Die Bäume
und das
Unsichtbare

Ernst Zürcher

Die Bäume
und das
Unsichtbare

Erstaunliche Erkenntnisse
aus der Forschung

AT Verlag

INHALT

Einleitung: Eine Wissenschaft des Lebendigen – des Sichtbaren und des Unsichtbaren

Drohende Verwüstung

Das Unsichtbare

Was Sie in diesem Buch erwartet

Heilige Bäume und Baumvölker – das Beispiel der Eibe

Beziehungsebenen

Die ältesten Eiben

Megalithische Kultstätten

Die Kultur der Kelten und ihre Spuren in der Ortsnamenkunde

Mythologische Überlieferung

Das Wissen der Druiden

Eine fürchterliche Waffe

Hin zu einem tieferen Verständnis

Strukturen und ihre Entstehung

Das Geheimnis der Riesen in Raum und Zeit

Organische Substanz: Entstehung aus dem Unwägbaren

Die verkannte Seite der Fotosynthese

Nadelbäume und Laubbäume: Ursprüngliche Einfachheit gegen moderne Vielfalt

Die Anatomie des Holzes: Ein Wunder der Architektur und Kohärenz

Funktionale Annäherung

Bauplan des Holzes: Spiegel unsichtbarer Organisationsebenen

Polarität und Spiralität

Polarität: Ein wichtiger Grundbegriff für das Verständnis des Pflanzenwachstums

Spiralform und die Goldene Zahl

Ausgangspunkte für die Entfaltung von Leben

Der menschliche Körper: Ein Gründungsmythos und der Blutstrom

Chronobiologie

Die Biologie der Rhythmen

Das Säen und Pflanzen im Einklang mit den Mondphasen

Keimung und Initialwachstum bei Bäumen

Ein reales Phänomen wird zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung

Holz: Tradition und Fakten

Fällzeitpunkt und Holzeigenschaften

Folgen und Ausblicke

Bauen mit Holz

Feuerholz und Holzfeuer

Geheimbotschaften

Gerüche und ihre Wirkungen

Waldklima, Arvenholz und die menschliche Physiologie: gesunde Schlaf- und Lebensqualität

Bäume und Wälder sprechen uns an

Fruchtbare Partnerschaften

Die nachhaltige Bewirtschaftung und die Funktionen des Waldes

Besonderheiten bei der Zersetzung verholzter organischer Substanz

Die Nutzung von Nicht-Holz-Produkten der Bäume

Der immaterielle Wert von Lebewesen

Verschiedene Gehölzformationen innerhalb von Agroforstsystemen

Biodiversität und ihre Entwicklung in der Kulturlandschaft

Bäume mit einbeziehen

Dank

Quellenverzeichnis

Stichwortverzeichnis

(Zeichnung D. Dellas)

Der moderne Mensch ist krank,

er hat keine Wurzeln –

weder in der Erde

noch im Kosmos.

Der moderne Mensch ist krank,

er hat keine Wurzeln –

weder in der Vergangenheit,

denn er weiß nicht mehr, woher er kommt,

noch in der Zukunft, denn er hat keine

Vision mehr, die ihn trägt.

Der Baum, dieser Riese in Raum und Zeit,

Quelle des Lebens und ewiger Freund, wartet …

… dass der Mensch anhält und zu ihm sagt:

»Bleibe, der du bist!

An dich will ich mich anlehnen und

mit dir gemeinsam weiterschauen.«

EINE WISSENSCHAFT DES LEBENDIGEN – DES SICHTBAREN UND DES UNSICHTBAREN

Was sind Bäume für uns? Sind es einfach nur dekorative, wenn auch beeindruckende Elemente unserer äußeren Umwelt? Sind es manchmal sogar lästige Nachbarn, die eine Bedrohung für den reibungslosen Ablauf des Lebens in unseren Städten und für den Autoverkehr darstellen? Oder stehen sie nicht doch in einer zwar weniger sichtbaren, aber doch direkten und untrennbaren Verbindung zu den elementarsten und unmittelbarsten Bereichen unseres Lebens – sowohl in Bezug auf den ganz großen Rahmen, den Planeten Erde, als auch auf unsere individuelle Physiologie, unser psychisches Gleichgewicht und sogar unsere geistige Entfaltung?

Verlassen wir einmal unseren Alltag, unsere gewohnten Denkbahnen und entschließen wir uns dazu, die Welt mit neuen Augen zu sehen: staunend. Begeben wir uns auf die Suche mit der Unvoreingenommenheit unserer kindlichen Seele, um die Welt zu erkunden, zu verstehen, zu formen und aus ihr einen Ort zu machen, an dem sich die gesamte Fülle des Lebens entfalten kann.

Und fangen wir mit den Bäumen an.

Wann haben wir das letzte Mal einen Baum wirklich angeschaut? Die Frage erscheint zunächst banal und die Antwort darauf kommt mehr oder weniger prompt: »Auf meinem Weg zur Arbeit, beim Blick auf die dreistämmige Eiche, die über dem Park an der Straße thront.« Die Sache wird ein wenig komplizierter, wenn wir uns fragen, ob es sich dabei wirklich um ein Hinschauen handelt. Sicher, das ist mehr als ein einfaches Sehen – ein Vorgang, an dem wir nur in minimaler Hinsicht aktiv beteiligt sind –, aber es hat noch nichts mit Beobachten zu tun, jener Aktivität, der eine genaue Fragestellung zugrunde liegt.

Wie wäre es, wenn wir beim Betrachten eines Baumes, eines dieser außergewöhnlichen Lebewesen, dem Blick die Rücksicht hinzufügen? Wenn wir dieses Wesen einladen, vollständig in unserem Bewusstsein Platz zu nehmen? Falls wir uns diese Fähigkeit aus der Kindheit erhalten haben, führt das sehr schnell zum Staunen. Durch die Bäume entdecken wir eine Vielzahl an Dingen, die wir noch nicht verstehen.

In dem Moment, wo aus dem Staunen Fragen entstehen, hört es auf, ein unbestimmtes Gefühl zu sein, und führt uns weiter. Also zum Beispiel: Was ist der entscheidende Unterschied zwischen einem Baum und einer krautigen Pflanze? Wie alt und wie hoch kann ein Baum werden? Welche Rolle spielt er für das Klima auf der Erde?

Das Staunen kann auch technische Aspekte betreffen: Wie ist der Baum aufgebaut, dass er Wind, Schnee und Parasiten Widerstand leisten kann? Wie kann er die Krone mit Wasser versorgen, wo doch alle Flüssigkeiten (und alle festen Elemente) der Schwerkraft unterliegen? Wie schafft der Baum es, die Schwerkraft einfach so zu überwinden?

Es ist auch fragendes Staunen angebracht, wenn wir uns selbst und unser Verhältnis zu Bäumen betrachten: Warum haben wir sie in unserer Kindheit so geliebt, wollten immer auf sie hinaufklettern, in ihrer Krone ein Baumhaus oder einfach im Wald zwischen den alten Stämmen eine Hütte bauen? Ist es nicht ein ganz besonderes Gefühl, wenn man an einem heißen Sommertag einen Wald betritt? Warum nennen wir diese riesige Pflanze in der Sprache Goethes »Baum«, in jener von Rousseau »Arbre« und in der von Shakespeare »Tree«? Woher kommt es, dass der Baum in so vielen alten Kosmologien einen zentralen Platz einnimmt?

Die Ursprünge des Wortes

Forscht man nach den Quellen des Wortes tree, der englischen Bezeichnung für den Baum, eröffnen sich ungeahnte Horizonte. Im westlichen Nordatlantik, bei den Isländern, heißt der Baum tré; auf Gälisch, der Sprache, die geografisch als Nächste kommt, heißt er derw. Historisch gesehen führt die Reise uns weiter nach Süden und Osten: derv auf Bretonisch, drzewo auf Polnisch, derevo auf Russisch, dervo auf Bulgarisch, dru auf Albanisch, drûs (»Eiche«, »Baum«, »Holz«) auf Altgriechisch, taru auf Hethitisch, derakht auf Persisch, taru auf Sanskrit, der früher auf dem indischen Subkontinent gesprochenen Sprache, die dem Ursprung aller indogermanischen Sprachen nahe ist.

Wir erweitern die Fragestellung: Wann haben wir zum letzten Mal einen Baum berührt, gefühlt – in dem Wissen, dass der Tastsinn uns mehr als alle anderen Sinne von der physischen Existenz eines Wesens oder einer Sache überzeugt und uns auf eine subtile Art Auskunft über deren momentanen Zustand oder die Konsistenz gibt? Wann haben wir zum letzten Mal einen Baum gerochen, seinen Duft geatmet? Wann haben wir zum letzten Mal einem Baum zugehört? Hatten wir vielleicht schon einmal die Idee, einen Baum auf andere Art als durch seine Früchte zu schmecken?

Und warum sollten wir uns schließlich nicht fragen: Wann haben wir zum letzten Mal einen Baum gezeichnet? Haben wir schon einmal von einem Baum geträumt und warum? Erinnern wir uns noch an den ungewöhnlichen Duft des Waldbodens unter dem Dach der Bäume?

Biologen, Physiologen, Botaniker, Forstwissenschaftler und Bioingenieure haben es sich zur Aufgabe gemacht, über Naturphänomene zu reflektieren, sie in Experimenten nachzustellen und zu verstehen zu versuchen. Aus ihren Entdeckungen entstehen manchmal nützliche Anwendungsmöglichkeiten. Pädagogen, Psychologen und Mediziner konnten dabei feststellen, dass das menschliche Wohlbefinden mit den Bäumen und dem Wald in unerwartet vielfachen Beziehungen steht, von denen man bisher noch nichts ahnte. Meteorologen und Klimaforscher schließlich sind von einer Entdeckung fasziniert, die Bäume und Wald in einem anderen Licht erscheinen lässt: Wolken-Saatgut.

Wolken-Saatgut

Wälder lösen ihre eigenen Niederschläge aus. Ob über dem tropischen Regenwald im Amazonasgebiet oder über nördlichen, borealen Nadelwäldern: Die Bildung von Wolken und der daraus entstehenden Niederschläge wird von einer Art »Saatgut« ausgelöst, das aus Mikropartikeln organischen Ursprungs besteht. Bäume geben gasförmige Substanzen und flüchtige organische Verbindungen an die Luft ab. Unter dem Einfluss von Licht unterliegen sie einer fotochemischen Kondensation und wirken schließlich als »Kondensationskerne«, an denen sich Wolken bilden. Einen ähnlichen Effekt haben Pilzsporen, Pollen und mikroskopisch kleine pflanzliche Zersetzungsprodukte, die ebenfalls an die Atmosphäre abgegeben werden. (PÖSCHL et al. 2010)

Bäume und Wälder: Sie säen und sie ernten Wolken. (Foto A. Hemelrijk)

___ Drohende Verwüstung

Die Fakten, die von der Wissenschaft ermittelt wurden, geben Anlass zu kalten Schweißausbrüchen angesichts der dramatischen Leichtfertigkeit, die die Menschheit in ihrem Umgang mit der Natur im Allgemeinen und mit den Bäumen im Besonderen bis jetzt an den Tag gelegt hat. Tatsächlich erfordert ein neues Verständnis der großen hydrologischen und geoklimatischen Kreisläufe auf unserem Planeten zwingend ein Umdenken in Bezug auf die Funktionen, welche die großen Wälder dabei erfüllen. Daraus ergibt sich der absolut notwendige Schluss: Sie müssen entweder intakt erhalten werden (dadurch werden der traditionelle Lebensraum und der herkömmliche Umgang mit Pflanzen und Tieren durch autochthone Völker respektiert) oder nur in Form einer sanften Waldbewirtschaftung genutzt werden, bei der ihre Struktur und ihre Vielfalt bewahrt bleiben. Dies kann nur durch gut ausgebildetes und kompetentes Personal erfolgen. Im Übrigen müssen die Wälder, die schon verschwunden sind, dringend neu aufgeforstet werden.

In seiner Beschreibung der geoklimatischen Rolle des Amazonaswaldes weist Peter Bunyard, Redakteur der britischen Zeitschrift »The Ecologist«, auf das neue geoklimatische Modell hin, das Victor Goshkov und Anastassia Makarieva von der Abteilung für Theoretische Physik des Instituts für Nuklearphysik in Sankt Petersburg entwickelt haben. Die Analyse der Klimadaten und der hydrologischen Daten führt sie zu der Feststellung, dass am Ursprung des Wasserkreislaufs nicht die bewegten Luftmassen stehen, wie es das bisher allgemein anerkannte Modell postuliert. Vielmehr sind es die Wechsel zwischen den verschiedenen Phasen des Wassers in der Atmosphäre über den Wäldern, die die Fortbewegung der Luftmassen erzeugen. Tatsächlich benötigt Wasser eine beträchtliche Menge an Energie, wenn es im Bereich des Waldes verdunstet: 600 Kalorien pro Gramm verdunstetes Wasser. Es ist Energie, die bei der Kondensation und Bildung von Regen in der höheren Atmosphäre als Wärme wieder freigesetzt wird. Die extreme Sonneneinstrahlung in der Nähe des Äquators kann dort nur dank dieser Ökosysteme absorbiert werden, die eine große Biomasse darstellen und viel Wasser enthalten. Parallel dazu bewirken die unterschiedlichen Geschwindigkeiten der beteiligten Prozesse von Kondensation (schnell) und Evapotranspiration (langsam) eine Differenz des Luftdrucks, die einen Sogeffekt auslöst. Die Evapotranspiration ist die globale Wasserabgabe von einer bepflanzten Fläche, zusammengesetzt aus der Evaporation (Verdunstung) durch die Bodenoberfläche und der eigentlichen Transpiration durch die Pflanzen, die eine überwiegende Rolle spielt. Somit funktioniert der Amazonaswald für das Wasser wie ein großes Herz (»biotic pump«): Die Luftmassen des Atlantiks werden angesogen und mit Wasser angereichert; sie durchlaufen über dem Wald ungefähr fünf bis sieben Evapotranspirations-Niederschlags-Zyklen, die von Osten nach Westen ziehen, steigen an den Anden schließlich auf und werden nach Norden (Golfstrom) oder Süden (Argentinien) weitergeleitet. Auf diesem Weg entstehen warme Regenfälle in Breiten, die weit vom Äquator entfernt sind. Man kann die tropischen Wälder also als diejenigen Elemente der Biosphäre ansehen, die gleichzeitig das Funktionieren und die Stabilität der großen geoklimatischen Kreisläufe gewährleisten.

In einem seiner jüngsten Artikel vom 2. März 2015 beschreibt Peter Bunyard in »The Ecologist« einen Versuchsaufbau unter Laborbedingungen, mit dem das Modell einfach und quantitativ ausgewertet werden kann. Dabei zeigt er auf eine Art, die nicht mehr diskutiert zu werden braucht, den ursächlichen Prozess der Kondensation, teilweiser Luftdruckabsenkung und Luftzufuhr.

Das Amazonasbecken, heute noch das »klimatische Herz der Erde«, droht zur Wüste zu werden

Wälder können Niederschläge nicht nur auf lokaler Ebene recyceln, sie bewirken auch den Transport von Feuchtigkeit aus der Atmosphäre über den Ozeanen in das Innere der Kontinente. Dies beruht auf dem wiederholten Kreislauf von Evapotranspiration und Kondensation (wie in der Zeichnung von rechts nach links dargestellt ist). Die Kenntnis dieser Zusammenhänge führt uns zu einer neuen Bewertung der natürlichen Wälder und zu dem Schluss, dass sie für das Funktionieren der Wasserkreisläufe auf der Erde dringend erhalten werden müssen. Die aktuelle Situation ist in diesem Zusammenhang vermutlich viel kritischer zu sehen, als man sich bisher vorgestellt hat. Tatsächlich schätzen manche Experten, dass der Amazonaswald nicht weiter als »Klima-Herz« funktionieren könnte, sobald die Grenze von 70 Prozent seiner ursprünglichen Fläche unterschritten wird. Die Gefahr besteht in den großflächigen Kahlschlägen. Sie bewirken eine Durchlöcherung der bisher geschlossenen natürlichen Waldflächen, die sehr viel Wasser enthalten – man weiß, dass es hier kaum zu spontanen Bränden kommt. Die Frontseiten der Rodungen sind der starken Sonnenstrahlung ausgesetzt; die hier freigelegten Bäume trocknen aus. Somit können Waldbrände ausgelöst werden, die sich selbst erhalten, sich immer schneller ausbreiten und letztendlich unkontrollierbar werden. Sollte diese Tendenz weiter bestehen, droht auf längere Sicht eine dramatische fortschreitende Wüstenbildung im bislang vitalsten Ökosystem auf unserem Planeten (MAKARIEVA et al. 2014). In Indonesien und in Malaysia haben diese Vorgänge infolge großflächiger Waldrodungen zugunsten von Palmölplantagen schon große Verwüstungen angerichtet.

(Zeichnung D. Rambert)

___ Das Unsichtbare

Die vorangehenden Erläuterungen stellen die Bäume und die Wälder ins Zentrum der Funktionen des Organismus Erde. Daraus geht hervor, dass der Baum der Hebel ist, an dem wir Menschen ansetzen können, um vitale Funktionen unseres Planeten zu erhalten oder sogar wiederherzustellen.

Warum nun aber Bäume mit dem Unsichtbaren in Verbindung bringen? In Hinblick auf diese für uns augenscheinlich imposantesten Lebewesen der Erde mag das paradox klingen. Eine jedermann zugängliche innere Beobachtung zeigt jedoch, dass das Unsichtbare tatsächlich fest mit unserer unmittelbaren Realität verbunden ist, mehr noch: Es ist Bestandteil bei der Verarbeitung dieser Realität. Ziehen wir uns für einen Augenblick von der Alltagsroutine zurück und stellen wir uns die Frage: Wie entsteht in uns das, was wir als Realität bezeichnen?

Wir können davon ausgehen, dass wir es einerseits mit unmittelbaren Gegebenheiten von außen zu tun haben, die von unseren Sinnesorganen als Reize und zudem als unbestimmte innere Gefühle weitergeleitet werden; auf der anderen Seite steht unser Denken. Unsere Sinneswahrnehmungen sind zunächst immer nur bruchstückhaft und noch nicht durch die verbindende Aktivität unseres Denkens zusammengefügt. Ohne aktive Beteiligung des Denkens – ein von Natur aus unsichtbarer Vorgang – können wir die Welt nicht verstehen. Der Akt des Denkens stellt die ursprüngliche Einheit wieder her, da sich die Natur nicht selbst erklärt, sondern nur durch das Denken erklärt, verstanden werden kann, was Aufgabe der Wissenschaft ist.

In dem 1990 erschienenen Buch »Les Mirages de la Science« (Die Täuschungen der Wissenschaft), das derzeit aktueller ist denn je, demonstriert Pierre Feschotte, Chemie-Ingenieur, Doktor der Physik und seinerzeit Professor an der Universität Lausanne, auf überzeugende Art, wie wichtig die Rolle des Denkens ist. Vorausgesetzt, wir lassen uns auf das Spiel ein. Feschotte bedient sich einer geometrischen Figur und führt uns Schritt für Schritt dazu, unsere innere Aktivität dabei zu beobachten, wie sie Wahrnehmung und Denken zusammenbringt, um zu einer Synthese zu gelangen.

Feschotte liegt auf einer Linie mit Johannes Kreyenbühl (1846–1929), Professor der Philosophie an der Universität und der ETH Zürich, der wiederum zu ähnlichen Beobachtungen und Erkenntnissen kommt, wie sie später Rudolf Steiner (1861–1925) in seinen Schriften über den Prozess der Erkenntnis auf der Grundlage innerer Erfahrungen beschreibt. Die Bedeutung, die dem Unsichtbaren par excellence, nämlich dem Denken, zukommt – ob man will oder nicht – lässt sich noch auf andere Weise beschreiben. Zitiert sei hier ein Aphorismus, der Rudolf Steiner zugeschrieben wird: »Selbst der Materialist ist dazu gezwungen, sein Denken zu nutzen, um zu beweisen, dass das Denken nicht existiert.« Wäre nämlich alle Erkenntnis von äußeren Vorgängen abhängig, so könnte man nie zu einer Wahrheit gelangen und diese Aussage selbst müsste somit auch als nicht verifizierbar angesehen und deshalb konsequenterweise abgelehnt werden. Wer sagt, dass man die Wahrheit nicht erkennen könne, muss dies auch auf diese seine eigene Aussage anwenden und im wissenschaftlichen Diskurs schweigen.

Durch unser Denken kann die aus sechs Segmenten auf das Papier gezeichnete Figur als Gebilde im Raum gesehen werden, als Tetraeder, dessen Spitze nach oben ausgerichtet ist und die senkrechte Kante nach vorn. Ebenfalls durch unser Denken können wir daraus einen Tetraeder machen, dessen Basis nach oben, dessen Spitze nach unten zeigt und bei dem die waagerechte Kante vorn liegt. Es hängt von der Intensität unserer Konzentration ab, ob wir die eine oder die andere Variante sehen. Analog dazu kann man darüber hinaus zwei verschiedene Pyramiden mit unregelmäßiger Basis »sehen«.

Somit kann auf anschauliche Weise und anhand der eigenen Aktivität festgestellt werden, dass das Denken die in der Wahrnehmung fehlenden Zusammenhänge herstellt. Vgl. auch Abbildung Seite 23.

Die Infrarot-Fotografie (unten) ist im Vergleich zur Fotografie auf der Basis von sichtbarem Licht allein eine neue Methode der Wahrnehmung, mit deren Hilfe sich die großartige Aktivität von Bäumen zeigen lässt. Analog entwickeln sich mithilfe des Denkens neue Konzepte beziehungsweise finden sogar Paradigmenwechsel statt, die neue Seiten der Realität offenlegen, die bis dato nicht gesehen wurden. (Fotos A. Hemelrijk)

Das Denken ermöglicht es uns, Bäume als Lebewesen (Organismen) zu erkennen und beispielsweise zu begreifen: Im Gegensatz zu krautigen Jahrespflanzen sind sie mehrjährig. Das Denken ermöglicht uns auch, in der unentwirrbaren Menge von Wahrnehmungen, wie wir sie angesichts eines Wäldchens erfahren, eine Hecke zu erkennen, in der sich manche Bäume als Hochstämme entwickelt haben. Schließlich ermöglicht es uns, dank der Kenntnis typischer Artmerkmale die Baumarten voneinander zu unterscheiden. Der Vergleich als Mittel zur Erkenntnis ermöglicht uns außerdem (etwa in der Zeichnung von D. Dellas, unten), Motive zu erkennen, die sich wiederholen. Man könnte sich fragen, ob solche Unterscheidungen nicht bereits empfunden werden. Genauer betrachtet ist es jedoch so, dass eine Empfindung an sich noch keine Erkenntnis ist; sie muss zunächst innerlich beobachtet und durch unser Denken eingeordnet, mit Begriffen ausgestattet werden. Erst dann ergibt sich ein aktiver Erkenntnisgewinn.

Diese Vorgehensweise zeugt von der fundamentalen Bedeutung, welche die klare Unterscheidung von Struktur und Funktion für die Wissenschaft hat. Sichtbar ist nur eine Struktur, während eine Funktion nur vom Denken erfasst werden kann. Nehmen wir hierfür den Baum als Beispiel: Um in ihm einen Vertreter der organischen Welt zu erkennen, müssen wir mithilfe des Denkens zuerst erfasst haben, was die organische Welt im Vergleich zur anorganischen Materie auszeichnet. Um zu erkennen, dass es sich bei ihm um eine mehrjährige und nicht um eine krautige einjährige Pflanze handelt, müssen wir erst mithilfe des Denkens den Unterschied zwischen einem Jahr und einem Jahrzehnt oder einem Jahrhundert verstanden haben. Um in ihm eine große Struktur zu erkennen, die physikalisch im Boden, physiologisch aber im Himmel verwurzelt ist, müssen wir eine ganze Reihe von Auffassungen wie »Größe«, »Physik«, »Erde«, »Physiologie« und »Himmel« beherrschen.

___ Was Sie in diesem Buch erwartet

In Hinblick auf diese Zusammenhänge können wir nun einen kurzen Überblick über die Kapitel dieses Buches geben und Fragestellungen erwähnen, um die es im Weiteren gehen soll:

 Zwischen Menschen und Bäumen bestehen ungewöhnliche Verbindungen, die oft in Vergessenheit geraten sind. Die Rolle, die »heilige Bäume« spielen, öffnet ein Fenster auf unser Inneres, auf das Rätsel der Archetypen und des kollektiven Gedächtnisses. Was ist eine Zauberwelt? Woher haben wir einen Sinn für Sakrales?

 Die Schönheit und die perfekte Funktionalität der Strukturen versetzen unser Inneres in Staunen. Das führt uns zu den eigentlichen Fragen, die uns betreffen und auf die wir echte, authentische Antworten geben können. Der Baum ist ein ideales Beispiel für diese Vorgehensweise, bei der man vom Ganzen ausgeht, um zu einem Verständnis der Einzelteile zu kommen. Mittels einer funktionalen Annäherung an die Anatomie zum Beispiel ist der Organismus sinngebend für das Organ, und das Organ ist sinngebend für die Zelle. Es geht darum, zu verstehen, wie im Verlauf der individuellen Entwicklung, aber auch in der gesamten Evolution Strukturen und Funktionen ständig interagieren.

 Was die Physiologie anbelangt, ist bekannt, dass die Fotosynthese die Quelle der organischen Substanz und des Sauerstoffs ist. Weniger bekannt ist, dass es sich dabei um »neuen« Sauerstoff handelt, der bei der Spaltung von Licht und Wasser entsteht. Kaum jemand weiß, dass die Fotosynthese auch die Quelle neuen Wassers ist, das zu einem Teil aus dem Sauerstoff des Kohlenstoffdioxids, das aus der Atmosphäre aufgenommen wird, besteht. Welche Tragweite haben diese gleich drei Neubildungen tatsächlich?

 Es lohnt sich, zwei biologische Grundprinzipien am Beispiel des Baumes näher zu untersuchen: die Polarität und das Auftreten von spiralförmigen Strukturen (Spiralität). Bäume führen uns so in die faszinierende Welt der Pflanzen ein, in der Zahlen und Geometrie als Grundprinzipien allgegenwärtig sind. Über die Strukturen hinaus unterliegen auch physiologische Bewegungen ähnlichen Gesetzen; sie dienen als Inspiration für neue Biotechnologien. Auch hier erwartet uns, wie immer, das Staunen!

 Man kann Bäume auch als »die Menschen des Pflanzenreichs« sehen, die uns helfen, den Herzschlag der Welt zu spüren – in uns und außerhalb von uns. Durch das Bewusstsein, derselben Welt anzugehören, können wir unsere inneren Rhythmen wiederfinden und neue Kräfte sammeln. Haben nicht erst vor Kurzem Chronobiologen des Basler Universitätsspitals (CAJOCHEN et al. 2013) die Entdeckung gemacht, dass unser Schlaf stark von der Rhythmik der Mondphasen geprägt ist? Solche Zusammenhänge lassen sich auch bei unserem Hormonsystem beobachten: Melatonin, auch »Schlafhormon« genannt, ist ein sehr wirksames Antioxidans, das nachts von der Zirbeldrüse abgegeben wird, die direkt hinter den Augen liegt. Dieses Hormon steuert den Regenerationsprozess und seine Konzentration verdoppelt sich in der Phase um den Neumond gegenüber dem Zeitraum um den Vollmond.

 Anlass zum Staunen geben Bäume nicht nur hinsichtlich ihrer Struktur und ihres Wachstums, sondern auch in Bezug auf das Material, aus dem sie gebaut sind: dem Holz. Wie bei der Chronobiologie beobachten Wissenschaftler auch hier Schwankungen bei den Eigenschaften dieses Bio-Werkstoffs, die im Verhältnis zum Fälltermin zwar subtil erscheinen, sich auf lange Sicht aber doch entscheidend auf seine Qualität bei der Verwendung auswirken können. Wir haben hier also ein Material, das bisher als »tot« angesehen wurde, aber die typischen Eigenschaften des Lebendigen aufweist. Das führt uns dazu, das »transdisziplinäre« Wissen der Vorfahren ernst zu nehmen und davon ausgehend auch Arbeitshypothesen für eine Methodik integraler Forschung zu formulieren, die alle Seiten der Realität mit einbezieht.

 Eine weite, unsichtbare und doch reale Welt eröffnet sich unseren Sinnen jenseits von Sehen und Fühlen. Ein Geflecht aus Wechselwirkungen bildet ein subtiles Gewebe zwischen allen Lebewesen. Kommunikation und Empathie gewinnen an Bedeutung und wir verstehen den Ausruf des Dichters: »Alles spricht. Und nun, Mensch, weißt du, warum alles spricht? Hör gut hin. Weil Winde, Wellen, Flammen, Bäume Schilf, Felsen, alles lebt! Alles ist voller Seelen.« (Victor Hugo in »Les Contemplations«)

Der Baum lässt einen Teil des Unsichtbaren, aus dem er gemacht ist, durchscheinen und Gestalt annehmen. (Foto A. Hemelrijk)

 Schließlich wird eine neue Partnerschaft zwischen Mensch und Baum möglich wie auch zwischen Land- und Waldwirtschaft. Der erste Schritt hierzu besteht darin, Mensch und Natur nicht mehr grundsätzlich als Antagonisten zu begreifen. Durch konkrete, wohl überlegte Maßnahmen können auch wir zu einem Teil der Biodiversität werden (oder wieder werden). Dies steht im Gegensatz zu der Auffassung, die Natur könne ihre Authentizität nur wiedererlangen, indem der Mensch sie sich selbst überlässt. Doch Solidarität und Zusammenarbeit können über dem ausschließlichen Wettbewerb stehen. Auch hierfür ist der Baum ein gutes Beispiel, findet doch zwischen Wurzeln und sie umschließenden Mykorrhiza-Pilzen ein gegenseitiger Austausch statt, in dem sie einander ergänzen und beide Seiten profitieren. Was die zukünftige Vorgehensweise anbelangt, so muss die Interdisziplinarität (bei der Akademiker und Forscher »unter sich« bleiben) durch Transdisziplinarität ersetzt werden: Die akademischen Disziplinen müssen den Dialog mit Künstlern und Trägern traditionellen Wissens aufnehmen, von deren Erfahrungen und Denkweisen sie sich bisweilen keine Vorstellung machen können.

Drei Arten, auf die man die gleiche Figur mit dem Denken erfassen und daraufhin sehen kann. Links: Die senkrechte Kante liegt vorn; Mitte: Die waagerechte Kante liegt vorn. Rechts: Die Spitze der Pyramide zeigt nach vorn. Man könnte sie auch noch auf eine vierte Art sehen, nämlich als Pyramide, von unten durch die Basis betrachtet.

Bäume, die als Wälder früher ganz Europa dominierten, haben sich uns bescheiden ausgeliefert: Kam nicht von ihnen das Holz für die Axt, mit der sie gefällt wurden? Durch die einseitige Entwicklung von Wissenschaft und Technik hat der Mensch eine Vormachtstellung erlangt, die mittlerweile zu einer Gefahr für das Leben auf der Erde und schließlich sogar für ihn selbst geworden ist. Die Morgenstimmung auf der Welt wird uns wieder oder neu bezaubern, wenn wir als Menschen die Bäume besser kennengelernt, ihre Gaben akzeptiert und dadurch verstanden haben werden, dass unsere eigene Zukunft an diejenige der Bäume gebunden ist, die uns schon immer begleitet haben.