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Monika Felten

Geheimnisvolle Reiterin

Band 3:
Gefangen im Elfenreich

Roman

hockebooks

Ein Verdacht bestätigt sich

Ein lang anhaltender, trillernder Laut riss Lavendra aus einem traumlosen Schlaf. Es dauerte eine Weile, bis sich die Mondpriesterin über den Ursprung des Geräuschs im Klaren war. Dann war sie augenblicklich hellwach.

Eine knappe Handbewegung genügte und die erloschenen Flammen der beiden Öllampen, die von der Decke ihres Schlafgemachs herabhingen, erwachten zu neuem Leben. Kurz darauf verließ Lavendra fertig angekleidet den Raum und eilte mit großen Schritten auf die kleine unscheinbare Tür zu, die von ihrem Arbeitszimmer in die geheimen Kellergewölbe hinabführte, in denen sie jene verbotene Magie wob, die nur ihren eigenen Plänen diente.

Auf einen Fingerzeig von ihr öffnete sich die Tür. Ein kühler Luftzug zog herauf und brachte neben dem durchdringenden Geruch feuchter Wände und modrigen Holzes auch den würzigen Duft von Kräutern in das warme Arbeitszimmer. Lavendra nahm eine kleine Öllampe aus der Halterung neben der Tür, bückte sich und betrat die gewundene, hölzerne Treppe, die in den Keller hinabführte. Geschmeidig huschte sie die Stufen hinunter, während sich die Tür wie von Geisterhand hinter ihr schloss.

Unten angekommen steckte sie die Öllampe in eine Wandhalterung und trat vor die flache silberne Schale, die sie vorsorglich auf dem Tisch in der Mitte des Raums bereitgestellt hatte. Aus einem tönernen Krug mit geweihtem Wasser goss sie vorsichtig die Schale bis zur Hälfte voll. Obwohl Lavendra sehr nervös war, zitterten ihre Hände nicht, als sie die Magie des Wassers anrief.

»Nen tirim, lathram a osradam had vîn«, murmelte sie beschwörend, während sie die Finger in kreisenden Bewegungen über die spiegelnde Oberfläche führte. »Nen tirim, lathram a osradam had vîn.«

Nichts geschah, doch dann wurde die Stimme der Mondpriesterin befehlend. »Lava hene elleth! – Zeig mir das Elfenmädchen!«, zischte sie und das Spiegelbild in der Wasserschale begann sich zu verändern. Es kräuselte sich, als ob Tausende winziger Wellen die Oberfläche bewegten, und wurde dunkel. Dann glätteten sich die Wellen. Als das Wasser wieder still und klar war, konnte man in der Schale ein Mädchen auf einem weißen Pferd erkennen, das im Mondlicht vor der dunklen Silhouette hoher Tannen dahinritt. »Sie hat es tatsächlich gewagt.« Lavendra stützte die Hände auf den Tisch und beugte sich über die Schale, um das Gesicht der jungen Elfe besser sehen zu können. »Ich wusste es! Diese Pferdehüterin ist nicht nur verlogen, sie ist auch eine Verräterin.«

Ein zufriedenes Lächeln huschte über Lavendras Gesicht. Die lästige Pferdehüterin so schnell eines schweren Vergehens zu überführen, übertraf selbst ihre kühnsten Erwartungen. Jetzt musste sie das Mädchen nur noch auf frischer Tat ertappen und dem König das wahre Gesicht seiner geschätzten Beria s’roch zeigen. Dann, dessen war sich Lavendra sicher, würde das Mädchen endlich für immer aus den königlichen Stallungen und von Shadows Seite verschwinden.

Plötzlich hatte es die Mondpriesterin sehr eilig. Sie würde Mailin noch in dieser Nacht überführen.

Ein kurzer Wink von ihr ließ das Bild in der Wasserschale verschwinden. Ihr langer, mitternachtsblauer Umhang bauschte sich, als sie sich umdrehte und die Stufen zum Arbeitszimmer hinaufstürmte. Sie musste unverzüglich eines der Stallmädchen wecken, damit es ihr ein schnelles Pferd aufzäumte.

Wie ein Geisterpferd schritt Gohin durch den dunklen Schweigewald. Der Hufschlag des Hengstes war auf dem weichen, nadelbedeckten Boden kaum zu hören und sein Atem ging so leise, als fürchte er, die ehrwürdige Stille zu entweihen.

Obwohl der Mond sein Licht hier und da in silbernen Strahlen bis zum Waldboden schickte, war der Schweigewald kein angenehmer Ort. Ohne die unzähligen Geschöpfe der Nacht, die die Wälder des Elfenreichs bevölkerten, wirkte er noch einsamer und verlassener als bei Tageslicht.

Die Stille war unheimlich, aber Mailin hatte keine Angst. Sie war oft hier geritten und wusste, dass es in den Schatten nichts gab, wovor sie sich fürchten musste. Außerdem lebte Enid schon sehr lange hier und Mailin war überzeugt, dass die Elfenpriesterin sie gewarnt hätte, würde es im Schweigewald Gefahren geben.

Wie immer, wenn sie sich Enids einfacher, moosbewachsener Hütte näherte, in deren Nachbarschaft ein kleiner Bach floss, flackerte hinter dem einzigen Fenster des windschiefen Gebäudes ein unstetes Licht. In der kühlen Stille des Waldes wirkte es freundlich und einladend und trotzte mit seinen warmen, leuchtenden Farben den Schatten zwischen den Bäumen. Das Licht stammte vom Herdfeuer der Elfenpriesterin, das in einer offenen Feuerstelle in der Mitte der Hütte brannte. Enid ließ es niemals ausgehen, denn die Tannen hielten die wärmenden Sonnenstrahlen auch im Hochsommer fern, sodass es im Wald zu jeder Jahreszeit empfindlich kühl war. Als Mailin das Licht zwischen den Bäumen erblickte, zügelte sie Gohin. In Gedanken ging sie noch einmal durch, worum sie Enid bitten wollte und wie sie das Gespräch am besten begann. Doch je länger sie darüber nachdachte, desto mehr Zweifel nagten plötzlich an ihr. Was, wenn Enid ärgerlich wurde, weil Mailin sie aus dem Schlaf riss? Auf einmal erschien ihr der Anlass, aus dem sie Enid aufsuchte, nicht mehr wichtig genug, um eine so ungeheure und gefährliche Bitte an die verstoßene Priesterin zu richten. Julia war verletzt und hatte sie um Hilfe gebeten, aber war das wirklich Grund genug, um ein Tor in die Menschenwelt zu öffnen? Sicher gab es auch dort gute Heiler, die Julia helfen konnten.

»Julia braucht mich, sonst hätte sie mich nicht gerufen«, bekräftigte Mailin noch einmal so laut, als könnten die Worte alle Bedenken vertreiben. Energisch lenkte sie Gohin auf Enids Hütte zu. Die alte Priesterin war weise und erfahren. Sie würde wissen, was zu tun war.

Durch einen sanften Schenkeldruck bedeutete Mailin Gohin, zu dem kleinen Bach neben der Hütte zu gehen, und rutschte von seinem Rücken. »Warte hier auf mich«, flüsterte sie ihm zu und lief zum Eingang der Hütte, während Gohin zu grasen begann.

Wie gewohnt schwang die Tür geräuschlos auf, als Mailin die Hand nach der Klinke ausstreckte, und sie ging hinein.

Eine angenehme Wärme und vertraute Gerüche empfingen sie, als sie den einzigen Raum der Hütte betrat. Der Duft stammte von den Beuteln mit getrockneten Pilzen und Beeren und den unzähligen Kräuterbündeln, die von der niedrigen Decke herabhingen. Auch die kleinen Körbe und tönernen Schalen in dem breiten Regal neben der Tür verströmten einen würzigen Duft, der sich mit dem Geruch des offenen Herdfeuers mischte.

»Mailin!« Enid saß an dem kleinen Tisch vor dem Fenster und blätterte in einem dicken, ledergebundenen Buch. Auch diesmal trug sie ein schlichtes graues Gewand, doch das lange blaugraue Haar fiel ihr offen über den Rücken und war nicht wie sonst im Nacken zu einem dicken Zopf gebunden. Es wirkte zerzaust, als sei die Elfenpriesterin aus dem Schlaf gerissen worden und hätte keine Zeit gefunden, ihre Haare zu richten. »Schön, dich zu sehen. Komm näher und setz dich zu mir«, sagte sie, ohne den Blick von den vergilbten Seiten zu nehmen. Mailin durchquerte den Raum, zog einen wackeligen, dreibeinigen Schemel unter dem Tisch hervor und setzte sich. Sie hatte fest damit gerechnet, die Elfenpriesterin schlafend vorzufinden, und war sehr überrascht, dass Enid wach war.

»Ehrwürdige Enid«, sagte sie zaghaft. »Es tut mir leid, Euch so spät in der Nacht zu stören, aber … ich bin … Also, Julia hat …«

Plötzlich wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte. Sie hatte schon so viel wertvolle Zeit verloren, und die Zweifel, ob ihr Handeln richtig war, erschwerten es ihr, die passenden Worte zu finden. Ach Julia, was bin ich nur für eine unzuverlässige Freundin, dachte sie traurig.

»Du bist gekommen, weil Julia Hilfe braucht.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.

Mailin schluckte. »Wie könnt Ihr …, warum …, wieso wisst Ihr davon?«

»Ich habe es gespürt.« Enid legte die Hände auf das Buch, blickte auf und lächelte Mailin an. »Oder sollte ich vielleicht besser sagen, die Ringe haben es mir zugeflüstert?«

»Dann wisst Ihr schon alles?«, fragte Mailin.

»Nein.« Enid schüttelte den Kopf. »Alles, was ich weiß ist, dass eines der Ringpaare benutzt worden ist. Und da es nur ein einziges Ringpaar gibt, das sich nicht in meiner Obhut befindet, war es nicht schwer zu erraten, wem es gehört.« Sie maß Mailin mit einem schwer zu deutenden Blick. »Um ehrlich zu sein hatte ich dich schon viel früher erwartet.«

»Nun, es war nicht leicht, an den Stillen Brunnen und hierher zu kommen«, gestand Mailin. »Irgendwie läuft heute Nacht alles schief.« Sie hob den Kopf und sah der Elfenpriesterin in die Augen. »Inzwischen bin ich mir nicht einmal mehr sicher, ob es wirklich schwerwiegende Gründe dafür gibt, Julia aufzusuchen. Gut, sie ist verletzt und hat Schmerzen, aber bei den Menschen gibt es doch auch Heiler, die ihr helfen können. Vorhin habe ich ihr versprochen, zu ihr zu kommen, aber jetzt denke ich, hätte ich mich erst mit Euch besprechen müssen. Ein Tor in die Menschenwelt zu öffnen ist schwierig, wie ich inzwischen weiß. Es kostet Euch enorm viel Kraft, obwohl heute Vollmond ist. Es wäre also eine gute Nacht dafür, auch wenn ich nicht weiß, ob Ihr mir helfen werdet. Aber ich habe es Julia nun mal versprochen und jetzt muss ich …« Die Worte sprudelten nur so aus Mailin heraus. Entgegen allem, was sie sich auf dem Weg hierher zurechtgelegt hatte, schilderte sie die Ereignisse der vergangenen Stunden so wirr, dass sie am Ende selbst nicht mehr wusste, was sie eigentlich redete. »Jedenfalls ist sowieso schon viel zu viel Zeit vergangen«, beendete sie schließlich ihren Bericht. »Selbst wenn Ihr mir helft und ein Tor in die Menschenwelt öffnet, komme ich bestimmt zu spät, um Julia zu helfen.«

»Aber, aber.« Die Elfenpriesterin schmunzelte. »Das kannst du doch gar nicht wissen.«

»Doch!« Es ärgerte Mailin, dass gerade Enid, die ihr den unterschiedlichen Zeitverlauf erst vor ein paar Wochen erläutert hatte, sie offensichtlich nicht ganz ernst nahm. »Seit ich Julias Ruf gehört habe, sind mindestens zwei Stunden vergangen«, erklärte sie niedergeschlagen. »Das sind in ihrer Welt fast zwei Tage. Wie kann ich ihr da noch helfen?«

»Nun, wie du siehst, habe ich mich auf deinen Besuch schon ein wenig vorbereitet«, meinte die Elfenpriesterin und deutete auf das Buch vor ihr. »Dass die Zeit in der Menschenwelt so schnell vergeht, war früher auch ein großes Problem. Stell dir nur einmal vor, ein Angehöriger unseres Volkes gerät in der Menschenwelt in eine lebensgefährliche Situation. Da kann man nicht warten. Die Hilfe muss umgehend erfolgen.«

»Aber das ist völlig unmöglich!«, rief Mailin aus. »Wie soll das gehen?«

»Ein Unmöglich gibt es nicht, Mailin«, erklärte Enid bestimmt. »Jedenfalls nicht für jene, die die Kraft der Magie kennen. Für Menschen mag vieles unmöglich sein, weil sie die Mächte der Natur nicht für sich zu nutzen wissen. Doch wir Elfen vermögen durchaus Dinge zu bewirken, die Unkundigen unmöglich erscheinen. Es braucht viele Jahre, all dies zu erlernen, doch am Ende stellt nicht einmal die Zeit ein unüberwindliches Hindernis dar.«

»Aber ich bin keine Heilerin. Wenn sich Julia bei dem Sturz etwas gebrochen hat, seid Ihr die Einzige, die ihr helfen kann.«

»Ich weiß.« Die Elfenpriesterin nickte bedächtig. »Allerdings kann ich den Schweigewald nicht verlassen. Wenn Julia meine Hilfe braucht, musst du sie hierher bringen.«

»Heißt das, Ihr könntet …, Ihr würdet mir helfen?« Mailins Augen funkelten hoffnungsvoll. »Selbst wenn ich Julia dafür in unsere Welt holen müsste?«

»Ja, das werde ich. Auch ich weiß die Hilfe zu schätzen, die das Menschenmädchen dir erwiesen hat. Deshalb werde ich ihr die Hilfe nicht verwehren.«

»Oh, das …, das ist …« Mailin strahlte übers ganze Gesicht. Sie war so glücklich, dass ihr die Worte fehlten. Am liebsten wäre sie der Elfenpriesterin um den Hals gefallen, unterdrückte aber diesen Impuls, da es ihr unschicklich erschien. »Danke. Vielen Dank«, sagte sie deshalb nur und fügte hinzu: »Ich fürchtete, der Grund, weswegen Julia mich gerufen hat, wäre Euch nicht bedeutend genug, um das Tor noch einmal zu öffnen.«

»Hat sich Julia jemals Gedanken darüber gemacht, ob unsere Probleme wichtig oder unwichtig für sie waren, als sie dir half?«, fragte Enid und fuhr fort, bevor Mailin etwas erwidern konnte. »Nein, das hat sie nicht. Ohne Rücksicht auf alle Schwierigkeiten, die ihr daraus entstehen könnten, hat sie dir zweimal ohne zu zögern und völlig uneigennützig geholfen und damit Shadows Leben gerettet. Es steht uns daher nicht zu, den Wert ihres Hilferufs zu bezweifeln. Wir haben versprochen zu helfen, wenn sie uns braucht. Und genau das werden wir jetzt tun. So schnell und selbstlos, wie Julia es für dich getan hat.« Enid erhob sich, schlug das Buch zu und stellte es ins Regal zurück. »Das Glück ist mal wieder auf deiner Seite, Mailin«, sagte sie und deutete lächelnd nach draußen. »In Vollmondnächten wie dieser sind die Mächte der Natur besonders wirksam und kraftvoll.« Sie nahm einen kleinen Weidenkorb zur Hand, der vor ihr auf dem Boden stand. »Du weißt, ein Tor zur Menschenwelt zu öffnen, erfordert sehr viel Kraft, denn die Grenzen der Welten zu überwinden ist nicht einfach. Doch um ein Tor zu öffnen, das nicht nur die Grenzen der Welten, sondern auch die Zeit bezwingt, brauche ich noch weit mehr Kraft. In diesem Korb habe ich zusammengestellt, was ich benötige, denn ohne Hilfsmittel werde ich es diesmal nicht schaffen.«

Überraschender Besuch

Der Hufschlag des Elfenpferdes, auf dessen Rücken Lavendra saß, hallte weithin hörbar durch den Wald, während es mit weit ausgreifenden Schritten durch die Nacht preschte. Durch Schläge mit den Zügelenden und heftigen Tritten trieb die Mondpriesterin ihr Pferd rücksichtslos an. Selbst als das gehorsame Tier schon deutliche Zeichen von Erschöpfung zeigte, gönnte sie ihm keine Rast. Weder achtete sie auf den weißen Schaum, der vom Maul der Stute tropfte, noch scherte sie sich um die hellen Schweißflocken auf dem Körper des Pferdes. Ihr Blick galt der mondbeschienenen Ebene, die vor ihr zwischen den Bäumen auftauchte.

Ein Lächeln huschte über Lavendras Gesicht. Mailin hatte zwar einen großen Vorsprung, doch Lavendra hatte sich das schnellste Pferd aus dem Stall geholt und hoffte, das Elfenmädchen bald einzuholen. Wenn Mailin schon bei Enid angekommen war, umso besser, schließlich wollte Lavendra die Pferdehüterin auf frischer Tat bei einem der schlimmsten Vergehen erwischen, die es im Elfenreich gab. Aber die Mondpriesterin wusste nicht, wie lange Mailin bei der verbannten Priesterin bleiben würde.

Mit einem weiten Satz ließ die Stute den Wald hinter sich, strauchelte und galoppierte unbeholfen auf die grasbewachsene Ebene hinaus, an deren anderem Ende sich die Silhouette des Schweigewaldes wie ein schwarzer Strich über den Horizont erstreckte.

»Schneller!«, befahl Lavendra, doch das erschöpfte Tier hielt den gestreckten Galopp nicht länger durch. Trotz der heftigen Schläge und ärgerlichen Tritte seiner Reiterin fiel es in einen leichten, kräftesparenden Trab zurück.

»Barad! Ne etu barad!«, fluchte Lavendra ungehalten und gab es auf, das Pferd weiter zu traktieren. Verärgert musste sie einsehen, dass es ihr nicht weiterhalf, wenn die entkräftete Stute unter ihr zusammenbrach. Das verminderte Tempo würde sie wertvolle Zeit kosten, doch solange Mailin nicht wieder aus dem Wald herauskam, war nichts verloren.

Obwohl Mailin und Enid nur noch wenige Meter von dem Weiher entfernt waren, über dessen stillen, dunklen Wassern sich das Tor zur Menschenwelt befand, war das Plätschern der kleinen Quelle, die den Teich speiste, noch nicht zu hören. Erst als sie sich der spiegelglatten Wasseroberfläche bis auf wenige Schritte näherten, drangen die Geräusche des munter dahinfließenden Bächleins an ihre Ohren.

Als ob der Wald alle Geräusche verschluckt, dachte Mailin und blickte gebannt auf das silberne Antlitz des Mondes, das sich diesmal genau über der Mitte des ebenholzfarbenen Weihers befand, auf dessen Oberfläche nicht die kleinste Bewegung zu sehen war. Kein Lufthauch kräuselte das stille Wasser und die Pflanzen am Ufer standen reglos im Mondschein. Wie immer, wenn Mailin an diesen geheimnisvollen Ort kam, glaubte sie den uralten Zauber zu spüren, der den Weiher wie ein unsichtbares Gespinst zu umgeben schien. Die Luft war hier viel dichter als gewöhnlich und trug eine Feuchtigkeit in sich, die ihr das Atmen schwer machte. Mailin konnte sich noch gut daran erinnern, wie unheimlich ihr der Ort erschienen war, als sie das erste Mal hierher kam. Inzwischen ängstigte sie sich nicht mehr, doch die Ehrfurcht vor diesem geweihten Ort ergriff aufs Neue von ihr Besitz. Sie wusste: Was sie spürte, war die Macht uralter Elfenmagie, die hier noch immer wirksam war – eine Magie aus jenen längst vergangenen Zeiten, als die Tore zwischen den Welten noch offen standen.

Eine Bewegung am Ufer riss Mailin aus ihren Gedanken. Enid war an den Rand des Wassers getreten, sah zu den Sternen empor und streckte die Arme in einer beschwörenden Geste dem vollen Mond entgegen. Ihre Lippen bewegten sich lautlos, während sie die Kräfte des Weihers in der alten Sprache der Elfen anrief.

Mailin wartete gespannt. Doch nichts geschah. Obwohl Enid auch diesmal eingehüllt in knisternde Magie am Ufer des Weihers stand und sich winzige funkensprühende Blitze auf der Wasseroberfläche entluden, veränderte sich der Weiher nicht. Keine Welle kräuselte das spiegelglatte Wasser, nicht das kleinste Nebelgespinst stieg von ihm auf. Schließlich ließ die Elfenpriesterin die Arme sinken, wandte sich um und kam auf Mailin zu.

»Ich ahnte es bereits«, meinte sie kopfschüttelnd und griff nach dem Weidenkorb, den sie neben Mailin auf den Boden gestellt hatte. »Diesmal bedarf es mehr als mächtiger Worte, um das Tor zu öffnen.« Sie griff in den Korb, nahm einen Lederbeutel heraus und reichte ihn Mailin. »Du wirst mir ein wenig zur Hand gehen müssen, damit sich das Tor öffnet«, erklärte sie. »Doch zuvor nimm diesen Beutel mit Amnesiapulver an dich. Die Wirkung des magischen Pulvers ist dir ja bekannt. Nach den Geschehnissen bei deinen letzten Ausritten in die Menschenwelt halte ich es für besser, wenn du etwas davon bei dir trägst – zu deiner eigenen Sicherheit.«

»Ich verstehe.« Mailin nickte, nahm den Beutel in Empfang und steckte ihn in ihre Hosentasche. Schon einmal hatte ihr das magische Pulver des Vergessens einen guten Dienst erwiesen, als sie bei dem Versuch, Shadow in der Menschenwelt zu befreien, selbst gefangen wurde.

»Warte hier, bis ich dich rufe«, sagte sie leise zu Gohin. Dann folgte sie Enid ans Ufer des Weihers.

*

Draußen war es dämmrig. Die Schale mit den Weintrauben war leer und über den Fernsehschirm flimmerte eine dieser dämlichen Soaps, die Julia nicht ausstehen konnte. Blinzelnd richtete sie sich ein wenig auf und versuchte die Zeitanzeige des Videorekorders zu entziffern. 21:00 Uhr! Julia erschrak. Hatte sie wirklich drei Stunden hier auf dem Sofa gelegen und geschlafen? Als sie mit Mailin gesprochen hatte, war es doch noch hell gewesen. Oder?

… mit Mailin gesprochen – die ganze Geschichte mit dem Bild des Elfenmädchens in der Wasserschale erschien ihr plötzlich absurd. Bestimmt hab ich das alles nur geträumt, dachte sie. Ja, genau. So musste es gewesen sein. Sie hatte sich auf das Sofa gelegt und war bei dem langweiligen Fußballspiel eingeschlafen. Und dann hatte sie diesen sehr realistischen Traum gehabt, in dem Mailin ihr versprochen hatte, ihr zu helfen. So etwas hatte sie schon einmal erlebt. Da war sie furchtbar durstig gewesen und hatte geträumt, sie wäre in die Küche gegangen und hätte etwas getrunken. Als sie dann aufwachte, war sie natürlich noch immer durstig.

»Es war nur ein Traum!«, sagte Julia. Die Sache mit dem Ring war Quatsch.

»Julia, du bist und bleibst eine Träumerin«, schalt sie sich selbst, indem sie den Spruch ihres Vaters gebrauchte, der nur begrenzt Verständnis für ihre blühende Fantasie aufbrachte.

Die Schmerzen in ihrem Arm hingegen waren nur zu real und gehörten zu einer bitteren Wirklichkeit, die sie schon viel zu lange verdrängt hatte. Sie brauchte einen Arzt, und zwar sofort.

Entschlossen stand sie auf und ging zum Telefon. Dort lag ein Zettel, auf dem die Handy-Nummer ihrer Mutter notiert war. Julia nahm den Zettel und das Telefon in die linke Hand, ging zurück ins Wohnzimmer und ließ sich vorsichtig auf dem Sessel nieder. Ein letztes kurzes Zögern, dann schaltete sie den Apparat ein und drückte auf die erste Zahl. Vermutlich würde sie Ärger bekommen, weil sie sich erst so spät meldete. Noch zwei Ziffern. Julia atmete tief durch, während sie sich die Worte, die sie sagen wollte, noch einmal sorgfältig zurechtlegte.

»Tock, tock!«

Julia zuckte zusammen. Was war das?

»Tock, tock, tock!« Das Klopfen kam eindeutig vom Terrassenfenster. Mailin? Sie schaltete das Telefon aus und stand auf, um die Laterne anzuknipsen, die Garten und Terrasse teilweise erleuchtete. Das plötzliche Licht scheuchte die Katze der Nachbarn auf, die sich mal wieder im Garten auf der Pirsch befand. Mit einem weiten Satz sprang das rot-weiß getigerte Tier in die Büsche und war nicht mehr zu sehen.

Ansonsten war der Garten leer. Nichts regte sich im Umkreis des weißen Lichtkegels, den die Lampe auf den Rasen und die geflieste Terrasse warf.

Wirklich nichts? Angestrengt spähte Julia zum überdachten Teil der Terrasse hinüber. Das Licht der Laterne reichte nicht ganz bis dorthin, sodass die Gartenmöbel im Schatten nur schemenhaft zu erkennen waren. Hinter dem Kaminholzstapel glaubte Julia einen hellen Fleck zu sehen. Mit klopfendem Herzen machte sie die Terrassentür einen Spalt auf.

»Mailin?« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Zu rufen traute sie sich nicht. Die Hoffnung, dass es Mailin war, die sich dort hinter dem Holz versteckte, erschien ihr einfach zu kindisch.

»Ich bin hier.«

Mailin! Es war Mailins Stimme! Julias Herz machte vor Freude einen Sprung. Ihre Freundin war wirklich gekommen! Das war fantastisch, unglaublich … Dann hatte sie also doch nicht geträumt. Schnell öffnete sie die Terrassentür ganz und winkte das Elfenmädchen herein.

»Du brauchst dich nicht zu verstecken«, sagte sie. »Es ist niemand hier. Ich bin allein.«

Hinter dem Kaminholzstapel raschelte es. Der helle Fleck wurde größer und bewegte sich langsam zwischen den Gartenmöbeln hindurch.

Schließlich trat ein gertenschlankes Mädchen mit weißblonden Haaren und heller Lederkleidung ins Licht der Gartenlaterne – Mailin!

»Hallo, Julia«, sagte sie in ihrem seltsamen Akzent und lächelte ihre Freundin an. »Wartest du schon lange auf mich?«

»Fast drei Stunden«, erwiderte Julia. »Und zwei Stunden hat es gedauert, bis du mir geantwortet hast. Aber das besprechen wir besser drinnen. Hier draußen könnte jemand zuhören. Außerdem kommen so viele Mücken ins Wohnzimmer.« Sie schlug mit der gesunden Hand nach einem der lästigen Blutsauger, der sich auf ihrer Wange niedergelassen hatte, und trat zur Seite, um Mailin Platz zu machen. »Oh Mailin«, sagte sie und schloss die Tür wieder. »Ich bin so froh, dass du gekommen bist. Ich fürchtete schon, ich hätte alles nur geträumt.«

»Hierherzukommen war …«, Mailin suchte nach den richtigen Worten, »… diesmal schwieriger als sonst«, sagte sie schließlich und ließ sich auf das Sofa fallen. »He, wie weich das ist!«, rief sie aus und strich mit der Hand bewundernd über das Velourspolster. »So etwas gibt es bei uns nicht.«

»Bei uns gehören Polstermöbel in jedes Wohnzimmer«, erklärte Julia. »Das ist …«

In diesem Augenblick ertönte die melodische Tonfolge des Telefons, das auf dem Couchtisch lag, und eine kleine rote Lampe blinkte auf Mailin rutschte schnell in die hinterste Ecke des Sofas.

»Was ist das?«, fragte sie misstrauisch.

»Unser Telefon. Bestimmt ruft meine Mutter an.« Julia griff nach dem Telefon und blickte auf das Display. »Stimmt, sie will sicher wissen, ob hier alles in Ordnung ist. Sei jetzt bitte ganz leise.« Sie legte den Finger auf die Lippen und nahm dann den Anruf entgegen.

»Julia Wiegand«, meldete sie sich. »Hallo, Mutti! – Ja, hier ist alles okay, mach dir keine Sorgen. – Nein, ich sehe noch ein bisschen fern und gehe dann ins Bett. – Klar, hab ich die Haustür abgeschlossen, und die Fenster sind auch alle zu. Meinst du, ich will mich von den Mücken zerstechen lassen? – Okay, viel Spaß noch. Tschüssi!« Julia drückte den roten Knopf und atmete hörbar aus. Warum musste ihre Mutter ausgerechnet jetzt anrufen? Sie war noch gar nicht dazu gekommen, mit Mailin zu sprechen, und wusste noch nicht, ob das Elfenmädchen ihr helfen konnte. Jetzt hatte sie ihrer Mutter vorgemacht, alles wäre in Ordnung. Wenn sich nun herausstellte, dass Mailin ihr nicht helfen konnte, würde es ganz schön peinlich für sie werden.

»Ihr Menschen besitzt ja doch eigene Magie«, stellte Mailin erstaunt fest und deutete auf das Telefon.

»Das ist keine Magie.« Obwohl es in ihrem Arm heftig pochte, schmunzelte Julia. »Das ist Technik – autsch!« Ein schmerzhafter Stich fuhr ihr plötzlich vom Ellenbogen bis in die Schulter hinauf und sie krümmte sich. Den rechten Arm mit der linken Hand festhaltend setzte sie sich in den Sessel, weil ihr schwindelig wurde, und versuchte die Tränen fortzublinzeln, die ihr in die Augen schossen.

»Ist es so schlimm?« Mailin war besorgt aufgesprungen und neben Julia getreten. »Ich habe vorhin nicht alles verstanden, was du gesagt hast. Nur so viel, dass du vom Pferd gefallen bist und dir vermutlich den Arm gebrochen hast.«

»Nicht nur vermutlich«, knirschte Julia mit zusammengebissenen Zähnen. »So wie der inzwischen wehtut, ist er hundertprozentig gebrochen.«

»Und warum suchst du nicht einen Heiler auf, der deinen gebrochenen Arm behandelt?«

»Ach, das dauert viel zu lange. Dann wird der Arm für Wochen eingegipst und ich kann eine Ewigkeit nicht reiten.« Julia schluchzte leise. »Außerdem sind am Sonntag die Mounted Games auf Gut Schleen. Da darf ich auf keinen Fall fehlen, sonst kann die ganze Mannschaft nicht starten.«

»Eingegipst? Was bedeutet das?«

»Da packen die Ärzte, oder Heiler, wie du sie nennst, den Arm so fest ein, dass man ihn nicht bewegen kann«, erklärte Julia. »Und es dauert lange, bis er geheilt ist. Deshalb hoffte ich, dass es bei euch schneller geht. Man sieht das hier manchmal in Filmen. Da werden Verwundete mit Hilfe von Elfenmagie schnell wieder gesund. Deshalb habe ich dich gerufen.«

»Nun, ich weiß zwar nicht, was Filme sind, aber es stimmt, dass wir gebrochene Knochen nicht wochenlang eingipsen.« Mailin grinste. »Ich habe mir vor vielen Jahren mal den Fuß gebrochen und konnte schon am nächsten Tag wieder reiten.«