image

Zum Buch

Sein Weg ist mit Leichen gepflastert: Der Pathologe Eduard Egarter Vigl hat ständig mit dem Tod zu tun. Als Ötzi in Südtirol ein Museum erhalten soll, wird er zum Leibarzt der einzigartigen Mumie erkoren und steht vor der paradoxen Aufgabe, für die „Gesundheit“ einer 5.000 Jahre alten Leiche zu sorgen. Die Gletschermumie soll konserviert und gleichzeitig ausgestellt werden – eine Herausforderung, an der Egarter Vigl zu scheitern droht. Misstrauisch beobachtet von der Fachwelt gelingt ihm mit einer genialen Methode der Durchbruch und er wird schlagartig zum weltweit bekannten Mumienfachmann.

Im Interview mit dem Journalisten Heinrich Schwazer erzählt Eduard Egarter Vigl von der dramatischen Entdeckung der Pfeilspitze und fragt nach dem Verbleib von Ötzis fehlendem Fingernagel. Anekdotenreich berichtet er von seinen Untersuchungen am Pharao Tutanchamun und seiner Detektivarbeit als Gerichtsgutachter, hinterfragt unseren Umgang mit dem Tod und schildert die Begegnung mit einer Schamanin, die sein wissenschaftliches Weltbild erschüttert hat.

Zu den Autoren

image

Eduard Egarter Vigl, geboren 1949, Studium der Medizin in Innsbruck und Padua, Facharztausbildung in Pathologie in Mailand und München, lebt in Bozen. Von 1984 an Pathologe am Krankenhaus Bozen, ab 1988 Primar am pathologischen Institut in Bozen. Auftragsdozent der medizinischen Fakultät der Università Cattolica in Rom und der Universität Padua. Besondere Bekanntheit erlangte er als Konservierungsbeauftragter der Gletschermumie Ötzi, deren Erforschung er bedeutend vorantrieb.

image

Heinrich Schwazer, geboren 1959, Studium der Germanistik und Philosophie in Wien, lebt in Bozen. Journalist bei den Wochenzeitungen „ff“ und „Südtirol Profil“, ehemaliger Chefredakteur und jetziger Kulturredakteur der „Neuen Südtiroler Tageszeitung“. Hat die Geschichte des Frauenmörders Guido Zingerle recherchiert, 2002 unter dem Titel „Der Zingerle. Geschichte eines Frauenmörders“ bei Edition Raetia veröffentlicht und in der Folge zu einem Theaterstück adaptiert. Er ist Autor mehrerer Theaterstücke und Ausstellungskurator (unter anderem „Die Welt der Dinge“ bei Kunst Meran und „Arche. Eine Festung für Tiere“ in der Festung Franzensfeste).

Ötzi, Tutanchamun und
andere Kriminalfälle

Heinrich Schwazer im Gespräch
mit dem Pathologen

Eduard Egarter Vigl

Ötzis
Leibarzt

image

Mit freundlicher Unterstützung der Abteilung Deutsche Kultur der Südtiroler Landesregierung

image

Bildnachweis:

Südtiroler Archäologiemuseum: 6/7 und 68/69 (Marion Lafogler); 18 und 92 (Augustin Ochsenreiter); 24 (Brando Quilici Production); 140/141 (Luca Guadagnini)

Pfarre St. Michael: 126 (Benedikt Lorsbach)

Privatarchiv Eduard Egarter Vigl: 10, 52, 78, 108/109, 114, 130, 152

Othmar Seehauser: 32, 183

© Edition Raetia, Bozen

Projektleitung: Magdalena Grüner, Edition Raetia

ISBN: 978-88-7283-430-5

Unser Gesamtprogramm finden Sie unter www.raetia.com

Die Seitenzahlen der Bilder stimmen mit der Printausgabe überein.

Inhalt

Vorwort

17 Tage Chronologie eines Mumienfundes

Ötzi ist mehr als eine Leiche

„Du hast am meisten mit Leichen zu tun“

Die Geburt der Konservierung aus dem Geist der Grödner Eisskulpturen

Ötzi ist offen wie ein „Adventskalender“

Ein extrem aufregender Moment

Kriminalfall Ötzi ungelöst

„Macht war für mich nie ein Thema“

Kinderleichen in Argentinien

Operation Tutanchamun

Mozart und sein italienischer Geist

Nebelmenschen und eine Schamanin

Leichen sind nicht gleich Leichen

Pathologen sind Detektive

image

Vorwort

Über Ötzi reden, heißt, über seinen Leibarzt reden. Wer immer etwas über die berühmteste Mumie der Welt erfahren will, kommt um den Mann nicht herum, der vor bald 20 Jahren die paradoxe Aufgabe übernahm, für die „Gesundheit“ einer 5.000 Jahre alten Leiche zu sorgen. Von 1998, als die Gletschermumie von Innsbruck in das Bozner Archäologiemuseum überstellt wurde, bis 2016 hat Eduard Egarter Vigl seine Hand über Ötzi, den Mann aus dem Eis, gehalten, ihn gehütet, umsorgt, gepflegt, beobachtet und jedes neue Detail zum Anlass genommen, um die Konservierungstechnologie voranzutreiben und der Forschung neue Impulse zu geben.

Mit einer skurrilen, wenn nicht bizarren Begründung war er 1997 vom Seziertisch weg von heute auf morgen zum Ötzi-Konservator ernannt worden: „Weil du am meisten mit Leichen zu tun hast.“ Egarter Vigl war damals Pathologe am Bozner Spital und Gerichtsgutachter. Als Pathologe war sein Leben mit Leichen gepflastert, das detektivische Element war seiner Tätigkeit als Gerichtsmediziner eingeschrieben. Mit Mumien jedoch hatte er sich nie befasst und an ihnen nie das geringste Interesse gehabt. Mumien kommen normalerweise nicht auf den Seziertisch von Pathologen – und wenn, dann nur als lukratives Nebengeschäft, weil der Vatikan Überreste von selig- oder heiligzusprechenden Personen untersuchen lässt.

Wie konnte dem Pathologen eines Provinzkrankenhauses, der keinerlei Erfahrung mit der Konservierung von Mumien hatte, die Verantwortung für die wichtigste Mumie der Welt übertragen werden? Die Zweifel an der Kompetenz der Südtiroler Wissenschaft waren von Anfang an lautstark. Vor allem aus Italien wurde massiv Druck ausgeübt. Das Ministero delle Belle Arti, das italienische Ministerium für Kulturgüter, argumentierte, dass weder Österreich noch Südtirol imstande seien, die Mumie fachgerecht zu konservieren. Verschwiegen wurde dabei, dass weltweit niemand Erfahrung mit der Erhaltung eines so einzigartig mumifizierten Körpers hatte. Ähnliche Leichenfunde aus Grönland waren beispielsweise viel jünger und mit Ötzi kaum vergleichbar. Da es keine Erfahrungswerte gab, versuchte man in Innsbruck zunächst einfach, die Bedingungen zu simulieren, unter denen der Gletscher die Leiche erhalten hatte.

Doch der Auftrag der Südtiroler Landesregierung an Egarter Vigl lautete, Ötzi nicht nur für die Forschung zu konservieren, sondern ihn allen wissenschaftlichen und ethischen Bedenken zum Trotz auch einem großen Publikum zugänglich zu machen. Die Landesregierung sah in den ledrigen Überresten des Eismannes nicht einen Menschen, dem die Intimität des Todes zusteht, sondern ein publicityträchtiges Faszinosum und einen touristischen Publikumsmagneten. Zu Recht. Die nie abreißende Menschentraube vor der Glasscheibe im Bozner Archäologiemuseum belegt die unwiderstehliche Aura, die von dem am besten untersuchten Toten der Geschichte ausgeht. Ötzi ist die Mona Lisa der Südtiroler Museen. Laien fasziniert er und Wissenschaftlern gibt er auch 25 Jahre nach seiner Entdeckung noch Rätsel auf.

Der Erfolg hat die anfänglichen Risiken vergessen lassen. Denn als der Beschluss gefasst wurde, Ötzi öffentlich auszustellen, wusste niemand, ob und wie das funktionieren würde. Weder die Universität Innsbruck noch das Bozner Archäologiemuseum hatten das nötige Know-how, um ein geeignetes Modell der Konservierung zu entwickeln, wenn die Mumie gleichzeitig ausgestellt werden sollte. Es waren kleine, autodidaktische Fort- und Rückschritte auf Eis, mit der die funktionierende Methode gefunden wurde. Im Rückblick scheut sich Egarter Vigl nicht, die damaligen politischen Entscheidungen und seine eigene „Naivität“ als „übereilt und unvorsichtig“ zu bezeichnen.

Mit einer verblüffend einfachen, den Schöpfern der Grödner Eisskulpturen abgeschauten Methode hat Egarter Vigl es letztendlich aber geschafft, den Feuchtigkeitsgehalt der Mumie zu stabilisieren. Durch eine filmreife Verkettung von Zufällen entdeckte er später zusammen mit dem Radiologen Paul Gostner die Pfeilspitze in der Schulter des Eismannes, die schließlich zur Mordtheorie führte und weltweit die kriminalistischen Fantasien befeuerte. Durch Ötzi zum weltweiten Mumienfachmann geworden, wurde er nach Argentinien gerufen, um 500 Jahre alte Kinderleichen zu konservieren, nach Wien, um die Überreste von Mozarts Librettisten Pietro Metastasio zu untersuchen, und nach Ägypten, um die Todesursache des Pharao Tutanchamun festzustellen. Seit damals trägt er den Spitznamen „Alpencolumbo“.

image

Wissen wir nicht schon alles über Ötzi? Ist er nicht bis in die letzte Hautfalte, das letzte Körnchen seines Mageninhalts, seine verschlissenen Bandscheiben, seine kariösen Zähne, seine Bauchschmerzen und Gene hinein erforscht und vermessen? Die spektakulären Entdeckungen liegen hinter uns, jetzt fahnden die Forscher in den molekularen Tiefen von Ötzis Gewebe nach neuen Erkenntnissen.

Man weiß über Ötzi heute vieles und doch eigentlich nichts. Was er für ein Mensch war, wie und wovon er gelebt hat (war er ein Hirte, ein Jäger, ein Schamane?), wie seine natürliche und soziale Umwelt aussah, ob er ein Einzelgänger war, warum er ermordet wurde und von wem … – wir kennen bloß Ausschnitte, Schnipsel davon, die interpretiert sein wollen. Ihr außergewöhnlich guter Erhaltungsstatus lässt die Mumie einsam aus der weltweiten Gesellschaft der Mumien herausragen, doch kein Mikroskop der Welt kann den Menschen hinter den wissenschaftlichen Daten dingfest machen.

Nicht nur Ötzi, auch die Geschichte seiner Konservierung und Erforschung ist eine faszinierende Story. Und Eduard Egarter Vigl ist ein Erzähler. Gespräche mit ihm laufen nicht im „kastrierten“ Interview-Modus von Frage und Antwort ab. Sie sind das, was das Wort „Interview“ im französischen entrevue ursprünglich bedeutet: eine Begegnung. Mit diesen Gesprächen tritt der Pathologe zum ersten Mal in einen ausführlichen Dialog über seine Arbeit. Er liefert Hintergrundmaterial aus 20 Jahren Ötzi-Forschung, vieles davon noch unbekannt, gibt Auskunft über die dramatische Entdeckung der Pfeilspitze. Anekdotenreich erzählt er von Eifersüchteleien unter Wissenschaftlern, von Querelen mit der Politik, fragt nach dem Verbleib von Ötzis fehlenden Fingernägeln, berichtet von der Begegnung mit einer Schamanin, die ihn an seinem wissenschaftlichen Weltbild zweifeln ließ. Fragen interessieren ihn mehr als Gewissheiten – unumstößliche Wahrheiten hat er nicht zu bieten.

Es war ein Privileg, in diesem Austausch sein Gesprächspartner gewesen zu sein.

Heinrich Schwazer

17 Tage
Chronologie eines Mumienfundes

Tag 1: Donnerstag, 19. September 1991 – 13.30 Uhr

Das Ehepaar Erika und Helmut Simon aus Nürnberg entdeckt beim Abstieg von der Finailspitze im Bereich des Tisenjochs in einer mit Schmelzwasser gefüllten Felsmulde die Leiche eines Menschen, der mit der Brust auf einer Steinplatte liegt. Nur der Hinterkopf, die nackten Schultern und ein Teil des Rückens ragen aus dem Eis. Das Gesicht ist nicht zu sehen. Die beiden steigen zur Similaunhütte ab und informieren den Hüttenwirt. Da die Fundlage unklar ist, erstattet dieser sowohl bei den Carabinieri in Schnals als auch bei der Gendarmerie Sölden Meldung über den Fund.

Tag 2: Freitag, 20. September 1991

Am Tag nach der Entdeckung startet ein österreichischer Bergungstrupp den ersten Bergungsversuch. Der Bezirksinspektor Anton Koler und der Wirt der Similaunhütte Markus Pirpamer versuchen, den Toten mithilfe eines Presslufthammers freizulegen. Der Versuch wird nach einer Stunde wegen schlechter Wetterverhältnisse und des Mangels an geeignetem Werkzeug abgebrochen.

Tag 3: Samstag, 21. September 1991

Die Bergung kann erneut nicht in Angriff genommen werden, da über das Wochenende kein Hubschrauber zur Verfügung steht. Dennoch besichtigen an diesem Tag zahlreiche Wanderer die Fundstelle, unter anderem auch die beiden Extrembergsteiger Hans Kammerlander und Reinhold Messner. Am selben Tag erscheint in der Tiroler Tageszeitung eine erste Kurzmeldung über den Fund: „Der Ausrüstung nach zu schließen, handelt es sich bei dem Toten um einen Alpinisten; der Unfall dürfte schon mehrere Jahrzehnte zurückliegen. Der Tote ist noch nicht identifiziert worden.“

Tag 4: Sonntag, 22. September 1991

Alois Pirpamer, Bergrettungsobmann von Vent, und Franz Gurschler, Schwiegervater des Hüttenwirts Pirpamer, machen sich auf den Weg zum Tisenjoch, um den Körper für die am Montag vorgesehene Bergung aus dem Eis freizulegen. Die losen Funde wie Kleidung und Ausrüstung sammeln sie ein und packen sie in einen Plastikmüllsack.

In der Tageszeitung Alto Adige, die fast täglich Berichte über die 41-tägige Südtirol-Umrundung von Messner und Kammerlander veröffentlicht, erscheint auf der Titelseite ein Artikel mit der Schlagzeile: „Sensationelle Entdeckung im Schnalstal. Ein altertümlicher Krieger auf Messners Pfaden.“ Messner schätzt das Alter der Leiche auf etwa 500 Jahre. Es könnte sich, so Messner, um einen Krieger aus der Zeit Friedrichs IV., im Volksmund als „Friedl mit der leeren Tasche“ bekannt, handeln.

Tag 5: Montag, 23. September 1991

Die gerichtsmedizinisch angeordnete Bergung erfolgt am Tag fünf nach der Auffindung durch das Ehepaar Simon unter der Leitung von Rainer Henn vom Institut für Gerichtsmedizin der Universität Innsbruck. Vor laufender Kamera geht die Bergungsmannschaft mit Eispickeln, bloßen Händen und Skistöcken zu Werk, um die Leiche herauszustemmen. Ein Archäologe ist nicht anwesend. Dem Vorstand des Instituts für Ur- und Frühgeschichte der Universität Innsbruck, Univ.-Prof. Konrad Spindler, war ein Mitflug im Hubschrauber aus Platzgründen verwehrt worden. Im Schmelzwasser kommen Leder- und Fellreste, Schnüre, Riemen und Heubüschel sowie ein Dolch mit Feuersteinklinge und Holzgriff zum Vorschein. Um 13.50 Uhr wird die Mumie mit dem Hubschrauber nach Vent transportiert und von dort mit dem Leichenwagen in das Institut für Gerichtsmedizin in Innsbruck überstellt. In einer Stellungnahme zum vermutlichen Alter der Leiche bleibt Rainer Henn vage: „Eher alt als jung!“ Eine vom österreichischen Wissenschaftsministerium eingesetzte Fachkommission kommt wenig später zum Schluss, dass zwei der drei Bergungsversuche völlig unsachgemäß erfolgt seien. Der Vorsitzende, Univ.-Prof. Werner Platzer, erklärt: „Erst die dritte Bergung war in Ordnung. Es wurde jedoch eine aus archäologischer Sicht völlig gestörte Fundsituation vorgefunden.“

Tag 6: Dienstag, 24. September 1991

Am Tag sechs der Fundgeschichte bekommt mit Konrad Spindler erstmals ein Archäologe den „Mann aus dem Eis“ zu Gesicht. Sein erster Kommentar: „Mindestens 4.000 Jahre oder älter.“

Tag 7: Mittwoch, 25. September 1991

Die Tiroler Tageszeitung verkündet: „Weltsensation: Der mysteriöse Tote vom Similaungletscher ist 4.000 Jahre alt.“ Die Leiche wird in einer auf sechs Grad minus gekühlten Box des Anatomischen Instituts der Universität Innsbruck konserviert. In Südtirol wird erstmals die Vermutung geäußert, dass sich die Fundstelle auf italienischem Gebiet befinden könnte.

Tag 8: Donnerstag, 26. September 1991

Vier Gletscherforscher der Universität Innsbruck entnehmen am Fundort Eisproben und untersuchen das Gelände auf weitere Gegenstände. Dabei entdecken sie einen gut erhaltenen Köcher aus Leder mit 14 Pfeilen von 75 Zentimetern Länge. In der österreichischen Presse wird nach der ersten Euphorie über den Fund Kritik an den Umständen der Bergung laut. Die Verantwortlichen rechtfertigen sich mit dem Hinweis darauf, dass man anfänglich davon ausgegangen sei, es mit einem Toten aus jüngerer Zeit zu tun zu haben.

Tag 9: Samstag, 28. September 1991

Bei einem gemeinsamen Lokalaugenschein von österreichischen Gendarmen und italienischen Finanzbeamten am Gletscher stellt man fest, dass bei der ersten Orientierung ein Grenzstein übersehen worden war. Eine Neuvermessung zur Klärung der „Nationalität“ wird angeordnet. Die Ausrüstungsgegenstände werden zur Restaurierung ins Römisch-Germanische Zentralmuseum nach Mainz gebracht.

Tag 10: Mittwoch, 2. Oktober 1991

Die amtlich angeordnete Neuvermessung des Grenzverlaufes am 2. Oktober 1991 bringt endgültige Gewissheit. Der Fundort befindet sich 92,56 Meter von der Staatsgrenze entfernt auf Südtiroler Boden. Das Land Südtirol meldet Eigentümeranspruch an, erteilt der Universität Innsbruck jedoch den Auftrag, den gesamten Fundkomplex bis zum Abschluss der wissenschaftlichen Untersuchungen zu verwahren. Die wegen der Besitzverhältnisse politische Verstimmung zwischen Nord- und Südtirol wird auf salomonische Weise beigelegt. Der Eismann sei auf jeden Fall ein Homo tirolensis.

Tag 11: Freitag, 4. Oktober 1991

Urgeschichtler der Universität Innsbruck entdecken bei einer neuerlichen Untersuchung des Fundortes eine Strohmatte und ein Netz aus Bast.

Tag 12: Freitag, 6. Dezember 1991

Radiokarbon-Untersuchungen in Uppsala und Paris ergeben unabhängig voneinander, dass der Mann aus dem Eis zwischen 4.616 und 4.866 Jahre alt sein dürfte. Für die Untersuchung wurden Gräser aus den Beifunden herangezogen. Experten in Oxford und von der ETH Zürich, die Gewebereste aus der Hüftverletzung des Eismannes analysieren, kommen Anfang März 1992, ebenfalls anhand der C14-Methode, zum Schluss, dass der prähistorische „Mann aus dem Eis“ mehr als 5.000 Jahre alt ist und wahrscheinlich um das Jahr 3300 vor Christus starb. Metallurgische Untersuchungen des Beiles im Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz erbringen den Nachweis, dass die Klinge nicht aus Bronze, sondern aus Kupfer gefertigt ist. Die neuen Forschungsergebnisse belegen, dass der spektakuläre Fund nicht der frühen Bronzezeit, sondern der ausgehenden Jungsteinzeit beziehungsweise beginnenden Kupferzeit zuzuordnen ist.

Tag 13: Freitag, 16. Jänner 1998

Unter enormen Sicherheitsvorkehrungen und internationalem Medienrummel wird Ötzi vom Anatomischen Institut der Universität Innsbruck in das Bozner Archäologiemuseum überstellt. Hundert Gendarmeriebeamte und ein Hubschrauber des österreichischen Innenministeriums überwachen den Transport bis zum Brenner, von dort eskortiert die italienische Polizei ihn bis in die Bozner Innenstadt. Über 15 TV-Teams, von CNN bis BBC, und eine große Schar Schaulustiger warten vor dem Archäologiemuseum, um einen Blick auf die in Eis gepackte Mumie zu erhaschen. Die Überführung verläuft ohne Zwischenfälle. Im Vorfeld hatte eine sich „Kampftruppe Tirol“ nennende Gruppe gedroht, die Auslieferung an die „welsche Besatzungsmacht“ mit Anschlägen zu verhindern.

Tag 14: Samstag, 28. März 1998

Am 28. März 1998 wird in der Bozner Museumstraße im ehemaligen Gebäude der Banca d’Italia das Archäologiemuseum eröffnet. Ötzi ruht bei gedämpftem Licht auf einem Metalltisch, nackt und ohne jedes Beiwerk. Durch ein speziell verglastes Fenster können ihn die Besucher sehen. Seine Ausrüstung – Waffen, Geräte, Kleidung – wird in Vitrinen ausgestellt. Ergänzt wird die Präsentation durch eine Nachbildung des Eismannes, die 2011 durch eine detailgetreue 3-D-Rekonstruktion ersetzt werden soll. Der Leiter des Innsbrucker Instituts für Ur- und Frühgeschichte, Konrad Spindler, kritisiert die Art der Zurschaustellung: „Ich habe immer schon darauf hingewiesen, dass ich diese Art der Präsentation eines toten Menschen für unwürdig halte.“

Die Ausstellung entwickelt sich innerhalb weniger Tage zum Publikumsmagneten. Einen Monat nach Eröffnung des Museums haben bereits 35.000 Besucher aus aller Welt einen Blick auf Ötzi geworfen und dafür teils lange Wartezeiten in Kauf genommen.

Tag 15: Samstag, 31. Oktober 1998

Ein neuer Fund am Tisenjoch sorgt für weitere Sensationsmeldungen. Im Sommer findet ein deutsches Ehepaar bei einer Fundortbesichtigung, knapp hundert Meter neben der Ötzi-Fundstelle, einen prähistorischen Beilschaft. Eine C14-Datierung ergibt, dass das Stück etwa 700 Jahre jünger als Ötzi ist.

Tag 16: Samstag, 23. Juni 2001

Zehn Jahre nach der Auffindung von Ötzi entdeckt der Radiologe Paul Gostner bei neuen Röntgenaufnahmen eine Pfeilspitze im linken Schulterblatt des Eismannes, die bislang übersehen worden war. Bei einer Pressekonferenz am 23. Juni wird der Sensationsfund der Öffentlichkeit präsentiert. Mit ihm eröffnet sich ein schlüssiges Szenario von Ötzis Tod durch eine meuchelmörderische Pfeilattacke. Der Pfeil unterscheidet sich von den beiden erhaltenen Pfeilspitzen aus Ötzis Köcher durch die gedrungenere Form, stammt also mit hoher Wahrscheinlichkeit von seinem Verfolger. Der Mordfall Ötzi ist eröffnet.

Tag 17: Donnerstag, 12. Juli 2007

Am 12. Juli 2007 wird das EURAC-Institut für Mumien und den Iceman der Öffentlichkeit vorgestellt. Es wurde auf Anregung von Eduard Egarter Vigl als erstes Forschungszentrum, das sich ausschließlich mit Mumien beschäftigt, gegründet. Bei der Mumienanalyse stehen vor allem nicht oder minimal invasive Untersuchungsmethoden wie radiologische bildgebende Verfahren, die Nanotechnologie oder molekularbiologische Ansätze wie die Erforschung antiker DNA im Mittelpunkt. Geleitet wird das Institut von dem Münchner Anthropologen Albert Zink.

Quellen:

Fleckinger, Angelika (Hrsg.): Ötzi 2.0. Eine Mumie zuwischen Wissenschaft, Kult und Mythos. Bozen/Wien: Folio, 2011

Hörmann, Helmut: „Ötzi“. Der prähistorische Gletscherfund vom Tisenjoch in den Ötztaler Alpen im Spiegel der Westtiroler Printmedien von 1991 bis 2001. Dokumentation Stams: o. V., 2002

image

Anhand von 3D-Datensätzen von Schädel und Skelett des Eismannes konnte sein Aussehen rekonstruiert werden. Die Reproduktion der Niederländer Adrie und Alfons Kennis befindet sich im Südtiroler Archäologiemuseum.

Ötzi ist mehr als eine Leiche

Pathologe, Gerichtsmediziner, Ötzis Leibarzt – der Weg von Eduard Egarter Vigl ist mit Leichen gepflastert. Wie geht man mit der paradoxen Aufgabe um, für die Gesundheit einer 5.000 Jahre alten Leiche zuständig zu sein?

Im Juni 1997 wurden Sie vom Seziertisch weg von heute auf morgen zum Ötzi-Konservator ernannt. Haben Sie sich vorher jemals mit Mumien beschäftigt?

Nein. Ehrlich gesagt hatte ich bis zu diesem Augenblick nicht das geringste Interesse an Mumien gehabt. Geschichte hat mich interessiert, Archäologie und Paläopathologie aber nie. Während meines Studiums an der Universität Padua befasste sich einer meiner Professoren, Herr Vito Terribile – nomen est omen –, neben seiner Lehrtätigkeit mit Mumien. In Italien ist das ein lukratives Geschäft, weil der Vatikan immer wieder Aufträge zu vergeben hat. Die Kirche braucht erfahrene Pathologen, um Überreste von selig- oder heiligzusprechenden Personen untersuchen zu lassen, Reliquien zeitlich einzuordnen und so weiter. Das war eigentlich mein erster und einziger Kontakt mit diesem Bereich.

„Die Kirche braucht erfahrene Pathologen, um Überreste von selig- oder heiligzusprechenden Personen untersuchen zu lassen, Reliquien zeitlich einzuordnen und so weiter.“

Seit damals pflegen Sie die berühmteste Mumie der Welt. Was hat das mit Ihrem Leben gemacht?

Die Beschäftigung mit Ötzi umfasst fast 20 Jahre. In dieser Zeit wurden dadurch mein Leben, mein Denken und meine berufliche Tätigkeit zweifellos geprägt. Er ist aber nicht mein Leben, schon gar nicht mein ganzes Leben.

Ötzi ist berühmt und hat Sie berühmt gemacht.

Ich war vielfach der Ansprechpartner für die Medien. Insofern fiel unvermeidlich etwas von Ötzis Berühmtheit auch auf mich ab.

Pathologe, Gerichtsmediziner, Ötzis Leibarzt – Ihr Weg scheint, salopp formuliert, mit Leichen gepflastert zu sein.

Der Beruf des Pathologen ist für viele Menschen schwer verständlich, weil sie in ihm einfach den Leichenbeschauer sehen. In den Witzen über Pathologen drückt sich meist eine gewisse Verlegenheit, vielleicht sogar Angst aus. Für mich ist es witzig, was Nicht-Pathologen über Pathologen denken – vor allem seit Vertreter meines Berufes dauernd in Krimis vorkommen, was früher ja nicht der Fall war.

Leibärzte standen historisch im Dienste von Königen, Fürsten und Päpsten. Was bedeutet der Titel für Sie?

Ich habe die Verantwortung für Ötzis „Mumiengesundheit“ getragen. Es handelt sich um eine archäologisch-anthropologisch weltweit einzigartige Mumie, insofern trifft der Titel zu.

Eine paradoxe Verantwortung, für die Gesundheit einer 5.000 Jahre alten Leiche zuständig zu sein.

Ötzi ist mehr als eine Leiche. Rein wissenschaftlich gesehen ist er eine 13,5 Kilogramm schwere Gletschermumie aus Haut und Knochen, Muskeln und Knorpeln, Bindegewebe und Wasser. Das extreme Interesse an diesem Körper hängt mit seinem Alter zusammen und damit, dass er sich trotzdem in einem sehr guten Erhaltungszustand befindet. Wir wundern uns, warum sich dieser Körper den biologischen Gesetzmäßigkeiten der Zersetzung entziehen konnte. Man kann versuchen, das zu erforschen und ihn folglich auf diese Weise weiter zu konservieren, damit er die nächsten 5.000 Jahre überlebt. Parallel kann man ihm nach und nach mit wissenschaftlich nachprüfbaren Methoden seine Geheimnisse entlocken. Schließlich hat dieser Mensch ja einmal gelebt und besaß einen funktionierenden Körper. Es ist nur natürlich, dass man bestrebt ist, aus den gewonnenen Erkenntnissen ein Bild des Menschen zu rekonstruieren: Wer war er, wie hat er gelebt, welche Rolle spielte er in seiner sozialen Umgebung, wie hat er sich ernährt, warum und wie ist er gestorben, wie verliefen seine letzten Stunden?

Fragen, die sich im Alltag eines Pathologen nicht stellen.

Bei einer frischen Leiche muss ich in der Regel nicht spekulativ werden, weil ich neben den objektivierbaren Fakten meistens auch eine Reihe von Zusatzinformationen zur Verfügung habe. Ich habe mir oft, besonders bei Todesfällen mit forensischer Relevanz, gesagt: Begib dich nicht auf Glatteis, indem du dich zu Äußerungen hinreißen lässt, die du nicht belegen kannst. Aber natürlich stehen Polizei und Staatsanwälte oft unter Ermittlungsdruck und erwarten vom Pathologen Antworten, die er gar nicht geben kann. Im Zusammenhang mit der Mumie Ötzi werden mir oft ganz andere Fragen gestellt wie: Was empfinden Sie, wenn Sie sich mit diesem 5.000 Jahre alten Mann in der Kühlzelle befinden, wie sehen Sie ihn usw. Das scheint viele Menschen zu interessieren und zu faszinieren.

Was empfinden Sie?

Kalt ist es in der Kühlzelle.

Leisten Sie sich gelegentlich eine Fantasiereise in Ötzis Leben?

Natürlich. Meistens, wenn ich allein bin in der Konservierungszelle und abwarten muss, bis die Mumie auftaut oder bis die richtige Temperatur erreicht wird, die für das Wiedereinfrieren ideal ist. Da vergehen oft Stunden. In der Zelle hat es minus 6 Grad, die Assistenten sind vielleicht einen Kaffee trinken gegangen. Das sind Mußestunden, in denen man mal kurz den Boden der Sachlichkeit verlässt und auf diesen Herrn schaut und … sich vielleicht ein paar Fragen stellt: Was sagt er mir?

„War er ein aggressiver Hund?“

Was sagt er Ihnen?

Aufgrund der äußeren Befunde an seinem Körper, seiner Verletzungen und vor allem der Röntgendaten konnte einiges über seinen Tod geklärt werden. So ist inzwischen bewiesen, dass er eines gewaltsamen Todes gestorben ist: Ein Pfeilschuss in seinen Rücken hat ihn niedergestreckt. Die Umstände, die dazu geführt haben, sind jedoch weitgehend unbekannt – und gerade darüber wird viel spekuliert. Man könnte sagen, ein Scheit allein brennt nicht, also wird er irgendwie mitschuldig gewesen sein. Man fragt sich: War er ein aggressiver Hund? Die holländischen Künstler, die seine Replik geschaffen haben, wollten wohl diesen Eindruck durch die Darstellung eines aggressiven Gesichtsausdrucks und einer grobschlächtigen Statur vermitteln. Die unverhältnismäßig großen und groben Hände verstärken den Eindruck. Das ist natürlich viel Interpretation, künstlerische Freiheit, die mitspielt und weit über jede Objektivität hinausgeht.

„Ich sehe einen Jäger, der vielleicht selbst zum Gejagten wurde.“

Wie interpretieren Sie seinen Ausdruck?