ist.

Das stellt grundsätzlich vieles infrage. Kann eine Gesellschaft so funktionieren? Ist das eine Freikarte zur Faulheit auf Kosten der Allgemeinheit? Erzeugt das eine Illusion vom Schlaraffenland und ist es ein Magnet für Migranten? Führt das sogar zu einer Teilung der Gesellschaft in eine Kaste von «Grundeinkömmlern» auf der einen und Leistungsträgern auf der anderen Seite? Ist das eine entsicherte Handgranate, welche die gesellschaftliche Solidarität zerreißen würde? Bloß eine Idee von Leuten, die nicht arbeiten wollen? Oder ist das Grundeinkommen eine längst fällige Reform für die Marktwirtschaft?

Es wäre ein gleiches Grundeinkommen für alle. Gleichheit ist aber nicht Markt und nicht Wirtschaft. Es wäre die Existenzgrundlage, die auch heute jeder hat, die wir uns ge­genseitig neu als bedingungslose Existenzgrundlage zusprechen würden und auch gegenseitig bezahlen müssten. Das Lebensnotwendige wäre für alle aus den Markteinkommen und Sozialeinkommen herausgenommen. Es wäre nur der Grundbetrag des Einkommens. Das, was jeder unabhängig von Leistung oder besonderem Bedarf ohnehin und unabdingbar zum Leben braucht. Diese Grundlage wäre sicher und fest. Darauf würde sich das Marktgeschehen mit hohen und niedrigen Einkommen auf Leistungen jeglicher Art entfalten. Es hieße nicht, Leistung lohnt sich nicht. Es hieße nicht, dass jemand seine Arbeit sein lässt. Aber es ließe die Aufmerksamkeit auch auf anderes zu, als was bezahlt wird. Es macht den Handlungs- und Entscheidungsrahmen für jeden individuell größer. Der Sockelbetrag zum Leben wäre davon entkoppelt, etwas zu tun, was eine Bezahlung findet.

Das Grundeinkommen beflügelt viele Fantasien. Auch wenn es sich nur um den Sockelbetrag handelt, den ohnehin jeder auf irgendeine Weise erhalten muss. Erwerbseinkommen sind etwas anderes. Sie differenzieren, ermöglichen den Lebensstandard über das Notwendigste hinaus. Sie beziehen sich auf Leistung, Anreiz und Status. Sie sind das, was jemand auf dem Markt zu zahlen bereit und zu zahlen in der Lage ist für das, was jemand anbietet.

Sozialleistungen sind auch etwas anderes als das Grundeinkommen. Sie beziehen sich auf einen besonderen Bedarf und Hilfebedürftigkeit in einer besonderen Situation. Bei einem solchen Bedarf über die Höhe eines Grundeinkommens hinaus müssten die Sozialleistungen natürlich erhalten bleiben. Das Grundeinkommen ist keine Sozialleistung.

Eine weitere wichtige Frage ist die, ob die Leistungsgesellschaft einbrechen würde und mit einer bedingungslos gesicherten Lebensbasis viele nicht mehr zur Arbeit zu bewegen wären. Die Antwort auf diese Frage wird jedem Einzelnen zu überlassen sein.

Wie wäre das bei Ihnen?

In einer repräsentativen Umfrage des Marktforschungsinstituts DemoScope vom Dezember 2015, antworten 2 % der Befragten dass sie nicht mehr arbeiten würden. Weitere 8 % sind sich nicht sicher. 90 % geben an, weiterhin arbeiten zu wollen. Ein Drittel von ihnen gerne ein oder zwei Tage weniger die Woche. 22 % würden sich gerne selbständig machen und 13 % den Arbeitsplatz wechseln. Die Hälfte der Befragten hätte gerne mehr Zeit für die Familie und die eigene Weiterbildung.

Aber etwas anderes fällt auf. Mit dem Wort Arbeit ist wie automatisch Erwerbsarbeit gemeint. Über 50 % aller geleisteten Arbeit wird aber unbezahlt geleistet. Ist die Bezahlung die wichtigste Motivation zur Arbeit? Wie sieht das heute in den Unternehmen und bei Selbständigen aus? Auch dort ist intrinsische Motivation gefragt, Motivation aus eigenem Antrieb. Der finanzielle Anreiz zur Erwerbsarbeit bleibt mit einem bedingungslosen Grundeinkommen erhalten. Bei höheren Erwerbseinkommen ohnehin. Bei geringen Erwerbsein­kommen bleibt der Anreiz zu einem Verdienst über die Grundeinkommenshöhe hinaus erhalten.

Die Frage, mit welcher wirtschaftlichen Wertschöpfung wir rechnen können nach der Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens, ist verknüpft mit der Frage der Finanzierung des Grundeinkommens. Die Finanzierung ist eine komplexe Frage. Wir nähern uns dem Thema mit ein paar grundsätzlichen Überlegungen.

Zu finanzieren ist ein bedingungsloses Grundeinkommen, wenn es nicht zusätzliches Geld ist, sondern wenn es seinen Anteil aus den bestehenden Einkommen übernähme. Das bedingungslose Grundeinkommen würde die obligatorische Aufgabe der Existenzsicherung für alle abdecken. Diese Aufgabe hätten alle anderen Einkommen dann nicht mehr.

Die heutigen Einkommen könnten also um diesen Grundeinkommensbetrag sinken. Das Grundeinkommen wäre dann ein separates Einkommen. Neben dem Grundeinkommen, das dann jeder bedingungslos hat, gibt es die anderen Einkommen wie Erwerbseinkommen, Sozialleistungen und Einkommen aus anderen Quellen. Mit einem Federstrich ist das nicht zu machen. Schrittweise auf dem Weg der Einführung über Lohnverhandlungen im Marktgeschehen und durch die Steuer oder Abgabe zur Finanzierung des bedingungslosen Grundeinkommens würde der Grundeinkommensbetrag aus den anderen Einkommen herausgehen und zu einem bedingungslosen Einkommenssockel für jeden werden. Was vorher diesen Anteil eines Grundeinkommens in den bestehenden Einkommen finanzierte, wird dann das bedingungslos gewordene Grundeinkommen finanzieren. Im Prinzip kostet das Grundeinkommen also nicht mehr, wenn es bedingungs­los ist. Mit den Preisen, die wir als Konsumenten zahlen, wenn wir etwas kaufen, bezahlen wir Geld, das für andere zu ihrem Einkommen wird. Den Grundeinkommensanteil ihres Einkommens zahlen wir dabei heute auch mit. Wäre dieser Anteil in den Arbeitseinkommen nicht mehr enthalten, müsste er in den Preisen, die wir als Konsumenten zahlen, auch nicht mehr enthalten sein: Die Preise könnten dann deutlich niedriger sein. Auf diese niedrigeren Preise würde wiederum eine Grundeinkommensabgabe erhoben werden. Dann wären die Preise im Durchschnitt wieder so hoch wie vorher, und das bedingungslose Grundeinkommen wäre finanziert. Diese vereinfachte Darstellung zeigt das Prinzip. Auch wenn eine Steuer oder Abgabe für die Grundeinkommens-Kasse an anderer Stelle im Wirtschaftskreislauf erhoben würde – zum Beispiel die Besteuerung von Finanztransaktionen, Ressourcen oder Einkommen – wäre dies das Prinzip der Finanzierung. Auch eine Kombination dieser Finan­zie­rungs­varianten ist denkbar.

Das bedingungslose Grundeinkommen ist genauso finanziert wie heute ein Betrag von der Höhe eines Grundeinkommens innerhalb der bestehenden Einkommen. Er ist durch einen Anteil in den Preisen finanziert, die wir als Verbraucher zahlen. Ein Weg wäre eine Verbrauchssteuer oder Ausga­ben­steuer zur Finanzierung des bedingungslosen Grundeinkommens.

Die Höhe des Gesamteinkommens einer Person, Grundeinkommen plus niedrigeres Arbeits- oder Transfereinkommen, wird im Durchschnitt etwa gleich bleiben wie heute. Die Höhe der Verbraucherpreise wird im Durchschnitt aller Branchen ebenfalls in etwa gleich bleiben. Bezogen auf die Kaufkraft ist das in einer Volkswirtschaft nicht anders möglich. Das heißt, dass die Finanzierbarkeit des bedingungslosen Grundeinkommens vorhanden ist. Im Prinzip ist es schon finanziert. Nur noch nicht als bedingungsloses Grundeinkommen. Dass es zu finanzieren ist, ist allerdings kein Grund, es auch zu wollen.

Die Bearbeitung der Finanzierung mit all ihren Details und Zusammenhängen mit dem Außenwirtschaftsverkehr ist noch ein weites Feld. Aber auf die grundsätzliche Frage, ob ein bedingungsloses Grundeinkommen zu finanzieren ist, kann gesagt werden: ja. Ohne Inflation. Und auch gerecht. Welche Steuern, welche Grundeinkommenshöhe, das sind die Fragen der Ausgestaltung, wenn ein bedingungsloses Grundeinkommen mehrheitlich gewollt wird.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet. Mehr Fragen als die, ob wir dann noch mit allem Nötigen versorgt sind. Die Wirtschaft hat heute kein Produktionsproblem, sondern ein Absatzproblem. Kapital ist nicht mehr die knappe Ressource, erklärt der Risiko-Investor Albert Wenger. Es gibt viel mehr Geld als Anlagemöglichkeiten. Das bedingungslose Grundeinkommen könnte man auch als Anlage bezeichnen. Nicht für finanzielle Rendite, sondern für soziale Ausgeglichenheit, Lebensqualität, Kreativität und als Konsumgeld. Nicht die Produktion von Gütern, sagt Wenger, sondern die Aufmerksamkeit der Leute bei sich zu haben, ist das große Geschäftsfeld heute. Das macht Google, das macht Facebook, das sind Internetplattformen als Monopolhändler zwischen Produzent und Kunde, das ist die Daten- und Netzwerkökonomie. Dinge werden zu Daten. Die Produktion stellt einen immer geringeren Teil der Wertschöpfung dar, die digitalen Daten und Datenplattformen einen immer größeren. Zudem gibt es die Entwicklung zu mehr Effizienz und Rendite. Da könnte ein Grundeinkommen einen Ausgleich schaffen und andere Werte setzen.

Viele Entwicklungen in ein neues Zeitalter laufen parallel. Nicht nur das bedingungslose Grundeinkommen, sondern all diese Entwicklungen werfen Fragen auf. Aber das bedingungslose Grundeinkommen berührt die Frage: was halte ich vom Menschen? Was macht ihn aus? Wohin soll es gehen?

Das bedingungslose Grundeinkommen steht als Gedanke nicht nur für sich alleine da. Zum einen geht es in der Bildung, in Unternehmen, in Biografien, der Kulturarbeit, im Gesundheitswesen und vielen anderen Bereichen um individuellere Wege, Eigenständigkeit und Eigenmotivation. Auch zunehmend um wechselnde projektbezogene Arbeit. Dafür könnte das bedingungslose Grundeinkommen eine freie Basis der Gestaltungsmöglichkeit sein.

«Die Realität ist groß. Entspannt euch», sagt der Schweizer Kinderarzt Remo Largo in einer Dokumentation des Schweizer Fernsehens. Individualität ernst nehmen ist sein Credo. «Wenn einer nicht will», sagt er, «dann sollte man ihn nicht pushen, sondern ernst nehmen.» Manche erleben die Idee des Grundeinkommens wie eine Kränkung ihrer Vorstellungen. Remo Largo sagt: «Wir sind dazu verdammt, uns eine Vorstellung von der Welt zu machen. Eine erste schwere Kränkung war, dass nicht alles um die Erde kreist, sondern wir um die Sonne.»

«Vielfalt ist das Prinzip der Evolution», sagt Remo Largo. «Vielfalt der Individuen, Vielfalt der Arten ermöglicht die Anpassung an eine sich ändernde Umwelt.» – «Jeder Mensch kommt mit einem Entwicklungspotenzial zur Welt, das er in seinem Leben entfalten möchte.», so Remo Largo.

Von einer ganz anderer Seite klingt es so: «Menschliche Entfaltung muss nicht unbedingt wirtschaftlich sein. Sie kann auch kulturell oder sozial erfolgen. Es braucht Lösungen, die allen ein Mindesteinkommen garantieren. Klar ist: Wir müssen ganz neu denken», sagt Klaus Schwab, Gründer des Weltwirtschaftsforums in Davos. Dort war 2016 das bedingungslose Grundeinkommen ein Thema als innovative Antwort auf die Digitalisierung, die laut Vorhersagen in den nächsten 20 Jahren etwa die Hälfte aller heutigen Arbeitsplätze übernehmen wird. Prognosen können falsch liegen, aber die Zeichen verdichten sich.

Die Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen in vielen Ländern kommt rechtzeitig, um genügend Zeit zu haben, über die nächsten zwanzig Jahre schrittweise, gründlich und präzise ausgearbeitet ein bedingungsloses Grundeinkommen zu implementieren. Die Entwicklung in allen Bereichen geht jedenfalls weiter. «Die größere Utopie ist, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht kommt», sagt Theo Wehner, emeritierter Professor für Arbeitspsychologie an der ETH Zürich.

Es könnte weniger die Frage sein, ob ein bedingungsloses Grundeinkommen kommt, sondern wann und wie es kommt? Wie lange kann das bestehende Einkommenssystem noch mit der Entwicklung mithalten? Bleiben zu viele auf der Strecke? Bleibt damit auch zu viel notwendige Arbeit liegen, werden zu viele Fähigkeiten ausgebremst, weil sie keine Rendite versprechen, und werden Entwicklungen verschlafen?

In diesem Buch sollen Argumente für und gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen zur Sprache kommen. Dabei geht es um mehr als ein Ja oder Nein zu Bekanntem. Beim Thema Grundeinkommen ist noch vieles offen, weshalb auch dieses Buch eine offene Form hat. Es versucht vieles zur Sprache zu bringen, ohne fertige Schlüsse zu präsentieren.

Zwingende Gründe, die ein bedingungsloses Grundeinkommen einfach durchwinken lassen, gibt es nicht. Es ist eine Idee auf dem Weg. Es bringt frischen Wind in die Fragen unserer Zeit. In alte und neue. In diesem kleinen Lexikon werden Fragen und Schwerpunkte aufgegriffen, Möglichkeiten und Hintergründe gezeigt. Doch die Antworten auf das bedingungslose Grundeinkommen liegen bei jedem Einzelnen.

Arbeitsplätze

Es gibt zwei gute Nachrichten: Erstens werden uns laut ­verschiedener Prognosen in den nächsten zwei Dekaden ­Maschinen und Computer bis zur Hälfte der heutigen Jobs abnehmen. Zweitens wird es genug zu tun geben für alle: vor ­allem Arbeiten, die Persönlichkeit verlangen und individuell Sinn stiften. Das Grundeinkommen wäre nüchtern betrachtet die Basis der kommenden ­Leistungsgesellschaft.

Laut einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Demoscope vom Dezember 2015 würden mit einem bedingungslosen Grundeinkommen insgesamt 90 % weiterhin erwerbstätig sein, 34 % der Erwerbstätigen würden weniger arbeiten wollen. 40 % möchten sich mehr in der Freiwilligenarbeit engagieren, 53 % möchten mehr Zeit mit der Familie verbringen, 54 % möchten sich mehr weiterbilden. 13 % würden gerne den Arbeitsplatz wechseln und 22 % wollen sich selbständig machen.

Die Frage, wer mit einem bedingungslosen Grundeinkommen noch arbeitet, muss man differenzieren. Sie betrifft nicht die unbezahlte Arbeit, die über die Hälfte aller geleisteten Arbeitsstunden ausmacht und das Gemeinwesen trägt. Also Freiwilligenarbeit, Care-Arbeit, Hausarbeit. Diese Arbeiten würden eher aufgewertet. Sie betrifft nicht die gut bezahlte Arbeit. Der gewohnte Lebensstandard, die laufenden Kosten und auch das Selbstverständnis lassen einen nicht einfach auf die Einkommenshöhe nur eines Grundeinkommens umsteigen. Das Grundeinkommen ist kein Grund, eine eigene Arbeit aufzugeben. Weniger gut bezahlte Arbeiten, die aber letztlich doch gerne gemacht werden, die zumindest lieber gemacht werden, als zuhause zu sitzen, werden mit einem bedingungslosen Grundeinkommensbetrag auch weiterhin gemacht werden. Die Frage: «Wer arbeitet dann noch?» betrifft alle Arbeitsstellen, in denen Menschen ihre soziale Einbindung haben und eine Aufgabe sehen. Warum sollte jemand sein Lebensumfeld am Arbeitsplatz verlassen, nur weil die Existenz bedingungslos gesichert ist?

Wie sieht es aus bei der ungeliebten und gering bezahlten Arbeit – der sogenannten Drecksarbeit? Wenn sie unverzichtbar ist, ist sie gesellschaftlich wertvoll und müsste mehr Wertschätzung erfahren. Sie wird besser bezahlt werden müssen, wenn sie sonst niemand macht. Die Arbeitsbedingungen müss­ten verbessert werden, damit Menschen sie machen. Häufig sind solche Arbeiten für die Menschen, die sie tun, nicht Drecksarbeiten, sondern sie sehen einigen Sinn darin und haben andere Erlebnisse, als Außenstehende wissen kön­nen. Bei manchen Arbeiten kann man sich nicht vorstellen, dass man selbst sie freiwillig täte, und also auch nicht, dass ein anderer das macht. Das trägt zur Geringschätzung dieser Arbeiten bei und leider auch zur Geringschätzung derer, die sie tun.

Die Frage, wer dann noch arbeitet, reduziert sich letztlich auf diejenigen, die auch heute schon nichts tun. Die also auch nicht in irgendeiner Weise künstlerisch oder im sozialen Umfeld tätig sind und auch nicht einer noch so eigenar­tigen Idee nachgehen. Statistisch gesehen ist das heute ein ganz kleiner Teil der Bevölkerung. Den wird es mit einem bedingungslosen Grundeinkommen vielleicht auch geben.

Laut einer Studie der Oxford Martin School vom Dezember 2013 werden innerhalb der nächsten zwanzig Jahre etwa die Hälfte der heutigen Arbeitsplätze von Robotern, Datenplattformen und Algorithmen übernommen. Betroffen sind alle Branchen in allen Bereichen, wo sich Arbeit quantifizieren, analysieren und digitalisieren lässt. Was nicht ersetzt werden kann, sind laut der Studie Tätigkeiten, die Empathie, Überzeugungskraft, Originalität, Verhandlungsgeschick oder besondere motorische Fähigkeiten brauchen.

Was viele Ingenieure, Konzernchefs, Wissenschaftler weltweit über diese sogenannte Industrialisierung 4.0 sagen, zeigt Klaus Schwab, Gründer des Weltwirtschaftsforums in Davos, in Bezug auf die Schweiz auf: «Zuerst wirbelte die Digitalisierung die Medien durch, nun die Banken. Das Gesundheitswesen und die Bildung werden bald erfasst. (…) In der Schweiz fallen 200 000 Bürojobs weg. Der Mittelstand löst sich auf. Der tragende Pfeiler unserer Demokratie ist bedroht. (…) Jeder Einzelne muss bereit sein, sich ständig weiterzubilden. Und der Staat soll Strukturen schaffen, die allen ein unternehmerisches Verhalten ermöglichen. Die Zukunft gehört nicht den großen, sondern den eigenen Firmen. (…) Das Volk muss die Regeln setzen, auch für die Wirtschaft. Da sich alles so schnell ändert, besteht die Gefahr, dass Firmen Regeln setzen und ihre Regeln automatisch Gesetz werden. Nötig sind politische Prozesse, die ständige Anpassungen der Regeln an die Entwicklungen zulassen. (…) Der Wettbewerb der Zukunft wird ein Wettbewerb der Systeme sein, nicht der Produkte.» Damit meint Klaus Schwab auch eine Neustrukturierung in der Einkommensregel wie zum Beispiel ein bedingungsloses Grundeinkommen.

«Neugierig auf die Welt zu sein, mit Wandel und Veränderungen umzugehen, dauerhaft lernen zu können, Veränderungen einordnen zu können im Kontext», das hält Klaus Wellershoff, Präsident des Volkswirtschaftlichen Instituts an der Universität St. Gallen HSG, für die wichtigsten Eigenschaften, die Jugendliche lernen sollten und die auch für uns alle gelten.

Aber kommt es wirklich so, wie die Vorhersagen es zeigen? Betrifft uns das?

Die Digitalisierung verändert nicht nur das, was man sich vorstellen kann. Die Veränderungen in der Wirtschaft werden so groß sein wie dereinst beim Wandel von der Agrarwirtschaft zur Kapitalwirtschaft. Die Landwirtschaft gibt es immer noch. Effizienter als früher, nicht weniger wichtig, aber sie macht nicht mehr den Schwerpunkt der Arbeit für die meisten aus.

Was Klaus Wellershoff voraussagt, bedeutet, dass sich ein Schwerpunkt der menschlichen Arbeit in den nächsten Jahrzehnten bei personenbezogenen Dienstleistungen, kultureller und künstlerischer Arbeit auch im Kontext mit sozialer Gestaltung herausbilden wird. Mehr selbständige Arbeiten als heute, mehr Projektarbeiten und wechselnde Zusammenarbeit.

Das hieße nicht, dass wir alle dann nur ein Grundeinkommen hätten. Aber das Grundeinkommen könnte unentbehrlich und förderlich sein bei Übergängen und dabei, etwas aufzubauen, sich neu zu orientieren und in neuen Arbeiten auch zu einem guten Gesamteinkommen zu kommen. Es wäre, nüchtern betrachtet, die Basis der kommenden Leistungsgesellschaft.

Aufmerksamkeit

Ökonomie ist die Lehre vom Umgang mit knappen Gütern. Früher war es der Boden für die Nahrungsmitteler­zeugung, Kohle zur Dampferzeugung als Maschinenantrieb und Finanzkapital für Investitionen in Infrastruktur, Handel und Produktion. Im Zeitalter des materiellen Über­flusses ist heute die Aufmerksamkeit der Konsumenten das ­knappe – und deshalb kostbare – Wirtschaftsgut.

Aufmerksamkeit ist das knappe Gut unserer Zeit. Das beschreibt der US-Investor Albert Wenger in seinem Buch «Die Welt nach dem Kapitalismus». So umfassend wie der Übergang von der Agrarwirtschaft zu Industrie und Kapitalwirtschaft ist laut Wenger jetzt der Übergang von der Kapital­wirtschaft zur digitalen Industrie. Und dazu gehört für ihn ein bedingungsloses Grundeinkommen: als humanistischer Boden der Veränderung und des Fortschritts zu mehr Möglichkeiten.

«Wie viele Menschen arbeiten heute im erweiterten Sinne für Banken und die Finanzindustrie? Weltweit Abermillionen», sagte Albert Wenger in einem Interview mit dem Wirtschaftsmagazin «brand eins». «Wie viele beschäftigen sich damit, welcher Asteroid die Erde treffen könnte und was eventuell rechtzeitig dagegen zu tun wäre? Es sind weniger, als in einer McDonalds-Filiale arbeiten.» Wie viele Menschen richten ihre Aufmerksamkeit auf den Klimawandel und was dagegen zu tun ist? Wenger meint: «Auch hier stehen Bedrohung und Aufmerksamkeit in einem grotesk schlechten Verhältnis. Wir verschwenden unendlich viel Zeit mit Ab­lenkungsübungen. Stattdessen sollten wir uns öfter fragen, was wir wirklich mit dem Leben anfangen wollen.» Vollbeschäftigung in klassischer Arbeit hält Albert Wenger in Anbetracht des technischen Fortschritts für «schlichtweg anachronistisch. Stattdessen werden wir viel mehr Zeit haben, über Sinnvolles nachzudenken», so Wenger weiter. «Wir haben die historische Chance, Wissen und Kultur in einem Umfang zu erzeugen und zu teilen, der bisher undenkbar war.»

Arbeit ist Anwendung von Aufmerksamkeit. Die Arbeit richtet die Aufmerksamkeit auf etwas. Sie kann auch Aufmerksamkeit in den Sand setzen. Wie sich Arbeit selbst verzehrt und Aufmerksamkeit hohl dreht, bespricht der Anthropologe David Graeber von der London School of Economics in seinem Buch «Bürokratie. Die Utopie der Regeln». Dar­in rechnet er vor, dass ein Drittel der Arbeitszeit heute für ­unproduktive Administration verwendet werde. Für das Ausfüllen von Formularen, Anträgen, für Benchmarking, Con­trolling, Evaluationen. Im Gesundheitswesen, an den Universitäten, in der Wirtschaft, in der Verwaltung sowieso. Auch Computer und Softwareprogramme würden den Menschen zum Administrator machen. Nach «der Überwindung des schrecklichen, bürokratischen Sozialismus und nach dem triumphalen Sieg der Freiheit und des Marktes», so Graeber, sei der Kapitalismus zu eben der Fantasie tötenden bürokratischen Technologie geworden, die zuvor dem technokratischen Sozialismus zugeschrieben wurde. Kreativität und Initiative würden zwar beschworen, doch wer damit aufwarte, habe die geringsten Aussichten, dafür eine finanzielle Unterstützung zu finden. Die administrative Notwendigkeit sei vom Mittel zum Zweck geworden. Der neoliberale Kapitalismus stehe dem Fortschritt im Weg. Er bremse die Kreativität aus, verhindere echte Innovation, hebele die Demokratie aus und schaffe neben gigantischen Einkommen für wenige nicht mehr Wohlstand für alle, so Graeber. Das also, womit der Kapitalismus sich rechtfertige, erfülle er nicht mehr.

Soll das heißen, dass der Kapitalismus sich überlebt hat in dem, wie er geworden ist? Wohin geht die Aufmerksamkeit?

In der Arbeit für das materielle Überleben stellte sich die Frage nach der Aufmerksamkeit noch nicht als eigene Frage. In der auftrags- und weisungsgebundenen Arbeit auch nicht. Die Frage nach der Aufmerksamkeit stellt sich mit zunehmender Selbstverantwortung und Individualisierung einerseits und mit einem Rückgang klassischer Arbeit und klassischer Hierarchien andererseits. Sie stellt sich mit der Digitalisierung und der Zunahme an Information – mit der Fülle an Möglichkeiten in der realen wie in der virtuellen Welt. Sie stellt sich mit neuen Herausforderungen, die im Mainstream wie im Bezahlsystem nicht genug vorkommen. Sie stellt sich für die kulturelle Entwicklung.

Die Aufmerksamkeit an sich zu ziehen, sie zu analysieren und als Besitz zu vermarkten, ist das große Geschäft der digi­talen Ökonomie, der Apps und Internetplattformen wie beispielsweise Google, Facebook, iTunes. Ist das Software-Programm erst einmal entwickelt, gehen die sogenannten Grenzkosten gegen null. Das heißt, die Vervielfältigung und der Verkauf des Produktes und deren Anwendung sind ohne weitere Kosten unendlich möglich. Ohne weitere Kosten heißt ohne weitere menschliche Arbeit. Kapital und Arbeit sind entkoppelt.