Für unsere Klienten, unsere Kollegen, unsere Studenten, unsere Freunde, unsere Feinde und unsere Familien.
Danke, dass Sie alle uns die Wichtigkeit von Kollaboration verdeutlicht haben.

Dieses Buch hätte nicht ohne die harte Arbeit, die Hingabe und die Kollaboration der Mitarbeiter am Center for Contextual Change und Dennis O’Keefe und Ronald C. Fish entstehen können.

Vorwort

Manchmal sind diejenigen, die traumatisierten Menschen helfen wollen – ob es sich bei ihnen nun um Familienangehörige oder Therapeuten handelt –, der Meinung, dass die traumatisierten Personen der Führung bedürfen; dass irgendwie alle Klienten ins Behandlungsprotokoll passen müssen und dass „der Arzt es am besten weiß“. Zuvor, von den 1950ern bis in die 1980er-Jahre, dominierte ein klientenzentrierter Ansatz sehr stark, bis die Therapeuten selbst mehr Strenge in der Einhaltung von Behandlungsprotokollen forderten.

Der Titel Systemic Treatment of Incest: A Therapeutic Handbook von Terry Trepper und Mary Jo Barrett erschien im Jahre 1989 als erster Band in der englischen Buchreihe. Trepper, Professorin für Familienpsychologie und Expertin für menschliche Sexualität, und Barrett, die als Therapeutin Pionierarbeit geleistet hatte, indem sie als Erste familiensystemische Strategien auf traumatisierte Familien anwandte, profitierten von jahrelanger Erfahrung in der Arbeit mit Inzestüberlebenden und ihren Familien. Gemeinsam verfassten sie ein Buch, das die psychotherapeutische Gemeinde aufrüttelte.

Das Buch war von Therapeuten für Therapeuten geschrieben worden, die ein in ihrer Fachterminologie verfasstes Werk darüber lesen wollten, wie Klienten unter sexuellen Traumatisierungen litten und welche Möglichkeiten es für Therapeuten gab, systemische Ansätze für eine umfassende Einbeziehung und Behandlung der geschädigten Familien zu nutzen. Systemic Treatment of Incest war eines der ersten Bücher, die in diese Richtung gingen, und es erschien zu einer Zeit, als Traumaspezialisten kaum Familien behandelten – und wenn sie es taten, dann keineswegs in einer Weise, die man heute als systemisch oder kontextuell bezeichnen würde.

In den späten 1980er-Jahren gab es Bestrebungen, die Psychotherapie einschließlich der Familientherapie zu professionalisieren; dies geschah über staatliche Lizenzierung, die Einführung von standardisierten Vorgehensweisen für Angehörige klinischer Institutionen und Bestrebungen, Behandlungsansätze zu manualisieren, um einer evidenzbasierten Vorgehensweise mehr Gewicht zu verleihen. Gleichzeitig kamen in der Psychotherapie viele neue Innovationen auf, die eine bessere Behandlung traumatisierter Personen ermöglichten. Heute stehen in den meisten Therapieausbildungen die Wichtigkeit des Kontextes, die therapeutische Beziehung, die Einbindung der Klienten als Kunden in den Veränderungsprozess und die Selbstsorge des mit traumatisierten Klienten arbeitenden Therapeuten im Vordergrund.

Mit anderen Worten, in unserem Eifer, die Effektivität im Hinblick auf eine Symptomreduzierung zu quantifizieren, neigten wir dazu, die Menschlichkeit unserer Klienten auszublenden und uns gegenüber ihrer eigenen Realität abzuschotten. Wir haben nun herausgefunden, dass das Vorgehen, sich die Geschichten von Klienten und ihre Lösungen anzuhören und erst dann einen Behandlungsplan zu entwickeln, zwar simpel klingt, aber klinisch effektiv ist.

Barrett und Stone Fish führen uns zurück zu unseren Wurzeln und vollenden dabei, was Trepper und Barrett in den 1980er-Jahren begonnen haben.

Die Reihe Psychosocial Stress und das Herausgebergremium begrüßen Komplexe Traumafolgestörungen erfolgreich behandeln von Mary Jo Barret und Linda Stone Fish, ein Nachfolgewerk zu dem Buch von Trepper und Barrett, das 25 Jahre zuvor erschien. Dieses Buch ist ein Juwel. Es erweitert das vorangegangene Werk, indem es all das einbezieht, was Barrett und Stone Fish sowohl aus ihren Forschungen als auch insbesondere aus ihrer Praxis sowie durch ihre Konzentration auf komplexe Traumafolgestörungen gelernt haben. Die meisten Experten auf diesem Gebiet betrachten die Begutachtung und Behandlung von Klienten mit komplexen Traumafolgestörungen als das Herausforderndste, was einem in der Praxis begegnen kann. Was diese Forscher und Therapeuten in ihrer harten Arbeit in der klinischen Praxis entdeckt haben, liefert nicht nur eine Richtlinie für die Behandlung komplexer Traumafolgestörungen, sondern sagt auch sehr viel über die Behandlung aller Arten von Traumafolgestörungen innerhalb und außerhalb des familiären Kontextes.

Dieses Buch basiert auf dem erprobten und bewährten Ansatz zur Behandlung der Folgen sexueller Traumatisierungen und erweitert ihn auf traumatisierte Familien im Allgemeinen, auch wenn der Fokus hier auf komplexen Traumafolgestörungen liegt. Es ist ein sehr wichtiges und multisystemisches Unterfangen.

Komplexe Traumafolgestörungen – die Folgen wiederholter Missbrauchserfahrungen durch das relationale Umfeld über einen längeren Zeitraum – sind die am schwierigsten korrekt zu diagnostizierenden und zu behandelnden, und dieses Buch liefert hierfür eine standardisierte Vorgehensweise. Das zentrale Konzept im Ansatz zur Behandlung komplexer Traumafolgestörungen nach Barrett und Stone Fish ist Kollaboration. Die Therapeuten werden darin angeleitet, wie sie am besten kollaborativ mit ihren Klienten zusammenarbeiten können, und eine klare, aber flexible klinische Richtlinie liefert einen zugänglichen und evidenzbasierten Behandlungsplan; einen, der zu dem für den Rest ihres Lebens andauernden Wachstums- und Selbstsorgeplan aufseiten der Klienten führt.

Das vorliegende Buch über die Behandlung komplexer Traumafolgestörungen hätte auch „Das Collaborative Change Model (CCM)“ genannt werden können, denn Barrett und Stone Fish haben zwar ein bemerkenswertes Buch für Therapeuten verfasst, die mit Klienten mit komplexen Traumafolgestörungen arbeiten, aber kollaborative Veränderung ist die entscheidende Variable in ihrem Modell, und diese hat auch weitreichende Implikationen für alle Therapeuten, die mit einem traumatisierten Klienten arbeiten, der nach einem traumatisierenden Ereignis wieder nach vorne blicken möchte.

Die komplexe Traumafolgestörung beinhaltet eine Vielzahl von Aspekten, die in der Behandlung berücksichtigt werden müssen. Die Autorinnen dieses Buches haben entdeckt, dass dies in einer bestimmten Reihenfolge geschehen sollte. Zu den vielfältigen Aspekten zählen unter anderem Gewalt und Misshandlung auf vielen Ebenen: interpersonell, psychologisch, sexuell, spirituell und emotional. Die Autorinnen weisen darauf hin, dass diese Art von Trauma komplexer Natur ist und tiefe Wunden hinterlässt, die eine vorsichtige Behandlung und eine enge und positive Arbeitsbeziehung zwischen Therapeut und Klient erfordern.

Das dynamische, phasenbasierte Modell der Autorinnen ist ein Leitfaden für Therapeuten. Es beinhaltet drei Phasen oder Stufen der Arbeit mit Klienten, die an komplexen Traumafolgestörungen leiden: Kontext für Veränderungen herstellen (sechs Aktivitäten, einschließlich „Feststellen von Vulnerabilitäten“ und „Setzen von Zielen“); Entwicklung eines kollaborativen Behandlungsplanes (sieben Aktivitäten, darunter „Erkunden von Behandlungsoptionen“, „Hinterfragen von Vulnerabilitäten und der Funktion von Symptomen“) sowie letztlich die Stufe „Veränderungen konsolidieren und voranschreiten“ (sechs Aktivitäten einschließlich „Akzeptieren von Vulnerabilitäten“ und „Aktives Anerkennen“).

Therapeuten, die sich gegenüber traumatisierten Familien optimal verhalten wollen, können dieses Buch als Richtlinie für das umfassende Verstehen von Individuen, Paaren und Familien verwenden und mit den Betroffenen gemeinsam kollaborativ darüber beraten, welche Behandlung zu welcher Zeit, unter welchen Bedingungen, für wie lange und mit welcher Art von Ergebnis für alle Beteiligten am besten ist.

Charles R. Figley

Herausgeber der englischen Psychosocial-Stress-Buchreihe, in der dieser Titel erschienen ist.

Einführung

„In der langen Geschichte der Menschheit setzten sich diejenigen durch, die gelernt hatten, möglichst effektiv zusammenzuarbeiten und zu improvisieren.“

(Charles Darwin)

Dieses Buch liefert ein praktisches und klinisch evaluiertes Modell für die Behandlung von Klienten, die komplexe Traumata erlitten haben und an den Folgen (einer komplexen Traumafolgestörung) leiden. Das hier vorgestellte Material und das beschriebene Modell sind als Vorlage oder als Metarahmen gedacht, der von Therapeuten aus zahlreichen Disziplinen in vielen unterschiedlichen Bereichen einsetzbar ist. Das Modell hilft bei der Organisation der Behandlung aller Arten von Klienten mit einer Vorgeschichte interpersoneller Traumata. Es diente bereits für Therapeuten, die über eine Ausbildung und Expertise in bestimmten therapeutischen Ansätzen verfügen, als Leitfaden für die Arbeit mit traumatisierten Klienten, und es wurde ebenso schon von Personen ohne formelle Ausbildung in der Traumaarbeit verwendet. Das Modell kam bei Therapeuten in den USA, Lateinamerika, dem Mittleren Osten, Asien und Teilen Europas zum Einsatz und auch bei Fachkräften, die mit Menschen aus Mehrheits- und Minderheitenkulturen auf der ganzen Welt arbeiteten. Es ist ein kollaboratives Konstrukt, was bedeutet, dass es Therapeuten in der praktischen Arbeit mit dem Modell dazu ermuntert, andere Fachkräfte in der Gemeinde, die Klienten selbst und deren Unterstützungssysteme einzubeziehen, um bestmögliche Ergebnisse zu erzielen. Es ist ein Modell, das Teams erschafft, um Veränderung und Wachstum herbeizuführen. Wie Helen Keller1 sagte: „Allein können wir so wenig erreichen, gemeinsam aber so viel.“

Viele Personen, die komplexe Traumata erlitten haben, stecken fest und benötigen Hilfe. Vielleicht leben sie allein oder auch in Familien, in Betreuungseinrichtungen, im Gefängnis oder in therapeutischen Wohngemeinschaften. Ein großer Teil von ihnen vegetiert nur von Tag zu Tag und wartet dabei auf die nächste verstörende Krise. Klienten mit komplexen Traumafolgestörungen beginnen die Reise ihrer Therapie oft mit zusätzlichem emotionalem Ballast aufgrund von Traumatisierungen in Kinderheimen, Betreuungseinrichtungen, Gefängnissen und anderen therapeutischen Beziehungen – wie derjenigen, in die sie sich nun auf der Suche nach Hilfe begeben. Therapeuten hingegen treten mit der expliziten Auffassung, dass sie nun hilfreich sein müssten, in die Beziehung ein. Möglicherweise kennen sie sich mit einer Vielzahl von Behandlungsmöglichkeiten sehr gut aus und haben eine aufgeschlossene Haltung, aber es mangelt ihnen an einem effektiven Behandlungsplan für die Optimierung ihrer Interventionen und an den relationalen Fertigkeiten für Klienten mit komplexen Traumafolgestörungen. Wenn Therapeuten keinen Behandlungsplan haben und sich in komplizierten therapeutischen Beziehungen mit ihren Klienten befinden, kann es dazu kommen, dass sie diejenigen Klienten unabsichtlich retraumatisieren, die zuvor von anderen Menschen in Machtpositionen traumatisiert wurden, indem diese ihnen furchtbare Dinge antaten. Sind Therapeuten jedoch mit einem Behandlungsplan ausgestattet und erklären diesen den Klienten Schritt für Schritt, kollaborieren Therapeuten und Klienten so, dass es sich mit den Worten vieler unserer Klienten zusammenfassen lässt: „Wir machen das hier zusammen.“ Ein vorhersagbares, strukturiertes, zielgeleitetes Stufenmodell, das in Zusammenarbeit mit den Klienten erstellt wird, erzeugt einen nichttraumatisierenden heilenden Kontext. Genau solch ein Behandlungsmodell beschreiben wir in diesem Buch.

Wir empfehlen, dass Sie dieses Buch mit Bedacht lesen, sich also genügend Zeit nehmen und dabei an den Kontext Ihrer Tätigkeit und an Ihre Klienten denken; die hier vorgestellten Konzepte und Interventionen auf Ihre Arbeit und Ihren eigenen Stil anwenden und die Ideen so integrieren, dass Sie sie vollständig verinnerlichen. Mit anderen Worten, wir möchten, dass Sie als Leser schon üben, in dem Modell zu Hause zu sein, während Sie darüber lesen.

Stufe 1: Kontext für Veränderungen herstellen

Stufe 2: Muster hinterfragen und Realitäten erweitern

Stufe 3: Veränderungen konsolidieren und voranschreiten

Aufbauen einer Zuflucht

Kollaboratives Erkunden differenzieller traumabezogener Interventionen

Nährende Umgebungen

Feststellen von Vulnerabilitäten und der Funktion von Symptomen

Erweitern der Zuflucht und des Kontextes für Veränderungen

Akzeptieren von Vulnerabilitäten

Beurteilen der Ressourcen

Hinterfragen von Vulnerabilitäten und der Funktion von Symptomen

Integrieren von Ressourcen

Erkunden positiver und negativer Konsequenzen von Veränderungen

Erweitern von Ressourcen

Entscheiden für eine aktive Geisteshaltung

Verstehen und Validieren der Verleugnung, Verfügbarkeit und Bindung des Klienten

Prüfen und Erweitern von Verfügbarkeit

Aktives Anerkennen

Setzen von Zielen

Erreichen von Zielen

Einbeziehen von Erfolg

Einführen des Anerkennens

Fortwährendes Anerkennen

Das Modell

Das Collaborative Change Model (CCM) ist ein rekursives sequenzielles Modell, das einen natürlichen Veränderungszyklus widerspiegelt. Die rekursive Abfolge ist dabei in drei Stufen unterteilt. In der ersten Stufe der Sequenz (Kontext für Veränderungen herstellen) liegt der Schwerpunkt darauf, den therapeutischen Kontakt mit Klienten zu stabilisieren, indem man sich auf Sicherheit und Zuflucht konzentriert. In Stufe 1 sammeln Therapeuten Informationen darüber, in welcher Form die Symptome und Verhaltensweisen des Klienten eine Anpassung an komplexe Traumata darstellen; sie entwickeln eine gemeinsame Sprache im Hinblick auf den Überlebenszyklus bei Traumata und darüber, wie Veränderungen stattfinden, und sie erstellen gemeinsam einen Behandlungsplan vor dem Hintergrund des individuellen Ablaufs von Veränderungen beim Klienten. Muster hinterfragen und Realitäten erweitern (Stufe 2) ist die Stufe, in der Fertigkeiten aufgebaut werden, mit denen die Klienten in neue Arten des Denkens und Verhaltens eintauchen und ihre Weltsicht erweitern können, um alternative Lebensmuster in Betracht zu ziehen. Konsolidierung (Stufe 3) bezieht sich auf das Herausstellen der adaptiven Veränderungen, die der Klient bereits einbezieht; den Ausblick in die Zukunft (sei diese nun der nächste Tag, die nächste Woche oder das ganze Leben nach der Therapie) und die Planung dessen, wie man sich auch in stressigen Zeiten weiter auf einen konstruktiven Umgang mit der Situation konzentrieren kann. Auch wenn das Modell einer sehr klaren Abfolge von Stufen und Schritten folgt, ist es gleichzeitig flexibel und an den individuellen Stil des Therapeuten, das theoretische Modell und die klinische Umgebung genauso anpassbar wie an die Symptomatik des Klienten. Die Therapeuten können kreativ dabei sein, Interventionen zu entwickeln, die zu ihren individuellen Talenten passen. Anderen bei Wachstum und Veränderung zu helfen ist ein kreativer und ehrwürdiger Prozess. Das CCM gestattet jedem Klienten und Therapeuten, gemeinsam den kreativen Veränderungsprozess zu gestalten, der zu ihren Stärken und Stilen passt. Gleichzeitig betont das CCM, dass der natürliche Veränderungszyklus in jeder guten Therapie für Klienten mit einer Vorgeschichte komplexer Traumata stattfindet. Das Schöne an diesem Modell liegt darin, dass es – ähnlich, wie ein Bauplan eine Konstruktion organisiert – eine Reise zur Heilung für alle organisiert, die in eine einfache rekursive Schleife einbezogen sind, welche kreativ, respektvoll, praktisch, klientenzentriert und effektiv ist.

Eine kurze Geschichte des Modells

Barrett and Trepper (1986; Trepper & Barrett, 1989) schrieben zuerst über das Modell, das sie seinerzeit noch als „Multiple Systems Approach“ („multisystemischen Ansatz“) bezeichneten. Die einzelnen Stufen wurden dabei anfänglich zu dem Zweck erstellt, die Behandlung zu systematisieren und Therapeuten zu helfen, die Angst zu überwinden, die mit der Arbeit an Fällen innerfamiliärer Gewalt einhergeht. Wir, Mary Jo Barrett und Linda Stone Fish, arbeiten seit den Anfängen des Modells damit, wobei wir einander mit Erkenntnissen aus unseren gemeinsamen und eigenständigen wissenschaftlichen Arbeiten beeinflussten (z. B. Barrett, Stone Fish & Trepper, 1990; Stone Fish, 2000; Stone Fish & Harvey, 2005). Während wir unser Verständnis erweiterten und neue Informationen in unser Modell einbezogen, entwickelte es sich zu dem weiter, was wir mittlerweile als Collaborative Change Model bezeichnen.

Wir haben das Modell für die Unterrichtung von Studenten ebenso benutzt wie für die Ausbildung von Therapeuten, die in ambulanter psychotherapeutischer Versorgung, Schulen, Kinderschutzdiensten, Gefängnissen, klinikbasierten Programmen und stationären Behandlungseinrichtungen tätig sind. Anhand von Rückmeldungen aus über 500 Prozessevaluations-Interviews mit CCM-Klienten, die uns über hilfreiche Aspekte der Behandlung informierten, wurde das Modell erweitert. Im Laufe der letzten 30 Jahre nutzten wir Informationen von auf Traumata spezialisierten Forschern, Theoretikern und Wissenschaftlern (z. B. Briere, 1995; Herman, 1992; Ford & Courtois, 2009; Siegel, 2010; Porges, 2001; Van der Kolk, 1987; Van der Kolk, McFarlane & Weisaeth, 2006), von den Klinikern am Center for Contextual Change und von Tausenden von Klienten, um ein enormes Maß an Wissen darüber anzuhäufen, wie komplexe Traumata sich auf Individuen und Familien auswirken.

Am Center for Contextual Change in Chicago, Illinois, haben Mary Jo und ihre Kollegen das CCM als ihren therapeutischen Ansatz für die Behandlung von Klienten mit komplexen Traumata sowie von Opfern und Tätern in Fällen interpersoneller Misshandlungen eingesetzt. Die Klienten durchlaufen eine Aufnahmeuntersuchung, zu der oft auch das Trauma Symptom Inventory-2 (TSI-2) (Briere, 1995; Briere & Elliott, 2003) hinzugezogen wird, welches ebenfalls am Beginn der Therapie, in der Mitte und am Ende der Therapie eingesetzt wird. Viele Klienten werden nach der Beendigung der Behandlung noch interviewt. In Abständen werden auch Klienten, die die Therapie vor mehr als fünf Jahren beendet haben, noch kontaktiert und befragt, was an der Therapie hilfreich war und wie sie die eingetretenen Veränderungen konsolidiert haben. Das CCM, das wir in diesem Buch sehr detailliert erkunden werden, hat die Rückmeldung von Klienten integriert, welche dann wiederum bei der Ausgestaltung des Modells half. Im ganzen Buch finden sich Aussagen von therapeutischen Teams und Klienten dazu, wie das CCM der Komplexität jeder einzigartigen Situation Herr werden kann.

Terminologie

Komplexes Trauma

Wir definieren komplexes Trauma als tief greifende Geisteshaltung, die sich aus früheren und oft noch andauernden Beziehungen entwickelt, welche durch Grenzverletzungen, Misshandlungen und Vernachlässigung gekennzeichnet sind. Nach Briere und Lanktree (2012) beinhaltet komplexes Trauma „normalerweise eine Kombination früh und spät beginnender, manchmal hochgradig invasiver traumatischer Ereignisse, darunter häufig die Exposition an wiederholte sexuelle, körperliche und / oder psychologische Misshandlungen in der Kindheit“ (S. 1). Körperliche, sexuelle, psychologische und emotionale Grenzverletzungen, die von Bezugspersonen und / oder sozialen Umfeldern begangen und nicht unterstützend gehandhabt wurden, führen zu Traumatisierungen. Eine tief greifende traumatisierte Geisteshaltung entsteht, wenn eine vulnerable Person viktimisiert wird, keine Kontrolle hat und nicht zur Bewältigung in der Lage ist.

Zu den entscheidenden Aspekten komplexer Traumata zählt, dass sie oft in Beziehungen, größere Systeme und soziale Umgebungen eingebunden sind, die eigentlich protektiv wirken sollten. Vulnerable Menschen sind Grenzverletzungen ausgesetzt, werden durch diese geschädigt und dann auch noch retraumatisiert, wenn Bezugspersonen und soziale Umgebungen die Vorgänge verleugnen oder die betroffenen Personen beschuldigen oder ignorieren. Dieses Betrugstrauma (DePrince & Freyd, 2007) tritt bei viktimisierten Personen auf, wenn Bezugspersonen sie durch weitere Misshandlungen oder Vernachlässigung reviktimisieren, was das traumatische Ereignis und / oder die fortdauernde traumatische Beziehung verschlimmert.

Überlebensorientierte Geisteshaltung

Menschen mit komplexen Traumata entwickeln oft eine überlebensorientierte Geisteshaltung. „Wenn Kinder unerträglichem Stress ausgesetzt sind und die Bezugsperson die Funktion, die Erregung des Kindes zu modulieren, nicht übernimmt (wie es der Fall ist, wenn Kinder familiärer Dysfunktion oder Gewalt ausgesetzt sind), können die Kinder diese Erfahrung nicht in einer kohärenten Weise organisieren“ (Van der Kolk, 2005, S. 375). Wenn wir unsere Erfahrungen nicht organisieren und ihnen eine Bedeutung zuschreiben können, die in Bezug auf Vorhersage zukünftiger Dinge Sinn ergibt, so wirkt sich dies auf unsere Entwicklung, unser Wachstum und unser Lernen aus. Eine Vorgeschichte komplexer Traumata beeinflusst Affektregulation, die adaptiven Fähigkeiten des Ichs, die Impulskontrolle und die Bindungsmuster (Ford & Courtois, 2009). Wenn Menschen ihre Emotionen, Kognitionen, Verhaltensweisen und Beziehungen nicht kontrollieren können, vermuten wir, dass sie aus einer überlebensorientierten Geisteshaltung heraus handeln könnten. Sie erleben sich selbst als machtlos, außerhalb jeglicher Kontrolle, herabgewürdigt und losgelöst. Und sie reagieren auf Stress mit Kampf, Flucht und / oder Erstarren; allesamt Reaktionen, die für das Überleben im Menschen hartverdrahtet sind.

Aktive Geisteshaltung

Das Ziel der Behandlung ist, den Klienten dabei zu helfen, von einer überlebensorientierten Geisteshaltung zu einer aktiven Geisteshaltung überzugehen. Bei einer aktiven Geisteshaltung haben Individuen Zugang zu Werkzeugen, die ihren Affekt, ihre Kognitionen, ihr Verhalten und ihre Beziehungen regulieren, und nutzen diese Werkzeuge auch. Sie erleben sich selbst als machtvoll, in Kontrolle, wertgeschätzt und mit sich selbst, anderen Menschen und der Welt um sie herum verbunden. Sie sind sich ihrer Stärken, ihrer Ressourcen und ihrer Vulnerabilitäten bewusst, und sie haben eine Reihe von Fertigkeiten aufgebaut, um mit Stress umzugehen. Wenn Menschen aus einer aktiven Geisteshaltung heraus handeln, verfügen sie über Eigen- und Fremdbewusstheit, üben sich in Mindsight (Siegel, 2010), pflegen unterstützende Beziehungen und haben eine bedeutungsvolle Vision der Zukunft.

Übersicht über das Buch

Ein Plan für Bewusstheit und Veränderung

Wir erläutern hier den Plan, den das CCM darstellt, in einer praxisnahen Weise, sodass Therapeuten mit allen notwendigen Dingen ausgestattet werden, die sie benötigen, um Klienten mit einer Vorgeschichte komplexer Traumata zu helfen. Das Buch ist in zwei Teile unterteilt. Da wir der Ansicht sind, dass Wachstum und Veränderung in einem sich wiederholenden zyklischen Prozess optimal verlaufen, haben wir das Buch so organisiert, dass sich der Veränderungszyklus darin widerspiegelt und die Behandlung mittels des CCM demonstriert wird. Wir wiederholen die zentralen Konzepte dabei ganz bewusst in jedem Kapitel erneut, ebenso wie wir Therapeuten zu Wiederholung in der Anwendung des Modells raten, um Veränderung und Wachstum zu ermöglichen. Unserer Ansicht nach ist Wiederholung die beste Intervention, die ein Therapeut vornehmen kann.

Im ersten Teil des Buches, „Kontext für Veränderungen herstellen“, stellen wir die Konzepte vor, die die Grundlage unseres Denkens über komplexe Traumata und den Prozess der Veränderung von einer überlebensorientierten Geisteshaltung zu einer aktiven Geisteshaltung darstellen. Das erste Kapitel beinhaltet eine Literaturübersicht und erkundet unser Verständnis, wie Individuen auf wiederholte traumatische Erfahrungen reagieren und sich an diese anpassen, während sie wachsen und sich entwickeln. Darüber hinaus deckt das erste Kapitel die bindungsbezogenen Aspekte ab und widmet sich der Frage, wie sich das Verhalten von Bezugspersonen auf die Reaktion eines Individuums auf traumatische Ereignisse auswirkt. Kapitel 2 beginnt mit den Zielen einer traumabezogenen Behandlungspraxis und dem, was wir von unseren Klienten über die entscheidenden Zutaten einer effektiven Behandlung gelernt haben. Das dritte Kapitel stellt die fünf grundlegenden Behandlungselemente vor, die Therapeuten anwenden müssen, damit die Behandlung effektiv ist. Das letzte Kapitel im ersten Teil des Buches beschreibt die spezifischen Variablen aufseiten des Therapeuten, die essenziell für eine effektive Traumabehandlung sind.

Im zweiten Teil des Buches, „Realitäten erweitern“, stellen wir das dreistufige Modell vor. Stufe 1, „Kontext für Veränderungen herstellen“, wird in Kapitel 5 beschrieben. In diesem Kapitel führen wir aus, wie wir Sicherheit aufbauen und individuelle, familiäre und kontextuelle Variablen erfassen, die sich auf die Klienten auswirken. In Kapitel 6 widmen wir uns Stufe 2: „Muster hinterfragen und Realitäten erweitern“. Dieses Kapitel befasst sich mit der detaillierten Beschreibung von Interventionen, die sich für uns als hilfreich dabei erwiesen haben, Klienten den Übergang von einer überlebensorientierten Geisteshaltung zu einer aktiven Geisteshaltung zu ermöglichen. Im letzten Kapitel erläutern wir dann Stufe 3: „Konsolidierung“. Konsolidierung ist die Stufe, auf der wir die Behandlungsprozesse in jeder einzelnen Therapiesitzung und in der Therapie insgesamt zusammenführen.

Das CCM wurde schon in fast jedem Zusammenhang eingesetzt, in dem es Traumata und das Bedürfnis nach Veränderung gibt. Insbesondere kam es in Schulen, Kliniken, ambulanten und stationären Behandlungseinrichtungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Gefängnissen, häuslichen Umfeldern und geschäftlichen Umgebungen zum Einsatz. Das Behandlungsmodell eignet sich für Opfer, Täter und Familienangehörige. Es ist unsere Überzeugung, dass gewalttätiges Verhalten und andere Misshandlungen im Kontext einer Beziehung oft das Ergebnis komplexer Traumata sind. Daher kann das Modell neben der Psychotherapie auch im Fallmanagement, in der Erziehung, in der Pflege, bei der Polizei und sogar im betrieblichen Kontext von erfahrenen Fachleuten angewendet werden. Das Modell ist sequenzieller Natur, daher ist die Zeit kein entscheidender Faktor. Veränderungen können in einem einzigen Augenblick oder über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg stattfinden. In der Folge kann das CCM dazu verwendet werden, eine dreistündige Untersuchung bei einer für den Kinderschutz zuständigen Behörde, eine Aufnahmebefragung in einer Institution, eine Vorbereitung einer Person für eine Zeugenaussage vor Gericht, eine Intervention in einer Krisensituation in einer Betreuungseinrichtung und ein Telefongespräch mit einem Klienten zu organisieren. Es eignet sich für Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Paare, Familien und Gruppen. Auch wird das CCM mit Opfern, Tätern und Zeugen von Gewalt und Traumata angewendet. Da es ein organisatorisches Modell ist, das den natürlichen Veränderungszyklus fördert, kann es in jedem Setting und in jeder Interaktion angewendet werden, wobei es den Prozess der Genesung von einem Trauma fördert.

Wir haben als „Denkpausen“ bezeichnete Abschnitte (persönliche Kommunikation mit Anita Mandley, 2011) eingefügt und hoffen, dass Sie diese nutzen werden, um über das kurz zuvor gelesene Material nachzudenken und dieses zu integrieren. Die Pause wird im Veränderungsprozess aktiv genutzt, daher haben wir sie auch in dieses Buch integriert. Dies ist für Sie eine Übung, die dazu dient, dass Sie die drei Stufen des Modells beim Lesen des Buches erfahren können. Die Denkpausen für Stufe 1 werden Sie auffordern, über die folgenden Fragen nachzudenken: Wie fühlen Sie sich? Was denken Sie gerade? Möchten Sie etwas aufschreiben? Möchten Sie etwas noch mal lesen? Wie fühlt es sich für Sie an, das Material als Ressource zu integrieren? Wie erschaffen Sie beim Lesen Interventionen? Die Denkpausen für Stufe 2 hingegen sollen Sie dazu bringen, sich Fragen wie die folgenden zu stellen: Ergeben die Ideen, die Sie gerade gelesen haben, für Sie Sinn? Erkennen Sie, wie Sie diese Konzepte in Ihrem Tätigkeitsbereich anwenden können? Wie werden Sie Ihr Wissen in der Arbeit mit traumatisierten Klienten anwenden? Wie erweitert es Ihr Denken und bereitet Sie auf Ihre weitere Tätigkeit vor? Und die Denkpausen für Stufe 3 werden Ihnen Fragen wie die Folgenden stellen: Sind Sie bereit, voranzuschreiten? Möchten Sie eine Pause machen, sich ausruhen oder das Buch weglegen? Möchten Sie sich Notizen machen? Oder Spazieren gehen? Vielleicht auch Ideen mit anderen teilen? Freuen Sie sich auf die nächsten Seiten? Sind Sie motiviert, ermutigt und hoffnungsvoll, dass der Text auf den nächsten Seiten dazu beiträgt, dass Sie sich ermächtigt, wertgeschätzt und mit sich selbst und Ihrer Arbeit verbunden fühlen? Wenn Sie auf einen Denkpausen-Abschnitt stoßen, nutzen Sie diesen bitte als Gelegenheit, das CCM für sich zu erleben und mit Ihrem eigenen Veränderungsprozess vertraut zu werden. Im Ernst, machen Sie eine Pause, bevor Sie mit dem nächsten Schritt in Ihrem Lernprozess fortfahren.

Unsere Absicht ist, Ihnen eine Ressource zur Verfügung zu stellen, die Ihre Fähigkeiten und Ihr Vermögen dazu verbessern, mit Individuen, Familien, Paaren und Gruppenmitgliedern zusammenzuarbeiten, die komplexe Traumata erlitten haben, und mit all den Symptomen umzugehen, die damit einhergehen, wenn Menschen in einer Beziehung traumatisiert werden. Hieraus ergibt sich ein Plan, der für die Anwendung in Ihrem Arbeitsumfeld geeignet ist. Im ganzen Buch finden sich Beispiele von allen möglichen Therapeuten, Klienten und Umfeldern (die Namen wurden geändert, um Vertraulichkeit zu gewährleisten), die Sie als Anregung für Ihre eigene kreative Arbeit mit dem CCM nutzen können. Das CCM ist ein Plan, mit dem Sie eine Behandlung so organisieren und aufbauen können, dass für alle Beteiligten die bestmöglichen Ergebnisse erzielt werden.

Audiodateien (in englischer Sprache), die die Einführung zu diesem Buch und weitere der im Buch behandelten Aspekte erläutern, finden Sie unter http://www.routledge.com.

Literatur

Barrett, M. J., Stone Fish, L. & Trepper, T. (1990). „Feminist-informed family therapy for the treatment of intra-family child sexual abuse“. Journal of Family Psychology, 4, 151–166.

Barrett, M. J. & Trepper, T. (Hrsg.) (1986). Treating incest: A multiple systems perspective. Binghamton, NY: Haworth Press.

Briere, J. (1995). Trauma Symptom Inventory professional manual. Odessa, FL: Psychological Assessment Resources.

Briere, J. & Elliott, D. M. (2003). „Prevalence and psychological sequelae of self-reported childhood physical and sexual abuse in a general population sample of men and women“. Child Abuse & Neglect, 27, 1205–1222.

Briere, J. N. & Lanktree, C. B. (2012). Treating complex trauma in adolescents and young adults. Los Angeles, CA: Sage.

DePrince, A. P. & Freyd, J. J. (2007). „Trauma-induced dissociation“. In M. J. Friedman, T. M. Keane & P. A. Resick (Hrsg.). Handbook of PTSD: Science and practice (S. 135–150). New York: Guilford Press.

Ford, J. D. & Courtois, C. A. (2009). „Defining and understanding complex trauma and complex traumatic stress disorders“. In C. A. Courtois & J. D. Ford (Hrsg.), Treating complex traumatic stress disorders: An evidence based guide. New York: Guilford Press.

Herman, J. L. (1992). Trauma and recovery: The aftermath of violence – from domestic abuse to political terror. New York: Basic Books.

Porges, S. W. (2001). „The polyvagal theory: Phylogenetic substrates of a social nervous system“. International Journal of Psychophysiology, 42, 123–146.

Siegel, D. J. (2010). Mindsight: The science of personal transformation. New York: Bantam. (Dt.: Mindsight – Die neue Wissenschaft der persönlichen Transformation. Goldmann, 2012.)

Stone Fish, L. (2000). „Hierarchical relationship development: Parents and children“. Journal of Marital and Family Therapy, 4, 501–510.

Stone Fish, L. & Harvey, R. (2005). Nurturing queer youth: Family therapy transformed. New York: W. W. Norton & Co.

Trepper, T. & Barrett, M. J. (1989). Systemic treatment of incest: A therapeutic handbook. New York: Routledge.

Van der Kolk, B. (1987). Psychological trauma. Washington, DC: American Psychiatric Press.

Van der Kolk, B. (2005). „Editorial introduction: Child abuse and victimization“. Psychiatric Annals, 35, 374–378.

Van der Kolk, B., McFarlane, A. C. & Weisaeth, L. (Hrsg.) (2006). Traumatic stress: The effects of overwhelming experience on mind, body, and society. New York: Guilford Press.


1 Helen Adams Keller (27.6.1880 – 1.6.1968) war eine taubblinde amerikanische Schriftstellerin.

4. Ethische Abstimmung

„Die Bandbreite dessen, was wir denken und tun, wird durch das begrenzt, was wir nicht bemerken. Und weil wir nicht bemerken, dass wir etwas nicht bemerken, können wir wenig tun, um eine Veränderung herbeizuführen – bis wir bemerken, wie die Tatsache, dass wir etwas nicht bemerken, unser Denken und Handeln prägt.“

(R. D. Laing)

Wilson und Thomas definierten ethische Abstimmung als „die psychobiologische Fähigkeit, Wissen über den internen psychologischen Zustand, eine andere Person zu sein, zu erleben, zu verstehen und zu kommunizieren“ (2004, S. 20). Basierend auf der Interpretation von Therapieforschung an Personen, die Traumata erlitten haben, entwickelten Wilson und seine Kollegen (Wilson & Lindy, 1994; Wilson, Friedman & Lindy, 2001) das Konzept der ethischen Abstimmung; die Autoren führen auch die reaktiven Stile aufseiten von Therapeuten aus, die mit ethischer Abstimmung interferieren. Siegel (2012) schlägt vor, dass abgestimmte Therapeuten „die Gefühle fühlen, anstatt sie lediglich auf der konzeptuellen Ebene zu verstehen“. Er führt aus, dass das wichtigste Element in einem bindungsbasierten und neurobiologisch fundierten psychotherapeutischen Ansatz in der Fähigkeit des Therapeuten zur Regulation der eigenen Emotionen bestünde. Die Therapie würde dann gewissermaßen Körper und Geist insofern voll einbeziehen, als dass der Therapeut mit seinem gesamten Selbst zwar emotional stabil bleibt, aber wie eine Stimmgabel auf jede vom Klienten erlebte emotionale Regung hin vibriert. Unser Konzept der ethischen Abstimmung fußt auf den Ideen von Wilson und Siegel und fügt die in unserem Collaborative Change Model enthaltenen nötigen Komponenten hinzu, nämlich Energie des Therapeuten, Reaktivität und relationale Komponenten komplexer Traumata.

Ethische Abstimmung ist eine vollumfängliche, klare, angstfreie und warme validierende Beobachtung unserer Klienten. Diese findet in Verbindung mit einer vollumfänglichen, klaren, angstfreien und warmen validierenden Beobachtung der eigenen Person sowie einer klaren Beobachtung der eigenen Interaktionen mit den Klienten statt. Ethische Abstimmung ist eine vollkommen aktive Geisteshaltung. Sie beinhaltet außerdem tief greifende Kenntnisse des CCM und des Wie und Wann seiner Anwendung in Fällen komplexer Traumata. Viele Klienten, insbesondere solche mit traumatischen Erfahrungen in intimen Beziehungen, sind in hypervigilanter Weise auf die Energie des Therapeuten abgestimmt. Als Reaktion auf die Gefahr in früheren intimen Beziehungen beginnen viele Klienten die Therapie mit starken Energiefeldern, die andere abstoßen. So halten sie eine „sichere“ Distanz aufrecht, die keine Veränderung der homöostatischen Muster zur Kontrolle der Angst gestattet, welche durch Nähe erzeugt wird. Diese Energie ist zwar oft nicht beabsichtigt, hält die Therapeuten aber dennoch auf Abstand und begrenzt daher ihre potenzielle therapeutische Wirksamkeit. Therapeuten, die durch entsprechende Begabung und Ausbildung sensibel für diese Energie sind, können auf die Distanzierung reagieren. Ohne angemessene Ausbildung und Anleitung kann die Sensibilität des Therapeuten sich in eine negative Reaktivität wandeln, zu der etwa gehört, sich offen gereizt zu zeigen, sich zurückzuziehen, den Klienten als „nicht therapierbaren Borderliner“ oder „hoffnungslosen Fall“ zu klassifizieren etc. Diese Reaktivität hat das Potenzial dazu, Klienten zu retraumatisieren. Therapeuten, die unser CCM in der von uns als „das Modell leben“ bezeichneten Form anwenden, erkennen die Bedeutsamkeit des Anstrebens einer vollumfänglichen, klaren und angstfreien warmen Energie für die Anleitung der Therapie und haben auch ein Modell dafür, wie sie diese herbeiführen. Ethische Abstimmung beinhaltet das Arbeiten aus einer aktiven Geisteshaltung heraus, wozu auch Werkzeuge dafür gehören, bei sich das Fehlen einer aktiven Geisteshaltung zu erkennen und diesen Umstand zu ändern.

Unserer Ansicht nach erzeugt das Fehlen ethischer Abstimmung oft den Kontext für traumatische Erfahrungen. Das soziale Umfeld, die Familie und die Beziehungen, in die unsere Klienten eingebettet sind, haben dabei versagt, den körperlichen, psychologischen, emotionalen, spirituellen und sexuellen Bedürfnisse der Klienten Rechnung zu tragen. Unsere Arbeit besteht dann darin, durch kollaboratives aktives Reagieren aus einer ethisch abgestimmten Haltung heraus eine Alternative zu bieten. Wir stellen dieses Konzept zu Beginn der Therapie vor, wenn wir Sicherheit erörtern und einen Kontext für Veränderungen herstellen. Oft besprechen CCM-Therapeuten den Einsatz ihrer eigenen Person und sind transparent in Bezug darauf, wie sie das Modell leben, um die Therapie aus einer ethisch abgestimmten Position heraus zu steuern. Ein Therapeut könnte zu seinem Klienten etwa sagen: „Ich nehme mir zwischen zwei Klienten fünf Minuten Zeit für geleitete Imagination, bei der ich darüber nachdenke, wie die Sitzung meiner Ansicht nach ablaufen sollte. Ich sage Ihnen das, weil ich möchte, dass Sie wissen, wie Achtsamkeit mir hilft. Wenn ich sie Ihnen also beibringe, dann werden Sie wissen, dass ich sie ebenfalls praktiziere und dass sie hilfreich ist.“

CCM-Therapeuten sind tatsächlich ständig in fortwährender Ausbildung und Vorbereitung. Diese Vorbereitung findet – ebenso wie alle anderen Teile des von uns beschriebenen Modells – ständig statt, in jedem Moment in der Sitzung und außerhalb der Sitzung, das ganze Leben des Therapeuten hindurch. Aufgrund der rekursiven Natur unsers Modells haben manche Leute vorgeschlagen, es als fraktales Modell zu bezeichnen. Ein Fraktal beinhaltet ein Muster, das, wenn man es zerlegt, ähnlich wie eine Schneeflocke alle Teile von sich selbst in allen Teilen beinhaltet. Der Therapeut lebt das Modell und arbeitet mit Klienten daran, dass sie dies ebenfalls tun. Alles, was wir in diesem Buch darlegen, lehren wir unsere Klienten und praktizieren es selbst.

4.1 Die Energie des Therapeuten

Die Vorbereitung darauf, eine therapeutische Reise zu leiten, beginnt mit der Überwachung der eigenen Energie. Ethische Abstimmung ist ein klarer und offener Zugang zur Energie von Geist, Körper und Seele. Wir streben danach, in gleichem Maße auf die eigenen Gedanken, Emotionen, körperlichen Empfindungen und autonomen Erregungszustände abgestimmt zu sein wie auf die unserer Klienten. Für unsere Klienten therapeutisch vollumfänglich verfügbar zu sein bedeutet auch, für uns selbst da zu sein. Indem wir problematische Reaktionen als Gelegenheiten für die Selbstregulation begrüßen, unterstützen wir unsere Klienten beim Erlernen von Selbstregulation innerhalb des von uns erschaffenen Klimas der Zugewandtheit. Wenn wir ethisch auf unsere Klienten abgestimmt sind, genießen wir es, uns in ihrer Gesellschaft zu befinden. In einem Abschlussinterview sprach eine Klienten für ihre Familie, als sie sagte: „Uns war wegen des sexuellen Missbrauchs eine Therapie auferlegt worden. Wir hassten einander und verachteten uns selbst. Unsere Therapeutin schien uns jedoch zu mögen, und sie kannte die Wahrheit. Wenn sie uns mochte, dann konnten wir ja nicht so schlimm sein. Es machte einen Unterschied.“

Unserer Ansicht nach ist das Mitgefühlserschöpfungssyndrom (siehe z. B. Barrett, 2010; Figley, 1995, 2002) die Folge davon, dass wir anderen Menschen hingebungsvoll Fürsorge und etwas von uns selbst zukommen lassen, wodurch wir ihnen buchstäblich unsere Energie geben. Wenn wir dann am Mitgefühlserschöpfungssyndrom leiden, durchdringen die Symptome jeden Bereich unseres Lebens. Je erschöpfter wir im Hinblick auf unsere Energie sind, desto ablenkbarer, urteilender, kritischer, dissoziativer, ängstlicher, niedergeschlagener und aggressiver werden wir; ebenso neigen wir in höherem Maße zu Fehlern, Schlaflosigkeit und körperlichen Erkrankungen. Wir stellen uns vor, dass die Maschine namens Mensch mit psychischer Energie als Brennstoff läuft. Diese Energie ist in fünf Domänen unterteilt: emotional, physisch, spirituell, intellektuell und sinnlich. Damit wir in unserem Leben vollumfänglich präsent und aktiv sein können, brauchen wir Energiereserven in all diesen Bereichen.

Wenn man die unglaubliche Komplexität der genetischen Ausstattung des Menschen und seiner Lebensumwelt betrachtet, dann kann man davon ausgehen, dass zahlreiche Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezug darauf existieren, wie jeder Mensch Energie erzeugt und verbraucht. Wir alle verbrauchen in vielen Bereichen unseres Lebens ständig Energie. Menschen in helfenden und pflegenden Berufen verbrauchen im beruflichen wie auch im privaten Leben oft den ganzen Tag lang Energie aus allen fünf Domänen. Mary Jo sagt dazu gern: „Mein Mann, der Ingenieur ist, geht zur Arbeit und nutzt im Grunde nur Energie aus der intellektuellen und der physischen Domäne. Er kommt von der Arbeit nach Hause, und wenn er sich dann mit den Kindern und mir beschäftigt, greift er auf seine emotionale, spirituelle und sinnliche Energie zu. Ich andererseits höre mir den ganzen Tag lang Geschichten von Trauma und Leid, von körperlicher, emotionaler und sexueller Gewalt an. An einem Arbeitstag nutze ich Energie aus allen fünf Domänen. Ich nutze emotionale und spirituelle Energie, um die Erzählungen und Interaktionen meiner Klienten zu betrachten. Intellektuell nutze ich mein Wissen und meine Fertigkeiten, um Interventionen zu erstellen. Wenn ich dann nach Hause komme, möchte ich sagen ‚Tut mir leid, Leute, ich habe in der Praxis schon alles verbraucht‘. Ich bin dann einfach ausgelaugt, und manchmal ist nichts für irgendwen einschließlich mir selbst übrig.“

Um das Mitgefühlserschöpfungssyndrom zu vermeiden, ist es unserer Ansicht nach wichtig, ein ausgewogenes Leben anzustreben. Wir müssen lernen, wie wir unser Energieniveau den ganzen Tag lang überwachen, und planen, die verbrauchte Energie wieder aufzuladen. Wenn Sie in Ihrer Praxis emotional viel geben, müssen Sie sich vielleicht daheim Zeit nehmen, um sich emotional wieder aufzuladen. Wir brauchen einen Plan, der uns ermöglicht, unseren Energieverbrauch über den Tag hinweg zu überwachen und für Wiederaufladung von Energie zu sorgen. Wir müssen unsere Tankanzeige ständig im Auge behalten, um sicherzugehen, dass uns nicht die notwendige Energie ausgeht, die wir brauchen, um zu Hause und bei der Arbeit zu funktionieren. Ein Teil unserer Funktionalität im Umgang mit Klienten ist die Fähigkeit, ethisch abgestimmt zu bleiben; wir können nicht ethisch abgestimmt bleiben, wenn uns die Energie ausgegangen ist.

4.2 Reaktivität des Therapeuten

Energielosigkeit ist oft einer der Hauptfaktoren, die zu Reaktivität aufseiten des Therapeuten beitragen. Anstatt in aktiver Weise zu reagieren, zeigt der Therapeut dann Reaktionen, die den therapeutischen Zielen zuwiderlaufen können. Wilson und Lindy (1994) fanden heraus, dass Therapeuten in der Arbeit mit Klienten, die komplexe Traumata erlitten hatten, reaktive Stile entwickelten, die dem Therapieprozess nicht förderlich waren. Unsere Erfahrungen deuten darauf hin, dass diese reaktiven Stile mit höherer Wahrscheinlichkeit auftreten, wenn die Therapeuten nicht energetisch ausbalanciert sind und das CCM leben. Wenn Therapeuten nicht energetisch ausbalanciert sind, haben sie eine Reihe unterschiedlicher Erfahrungen. Diese Erfahrungen können CCM-Therapeuten, die das Modell leben, auf ihren Mangel an energetischer Balance hinweisen.

Wenn Therapeuten beispielsweise bemerken, dass sie in Gedanken ihre Einkaufsliste vorbereiten, während ein Klient seinen Emotionen Ausdruck verleiht, sind sie in der Sitzung nicht ethisch abgestimmt. Wilson und Lindy (1994) prägten hierfür den Begriff des empathischen Rückzuges. Beim empathischen Rückzug ist unser Herz nicht in der Balance: Wir sind zwar körperlich anwesend, während eine andere Person leidet, aber wir sind emotional, kognitiv und spirituell zurückgezogen. Wenn Therapeuten jedoch andererseits während der Sitzung oder zwischen den Sitzungen denken, sie seien die einzigen Menschen auf der Welt, die ihren Klienten helfen könnten, sind sie genauso wenig in der Balance. Dieses Fehlen von Balance bezeichneten Wilson and Lindy (1994) als empathische Verstrickung. Empathisches Ungleichgewicht (Wilson & Lindy, 1994) tritt auf, wenn Therapeuten sich für mehr als ein oder zwei Minuten am Stück hilflos, inkompetent und außerhalb jeglicher Kontrolle fühlen. In Zeiten empathischen Ungleichgewichts sind wir spirituell nicht in der Balance, der Schmerz unserer Klienten erschüttert uns, und wir sind nicht in der Lage, in therapeutischer Weise zu reagieren. Empathische Unterdrückung (Wilson & Lindy, 1994) manifestiert sich, wenn Therapeuten keine affektive Verbindung zum Ausdruck von Leid aufseiten ihrer Klienten haben, wenn keine Neugier bei ihnen vorliegt und ihre Herzen verschlossen sind. Wenn wir bei uns die Hoffnung darauf bemerken, dass Klienten ihre Therapie abbrechen oder beenden mögen, fehlt es uns wahrscheinlich an empathischen Reaktionen, und wir sind unter Umständen wegen unserer therapeutischen Roadmap frustriert oder enttäuscht.

Im CCM konzeptualisieren wir empathischen Rückzug, empathische Verstrickung, empathisches Ungleichgewicht und empathische Unterdrückung als überlebensorientierte Geisteshaltungen in Reaktion auf Stress im Zusammenhang mit der Therapie. Das Praktizieren des CCM hilft zwar dabei, ein hohes Maß der Unvorhersehbarkeit und des unkontrollierbaren Stresses in der Arbeit mit Klienten abzubauen; dennoch bleibt es eine Tatsache, dass manche Begegnungen in der Therapie unsere reaktiven Überlebensreaktionen triggern werden. In diesen Momenten wird der ethisch abgestimmte Therapeut erkennen, dass er gerade reaktiv ist, anstatt aktiv und zugewandt zu sein. Durch die Anwendung des Modells beginnen Therapeuten dann zu erkennen, dass, wenn sie sich machtlos, herabgewürdigt oder außerhalb jeglicher Kontrolle fühlen, sie vielleicht auf eine Weise reagieren, die für ihre Klienten mehr als nur nicht hilfreich ist. Wenn wir uns selbst, unseren Klienten und unseren Beziehungen zu ihnen in achtsamer Weise Aufmerksamkeit widmen, hilft uns dies bei einer leichten Rückkehr in den Zustand ethischer Abstimmung.

Ethische Abstimmung ist eine nichtreaktive therapeutische Haltung, bei der die Therapeuten ihren eigenen internen Prozessen und denen aufseiten ihrer Klienten gegenüber offen und zugewandt sind. Wenn Klienten Leid zum Ausdruck bringen und wir ethisch abgestimmt sind, sind alle Teile unseres Gehirns aktiv, wir agieren mit Bedacht, spenden mit dem Herzen in mitfühlender Weise Empathie, haben gewissermaßen eine Roadmap, einen Fahrplan zur Orientierung im Geiste und sind spirituell verankert. Energetisch betrachtet befinden wir uns dann in einer vollumfänglich aktiven Geisteshaltung. Das Fehlen ethischer Abstimmung zeigt einen Mangel an Zugang zu Geist, Körper oder Seele in der Therapiesituation an. Um die Bedürfnisse der Klienten in vollem Umfang beobachten zu können, müssen Therapeuten selbst das Modell leben. Das Modell umfasst das Hinarbeiten auf Abstimmung geistiger, körperlicher und spiritueller Dinge, mit anderen Worten, es umfasst eine aktive Geisteshaltung.