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Sturm über dem Rheintal

– Die Erbin des Windes –

 

von Michael Erle

 

Dystopischer Roman

Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe

 

 

 

ISBN 978-3-946348-11-5

ISBN 978-3-946348-10-8 (Kindle E-Book)

ISBN 978-3-946348-09-2 (Print Ausgabe)

 

© Eridanus Verlag | Jürgen Hoffhenke

Hastedter Osterdeich 241 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Jana Hoffhenke

Umschlaggestaltung: Detlef Klewer

Satz | Gestaltung: Jürgen Hoffhenke

Kapitel 1

Niemals auseinander gehn

 

Mein Name ist Etienne. Ja, ich weiß, dass das ein Jungenname ist. Beschwert euch bei meiner Mutter.

Am Tag unseres Rendezvous zog ein Sturm auf. Graubraune Wolkenbänder strebten über den Himmel, so nah, als müsste man nur den Arm ausstrecken, um sie zu berühren. Kagi war überzeugt, dass er nördlich an uns vorbei geht. Aber Kagi irrt sich gerne mal. Ich konnte sehen, dass wir genau in der Bahn des Auges lagen. Also bestand ich darauf, zum Schutzraum zu gehen. Ich habe sogar spielerisch an Kagis Kette gezupft, um meiner Entscheidung Nachdruck zu verleihen. Er mag das nicht, die glänzenden Titanglieder sind nur schwer wieder in Form zu bringen, wenn sie einmal aufgerissen sind. Aber ich hatte keine Lust, so lange mit ihm zu debattieren, bis auch er einsah, dass wir nicht im Freien bleiben konnten. Manchmal muss ich eben für uns beide denken.

Wie üblich fuhren die Admins das Funknetz herunter, als die Windstärke EF4 auf der Enhanced Fujita-Skala erreichte. Kagi und ich saßen in der verschachtelten Betonröhre am Südhang des Kaiserstuhls, und wir steckten unsere Geräte weg, als wir die Meldung bekamen, dass die Verbindung eingestellt worden war. Über Satellit muss man wirklich nicht connecten. Zu langsam, die ganzen interessanten Dienste werden nicht angeboten. Lieber unterhielten wir uns.

Wir hatten beide unsere Brillen aufgesetzt, ich meine Mouche-Style mit dem verbeulten schwarzen Gazenetz, Kagi seine neuen Steampunks. Zum Glück war sonst niemand hier, vor allem keine Erwachsenen. Ich wäre eher gestorben, als Helm zu tragen, egal welche Regeln sie uns schon im Kindergarten für EF4 beibringen. Was keiner sieht, das bereitet keinen Ärger, und so konnten wir uns in Würde unterhalten ohne auszusehen wie zwei Türstopper. Doch zuvor musste ich meiner Mutter noch eine Nachricht schicken, wo ich bin und dass es mir gut geht. Kagis Eltern unterrichtete ich zur Sicherheit auch.

Also redeten wir. Oder vielleicht sollte ich sagen: Ich biss mir auf die Unterlippe und wartete, dass Kagi von sich aus etwas sagte. Ich lasse ihn manchmal kaum zu Wort kommen – aber ihm zuzuhören ist, als ob man durstig unter einem Eiszapfen liegt und mit ausgestreckter Zunge wartet, dass wieder ein Tropfen fällt. Er ist nicht verstockt oder unwillig. Er ist nur wirklich langsam, kein großer Redner.

Männer!

Das erste, was er erzählte, waren Geschichten aus der Arbeit im Rückbau/Recyclage-Shop. Kagi leistet einen Teil seiner Praktischen Dienste dort. Anfang der Woche war ein defekter Algenreaktor geliefert worden, ein tonnenschweres Ding aus Karbonstahl und Kunststoff. Seine Schäden waren nicht bekannt, und so mussten sie es in seine Einzelteile zerlegen. Nach jeder einzelnen Schraube, die Kagi löste, musste der Block wieder in den Nano/Bio-Scanner, damit sichergestellt war, dass nicht eine der Kulturen leckte oder depolarisierte Beschichtungspartikel frei wurden. Es würde noch Wochen dauern, bis der Reaktor auseinandergebaut war.

Erst als Kagi das alles geschildert und ich mein Verständnis für seine Frustration ausgedrückte hatte, kam er endlich zum interessanten Stoff. Offenbar hatte ihm eine von den Afrikanerinnen schöne Augen gemacht. Eine Gruppe von Neuankömmlingen war seit einer Weile schon im R&R, und wie üblich dürfen wir Praktiker sie einlernen. Wir können wenigstens ein bisschen mit ihnen reden, und ich meine nicht nur die Sprache – Swahili, Arabisch, Amahrisch, Yoruba. Birgül und ich haben mal unsere Vokabeln gezählt und sind auf 2.000 gekommen.

Natürlich suchen die ‘Kaner hier nach Freunden. Die Klügeren wissen, dass sie den Tunnelghettos nicht entkommen, außer sie heiraten einen von uns oder sind zumindest lange genug mit ihm zusammen, dass sie an der Oberfläche Kontakt finden, lernen, sich integrieren. Ein paar sind ganz nett. Aber alle haben einen an der Waffel. Ich schätze, wenn man sich bis hierher durchgeschlagen hat, Freunde und Familie auf dem Weg sterben sieht, dann kriegt man einen Schaden weg.

Sie hieß Nazyia, und obwohl sie es nicht wissen konnte, war sie nicht Kagis Typ. Das erkannte ich an der Art, wie er von ihr sprach – er erwähnte die Narben an den Armen, aber nicht die Figur, schilderte anerkennend, wie sie einen der schweren Träger gestemmt hatte, sagte aber nichts über ihre Schultern. Die Schultern sind immer wichtig für meinen Jungen, jedes Mal, wenn wir ein Mädchen treffen, dass einen langen Oberkörper und ein breites Kreuz hat, heißt es aufpassen. Aber wegen Nazyia musste ich mir keine Sorgen machen.

Mittlerweile wallte der Staub in großen, blumigen Wolken durch die Tunnelröhre. Die dumpfen Aufschläge von fliegenden Trümmern auf der Außenseite der Betonschale gingen im Geräusch des Windes unter. Wir drückten unsere Atemmasken dicht an Mund und Nase und kuschelten uns aneinander. Das Tosen des Sturms hat auf mich fast eine hypnotische Wirkung. Ich schlafe besser, wenn ich davon nicht völlig abgeschottet bin. Meine Mutter hat mir erzählt, dass mein Babybettchen immer an der Außenwand stand. Die schlimmsten Unwetter haben mich nicht geweckt, meine Eltern hatten nie die dunklen Sturmringe unter den Augen, an denen man sonst junge Väter und Mütter erkennt, wenn eine Orkanfront durchgegangen ist. Auch Kagi nickte ein, und so dösten wir, mein Kopf auf seinem Schoß, zwei Stunden lang.

Kagi weckte mich. Der Sturm hatte nachgelassen, das Heulen war beinahe verstummt und ich konnte keine Treffer auf unserer Betonmuschel hören. Wir konnten nach Hause gehen.

Wir ließen uns Zeit, bevor wir ins Freie traten, streckten uns, klopften den Staub aus Haaren und Kleidern. Kagi nahm sogar seine Brille ab und putzte sie. Seine Augen waren rot, er blinzelte. Ich hatte ungefähr ein Kilo Dreck in der Nase, die Schleimhäute fühlten sich an wie Hanfjute. Meine Schläfen pochten schmerzhaft. Wir tranken unser Wasser, dann warf ich einen Blick durch den verschachtelten Eingang des Schutzraums. Die Sonne schien; davor hatte ein Regenguss, der auf der Schleppe des Unwetters geritten war, den Staub aus der Luft gespült. Alle Farben glänzten wie ein neues Display.

Mit einem verlegenen Schulterzucken setzten wir unsere Helme auf. Die Phase haben wir hinter uns, wo wir aus reiner Bravade selbst die sinnvollsten Vorsichtsmaßnahmen missachten. Sollen sich die anderen Vierzehnjährigen den Schädel verzieren lassen – ich habe genug Narben, und Kagi braucht für sein männliches Aussehen mehr Kinn und ein paar Kanten, nicht Löcher in der Stirn. Trotzdem neckten wir uns gegenseitig ob des Anblicks, den wir boten.

»Käfer!« – »Cafard!« – »Lass uns mal eine Mistkugel rollen.«

Es ist komisch, ich habe noch nie einen Mistkäfer in Natura gesehen – Hunderttausend Videodateien und Images natürlich – und sicherlich auch kein anderer in E-Kirchen oder Fribourg. Aber weil die Metapher so gut passt, reden wir ständig darüber. Wir gehen mistkäfern. Faire le bousier.

Die Luv- und Leeseite von großen Windbremsen wie dem Schutzraum sind nach einem EF4 oder EF5 ein guter Ort, um Recyclage zu suchen. Windaufwärts bleiben die großen, schweren Trümmer zurück, die gegen die Außenwand krachen. Im Windschatten deponieren die Scherwirbel kleinere Teile auf einem Haufen, der wie eine schneckenförmige Düne geformt ist. Wir durchwühlten beides, vorsichtig, dass nicht ein instabil in der Höhe gelagertes Stück sich löste und uns traf. Deswegen sind die Helme hinterher genauso wichtig wie während des Sturms. Es gibt nichts Peinlicheres als eine Beule bei Windstille.

Wir machten unsere Rucksäcke voll mit den besten Stücken und gaben uns gegenseitig jeden Fund in die Hand, um ihn zu begutachten. Die nanobeschichteten Teile – Windräder, Flügel, Mechaniken, Antennenteile, Schutzkappen – sind an ihrer einheitlich grauschwarzen Farbe gut zu erkennen.

Man muss aber trotzdem genau hinsehen. Ich möchte nicht die Stelle verpassen, an der die kratzfesten Polymergewebe doch aufgebrochen sind. Man erkennt es deutlich, wenn der Zerfall erst einmal ein, zwei Stunden vorangeschritten ist; die purpurnen Farbpartikel, die zur Warnung vor genau diesem Schaden in den Fasern eingekapselt werden, sind auch mit dem bloßen Auge gut zu erkennen. Mit einer UV-Lampe kann man sogar kleinste, frische Kratzer sehen, die keine zwei Minuten alt sind. Aber wir hatten keine Lampe, wir mussten uns auf unsere Sinne verlassen, und auf einander.

Fünf Teile steckten wir in eine versiegelbare Klarsichttasche, weil sie uns merkwürdig vorkamen. War das Dreck, Lack oder das Signalrot eines Schadens? Sollten die im R&R sie identifizieren. Ich will nicht mit dreißig Nanokrebs kriegen. Was soll Kagi denn ohne mich machen? Außerdem habe ich Angst. Mein Vater hat den Krebs als das Schmerzhafteste beschrieben, was er je erlebt hat.

Deswegen war ich froh, dass Kagi die Tüte in seinen Rucksack nahm. Das ist nicht nobel von mir, schon klar. Aber ich war nie sehr mutig, und wenn man sich seine eigenen Schwächen nicht verzeiht, wie soll man dann die der Anderen ertragen?

Zusammen überprüften wir danach noch den Schutzraum auf Schäden und verdienten uns mit unserer Meldung darüber ein paar Karmapunkte in der Gemeinde. Der Bunker war natürlich unversehrt, für so alltägliche EF4 ist er ausgelegt, doch um den Sicherheitsprotokollen gerecht zu werden, hätte sich jemand auf den Weg machen müssen, um die Betonmuschel zu inspizieren. Jemand kann sich das jetzt sparen, und wir können uns das nächste Mal vielleicht davor drücken.

»Das Netz ist immer noch im Sturmmodus«, bemerkte Kagi missmutig, als er unsere Meldung eingab.

Ich warf einen Blick auf das Display meines Geräts. Tatsächlich stand nur das Symbol für den Satelliten im Einbindungsfeld, unser Funknetz schlummerte als »zu Sicherheitszwecken inaktiv« in der zweiten Ebene dahinter.

»Paranoide Bande!«, schimpfte ich. »Weit und breit kein Wind über 80 km/h, aber bestimmt gibt es irgendeine alte Richtlinie, die von den Admins mal wieder hyper-pingelig eingehalten wird. Wir dürfen dafür in der digitalen Provinz leben. Vielen Dank.«

Es wurde dunkel, als wir daheim ankamen. Schon einen Kilometer entfernt wies uns das Summen der Turbinen in der Dämmerung den Weg. Wir luden unsere Funde ganz unzeremoniell beim R&R ab.

Ich war hungrig, dreckig, und wollte endlich wieder vernünftigen Zugang haben. Die Glasfasern werden ja nicht abgestellt. Darum verabschiedete ich mich von Kagi, gab ihm das Ende seiner Kette zurück und wir umarmten uns.

Mama war noch nicht da, also machte ich mir Essen und legte die Füße hoch. Sie kam, als ich schlafen gehen wollte. Miley ist ein Eulen-Typ, gegen sieben Uhr abends wird sie richtig wach, und vor zwei Uhr geht sie selten ins Bett. Verkehrte Welt, ich bin um Mitternacht schon fertig mit dem Tag. Auch heute steckte sie noch voller Energie, fragte mich aus, erzählte von ihren Erlebnissen und brühte sich nebenher einen Kaffee. Erst als sie mir mit der dampfenden Tasse gegenüber saß und wir beide die bunten Lichtspiele unserer Displaywand genossen, kehrte ein wenig Ruhe ein. Mama blickte in ihre Tasse und erinnerte mich daran, dass heute Großvaters vierzehnter Todestag war.

»Er hat mir immer vorgeschwärmt, wie viel besser Kaffee damals geschmeckt hat, vor dem Braunen Fleck.«

»Ist das nicht immer so, dass den Alten die Sachen von früher besser vorkommen? Sie haben sich daran gewöhnt.«

»Vielleicht hatte er recht«, sinnierte Mama. »Kaffee war damals noch ein Naturprodukt …«

»Industrialisiert, chemisch behandelt, interkontinental transportiert«, merkte ich an. Ich kam mir sofort vor wie ein Idiot. Meine Mutter denkt an ihren Vater und ich komme ihr mit banaler Besserwisserei.

»Natürlich. Aber das hier«, meinte sie und schwenkte ihre Tasse, »ist synthetisches Koffein, Lebensmittelfarbe, Kräuterextrakt und Röstaroma von genetisch veränderten Zwiebeln.«

»Und warum trinkst du‘s dann?«

»Was soll ich denn sonst? Außerdem muss ich noch die Abschlüsse für die Bauabteilung machen.«

Sie würde also noch bis zum Morgengrauen am Schreibtisch sitzen und auf ihrem Tablet herumfingern. In der Früh dürfte ich dann auf Zehenspitzen mein Frühstück machen, essen, packen und auf dem Hinausweg die Tür hinter mir sanft ins Schloss schmeicheln.

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, entschuldigte Mama sich.

»Ich wollte das längst schon erledigt haben, aber es kam so viel dazwischen. Ich verspreche, wir stehen morgen gemeinsam auf und schauen uns den Sonnenaufgang an.«

Ich nickte und heuchelte Vorfreude. So recht daran glauben wollte ich jedoch nicht. Wann ist Mutter das letzte Mal wach gewesen, als die Sonne über dem Schwarzwald aufging?

Sie machte sich ein Abendessen aus Reis und Salat und wir redeten weiter über unsere Erlebnisse. Ich merkte, wie sie die Ohren spitzte, als ich ihr von Kagi und mir im Schutzraum erzählte, aber ich ging nicht darauf ein. Sie fragte nicht nach. Meine Mutter war, glaube ich, eine Wilde, und fürchtete, dass ich mich auch so entwickele. Das ist einer der Gründe, warum ich mein Sexleben für mich behalten würde, selbst wenn ich eins hätte. Ich will meine eigenen Erfahrungen machen; ich hasse das, wenn sie immer alles vorwegnimmt.

Als sie fertig war, entschuldigte ich mich und ging in mein Zimmer. Es ist nicht groß, aber es hat alles, was man braucht: Bett, Sitzsack, Bildschirm, Sofa, einen begehbaren Kleiderschrank und ein Waschbecken mit gut beleuchtetem Spiegel. Ich hatte an und für sich vorgehabt, im Netz noch ein paar von meinen Diensten zu machen, aber ich war nicht bei der Sache. Stattdessen plauderte ich in ein paar Projektgruppen, hörte Musik und holte mir Tipps für meine Schulaufgaben. Der Terminkalender versprach für morgen einen friedlichen Tag, die Wettervorhersage zeigte kein neues Sturmgebiet nördlich der Alpen, ich konnte mich in Ruhe hinlegen und schlafen. Ein bisschen ging sie mir schon durch den Kopf, meine Zeit mit Kagi. Ich mache mir wirklich wegen allem Sorgen.

Aber dann habe ich nicht einmal mehr gehört, wie Miley sich ihr zweites Abendessen holte.

Ob ich etwas geträumt habe, weiß ich nicht mehr. Es war ein hektischer Morgen, aus irgendeinem Grund dauerte alles ewig und ich geriet in Zeitnot, bevor ich auch nur meine Reiskekse fertig belegt hatte. Ich griff nach meinem Rucksack, der seit dem Abend zuvor unberührt in der Ecke hinter der Eingangstür gelegen hatte, stopfte meine Brotzeitdose und das Make-Up-Etui in die Seitentasche, rannte los und warf die Tür hinter mir ins Schloss. Ich war zehn Schritte weiter, als ich mich mit schlechtem Gewissen an meine schlafende Mutter erinnerte.

Ich bin gut in Form und kam deswegen auf dem Weg zur Aula nicht außer Atem. Nicht einmal zu den Letzten zählte ich, hinter mir kamen noch kleine Grüppchen von Teenagern, aber der große morgendliche Ratsch- und Tratschpulk hatte sich schon gebildet.

Kagi war da und unterhielt sich mit Vincent, den man sofort an den ewig gleichen schwarzen Sachen erkennt, die er trägt. Enganliegende matte Synthetikfasern, teuer und seit zwei Jahren aus der Mode. Er war aufgebracht; als er sprach, funkelten seine blauen Augen, die sehnigen Hände machten abgehackte Sprünge in der Luft. Kagi sah besorgt aus und massierte sich geistesabwesend die Nagelbetten. Ein deutliches Zeichen, dass ihn etwas beschäftigt. Ich ging zu den beiden und sagte Guten Morgen. Fast automatisch gab mir Kagi seine Kette in die Hand und murmelte dazu unser Mantra.

»Weil man sich an etwas bindet, ist man sicher.«

»Sicher ist nur der Wind. Aber was dich einfängt, fängt dich auch auf«, antwortete ich. Vincent sah uns aufmerksam zu, dabei sind Kagi und ich nun wirklich keine Neuigkeit mehr. Ich genoss die kurze Berührung trotzdem. Das Kettenende wickelte ich zweimal um meine Handfläche. Kagi hatte seines am silbernen Ring befestigt, der wie ein Türklopfer aus dem Leder seines Armbandes ragt.

Die beiden Jungs warfen sich einen prüfenden Blick zu, der wohl bedeutete, dass sie sich nicht sicher waren, ob sie vor mir das Thema fortführen konnten, das sie gerade so beschäftigt hatte. Ich fragte mich, was es diesmal wäre. Kagi muss meine Körpersprache gedeutet haben – ich habe ihm ja genug Gelegenheiten geboten, sie zu lernen, und für die nötige Motivation sorge ich regelmäßig; wozu habe ich ihn denn, wenn nicht um mir dann und wann einen Wunsch von den Augen ablesen zu lassen – und er klärte mich schnell auf.

»Das Netz ist immer noch weg. Das dauert jetzt schon so lange, muss ein Defekt sein.«

Vincent hielt sein Gerät in die Höhe, als hätte nicht jeder eines. Demonstrativ zog ich mein eigenes aus der Tasche und blickte darauf. Tatsächlich, keine Veränderung gegenüber dem Vortag, aber ein Hinweis auf Wartungsarbeiten.

»Weiß irgendwer, wie lange …?«

»Nein, keiner ist dazu gekommen zu fragen.«

»Unser schöner Knoten«, jammerte Vincent. Ich verstand nicht ganz, was er meinte.

»Geh halt auf die Glasfaser«, schlug ich vor.

»Du verstehst nicht. Der Sturm muss unseren WIT/HTC Dharma 3.17 geschrottet haben. Wenn der nicht mehr zu richten ist …«

»Außerdem weißt du doch, wie lange es dauert, bis die Techniker mal zu uns kommen. Wochen, wenn wir Glück haben.«

Langsam begriff ich die Aufregung. Der 3.17 ist ein Quell unseres Lokalpatriotismus, so wie vor hundert Jahren der Wein vom Oelberg in Ehrenkirchen. Es gibt in ganz Europa noch ein Dutzend Dharma 3.17, allesamt aus der Zeit vor dem Großen Braunen Fleck. Die Herstellerfirmen in Taiwan und Indien sind damals natürlich bis auf ein paar internationale Tochtergesellschaften untergegangen, und seitdem werden nur noch die billigen Scandissons oder namenloser Ramsch aus dem Osten verbaut. Unser Dharma war schneller als alles andere, ein kleiner Lichtblick in unserem tristen Alltag.

Ich übertreibe natürlich. Ein Funknetzwerk ist nicht das Wichtigste auf der Welt. Aber der Gedanke behagte mir nicht, dass wir in Zukunft in den Klagechor der enttäuschten Nutzer einstimmen, die auf den modernen Netzwerkknoten minimale Übertragungsraten haben, hohe Fehlerquoten und Downtime, Downtime, Downtime.

»Wir überlegen, ob wir uns heute vielleicht auf die Suche machen«, offenbarte mir Vincent auf einmal.

»Nach einem weggeblasenen Funkmast?«

»Nur nach der Antenne. Ich habe mir die Wetterdaten von gestern angesehen.« Wieder hielt er sein Gerät hoch. Ich erkannte auf dem Display bunte Strömungskarten. »Es ist ziemlich klar, wo das Ding hingeflogen ist.«

»Außerdem hat es ja seinen Resonanzchip, der sich orten lässt, wenn man nah genug ist«, erklärte Kagi.

»Du meinst, du kannst dir einen Scanner aus dem R&R leihen?« Ich verstand jetzt, warum die beiden die Köpfe zusammengesteckt hatten. Vincent war sich sicher, das Suchgebiet eingrenzen zu können, Kagi kam dank seines Praktischen Dienstes im Rückbau/Recyclage Bauhof leicht an Werkzeug und Arbeitsmittel wie einen Funkscanner. Verloren gegangene Bauteile zu suchen und zu bergen ist quasi seine Hauptaufgabe. Es war eine zweckdienliche Gemeinschaft, um die Bergung zu organisieren. Damit war ich allerdings das fünfte Rad am Wagen. Ich hatte keine Lust, wie ein dummes Mädchen hinterher zu trampeln. Das sagte ich ihnen.

»Na dann macht mal. Ich bleib hier und arbeite was von meinen Diensten weg. Dann habe ich im Sommer frei.«

Kagi war offenbar enttäuscht von meiner Entscheidung. Nun, dachte ich mir, hofiert zu werden hat auch etwas für sich. Vielleicht, wenn er sich ein wenig Mühe gab, käme ich doch mit. Er muss das nämlich dringend üben.

In diesem Augenblick schlug es Acht und die Umstehenden wandten sich in Richtung der Bühne, wo Bürgermeisterin Depierre Platz nahm. Sie ist mit ihren sechzig Jahren eine sehr gelassene Frau, die vierhundert Augenpaare, die sie fixierten, schienen sie nicht zu stören. Nun, es ist für sie Routine.

Erwin Jack war noch immer für die Musik zuständig, und zusammen mit Janzer, Zabal und Upenyu am Rhythmus stimmten sie unser Eröffnungslied an. Wir alle sangen mit. »Wir wollen niemals auseinander gehn.« Insgeheim dachte ich, es wäre an der Zeit für ein anderes Stück. »Auseinander« war jetzt schon sechs Wochen lang der Einstieg in das tägliche Planungstreffen. Außerdem hatten Erwin und seine Band das Arrangement geändert. Es klappte nicht so recht, ich wusste nie, wo wir waren oder wie der Takt lief. Ich war erleichtert, als es vorbei war.

Eine picklige Zwölfjährige hatte für diesen Tag die Moderation bekommen, was den Morgen auch nicht besser machte. Sie hatte sich zwar offenbar gut vorbereitet, die Tipps und FAQ gelesen, und sie war auch in der Lage komplette Sätze zu bilden. Aber sie klang wie ein Roboter und machte keinen einzigen Witz.

Mechanisch ratterte sie die Neuigkeiten herunter: was für Sturmschäden an den Häusern entstanden waren, welche Gruppen sich bei der Reparatur Karmapunkte verdient hatten. Sie las einen Bericht über zwei gebrochene Dämme auf den Reisterrassen vor, die Nachricht, dass es einen Verletzten gegeben hatte. Drei ‘Kaner waren aufgenommen worden (sie wurde von einem Zwischenruf unterbrochen, dass das »Flüchtlinge aus Afrika« hieße), die es offenbar bis hier oben geschafft hatten, ohne erwischt zu werden (»Aufgenommen!« Besserwisserei!). Die Namen, Bilder und Profile seien in die Gemeindeseite eingegeben. Ich wollte sie mir nebenbei ansehen, gab es aber auf, als die lahmarschige Satellitenverbindung gefühlte zehn Minuten für den Aufruf brauchte. Ich hoffte, dass Kagi und Vincent erfolgreich sein würden.

 

Es hat dann doch nicht lange gedauert, bis ich mich der Suche nach dem verschwundenen Knoten angeschlossen habe. Vincent und Kagi mögen die richtige Idee gehabt haben, selber was in die Hand zu nehmen, ist immer der beste Weg, aber unpraktisch wie Jungs manchmal sind, hatten sie bis zum späten Nachmittag noch nicht mal einen Plan. Als ich Kagi fragte, wann sie denn aufbrächen, ob er sich den Sensor schon besorgt habe und ob sie sonst noch Kollaborateure hätten, antwortete er nur mit beiläufigem Gebrummel. Er treibt mich manchmal auf die Palme. Mir war klar, dass meine beiden Helden von selbst nicht in Gang kämen. Ich ging eine Weile mit dem Gedanken schwanger, es alleine zu machen.

Was mich davon abhielt, weiß ich auch nicht mehr so genau. Vielleicht war es die Vorstellung, mir die Ausrüstung zusammensuchen zu müssen und Kagi den Sensor abzuschwatzen, woraufhin er sicherlich würde mitkommen wollen, was mir auch nicht Recht war.

Es wäre geradezu ein Akt der Nötigung meinerseits. Er kann mich ja kaum alleine losziehen lassen. Wenn ich es vermeiden kann, schubse ich ihn nicht so offensichtlich herum. Es könnte meine Attraktivität für ihn erheblich mindern, wenn er mich als Ersatz-Mutter betrachtet oder, schlimmer noch, als nörgelnde Ehefrau. Wir alle versuchen in diesem Alter doch, von unseren Eltern weg zu kommen, uns nicht mehr alles sagen zu lassen.

Den Ausschlag zu meiner Expedition nach dem WIT/HTC Dharma 3.17 hat dann aber Tico Peart gegeben. Ich musste eine seiner Sessions verpassen, und – lacht nicht – das hat mir wirklich weh getan. Jeder hat seinen Lieblingsdienst, und meiner sind eben die täglichen Percussion-Jams. Tico hat sich dafür sogar Bandbreite und Serverkapazität von seiner Gemeinschaft organisiert, was wieder einmal zeigt, dass man auch aus dem dümmsten System manchmal etwas Gutes herausschwindeln kann.

Physisch sitzt Tico in Chile, in einem der Andentäler weit im Süden, die von dem Schlimmsten verschont bleiben. Er ist so um die Vierzig, dunkelhaarig, manchmal etwas unrasiert, aber mit männlichen, kantigen Wangenknochen und vollen Lippen. Ich bin ihm nie von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden.

Seine Sitzungen fangen immer – wie er es nennt – à la Chilena an, also zu spät. Er hat um die hundert Zuschauer. Die meisten sind auch in westlichen Ländern, ganz einfach, weil in Asien alle schlafen. Für mich ist es spät, aber Miley drückt ein Auge zu. Allerdings stellt mich der nächtliche Termin vor Probleme. Ich kann daheim nicht so viel Krach machen, nirgends in Ehrenkirchen. Meistens gehe ich raus in einen der Schutzräume außerhalb. Die Akustik ist ziemlich mies, die Betonwände hallen und echoen, es wird dadurch schwer den Rhythmus zu halten. Aber ich hänge ein paar Decken um mich herum auf, dann geht es besser.

Tico gibt Schlagzeugunterricht. Nein, das stimmt nicht ganz, er leitet eine weltweite Percussiongruppe, die sich von ihm was abschaut. Er ist wirklich fantastisch, sitzt in seinem kleinen Keller hinter sieben, acht Bongos, Toms, Becken und dann und wann auch einer Djembe oder Tabla. Seine Hände können wirbeln wie Blätter im Wind, seine Tightness ist immer perfekt. Ein paar seiner regelmäßigen Fans machen sich die Mühe, sein Spiel durch den Sequencer laufen zu lassen und sich die Frequenzen anzuschauen. An schlechten Tagen weicht er mal um zwei Prozent vom Takt ab. Er ist ein Drummer-Gott, und ich eine fromme Gläubige.

Wir jammen zusammen. Ich höre ihn über meine In-Ears und spiele mit. Meine Ausrüstung ist nicht so beeindruckend. Ich habe eine Bongo und zwei Toms, aber Tico schlägt immer vor, sich einfach alles zu greifen, was rumliegt und gut klingt. Um die Schutzräume herum findet man immer was Passendes, und manchmal – wenn à la Chilena mal wieder ganz besonders ausgeprägt ist – sammle ich klingende Trümmer und baue sie um mich herum auf als große Percussion. Eigentlich zu viel – ich kann das alles gar nicht ausnutzen, ohne das Tempo zu verschleppen – aber es macht einfach Spaß, von links nach rechts in einer großen Drum Roll alles durchzuklopfen. Das traue ich mich aber nur, wenn ich allein bin. Sobald die Communauté zuschaut, und vor allem Tico, bleibe ich brav und beherrsche mich.

Ich bin stolz, dass er mich beim Namen kennt, und jedes Mal eine Minute oder zwei bei mir reinhört, bevor er seinen Kanal einem der anderen widmet. In den Sekunden habe ich das Gefühl, dass wir wirklich zusammen spielen – ich höre ihn, er hört mich, wir gehen aufeinander ein, werfen uns gegenseitig Figuren und Rhythmen zu, experimentieren, kommentieren ohne Worte, geben sie zurück. Ich bin mir sicher, dass ich jedes Mal rot anlaufe wie ein kleines Mädchen, und hoffe, dass das düstere Licht im Bunker das verbirgt.

Jetzt wisst ihr, was ich verpasst habe, und warum ich mich trotz meiner ersten Weigerung doch dazu entschieden habe, mit Kagi und Vincent zu gehen. Denn ohne unseren WIT/HTC Dharma gibt es auch keine Verbindung im Bunker, die leistungsfähig genug wäre.

 

Als ich meine Trommeln in die Tasche packte, prüfte ich wie üblich die Wetterwarnung auf meinem Gerät – und sah das hässliche Symbol blinken, das den fortdauernden Ausfall unseres Knotens anzeigte. Mit einem Mal wurden mir die Arme und Beine schwer wie ein regengetränkter Wollpulli. Ich konnte mich nicht bewegen – wollte es nicht. Ich war niedergeschlagen wie nie zuvor in meinem Leben, ich war sogar, in einem kleinen, versteckten Winkel meiner Seele, überrascht davon, wie intensiv meine Gefühle sein konnten. Es gab mir richtig physisch einen Stich in der Brust.

Miley kann, glaube ich, Gedanken lesen. Ich schwöre, ich habe keinen Ton von mir gegeben, trotzdem tauchte sie unvermittelt auf, sie war zur Stelle, um mich zu trösten. Das war gut. Ich brauchte eine Schulter zum Anlehnen, und Kagi wohnt ja am anderen Ende von Ehrenkirchen. Sie fragte mich, was mir denn auf der Seele lag, und machte einen Vorschlag, für den ich sie hätte küssen können.

»Vielleicht kannst du dieses eine Mal im Keller spielen. Über unser Festnetz. Kannst du irgendwie leiser trommeln?«

»Ja, ich kann Reed Sticks nehmen.«

»Und ich rede mit den Jamesons und den Isahas. Unter Nachbarn muss man manchmal Fünfe gerade sein lassen.«

»Ich schulde dir was, Mama.«

»Regelmäßig aufräumen wäre gut«, sagte sie und kicherte.

Sie ging Klinkenputzen bei unseren Nachbarn, und ich baute mein Kit im Keller auf. Während ich auf den Beginn der Videokonferenz mit Chile wartete, überlegte ich, wie ich beim nächsten Mal zu meiner Session kommen sollte. Es half wohl nichts; der WIT/HTC Dharma musste wieder her. Ich entschied, entgegen meinem Vorsatz, doch mit Kagi und Vincent zu gehen. Doch dann füllte sich das Konferenzfenster auf dem Bildschirm mit Leben, Ticos bärtiges Lächeln sah mir entgegen, und nach seiner Begrüßung und dem Einzählen ging ich ganz in der Musik auf.

 

Hinterher haben wir geredet, Mama und ich. Über nichts und alles, aber sie hat nebenbei einfließen lassen, dass man manchmal Enttäuschungen hinnehmen muss, und manchmal verzichten. So wie sie es dargestellt hat, sogar ziemlich oft. Ist das nur Elterngerede, oder wird das wirklich so sein, wenn ich erwachsen bin? Klingt nicht verlockend.

»Sehr oft können wir das nicht mehr machen«, warnte sie mich. »Die Laura schläft zur Zeit nicht so gut.«

»Wegen der Zähne?«

»Kleine Kinder haben halt so Phasen. Ich fürchte, du musst dir was einfallen lassen. Vielleicht kannst du nächstes Mal auf was Leisem spielen? Es gibt doch so E-Drums, die gehen über Kopfhörer, oder?«

Ich nickte, aber eher würde ich mir die Hand abhacken als so ein Ding zu benutzen. E-Drums sind wie fettfreie Schokolade. Ich muss einfach etwas unter meinen Händen haben, was schwingt, was lebt, ich brauche das Feedback. Die digitalen Trommeln sind ungefähr so befriedigend wie ein Bild von einem Glas Wasser. Ganz abgesehen davon, dass ich es mir nicht leisten kann. Ich muss doch schon bei den Verwandten betteln gehen, wenn mir ein Fell reißt und ich ein neues kaufen muss.

Aber Miley hatte Recht. Ich musste etwas unternehmen.

 

Kagi ließ sich seine Begeisterung nicht anmerken, als ich ihm am nächsten Morgen noch vor dem großen Treffen – auch Almauftrieb genannt, aber nur unter uns – meine Entscheidung verkündete.

»Wir sind noch nicht so richtig weiter gekommen«, war sein erster Kommentar. Ich verkniff mir eine Bemerkung und versuchte konstruktiv zu bleiben.

»Woran hakt es denn?«

»Vincent meint, er ist mit den Berechnungen noch nicht so weit.«

»Du meinst, wohin es den WIT/HTC Dharma geblasen hat?«

Kagi nickte.

»Und du? Mit dem Scanner?«

»Ich hab noch nicht danach gefragt«, meinte er verschämt. Auf meinen fragenden Blick ergänzte er mit vorgetäuschter Leichtfertigkeit: »Vincent hat gesagt, ich soll noch nicht. Bis er soweit ist.«

»Findest du es schlimm, wenn ich mich einbringe? Ich will nämlich schon, dass wir das zusammen schaffen.« Damit sicherte ich mich ab, damit es nachher nicht hieß, ich hätte mich ihnen aufgedrängt – was ich natürlich vorhatte, weil mir aus Kagis Schilderung schon klar war, wie schnell die beiden Helden voran kämen: nämlich gar nicht. Es gibt eben Leute, die sind schlau, und manche sind zuverlässig, haben aber keine Initiative. Damit habe ich Vincent und Kagi als Paar ganz gut beschrieben. Wenn man denen einen Gefallen tun will, nimmt man sie bei der Hand.

»Nein, gar nicht. Jeder Helfer macht das Team stärker«, beteuerte mein Mann. Was hätte er auch sonst machen sollen. In dem Augenblick ging unser Morgentreffen los und wir unterbrachen unser Gespräch. Ich hatte unsere Kette an diesem Morgen noch nicht bei ihm eingehakt und holte das jetzt wortlos, aber mit eindringlichem Blick nach. Ich bekam ein ganz warmes Gefühl, das anhielt. Irgendwie hat mich an dem Morgen sogar unsere leicht angestaubte Hymne gerührt.

Hinterher war zu viel los, sodass wir erst kurz vor Aufbruch zu unseren Diensten dazu kamen, die Bergung des Knotens zu besprechen.

»Organisier du doch den Scanner. So früh wie möglich. Ich kümmere mich um den Rest, und sag Vincent Bescheid«, bat ich Kagi. Er nickte und drückte meine Hand zum Abschied.

An dem Tag hatte ich erst drei Stunden Sortierdienst und drei Stunden Schule. Ich hätte am Nachmittag nochmal zwei Kurse für die ‘Kaner machen sollen, aber nach ein paar Nachrichten mit unserem Projektleiter Gustave konnte ich sie wegtauschen. Ich hätte lieber einen Weg gefunden, mich vor dem Sortieren zu drücken, aber das R&R-Zentrum ist nicht so flexibel. Vermutlich darf ich bis zum Ende meines Lebens verbogene Turbinenblätter sortieren, oder zumindest bis meine Augen schlecht werden.

Mir ist die stupide Arbeit dort zuwider. Drei Stunden lang nichts anderes zu tun, als durch meine Schutzbrille zu glotzen wie ein Goldfisch im Glas, Müllstück um Müllstück in der gummiversiegelten Hand hin und her zu drehen, ob nicht irgendwo der purpurne Fraß der Depolarisierung nagt, die Guten nach Zustand, Größe, Material und Bauteil zu ordnen, die Schlechten in die Unterdrucktonne fallen zu lassen, als wären sie haarige schwarze Spinnen – und giftig sind sie ja, deswegen der ABC-N Overall, in dem ich aussehe wie ein toter Fisch – hinterher die Druckluftdusche und der zweifache Gang unter den Nano-Sniffer, einmal vor und einmal nach dem Ablegen der Schutzkleidung, und jedes Mal die Enge im Hals, als würde mir eine Metastase ganz plötzlich die Luft abschnüren, ganz egal, ob es die hunderttausendste Entwarnung in der Geschichte unserer R&R ist. Bisher hatten nur zwei Sortierer überhaupt jemals einen Alarm ausgelöst.

Beide leben noch, krebsfrei, beide schauen zum jährlichen Weinfest vorbei und lassen sich ganz demonstrativ sehen, als gäbe es die Statistiken gar nicht, nach denen sie längst tot sein müssten.

Mein Vater hat nie in der R&R gearbeitet und ist trotzdem krank geworden. Jeder Windstoß draußen kann den einen fatalen Partikel enthalten, der sich in der Lunge anlagert, das Gewebe mutieren lässt, einen Tumor hervorruft. Zehn Prozent sprechen auf die Therapie nicht an, im Schnitt lebt das Opfer dann noch sieben Monate. Zwei Drittel aller Menschen sterben an Krebs, und wer ihm erliegt, ist im Durchschnitt nur fünfundvierzig Jahre alt.

 

Ich weiß leider deprimierend gut Bescheid über den Nano-Krebs. Ich habe immer noch Albträume vom Sterben meines Vaters, und eine Zeitlang habe ich alles förmlich verschlungen, was ich zum Thema finden konnte. Sogar die Aufklärungspräsentationen vom Gesundheitsamt.

Und ich hatte eine Weile lang echte Probleme mit Panikattacken. Ich war in Therapie, hab Medikamente genommen, und auch heute steckt ein Röhrchen mit Pillen in meinem Rucksack, für Notfälle. Seit drei Jahren habe ich das hinter mir, aber es gab Zeiten, da wäre ich fast am Leben verzweifelt. Auslöser für meine Attacken war der Wind, immer der Wind. Das ist nicht irrational, es hat schließlich seinen Grund, dass schon die Kindergartenkinder Sturmtrainings und Schutzraumübungen haben. Die meisten Menschen haben gelernt, damit umzugehen, mir hat es ja auch nichts ausgemacht, die ersten elf Jahre meines Lebens.

Mittlerweile bin ich wieder so weit, dass ich das Geräusch des Windes beruhigend finde. Nur dann und wann legt es in mir einen Schalter um, und ich gerate in Panik. Wovor? Ich habe begriffen, dass meine Ängste nicht die vor irgendwelchen Luftbewegungen sind, und auch nicht die vor den Nanopartikeln, die darin fliegen, nicht einmal die Krankheit und das Leiden sind es, was mich die Kontrolle verlieren lässt. Der Grund ist meine eigene Sache, und ich habe noch nicht einmal mit Kagi darüber geredet.

Ich fürchte mich nicht mehr vor dem Wind, aber das heißt nicht, dass ich die Arbeit in der R&R an diesem Tag schätzte. Die Stunden zogen sich in die Länge. Als ich am späten Vormittag endlich fertig war, kam ich mir vor wie nach einem Zehn-Stunden-Arbeitstag, mit klebrigen Augen und wummerndem Schädel.

Ich war nicht in bester Laune, als ich Vincent auf seinem Gerät erreichte.

»Was gibt’s?«, fragte er kurz angebunden.

»Ich rufe an, um die Suche nach dem Knoten zu planen. Kagi bringt den Scanner mit, ich übernehme die Ausrüstung. Sag mir doch, was du brauchst.«

»Ich bin nicht fertig. Wir können noch nicht los. Ich sag dir Bescheid«, bockte er. Das war mir im Vornherein schon klar gewesen, und ich hatte mich darauf vorbereitet. Ich hätte das Ganze auch diplomatischer angehen können, aber wie gesagt war ich an diesem Tag ungeduldig.

»Okay«, meinte ich nachdenklich. »Das verstehe ich. Hast du was dagegen, wenn ich Simon Kaywinnit mit ins Boot hole?«

»Wen?«

»Kaylee«, ergänzte ich den Spitznamen, unter dem Simon allgemein bekannt ist. »Ich weiß, dass er sich nächstes Jahr für den Meteorologie-Zweig bewerben will, und da käme ihm die Referenz zu Gute.«

»Besser nicht«, murmelte Vincent. Platzhirsche hassen Nebenbuhler, egal ob es um Frauen oder Technik geht. »Hör mal, können wir das nicht unter uns belassen? Kagi und ich, wir sind ein eingespieltes Team.«

»Ich werde sicher nicht daheim rumsitzen, während ihr die ganze Arbeit macht. Außerdem habe ich Kagi schon versprochen mitzukommen. Wir könnten heute noch los, dann haben wir es hinter uns. Kagi und ich, wir sind fertig. Ich bin mir sicher Kaylee kann auch schnell …«

Ich ließ den Satz unvollendet. Vincent hatte sicher verstanden.

»Na gut, ich sehe zu, was sich machen lässt. Sag einfach Kagi, er soll mir eine Nachricht schicken, wann wir aufbrechen, ja?«

»Mach ich. Und ich lasse dir gleich eine Projekt-Einladung zukommen, für deine Ausrüstung. Schreib einfach rein, ob dir was fehlt.«

Wir verabschiedeten uns, und ich verbrachte die nächsten fünf Minuten damit, auf dem erbärmlich langsamen Netz ein Team-Projekt für Vincent, Kagi und mich einzurichten und zu konfigurieren. Neben den üblichen Dingen – Helme, Brillen, Wasser, Essen, Gepäck – plante ich auch noch ein paar Werkzeuge ein, die mir sinnvoll erschienen. Einen Heber, eine Säge, eine Markierungsfackel und ein Seil. Der Arbeitspark konnte uns alles zur Verfügung stellen. Dann prägte ich mir noch die Lage der Bunker in der Gegend der defekten Funkanlage ein, warf einen besonders gründlichen Blick auf die vorhergesagte Bahn des nächsten Sturmtiefs und fügte die beiden Jungs als Projektteilnehmer hinzu. Ihre Geräte würden ihnen in den nächsten Sekunden eine entsprechende Nachricht und meine Anfragen übermitteln, damit wir uns koordinierten.

Dann ging ich in die Schule.

Kapitel 2

The wind blows hard against this mountainside

 

Im Nachhinein scheint es fast albern, aber es stimmt. Am Nachmittag, bevor wir drei zu unserer schicksalsträchtigen Expedition aufbrachen, mit all ihren ungeahnten Auswirkungen und den turbulenten, ja erschreckenden Folgen, hab ich mich im Klassenzimmer zu Tode gelangweilt. Adana und ich unterhielten uns, um nicht einzuschlafen, in der Fingersprache. Ich kann mich nicht mal mehr erinnern, was wir an dem Tag durchgenommen haben. In meinem Kalender steht unser Tutor Beavis, der üblicherweise Naturwissenschaften macht, dann eine Stunde Sprachen mit Emma Ganim und schließlich der übliche Communauté-Workshop mit Bürgermeisterin Depierres Mann Samuel. Aber in meinem Kopf? Gähnende Leere. Manchmal verstehe ich, warum Miley sich Sorgen um meine Zukunft macht.

Das erste, woran ich mich erinnere, ist, dass ich gleich nach Schulschluss auf mein Gerät geschaut habe, um zu prüfen, wie unser Projekt vorankam. Kagi und Vincent, gar nicht faul, waren bereit zum Aufbruch und hatten den Treffpunkt verlegt, den ich vorgeschlagen hatte. Vincent schien klar stellen zu wollen, dass er das Heft in der Hand hielt. Sollte mir recht sein. Ich würde mich beeilen müssen, dafür hätte ich aber eine gute Ausrede, warum ich das Werkzeug aus dem Arbeitspark nicht hatte holen können. Die beiden müssten mich wohl oder übel dorthin begleiten, und wenn ich dann nicht in der Lage wäre, die schwersten Stücke meinen beiden starken Männer aufzuschwatzen, dann wäre ich mein doppeltes X-Chromosom nicht wert und sollte meine großen braunen Augen gleich wieder beim Heiligen Petrus abgeben. Oder bei Gaia, bei Jungfrau/Kriegerin, Mutter und Greisin. Sucht es euch aus.

Ich rannte durch die Gemeinde, kam schwitzend und keuchend am unteren Streetballplatz an, auf den die beiden sich als Treffpunkt geeinigt hatten. Doch von Vincent und Kagi keine Spur.

Es ging nur wenig Wind an diesem Nachmittag, und so öffnete ich meinen Anorak und drehte mich wie ein Segel in die Brise, um zu trocknen, damit ich nicht völlig durchnässt und stinkend von meinem Schatz in den Arm genommen würde. Ich schloss die Augen und genoss das Gefühl, das sanfte Streicheln der Luft auf meinem Gesicht, ihr Fahren durch meinen Bürstenschnitt.

Für die meisten ist der Wind eine lästige Alltagserscheinung, immer und überall gegenwärtig, manchmal gefährlich, bisweilen unbestrittener Herrscher unseres Lebens. Wenn der Große Braune Fleck über die Elfenbeinküste in den Atlantik braust, seine Ausläufer und Satellitenstrudel an den Alpen zerbersten und Sturmfronten das Rheintal hinunter stürzen, dann wagt sich keiner vor die Tür. Ob man arm ist oder reich, alt oder jung, stark, schwach, schwarz, gelb, weiß – keiner kann hinaus aus dem Bunker, alle kauern unter der Erde im OLED-Schein, hoffen oder beten, dass nicht gerade ihnen ein Stück vom Hauptmassiv auf das Dach geschmettert wird.

Der Sturm kommt, und wir verkriechen uns. Er geht, und wir krabbeln nach oben hinauf, leben unsere Tage im ständigen Wind. Wir stellen unsere Uhren und Kalender nach dem nächsten Zyklus. Siebzehn Tage bis der Fleck wieder an unseren Längengraden vorbei zieht. Siebzehn Tage haben wir, um die Trümmer wegzuräumen, die Schäden zu beheben, um zu arbeiten und zu ernten. Was an der Oberfläche wächst, nehmen wir hinab, wenn uns der Braune wieder in die Tiefe zwingt. Es ist ein bisschen wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter, nur kürzer.

Es gibt Geschichten von denen, die zur Fleckenzeit draußen waren. Viele Jungs machen das zum Zeichen dafür, wie knallhart sie sind. Ein paar Wirrköpfe haben sogar einen Fetisch daraus gemacht, ideologisch, religiös, sexuell oder einfach weil ihnen fad ist. Fünf Stunden nach der Sturmwarnung nicht im Bunker zu sein, bedeutet schon ein Risiko.

Ein Mal blieb ich mit einer Freundin vor der Tür, als das Warnhorn schon getönt hatte. Der Wind nahm zu, und mit jeder Minute kamen wir uns wilder vor, verrückter. Ich musste auch immer dringender aufs Klo. Als dann ein Stück von einer Windturbine die Straße hinunter geblasen wurde und krachend in den Hauseingang gegenüber einschlug, haben wir uns schnell in unser betonverstärktes Heim verkrochen. Selbst die Leichtsinnigsten sind nicht so dumm, zur schlimmsten Zeit im Freien zu bleiben. Heute bin ich von solchen Anwandlungen kuriert.

Ich konnte die beiden kommen hören, denn sie näherten sich vom R&R, das ja windaufwärts vom Streetball liegt. So hatte ich genug Zeit, meine Kleidung wieder in Ordnung zu bringen, meine Brille aufzusetzen und mich nonchalant an die Korbwand zu lehnen, meine kleine, leichte Tasche wie zufällig neben meinem Fuß drapiert. Wenn die beiden gleich sahen, dass ich das Werkzeug nicht bei mir hatte, kamen sie hoffentlich von selber auf den Gedanken, den gemeinsamen Gang zum Arbeitspark vorzuschlagen. Vincent war vielleicht zu wenig Kavalier dafür – das ist ein altes Wort, sucht euch die Definition und lernt was davon – und Kagi ist bei allem guten Willen manchmal etwas langsam. Eine Frau kann also nicht zu wenig subtil sein.

Ich sah mir die beiden an. Vincent wirkte nicht, als könnte er körperlich belastende Aufgaben erfüllen. Schmächtig, seine langen, geraden Glieder in merkwürdigen Winkeln vom Körper abstehend, bewegte er sich wie ein zerberstender Baum, ein faltbarer Schirm, ständig knickten seine Gelenke irgendwo unkoordiniert ab. Der Scheitel seiner blonden Haare fiel ihm ins Gesicht, verdeckte die klingenartig dünne Nase, die Pockennarben auf den Wangen und ein paar rote Pickel auf der Stirn. Miley sagt, Jungs in unserem Alter wachsen sich noch aus, aber ich glaube einen hübschen Mann erkennt man schon in der Pubertät. Vincent war keiner.

Er hatte einen flachen Rucksack aus schwarzem Polyesterstoff mit gepolsterten Taschen dabei. Ich kenne solche Gepäckstücke als Aufbewahrungsort für besonders ausgefallene Geräte und Elektronik-Werkzeug, das empfindlich ist und beim Transport beschädigt werden könnte.

Kagi ist einen Kopf kürzer und hat damit die ideale Größe für mich. Wenn ich vor ihm stehe, kitzelt ihn mein Pony in der Nase. Er ist auch kein klappriges Wesen wie Vincent, sondern hat einen sehr verlässlichen Körperbau. Muskeln und Masse, aber kein Bäuchlein oder so. Seine Augen sind fast hellblau, dunkle Locken fallen ihm tief in die Stirn, weswegen er draußen meistens eine Kappe oder seinen Helm trägt. Ich dagegen kann das nicht ausstehen, wenn meine Haare so lang werden, dass der Wind sie mir ins Gesicht weht.

Mein Mann hat volle Lippen und angewachsene Ohrläppchen, raue Finger mit Dreck in der spaltigen Haut von der Arbeit im R&R und von seinen Hobbys. Er liebt Gärten, er liebt Bauprojekte, er liebt Maschinen. Wir ergänzen uns prächtig – ich bin nicht so gut mit der Technik und kann mit Setzlingen nicht viel anfangen – aber trotz unserer unterschiedlichen Interessen müssen wir auch Zeit zusammen verbringen. Zusammen sein. Dafür sorge ich.

Kagi hatte stabile Schuhe mit griffigem Profil angezogen, trug eine widerstandsfähige Jacke mit zahllosen Innen- und Außentaschen. Ich konnte mir sicher sein, dass er für jede Situation das richtige Gadget dabei hatte, und dazu noch ein paar, die wir im Leben nicht brauchen werden. Einmal habe ich ihn mit einer Okarina erwischt, die er an einer Schnur um den Hals trug. Er hat mir bis heute nicht gesagt, wozu er sie braucht. Kagi macht keine Musik.

Wir sagten »Hallo« und gingen los in Richtung des Arbeitsparks. Ich spielte mit dem Gedanken, Kagi um seine Kette zu bitten, aber wenn wir schweres Gepäck tragen müssen und in unwegsamem Gelände unterwegs sind, wäre sie hinderlich. Ich hielt eine Weile lang seine Hand, während Vincent uns klar machte, wer das Sagen hätte.

»Die Daten vom Sturm gestern sind eigentlich banal«, spottete er. Ich ärgerte mich über seine Überheblichkeit. »Eigentlich eine völlig vorhersehbare Leeströmung, ein Wirbel, der sich von 730-N-BK abgespalten hat«, wiederholte er, was wir mit einem Blick auf unsere Geräte selber hätten recherchieren können. »Sie ist über die Rheinebene in nordöstlicher Richtung gekommen, hat da schon viel von ihren Trümmern verloren, aber dafür noch ein bisschen Geschwindigkeit gesammelt – die kalte, trockene Luft von den Alpen hat sie angefacht – und ist dann auf den Staufenhügel getroffen. Der WIT/HTC Dharma stand auf der Ostseite. Ich habe«, hob er seine Stimme und sein Gerät, ein aufgemotztes Ding, wie man es von einem Mathefreak erwarten würde, »ein paar Algorithmen aus der Klimaforschung angewandt und getweakt, damit sie unseren Verhältnissen besser entsprechen.« Sein Ton war beiläufig, als führte er einen Mikrofontest durch. »Wir haben ein Gebiet von 2,4 Quadratkilometern, auf dem unser heiß gesuchter Knoten liegt, mit P gleich Komma Sieben Neun.«