II

Dasselbe, was hier von den zwei verschiedenen Formen der Menschheit gesagt wird, läßt sich auch auf jene beiden ihnen entsprechenden Dichterformen anwenden.

Man hätte deswegen alte und moderne – naive und sentimentalische – Dichter entweder gar nicht oder nur unter einem gemeinschaftlichen höhern Begriff (einen solchen gibt es wirklich) miteinander vergleichen sollen. Denn freilich, wenn man den Gattungsbegriff der Poesie zuvor einseitig aus den alten Poeten abstrahiert hat, so ist nichts leichter, aber auch nichts trivialer, als die modernen gegen sie herabzusetzen. Wenn man nur das Poesie nennt, was zu allen Zeiten auf die einfältige Natur gleichförmig wirkte, so kann es nicht anders sein, als daß man den neuern Poeten gerade in ihrer eigensten und erhabensten Schönheit den Namen der Dichter wird streitig machen müssen, weil sie gerade hier nur zu dem Zögling der Kunst sprechen und der einfältigen Natur nichts zu sagen haben.10 Wessen Gemüt nicht schon zubereitet ist, über die Wirklichkeit hinaus ins Ideenreich zu gehen, für den wird der reichste Gehalt leerer Schein und der höchste Dichterschwung Überspannung sein. Keinem Vernünftigen kann es einfallen, in demjenigen, worin Homer groß ist, irgendeinen Neuern ihm an die Seite stellen zu wollen, und es klingt lächerlich genug, wenn man einen Milton oder Klopstock mit dem Namen eines neuern Homer beehrt sieht. Ebensowenig aber wird irgendein alter Dichter und am wenigsten Homer in demjenigen, was den modernen Dichter charakteristisch auszeichnet, die Vergleichung mit demselben aushalten können. Jener, machte ich es ausdrücken, ist mächtig durch die Kunst der Begrenzung; dieser ist es durch die Kunst des Unendlichen.

Und eben daraus, daß die Stärke des alten Künstlers (denn was hier von dem Dichter gesagt worden, kann unter den Einschränkungen, die sich von selbst ergeben, auch auf den schönen Künstler überhaupt ausgedehnt werden) in der Begrenzung bestehet, erklärt sich der hohe Vorzug, den die bildende Kunst des Altertums über die der neueren Zeiten behauptet, und überhaupt das ungleiche Verhältnis des Werts, in welchem moderne Dichtkunst und moderne bildende Kunst zu beiden Kunstgattungen im Altertum stehen. Ein Werk für das Auge findet nur in der Begrenzung seine Vollkommenheit; ein Werk für die Einbildungskraft kann sie auch durch das Unbegrenzte erreichen. In plastischen Werken hilft daher dem Neuern seine Überlegenheit in Ideen wenig; hier ist er genötigt, das Bild seiner Einbildungskraft auf das genaueste im Raum zu bestimmen und sich folglich mit dem alten Künstler gerade in derjenigen Eigenschaft zu messen, worin dieser seinen unabstreitbaren Vorzug hat. In poetischen Werken ist es anders, und siegen gleich die alten Dichter auch hier in der Einfalt der Formen und in dem, was sinnlich darstellbar und körperlich ist, so kann der neuere sie wieder im Reichtum des Stoffes, in dem, was undarstellbar und unaussprechlich ist, kurz, in dem, was man in Kunstwerken Geist nennt, hinter sich lassen.

Da der naive Dichter bloß der einfachen Natur und Empfindung folgt und sich bloß auf Nachahmung der Wirklichkeit beschränkt, so kann er zu seinem Gegenstand auch nur ein einziges Verhältnis haben, und es gibt, in dieser Rücksicht, für ihn keine Wahl der Behandlung. Der verschiedene Eindruck naiver Dichtungen beruht (vorausgesetzt, daß man alles hinwegdenkt, was daran dem Inhalt gehört, und jenen Eindruck nur als das reine Werk der poetischen Behandlung betrachtet), beruht, sage ich, bloß auf dem verschiedenen Grad einer und derselben Empfindungsweise; selbst die Verschiedenheit in den äußern Formen kann in der Qualität jenes ästhetischen Eindrucks keine Veränderung machen. Die Form sei lyrisch oder episch, dramatisch oder beschreibend: wir können wohl schwächer und stärker, aber (sobald von dem Stoff abstrahiert wird) nie verschiedenartig gerührt werden. Unser Gefühl ist durchgängig dasselbe, ganz aus einem Element, so daß wir nichts darin zu unterscheiden vermögen. Selbst der Unterschied der Sprachen und Zeitalter ändert hier nichts, denn eben diese reine Einheit ihres Ursprungs und ihres Effekts ist ein Charakter der naiven Dichtung.

Ganz anders verhält es sich mit dem sentimentalischen Dichter. Dieser reflektiert über den Eindruck, den die Gegenstände auf ihn machen, und nur auf jene Reflexion ist die Rührung gegründet, in die er selbst versetzt wird und uns versetzt. Der Gegenstand wird hier auf eine Idee bezogen, und nur auf dieser Beziehung beruht seine dichterische Kraft. Der sentimentalische Dichter hat es daher immer mit zwei streitenden Vorstellungen und Empfindungen, mit der Wirklichkeit als Grenze und mit seiner Idee als dem Unendlichen zu tun, und das gemischte Gefühl, das er erregt, wird immer von dieser doppelten Quelle zeugen11. Da also hier eine Mehrheit der Prinzipien stattfindet, so kommt es darauf an, welches von beiden in der Empfindung des Dichters und in seiner Darstellung überwiegen wird, und es ist folglich eine Verschiedenheit in der Behandlung möglich. Denn nun entsteht die Frage, ob er mehr bei der Wirklichkeit, ob er mehr bei dem Ideale verweilen – ob er jene als einen Gegenstand der Abneigung, ob er dieses als einen Gegenstand der Zuneigung ausführen will. Seine Darstellung wird also entweder satirisch, oder sie wird (in einer weitern Bedeutung dieses Worts, die sich nachher erklären wird) elegisch sein; an eine von diesen beiden Empfindungsarten wird jeder sentimentalische Dichter sich halten.

Satirisch ist der Dichter, wenn er die Entfernung von der Natur und den Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideale (in der Wirkung auf das Gemüt kommt beides auf eins hinaus) zu seinem Gegenstande macht. Dies kann er aber sowohl ernsthaft und mit Affekt als scherzhaft und mit Heiterkeit ausführen; je nachdem er entweder im Gebiete des Willens oder im Gebiete des Verstandes verweilt. Jenes geschieht durch die strafende oder pathetische, dieses durch die scherzhafte Satire.

Streng genommen verträgt zwar der Zweck des Dichters weder den Ton der Strafe noch den der Belustigung. Jener ist zu ernst für das Spiel, was die Poesie immer sein soll; dieser ist zu frivol für den Ernst, der allem poetischen Spiele zum Grund liegen soll. Moralische Widersprüche interessieren notwendig unser Herz und rauben also dem Gemüt seine Freiheit; und doch soll aus poetischen Rührungen alles eigentliche Interesse, d.h. alle Beziehung auf ein Bedürfnis verbannt sein. Verstandeswidersprüche hingegen lassen das Herz gleichgültig, und doch hat es der Dichter mit dem höchsten Anliegen des Herzens, mit der Natur und dem Ideal zu tun. Es ist daher keine geringe Aufgabe für ihn, in der pathetischen Satire nicht die poetische Form zu verletzen, welche in der Freiheit des Spiels besteht, in der scherzhaften Satire nicht den poetischen Gehalt zu verfehlen, welcher immer das Unendliche sein muß. Diese Aufgabe kann nur auf eine einzige Art gelöset werden. Die strafende Satire erlangt poetische Freiheit, indem sie ins Erhabene übergeht, die lachende Satire erhält poetischen Gehalt, indem sie ihren Gegenstand mit Schönheit behandelt.

In der Satire wird die Wirklichkeit als Mangel dem Ideal als der höchsten Realität gegenübergestellt. Es ist übrigens gar nicht nötig, daß das letztere ausgesprochen werde, wenn der Dichter es nur im Gemüt zu erwecken weiß; dies muß er aber schlechterdings, oder er wird gar nicht poetisch wirken. Die Wirklichkeit ist also hier ein notwendiges Objekt der Abneigung, aber, worauf hier alles ankömmt, diese Abneigung selbst muß wieder notwendig aus dem entgegenstehenden Ideale entspringen. Sie könnte nämlich auch eine bloß sinnliche Quelle haben und lediglich in Bedürfnis gegründet sein, mit welchem die Wirklichkeit streitet; und häufig genug glauben wir einen moralischen Unwillen über die Welt zu empfinden, wenn uns bloß der Widerstreit derselben mit unserer Neigung erbittert. Dieses materielle Interesse ist es, was der gemeine Satiriker ins Spiel bringt, und weil es ihm auf diesem Wege gar nicht fehlschlägt, uns in Affekt zu versetzen, so glaubt er unser Herz in seiner Gewalt zu haben und im Pathetischen Meister zu sein. Aber jedes Pathos aus dieser Quelle ist der Dichtkunst unwürdig, die uns nur durch Ideen rühren und nur durch die Vernunft zu unserm Herzen den Weg nehmen darf. Auch wird sich dieses unreine und materielle Pathos jederzeit durch ein Übergewicht des Leidens und durch eine peinliche Befangenheit des Gemüts offenbaren, da im Gegenteil das wahrhaft poetische Pathos an einem Übergewicht der Selbsttätigkeit und an einer, auch im Affekte noch bestehenden Gemütsfreiheit zu erkennen ist. Entspringt nämlich die Rührung aus dem der Wirklichkeit gegenüberstehenden Ideale, so verliert sich in der Erhabenheit des letztern jedes einengende Gefühl, und die Größe der Idee, von der wir erfüllt sind, erhebt uns über alle Schranken der Erfahrung. Bei der Darstellung empörender Wirklichkeit kommt daher alles darauf an, daß das Notwendige der Grund sei, auf welchem der Dichter oder der Erzähler das Wirkliche aufträgt, daß er unser Gemüt für Ideen zu stimmen wisse. Stehen wir nur hoch in der Beurteilung, so hat es nichts zu sagen, wenn auch der Gegenstand tief und niedrig unter uns zurückbleibt. Wenn uns der Geschichtschreiber Tacitus den tiefen Verfall der Römer des ersten Jahrhunderts schildert, so ist es ein hoher Geist, der auf das Niedrige herabblickt, und unsere Stimmung ist wahrhaft poetisch, weil nur die Höhe, worauf er selbst steht und zu der er uns zu erheben wußte, seinen Gegenstand niedrig machte.

Die pathetische Satire muß also jederzeit aus einem Gemüte fließen, welches von dem Ideale lebhaft durchdrungen ist. Nur ein herrschender Trieb nach Übereinstimmung kann und darf jenes tiefe Gefühl moralischer Widersprüche und jenen glühenden Unwillen gegen moralische Verkehrtheit erzeugen, welcher in einem Juvenal, Swift, Rousseau, Haller und andern zur Begeisterung wird. Die nämlichen Dichter würden und müßten mit demselben Glück auch in den rührenden und zärtlichen Gattungen gedichtet haben, wenn nicht zufällige Ursachen ihrem Gemüt frühe diese bestimmte Richtung gegeben hätten; auch haben sie es zum Teil wirklich getan. Alle die hier genannten lebten entweder in einem ausgearteten Zeitalter und hatten eine schauderhafte Erfahrung moralischer Verderbnis vor Augen, oder eigene Schicksale hatten Bitterkeit in ihre Seele gestreut. Auch der philosophische Geist, da er mit unerbittlicher Strenge den Schein von dem Wesen trennt und in die Tiefen der Dinge dringet, neigt das Gemüt zu dieser Härte und Austerität, mit welcher Rousseau, Haller und andre die Wirklichkeit malen. Aber diese äußern und zufälligen Einflüsse, welche immer einschränkend wirken, dürfen höchstens nur die Richtung bestimmen, niemals den Inhalt der Begeisterung hergeben. Dieser muß in allen derselbe sein und, rein von jedem äußern Bedürfnis, aus einem glühenden Triebe für das Ideal hervorfließen, welcher durchaus der einzig wahre Beruf zu dem satirischen wie überhaupt zu dem sentimentalischen Dichter ist.

Wenn die pathetische Satire nur erhabene Seelen kleidet, so kann die spottende Satire nur einem schönen Herzen gelingen. Denn jene ist schon durch ihren ernsten Gegenstand vor der Frivolität gesichert; aber diese, die nur einen moralisch gleichgültigen Stoff behandeln darf, würde unvermeidlich darein verfallen und jede poetische Würde verlieren, wenn hier nicht die Behandlung den Inhalt veredelte und das Subjekt des Dichters nicht sein Objekt verträte. Aber nur dem schönen Herzen ist es verliehen, unabhängig von dem Gegenstand seines Wirkens in jeder seiner Äußerungen ein vollendetes Bild von sich selbst abzuprägen. Der erhabene Charakter kann sich nur in einzelnen Siegen über den Widerstand der Sinne, nur in gewissen Momenten des Schwunges und einer augenblicklichen Anstrengung kundtun; in der schönen Seele hingegen wirkt das Ideal als Natur, also gleichförmig, und kann mithin auch in einem Zustand der Ruhe sich zeigen. Das tiefe Meer erscheint am erhabensten in seiner Bewegung, der klare Bach am schönsten in seinem ruhigen Lauf.

Es ist mehrmals darüber gestritten worden, welche von beiden, die Tragödie oder die Komödie, vor der andern den Rang verdiene. Wird damit bloß gefragt: welche von beiden das wichtigere Objekt behandle, so ist kein Zweifel, daß die erstere den Vorzug behauptet; will man aber wissen, welche von beiden das wichtigere Subjekt erfordre, so möchte der Ausspruch eher für die letztere ausfallen. – In der Tragödie geschieht schon durch den Gegenstand sehr viel, in der Komödie geschieht durch den Gegenstand nichts und alles durch den Dichter. Da nun bei Urteilen des Geschmacks der Stoff nie in Betrachtung kommt, so muß natürlicherweise der ästhetische Wert dieser beiden Kunstgattungen in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer materiellen Wichtigkeit stehen. Den tragischen Dichter trägt sein Objekt, der komische hingegen muß durch sein Subjekt das seinige in der ästhetischen Höhe erhalten. Jener darf einen Schwung nehmen, wozu so viel eben nicht gehöret; der andere muß sich gleich bleiben, er muß also schon dort sein und dort zu Hause sein, wohin der andre nicht ohne einen Anlauf gelangt. Und gerade das ist es, worin sich der schöne Charakter von dem erhabenen unterscheidet. In dem ersten ist jede Größe schon enthalten, sie fließt ungezwungen und mühelos aus seiner Natur, er ist, dem Vermögen nach, ein Unendliches in jedem Punkte seiner Bahn; der andere kann sich zu jeder Größe anspannen und erheben, er kann durch die Kraft seines Willens aus jedem Zustande der Beschränkung sich reißen. Dieser ist also nur ruckweise und nur mit Anstrengung frei, jener ist es mit Leichtigkeit und immer.

Diese Freiheit des Gemüts in uns hervorzubringen und zu nähren, ist die schöne Aufgabe der Komödie, so wie die Tragödie bestimmt ist, die Gemütsfreiheit, wenn sie durch einen Affekt gewaltsam aufgehoben worden, auf ästhetischem Weg wiederherstellen zu helfen. In der Tragödie muß daher die Gemütsfreiheit künstlicherweise und als Experiment aufgehoben werden, weil sie in Herstellung derselben ihre poetische Kraft beweist; in der Komödie hingegen muß verhütet werden, daß es niemals zu jener Aufhebung der Gemütsfreiheit komme. Daher behandelt der Tragödiendichter seinen Gegenstand immer praktisch, der Komödiendichter den seinigen immer theoretisch; auch wenn jener (wie Lessing in seinem Nathan) die Grille hätte, einen theoretischen, dieser, einen praktischen Stoff zu bearbeiten. Nicht das Gebiet, aus welchem der Gegenstand genommen, sondern das Forum, vor welches da Dichter ihn bringt, macht denselben tragisch oder komisch. Der Tragiker muß sich vor dem ruhigen Räsonnement in acht nehmen und immer das Herz interessieren; der Komiker muß sich vor dem Pathos hüten und immer den Verstand unterhalten. Jener zeigt also durch beständige Erregung, dieser durch beständige Abwehrung der Leidenschaft seine Kunst; und diese Kunst ist natürlich auf beiden Seiten um so größer, je mehr der Gegenstand des einen abstrakter Natur ist und der des andern sich zum Pathetischen neigt12. Wenn also die Tragödie von einem wichtigern Punkt ausgeht, so muß man auf der andern Seite gestehen, daß die Komödie einem wichtigern Ziel entgegengeht, und sie würde, wenn sie es erreichte, alle Tragödie überflüssig und unmöglich machen. Ihr Ziel ist einerlei mit dem Höchsten, wornach der Mensch zu ringen hat, frei von Leidenschaft zu sein, immer klar, immer ruhig um sich und in sich zu schauen, überall mehr Zufall als Schicksal zu finden und mehr über Ungereimtheit zu lachen als über Bosheit zu zürnen oder zu weinen.

Wie dem handelnden Leben, so begegnet es oft auch bei dichterischen Darstellungen, den bloß leichten Sinn, das angenehme Talent, die fröhliche Gutmütigkeit mit Schönheit der Seele zu verwechseln, und da sich der gemeine Geschmack überhaupt nie über das Angenehme erhebt, so ist es solchen niedlichen Geistern ein leichtes, jenen Ruhm zu usurpieren, der so schwer zu verdienen ist. Aber es gibt eine untrügliche Probe, vermittelst deren man die Leichtigkeit des Naturells von der Leichtigkeit des Ideals, sowie die Tugend des Temperaments von der wahrhaften Sittlichkeit des Charakters unterscheiden kann, und diese ist, wenn beide sich an einem schwierigen und großen Objekte versuchen. In einem solchen Fall geht das niedliche Genie unfehlbar in das Platte, so wie die Temperamentstugend in das Materielle, die wahrhaft schöne Seele hingegen geht ebenso gewiß in die erhabene über.

Solange Lucian bloß die Ungereimtheit züchtigt, wie in den »Wünschen«, in den »Lapithen«, in dem »Jupiter Tragödus« u.a., bleibt er Spötter und ergötzt uns mit seinem fröhlichen Humor; aber es wird ein ganz anderer Mann aus ihm in vielen Stellen seines »Nigrinus«, seines »Timons«, seines »Alexanders«, wo seine Satire auch die moralische Verderbnis trifft. »Unglückseliger«, so beginnt er in seinem »Nigrinus« das empörende Gemälde das damaligen Roms, »warum verließest du das Licht der Sonne, Griechenland, und jenes glückliche Leben der Freiheit und kamst hieher in dies Getümmel von prachtvoller Dienstbarkeit, von Aufwartungen und Gastmählern, von Sykophanten, Schmeichlern, Giftmischern, Erbschleichern und falschen Freunden? usw.« Bei solchen und ähnlichen Anlässen muß sich der hohe Ernst des Gefühls offenbaren, der allem Spiele, wenn es poetisch sein soll, zum Grunde liegen muß. Selbst durch den boshaften Scherz, womit sowohl Lucian als Aristophanes den Sokrates mißhandeln, blickt eine ernsthafte Vernunft hervor, welche die Wahrheit an dem Sophisten rächt und für ein Ideal streitet, das sie nur nicht immer ausspricht. Auch hat der erste von beiden in seinem Diogenes und Demonax diesen Charakter gegen alle Zweifel gerecht, fertigt; unter den Neuern, welchen großen und schönen Charakter drückt nicht Cervantes bei jedem würdigen Anlaß in seinem »Don Quixote« aus, welch ein herrliches Ideal mußte nicht in der Seele des Dichters leben, der einen Tom Jones und eine Sophia erschuf, wie kann der Lacher Yorik, sobald er will, unser Gemüt so groß und so mächtig bewegen. Auch in unserm Wieland erkenne ich diesen Ernst der Empfindung; selbst die mutwilligen Spiele seiner Laune beseelt und adelt die Grazie des Herzens; selbst in den Rhythmus seines Gesanges drückt sie ihr Gepräg, und nimmer fehlt ihm die Schwungkraft, uns, sobald es gilt, zu dem Höchsten emporzutragen.

Von der Voltairischen Satire läßt sich kein solches Urteil fällen. Zwar ist es auch bei diesem Schriftsteller einzig nur die Wahrheit und Simplizität der Natur, wodurch er uns zuweilen poetisch rührt; es sei nun, daß er sie in einem naiven Charakter wirklich erreiche, wie mehrmals in seinem »Ingenu«, oder daß er sie, wie in seinem »Candide« u.a., suche und räche. Wo keines von beiden der Fall ist, da kann er uns zwar als witziger Kopf belustigen, aber gewiß nicht als Dichter bewegen. Aber seinem Spott liegt überall zu wenig Ernst zum Grunde, und dieses macht seinen Dichterberuf mit Recht verdächtig. Wir begegnen immer nur seinem Verstande, nicht seinem Gefühl. Es zeigt sich kein Ideal unter jener luftigen Hülle und kaum etwas absolut Festes in jener ewigen Bewegung. Seine wunderbare Mannigfaltigkeit in äußern Formen, weit entfernt, für die innere Fülle seines Geistes etwas zu beweisen, legt vielmehr ein bedenkliches Zeugnis dagegen ab, denn ungeachtet aller jener Formen hat er auch nicht eine gefunden, worin er ein Herz hätte abdrücken können. Beinahe muß man also fürchten, es war in diesem reichen Genius nur die Armut des Herzens, die seinen Beruf zur Satire bestimmte. Wäre es anders, so hätte er doch irgend auf seinem weiten Weg aus diesem engen Geleise treten müssen. Aber bei allem noch so großen Wechsel des Stoffes und der äußern Form sehen wir diese innere Form in ewigem, dürftigem Einerlei wiederkehren, und trotz seiner voluminösen Laufbahn hat er doch den Kreis der Menschheit in sich selbst nicht erfüllt, den man in den obenerwähnten Satirikern mit Freuden durchlaufen findet.

Setzt der Dichter die Natur der Kunst und das Ideal der Wirklichkeit so entgegen, daß die Darstellung des ersten überwiegt und das Wohlgefallen an demselben herrschende Empfindung wird, so nenne ich ihn elegisch. Auch diese Gattung hat, wie die Satire, zwei Klassen unter sich. Entweder ist die Natur und das Ideal ein Gegenstand der Trauer, wenn jene als verloren, dieses als unerreicht dargestellt wird. Oder beide sind ein Gegenstand der Freude, indem sie als wirklich vorgestellt werden. Das erste gibt die Elegie in engerer, das andere die Idylle in weitester Bedeutung13.