Elstir und ich waren ans Ende des Ateliers gegangen und standen vor dem Fenster, das hinter dem Garten auf eine schmale Querallee, beinahe einen ländlichen Pfad hinauslief. Dort standen wir, um die frische Luft des vorgerückten Nachmittags zu atmen. Ich glaubte von der kleinen Bande junger Mädchen mich sehr entfernt, und nur weil ich für diesmal jede Hoffnung, sie zu sehen, aufgeopfert hatte, war ich zu dem Entschluß gekommen, der Bitte meiner Großmutter zu gehorchen und Elstir zu besuchen. Denn wo das sich befindet, was man sucht, das weiß man nicht und flieht oft lange Zeit den Ort, an welchen, aus anderen Gründen, einen jeder lädt. Aber wir ahnen gar nicht, daß wir gerade dort das Wesen sehen würden, an das wir denken. Ich sah versonnen auf den ländlichen Weg, der dort im Freien, dicht vorm Atelier, verlief, aber nicht Elstir gehörte. Plötzlich erschien dort, wie sie schnell ihn entlang schritt, die junge Radlerin aus meiner kleinen Bande mit dem Polo, das auf dem schwarzen Haar saß und schräg sich gegen die dicken Backen hin senkte, und den vergnügten, ein wenig forschenden Augen; und auf diesem Glückspfad, der nun durch ein Wunder mit süßen Versprechen sich füllte, sah ich sie unter den Bäumen an Elstir lächelnd einen freundschaftlichen Gruß richten; das war ein Regenbogen, der diese Welt für mich mit Sphären einte, die mir bis dahin unerreichbar gegolten hatten. Sie kam sogar heran und gab dem Maler, ohne sich aufzuhalten, die Hand; ich sah, daß sie ein kleines Schönheitsfehlerchen am Kinn hatte. »Sie kennen dieses junge Mädchen?« sagte ich zu Elstir, und dabei begriff ich, er könne mich ihr vorstellen, sie zu sich einladen. Und dieses idyllische Atelier mit seinem ländlichen Horizont ward nun von einer neuen Herrlichkeit durchzogen, und mit ihm ging es mir wie einem Kind mit einem Haus, in dem es schon ohnehin gern war und wo nun, wie es hört, dank jener Großmut schöner Dinge und edler Menschen, die ihre Gaben immer ins Unendliche vermehren wollen, ihm eine herrliche Kindergesellschaft vorbereitet wird. Elstir sagte mir, sie heiße Albertine Simonet und nannte mir auch ihre Freundinnen, die ich ihm so genau beschrieb, daß kein Zweifel aufkommen konnte. In Einschätzung ihrer sozialen Stellung hatte ich mich getäuscht, nicht aber in demselben Sinne, wie es mir gewöhnlich in Balbec geschah. Ich nahm dort, wenn sie nur zu Pferde saßen, leicht Kaufmannssöhne für Prinzen. Diesmal hatte ich Mädchen aus sehr reichen Kleinbürgerschichten, aus Industrie- und Handelskreisen, in Gedanken in ein zweideutiges Milieu eingeordnet. Das wahre interessierte mich auf den ersten Blick weniger, weil es weder das Geheimnisvolle des Volkes noch einer Gesellschaft wie der der Guermantes für mich hatte. Und wäre ihnen nicht in meinen geblendeten Augen von vornherein durch die glänzende Leere des Badelebens ein unverlierbarer Zauber verliehen worden, so wäre es mir vielleicht nicht gelungen, siegreich gegen den Gedanken anzukämpfen, daß sie Töchter von schwerreichen Kaufleuten seien. Ich konnte es nur bewundern, wie das französische Bürgertum das wunderbarste Atelier edelster, mannigfaltiger Statuarik ist. Wieviele unvermutete Typen, wie reich die Erfindung im Ausdruck der Köpfe, wie entschieden, unverbraucht und naiv die Gesichtszüge! Diese alten, geizigen Bürger, aus welchen jene Dianen und Nymphen hervorgegangen waren, erschienen mir als die größten Bildhauer. Bevor ich der sozialen Metamorphose der jungen Mädchen noch inne werden konnte (so sehr gleicht die Aufhellung eines Irrtums, die Richtigstellung der Auffassung, die man von jemandem hat, in der geschwinden Wirkung einer chemischen Reaktion), hatte schon hinter dem Gesicht der jungen Mädchen, welches so viel vom Gamin hatte, daß ich sie für Mätressen von Rennradlern oder Boxchampions gehalten hatte, der Gedanke sich festgesetzt, sie könnten sehr wohl mit der Familie irgendeines Notars aus unserer Bekanntschaft verwandt sein. Ich wußte kaum, wer Albertine Simonet war. Ihr war bestimmt unbekannt, was sie eines Tages für mich bedeuten sollte. Und sogar ihren Namen Simonet, den ich am Strande gehört hatte, hätte ich auf die Aufforderung hin, ihn niederzuschreiben, mit zwei n versehen, so wenig ahnte ich, wieviel Wert diese Familie darauf legte, nur ein einziges zu besitzen. Je tiefer nach unten man auf der sozialen Stufenleiter kommt, desto mehr klammert sich der Snobismus an Nichtigkeiten, die vielleicht nicht windiger sind als die Unterscheidungen bei den Aristokraten, aber privater, unbekannter und bei jedem andere, daher überraschender sind. Vielleicht hatte es Simonets gegeben, die schlechte Geschäfte gemacht hatten oder noch Schlimmeres. Feststeht, daß die Simonets, wie allgemein die Rede ging, immer wie über eine Verleumdung sich ereifert hatten, wenn man ihr n verdoppelte. Es machte den Eindruck, sie seien die einzigen Simonets mit nur einem n an Stelle von zweien, und leiteten daraus vielleicht denselben Stolz ab wie die Montmorency aus der Tatsache, die ersten Barone von Frankreich gewesen zu sein. Ich fragte Elstir, ob die jungen Mädchen in Balbec wohnten; für manche von ihnen bejahte er es. Die Villa der einen lag genau am Ende des Strandes, da wo die Klippen von Canapville beginnen. Da dieses junge Mädchen mit Albertine Simonet sehr befreundet war, so war das für mich ein Grund mehr, anzunehmen, es sei diese letztere gewesen, der ich begegnet war, als ich mit meiner Großmutter zusammen ging. Allerdings gab es so viele ähnliche kleine Straßen, die alle im rechten Winkel zum Strande verliefen, wo sie dann sämtlich im gleichen Winkel einmündeten, daß ich nicht genau hätte angeben können, welche von ihnen es war. Man würde gern eine genaue Erinnerung haben, aber schon in dem Augenblicke des Sehens selbst war getrübt, was man sah. Daß Albertine und jenes junge Mädchen, das bei ihrer Freundin eintrat, ein und dieselbe Person wären, war dennoch praktisch so gut wie gewiß. Und doch: während die anderen Bilder alle, die in der Folge die braune Golfspielerin mir darbot, so verschieden sie unter sich auch sein mochten, sich übereinander schichten (weil ich weiß, daß sie alle ihr angehören), wenn ich, am Faden der Erinnerungen mich zurücktastend, unter der Decke solcher Identität gleich wie auf einem inneren Verbindungswege all diese Bilder wieder passieren kann, ohne aus ein und derselben Person herauszutreten, so muß ich dagegen, will ich dem jungen Mädchen wieder begegnen, das ich kreuzte, als ich mit meiner Großmutter ging, ins Freie hinaustreten. Ich bin überzeugt, es ist Albertine, die ich da wiederfinde, dieselbe, die so oft im Kreise ihrer Freundinnen auf ihrem Spaziergange stehen blieb und den Meerhorizont überschnitt; aber all diese Bilder bleiben von diesem anderen geschieden, weil ich ihm rückschauend nicht eine Identität zu leihen vermag, die es nicht hatte, als meine Blicke darauf trafen; und was auch die Wahrscheinlichkeitsrechnung mir zusichern mag, ich habe dieses junge Mädchen mit den dicken Backen, das an der Ecke, die die kleine Straße und der Strand bilden, so ungeniert nach mir sah, das, wie ich meine, mich hätte lieben können – nimmt man es mit dem Worte »wiedersehen« genau – nie wiedergesehen.

Sollte meine Unschlüssigkeit zwischen den verschiedenen jungen Mädchen der kleinen Bande, die für mich alle von dem kollektiven Zauber etwas behielten, der mich anfangs verwirrt hatte, vielleicht zu diesen Ursachen hinzugetreten sein, wenn mir später, selbst zur Zeit meiner großen – meiner zweiten – Liebe zu Albertine eine Art intermittierender, wenn auch sehr kurzer, Freiheit verblieb, sie nicht zu lieben? Meine Liebe, die unter all ihre Freundinnen umgeirrt war, ehe sie endgültig Albertinen sich zugewandt hatte, behielt gelegentlich zwischen sich selber und ihrem Bilde einen gewissen Spielraum, der, einer unzulänglichen Beleuchtung gleich, ihr gestattete, auf anderes sich niederzulassen, ehe sie wieder zurückkam und mit ihr sich befaßte; die Beziehung zwischen dem Weh, das ich im Herzen hatte, und der Erinnerung an Albertine erschien mir nicht notwendig, ich hätte es mit dem Bild einer anderen Frau in Verbindung denken können. Und das gestattete mir, in einer blitzartigen Erleuchtung die Realität zum Verschwinden zu bringen, nicht nur die äußere Realität wie in meiner Liebe zu Gilberte (die ich endlich für eine innere Verfassung erkannt hatte, in der ich aus mir selber die besondere Natur, den eigentümlichen Charakter des Wesens, das ich liebte und alles, was es meinem Glücke unentbehrlich machte, entwickelte), sondern die innere, schlechthin subjektive Realität.

»Es vergeht kein Tag, ohne daß die eine oder die andere von ihnen am Atelier vorbeikommt und zu einer kurzen Visite eintritt«, sagte Elstir zu mir, den der Gedanke zur Verzweiflung brachte, daß, wäre ich zu ihm gekommen, als damals meine Großmutter es wollte, ich wahrscheinlich schon längst Albertines Bekanntschaft gemacht haben würde. Sie hatte sich entfernt; vom Atelier aus sah man sie nicht mehr. Ich dachte mir, sie sei zu ihren Freundinnen auf der Mole unterwegs. Wenn ich mit Elstir dort hätte sein können, hätte ich ihre Bekanntschaft gemacht. Ich ersann tausend Vorwände, um ihn zu veranlassen, einen Strandspaziergang mit mir zu unternehmen. Ich war nicht mehr ebenso ruhig wie vor der Erscheinung des jungen Mädchens in dem Rahmen des kleinen Fensters, der bis dahin unter dem Geißblatt so reizend ausgesehen hatte und nun recht leer war. Elstir erfreute und marterte mich zugleich mit der Mitteilung, er werde einige Schritte mit mir machen, müsse aber erst die Sache, an der er gerade male, beendigen. Es waren Blumen, aber nicht solche, deren Porträt ich ihm lieber in Auftrag gegeben hätte als das einer Person, um durch die Enthüllungen seines Genius das zu erfahren, was ich so oft vergebens vor ihnen gesucht hatte – Weißdorn, Rotdorn, Kornblumen, Apfelblüten. Elstir sprach unterm Malen von Botanik, aber ich hörte ihm kaum zu; er war an sich selber nicht mehr genug und kaum mehr anderes als der notwendige Mittler zwischen diesen jungen Mädchen und mir; das Prestige, das wenige Augenblicke zuvor für mich sein Talent ihm gegeben hatte, war nur noch gut, mir selber in den Augen der kleinen Bande, der er mich vorstellen sollte, ein wenig von sich abzugeben.

Ich ging hin und her und konnte es nicht erwarten, seine Arbeit beendet zu sehen; unter den Studien, von denen viele gegen die Wand gekehrt, eine an die andere gelehnt, standen, griff ich einige heraus, um sie zu betrachten. So brachte ich auch ein Aquarell zum Vorschein, das aus einer sehr viel früheren Lebensperiode von Elstir stammen mußte und es erweckte in mir jenes ganz besondere Entzücken, das von Werken ausgeht, die herrlich nicht nur in der Ausführung sind, sondern auch gegenständlich so eigentümlich und verführerisch, daß wir dem Gegenstande einen Teil von ihrem Charme zuschreiben, als sei der wirklich schon in der Natur vorhanden und habe ihn der Künstler nur entdecken, beobachten, reproduzieren müssen. Daß dergleichen Gegenstände in ihrer Schönheit außerhalb der malerischen Wiedergabe existieren könnten, tut einem uns eingeborenen Materialismus Genüge, der, wenn auch die Vernunft ihn bekämpft, den Abstraktionen der Ästhetik ein Gegengewicht bietet. Dies Aquarell war das Porträt von einer jungen Frau, die nicht hübsch, jedoch von interessantem Typus war. Sie trug ein Kopftuch, das einigermaßen aussah wie ein runder Hut mit einem kirschroten Seidenbande als Borte; die eine ihrer Hände, über denen sie fingerlose Handschuhe trug, hielt eine brennende Zigarette, während die andere in Kniehöhe etwas wie einen großen Gartenhut hielt; einfach ein Strohschirm gegen die Sonne. Neben ihr stand auf einem Tisch eine Vase voll Rosen. Das Auffallende gewisser Werke rührt oft – und so war es auch hier – vor allem daher, daß sie unter besonderen Umständen zustande gekommen sind, von denen man sich gleich anfangs nicht Rechenschaft gibt; wie beispielsweise wenn die befremdliche Toilette eines weiblichen Modells eine Verkleidung zum Kostümfest oder im gegenteiligen Falle der rote Mantel eines alten Mannes, den der scheint umgenommen zu haben, um einer Laune des Malers sich zu fügen, sein Professoren- oder Ratsherrentalar oder sein Kardinalsumhang ist. Der zweideutige Charakter der Erscheinung, deren Porträt ich vor Augen hatte, lag, ohne daß ich dies verstanden hätte, darin, daß sie eine junge Schauspielerin aus früheren Zeiten halbmännlich transvestiert war. Aber ihr steifer Hut, unter dem das kurzgeschnittene Haar bauschig hervortrat, der Sammetrock ohne Revers, der ein weißes Plastron sehen ließ, machten mich über die Datierung der Mode und das Geschlecht des Modells so schwankend, daß ich nicht recht wußte, was ich vor Augen hatte, es sei denn das hellste Stück Malerei. Und die Lust, die ich daran hatte, wurde gestört allein durch die Befürchtung, durch immer weiteres Säumen möchte Elstir die jungen Mädchen mich verfehlen lassen; denn die Sonne stand in dem kleinen Fenster schon niedrig und schräg. Auf diesem Aquarell war nichts als pure Tatsache hingesetzt und nur seines Nutzens in dieser Szenerie wegen gemalt: das Kostüm, weil die Frau bekleidet sein mußte, die Vase der Blumen wegen. Das Glas der Vase war um seiner selbst willen geliebt und schien das Wasser, in dem die Stengel der Nelken standen, in etwas ebenso Durchsichtiges, ja beinahe Flüssiges zu schließen wie es selber war; das Kleid lag offen, frei und brüderlich der Frau an, und als könnten industrielle Erzeugnisse in ihrem Charme mit den Wunderwerken der Natur wetteifern, die so zart und ergiebig für den berührenden Blick, so frisch gemalt sind wie ein Katzenfell, wie die Blütenblätter einer Nelke, wie Taubenflügel. Das Weiße des Plastrons war fein wie Streuglas, und die frivole Plisseearbeit daran bildete kleine Glocken, wie sie an Maiglöckchen sind; die hellen Reflexe des Zimmers schimmerten darauf und waren selber so akzentuiert und so fein abgestuft wie in Wäsche gewirkte Blumen. Und der Sammet des glänzenden Rockes mit seinen Perlmuttlichtern lag hier und da so gesträubt, zerrissen, fellartig da, daß man an das zerzauste Aussehen der Nelken in der Vase denken mußte. Vor allem aber merkte man, Elstir habe sich um das Unmoralische nicht bekümmert, das in der Transvestierung einer jungen Schauspielerin liegen konnte, für die das Talent, das sie an ihre Rolle wenden wollte, sicher weniger ins Gewicht fiel als die beirrende Faszination, die von ihr ausging und auf die blasierten oder depravierten Sinne gewisser Zuschauer wirken mußte; er hatte vielmehr an diese zweideutigen Züge als ein ästhetisches Element sich gehalten, das die Betonung verlohne, und er hatte alles getan, um es herauszuarbeiten. Verfolgte man die Linie des Gesichts, so schien das Geschlecht im Begriff einzugestehen, das eines etwas jungenhaften Mädchens zu sein; doch dann verlor es sich und tauchte später von neuem auf, um eher den Gedanken an einen lasterhaften und verträumten Knaben, der ins Weibliche spielte, aufkommen zu lassen, dann entzog es sich wieder und blieb nicht mehr zu fassen. Und nicht zum wenigsten war jenes Niedergeschlagen-Träumerische in seinem Kontrast zu Requisiten, die der Lebewelt und dem Theater angehörten, das Beirrende an alldem. Von diesem Blick mußte man übrigens annehmen, er sei künstlich; dem jungen Geschöpf, das sich hier in derart provozierendem Kostüm Liebkosungen anbot, war es wahrscheinlich reizvoll erschienen, ein geheimes Gefühl, einen uneingestandenen Kummer romantisch seinem Ausdruck einzuverleiben. Am unteren Rande des Porträts stand zu lesen: Miß Sacripant, Oktober 1872. Ich konnte mit meiner Bewunderung nicht an mich halten. »Oh, das ist nichts, eine Jugendskizze, nur ein Kostüm für eine Variété-Revue. All das liegt weit zurück.« »Und was ist aus dem Modell geworden?« Auf dem Gesicht von Elstir ging ein Staunen, das meine Worte hervorgerufen hatten, einem gleichgültigen, zerstreuten Ausdruck vorauf, den er nach einer Sekunde darauf sich breiten ließ. »Schnell, geben Sie mir das Bild,« sagte er, »ich höre Madame Elstir kommen, und wenn auch die junge Person mit dem steifen Hut in meinem Leben, ich versichere es Ihnen, keinerlei Rolle gespielt hat, so ist es doch nicht nötig, daß dies Aquarell meiner Frau unter die Augen gerät. Ich habe es nur behalten, weil es ein interessantes Zeugnis für das Theater jener Epoche ist.« Und bevor Elstir, der vielleicht lange dies Bild nicht mehr gesehen hatte, es hinter sich versteckte, warf er einen aufmerksamen Blick darauf. »Ich kann nur den Kopf behalten,« murmelte er, »die untere Partie ist tatsächlich zu schlecht gemalt, die Hände sind wie von einem Anfänger.« Ich war außer mir über die Ankunft von Frau Elstir, die uns noch länger aufhalten würde. Der Fenstersims färbte sich bald rosig. Unser Ausgang mußte vergeblich sein. Es bestand nicht mehr die mindeste Chance, die jungen Mädchen zu sehen zu bekommen, mithin war es ganz ohne Belang, ob Frau Elstir uns früher oder später verlassen würde. Sie blieb übrigens nicht sehr lange. Ich fand sie sehr langweilig; sie hätte schön sein können, wenn sie zwanzig Jahre gezählt und einen Ochsen in der Campagna geleitet hätte; aber ihr schwarzes Haar wurde weiß; sie war gewöhnlich, ohne schlicht zu sein, weil sie glaubte, ihre plastische Schönheit verlange feierliche Manieren und majestätische Haltung; der Schönheit aber hatten die Jahre alles Verführerische genommen. Sie war höchst einfach gekleidet. Man war gerührt, aber überrascht, bei jeder Gelegenheit Elstir ehrerbietig und sanft, als wecke das bloße Sagen dieser Worte Zärtlichkeit und Verehrung in ihm, sie anreden zu hören: »Meine schöne Gabriele.« Später, als ich Elstirs mythologische Malerei kennen lernte, wurde Frau Elstir auch für mich schön. Ich begriff, daß er einem gewissen Idealtypus, der in bestimmten Linien, bestimmten Arabesken sich resümierte, die immer wieder in seinem Oeuvre vorkamen, einem gewissen Kanon nahezu göttlichen Charakter verliehen hatte, da er alle seine Zeit, alle geistige Konzentration, deren er fähig war, mit einem Worte, sein ganzes Leben, der Aufgabe geweiht hatte, diese Linien genauer zu erkennen und treulicher sie wiederzugeben. Und wirklich inspirierte dieses Ideal Elstir zu einem derart strengen, heischenden Kultus, daß es kein Befriedigtsein für ihn gab, dieses Ideal war sein innerstes Teil – so hatte er es denn auch nie interesselos betrachten oder seelische Erschütterungen daraus für sich gewinnen können, bis zu dem Tag, da er es in der Außenwelt in einem Frauenleib verwirklicht fand, im Leibe derer, die dann später Frau Elstir geworden war, und in der er – wie solches nur bei dem uns möglich, was nicht wir selber sind – es anerkennenswert, ergreifend, göttlich gefunden hatte. Und welch ein Ausruhn auch, die Lippen auf dieses schlechthin Schöne zu drücken, das bisher so qualvoll aus sich selber zu gewinnen es galt, nun aber, geheimnisvoll verfleischlicht, zu immer neuer wirkungskräftiger Vereinigung sich ihm darbot. Um diese Zeit stand Elstir nicht mehr in dem ersten Jugendalter, in dem man von Geisteskräften allein die Verwirklichung seines Ideals erwartet. Er näherte sich dem Alter, da man auf die Befriedigung körperlicher Ansprüche zählt, um die Spannkraft des Geistes zu steigern, und da seine beginnende Ermüdung in ihm materialistischen Anschauungen und einer Verminderung der Leistung, möglicherweise auch passiv hingenommenen Einflüssen uns geneigter macht, so daß wir nicht ungern annehmen mögen, daß es vielleicht gewisse Körper, gewisse Handwerksarten, gewisse besondere Rhythmen gibt, die so natürlich unser Ideal verwirklichen, daß man selbst ohne Genie durch bloßes Kopieren einer Schulterbewegung, einer Streckung des Halses ein Meisterwerk zuwege bringen könnte; das ist das Alter, in dem wir das Schöne außerhalb unser selbst, in unserer Nähe auf einem Wandteppich, in einer schönen Skizze von Tizian, die man bei einem Trödler gefunden hat, in einer Geliebten, die so schön ist wie die Skizze des Tizian, zu streicheln liebt. Als mir das klar geworden war, konnte ich Frau Elstir nicht ohne Freude mehr ansehn, und ihr Körper verlor das Schwerfällige, denn ich erfüllte ihn mit einer Idee, mit der Idee, sie sei ein immaterielles Wesen, ein Porträt von Elstir. Für mich war sie eins und für ihn zweifellos auch. Die Gegebenheiten des wirklichen Lebens zählen nicht für den Künstler, sie sind für ihn nur eine Gelegenheit, sein Genie zu bekunden. Sieht man zehn Porträts verschiedener Personen, die Elstir gemalt hat, nebeneinander, so erkennt man: vor allem sind es Elstirs. Nur kommt nach dieser steigenden Flut im Genie, die das Leben überdeckt, wenn das Gehirn müde geworden ist und allmählich das Gleichgewicht gestört wird, wie ein Fluß, der nach starker Gegenströmung seinen Lauf wieder aufnimmt, das Leben und gewinnt von neuem Oberhand. Solange nun die erste Periode währte, hat der Künstler allmählich Gesetz und Formel des ihm unbewußten Vermögens herausgestellt. Ist er Romancier, so weiß er, welche Situationen, ist er Maler, welche Landschaften ihm den in sich belanglosen Rohstoff geben, der aber für sein Vorgehn unentbehrlich ist, wie ein Laboratorium oder Atelier es wären. Er weiß, seine Meisterwerke hat er mit Effekten von abgedämpftem Licht, mit Gewissensbissen, welche das Bild von einem Fehltritt ummodeln, mit Frauen unter Bäumen oder halb, wie Statuen, im Wasser befindlichen zustande gebracht. Ein Tag wird kommen, da sein Gehirn so vernutzt sein wird, daß er vor diesen Materialien, deren sich sein Genius bediente, nicht mehr die Energie besitzen wird, den intellektuellen Kraftaufwand zu leisten, der allein sein Werk hervorbringen kann; aber er wird dann doch fortfahren, ihnen nachzugehen, und glücklich sein, in ihrer Nähe zu weilen, des geistigen Genusses, der Ermunterung zur Arbeit wegen, die sie ihm verschaffen; und noch dazu wird er einen gewissermaßen abergläubischen Kult mit ihnen treiben, als wären sie mehr wert als andere Dinge und hause in ihnen bereits ein gut Teil des Kunstwerks, das sie gewissermaßen fertig in sich bergen; aber über den Umgang mit den Modellen und die Verehrung für sie wird er nicht mehr hinausgehen. Er wird mit reuigen Verbrechern endlose Gespräche führen, deren Gewissensbisse und Wiedergeburt früher einmal Gegenstand seiner Romane waren, er wird ein Landhaus in einer Gegend kaufen, in der Nebel das Licht abdämpft; lange Stunden wird er in der Betrachtung badender Frauen zubringen; er wird schöne Stoffe sammeln. Und die Schönheit des Lebens, ein Wort, das in gewisser Hinsicht ohne Sinn ist, ein Stadium, das diesseits der Kunst liegt, und an dem ich Swann hatte haltmachen sehen, sie war die Stelle, auf welche eines Tages allmählich durch langsame pulsierende Schöpferkraft, Idolatrie der Formen, die ihr günstig gewesen waren, und Wahl der Linie des geringsten Widerstandes Elstir sich zurückbegeben sollte.

Endlich tat er an seinen Blumen einen letzten Pinselstrich; ich hielt mich einen Augenblick bei ihrer Betrachtung auf; es war nichts Verdienstliches dabei, da ich wußte, daß die jungen Mädchen nicht mehr am Strande sein würden; aber hätte ich selbst geglaubt, sie seien noch dort und hätten diese verlorenen Minuten sie mich verfehlen lassen – ich hätte sie dennoch mir angesehen, denn ich hätte mir gesagt, Elstir interessiere sich mehr für seine Blumen als für meine Begegnung mit den jungen Mädchen. Die Natur meiner Großmutter – eine Natur, die ganz das Gegenteil meiner durch und durch egozentrischen war – reflektierte sich doch in der meinen. Angenommen jemand, der mir gleichgültig war, dem gegenüber ich aber stets Liebe oder Respekt hätte, habe nur eine Unannehmlichkeit zu riskieren, ich selber aber liefe irgendwie Gefahr, so hätte ich mich dennoch nicht erwehren können, seinen Verdruß als etwas Erhebliches zu beklagen und meine Gefahr als ein Nichts zu behandeln, weil ich der Anschauung wäre, in diesem Verhältnis müßten sich ihm die Dinge darstellen. Um die Dinge beim rechten Namen zu nennen, so war es sogar etwas mehr als das: nicht nur nicht über die Gefahr, in der ich selber schwebte, zu klagen, sondern diese Gefahr heraufzubeschwören und, was die andern anging, selbst dann sie von ihnen abzuhalten, wenn größere Chancen, daß ich selbst von ihr ereilt würde, bestanden. Das hat mehrere Gründe, die nicht weiter zu meiner Ehre gereichen. Einer von ihnen ist, daß ich zwar über alles am Leben zu hängen glaubte, wann immer ich verstandesmäßig darüber nachdachte; aber jedesmal, wenn ich im Lauf meines Daseins mir über höhere Dinge Sorge machte oder auch nur von krankhaften Befürchtungen besessen war (so kindischen oft, daß ich nicht wagen würde, sie hier mitzuteilen), und es trat dann ein unvorhergesehener Umstand ein, der mich Gefahr laufen ließ, getötet zu werden, so war diese neue Besorgnis so leicht im Verhältnis zu jener früheren, daß ich mit einem Gefühl der Entspannung, das bis zur Erleichterung ging, sie empfing. Und dergestalt habe ich, der am wenigsten tapfere Mensch von der Welt, in meinem Leben mehrmals das kennengelernt, was meiner Natur so fremd, so unfaßlich schien, wenn ich nachdachte: den Rausch der Gefahr. Aber selbst wäre ich im Augenblick, da sie – und zwar als tödliche – eintritt, in einer gänzlich friedlichen und glücklichen Periode – ich könnte, wäre ich mit jemand anderm, nicht anders handeln, als ihn in Sicherheit zu bringen und selbst den gefährlichen Platz einzunehmen. Als eine hinreichend große Zahl von Erfahrungen mich gelehrt hatte, daß ich immer so handele, und dies mit Freuden, entdeckte ich zu meiner großen Beschämung, daß es geschah, weil ich im Gegensatze zu dem, was ich immer geglaubt und angegeben hatte, sehr empfindlich gegenüber der Meinung von Fremden war. Diese Art uneingestandener Eigenliebe hat jedoch nichts mit Hochmut oder Eitelkeit zu tun. Denn was ihn oder sie befriedigen könnte, würde mir keine Freude machen, und ich habe mich immer fern davon gehalten. Aber bei den Menschen, denen gegenüber es mir am vollendetsten gelang, die kleinen Vorzüge zu verhehlen, die ihnen vielleicht einen weniger erbärmlichen Begriff von mir hätten geben können, habe ich mir niemals das Vergnügen versagen können, ihnen zu zeigen, daß ich mit größerer Achtsamkeit den Tod von ihrem Weg fernhalte als von dem meinen. Da mein Motiv in diesem Fall Eigenliebe, nicht Tugend, war, so finde ich es sehr natürlich, daß sie in entsprechenden Umständen anders handeln. Ich bin weit entfernt, sie deswegen zu tadeln, was ich vielleicht tun würde, wenn ich von der Vorstellung einer Pflicht bestimmt worden wäre, die in diesem Falle mir für sie ebenso verbindlich erschienen wäre wie für mich. Ich finde es im Gegenteil sehr weise von ihnen, ihr Leben in acht zu nehmen, indessen ich dennoch mich nicht enthalten kann, das meine zurückzustellen; und das empfinde ich ab besonders sinnwidrig und schuldhaft, seitdem ich zu erkennen glaubte, daß das von vielen anderen, vor die ich mich stelle, wenn eine Bombe explodiert, geringeren Wert hat. Am Tage, da ich diesen Besuch bei Elstir machte, waren die Zeiten aber noch fern, in denen mir dieser Wertunterschied zum Bewußtsein kommen sollte, und nicht um Gefahr ging es, sondern ganz einfach – ein Zeichen, welches die verhängnisvolle Eigenliebe vorverkündete – darum, nicht den Anschein zu geben, als läge mir an jener Freude, die ich so glühend begehrte, mehr als an der Arbeit des Aquarellisten, mit der er noch nicht fertig war. Endlich war sie es. Als wir einmal im Freien waren, bemerkte ich, daß – so lang waren die Tage in dieser Jahreszeit – es nicht so spät war, wie ich geglaubt hatte. Wir gingen auf die Mole. Welche Listen bot ich nicht auf, um Elstir an der Stelle verweilen zu lassen, wo meiner Ansicht nach die jungen Mädchen noch vorbeikommen konnten. Ich zeigte ihm die Klippen, die neben uns aufstiegen, und forderte ihn unaufhörlich auf, mir von ihnen zu sprechen, um ihn die Stunde vergessen zu lassen und zum Bleiben zu bringen. Mir schien, wir hätten größere Chancen, der kleinen Bande den Weg abzuschneiden, wenn wir dem äußersten Ende des Strandes zugingen. »Ich hätte gern ein klein wenig aus der Nähe mit Ihnen diese Klippen gesehen«, sagte ich, denn ich hatte bemerkt, daß eines der jungen Mädchen oft nach dieser Seite ging. »Und unterdessen erzählen Sie mir von Carquethuit. Ach, wie gern würde ich nach Carquethuit gehen,« setzte ich hinzu, ohne mir zu sagen, daß das Neue, das so machtvoll aus dem »Hafen zu Carquethuit« von Elstir sprach, vielleicht mehr Vision dieses Malers als ein besonderes Verdienst dieser Küste war. »Seitdem ich dieses Bild gesehen habe, ist das vielleicht mit der Pointe-du-Raz, wohin es übrigens von hier eine ganze Reise ist, der Ort, den ich am liebsten kennen lernen würde.« »Und selbst wenn es nicht näher läge, würde ich Ihnen vielleicht dennoch eher zu Carquethuit raten«, antwortete mir Elstir. »Die Pointe-du-Raz ist wundervoll, aber schließlich bleibt es immer die große normannische oder bretonische Klippenlandschaft, die Sie kennen. Carquethuit mit seinen Felsen auf niedrigem Strand ist etwas ganz anderes. Ich kenne in Frankreich nichts Ähnliches, eher erinnert es mich an gewisse Partien von Florida. Es ist sehr merkwürdig und übrigens auch außerordentlich wild. Es liegt zwischen Clitourps und Nehomme, und Sie wissen. wie trostlos diese Gegenden und wie hinreißend ihre Strandlinie. Hier verläuft die Strandlinie ganz beliebig; aber wie zart und graziös sie da unten ist, das kann ich Ihnen gar nicht sagen.«

Der Abend brach herein; man mußte zurück; ich geleitete Elstir seiner Villa zu, als mit einem Male – wie Mephistopheles vor Faust auftaucht – am Ende der Allee – wie die schlichte, unwirkliche, diabolische Objektivation eines Temperaments, das dem meinen entgegengesetzt ist, einer gewissermaßen barbarischen, grausamen Vitalität, wie sie meiner Schwäche, meiner übersteigerten, schmerzhaften Sensibilität und Geistigkeit so sehr fehlte – einige Flecken der mit nichts anderem zu verwechselnden Essenz, einige Sporaden der Zoophytenbande junger Mädchen auftauchten, die zwar aussahen, als bemerkten sie mich nicht, aber nichtsdestoweniger sicher im Begriffe standen, etwas Ironisches von mir zu sagen. Weil ich merkte, die Begegnung zwischen ihnen und uns müsse unvermeidlich zustande kommen und Elstir werde mich rufen, so wandte ich mich um, wie einer, der beim Baden die Welle empfangen will; ich blieb auf der Stelle stehen und ließ meinen berühmten Begleiter allein seinen Weg fortsetzen; ich selber blieb zurück und beugte mich, als gewänne ich plötzlich Interesse für sie, über die Vitrine eines Antiquitätenhändlers, vor dem wir gerade vorbeikamen; es war mir nicht unlieb, so aussehen zu können, als dächte ich an anderes als diese jungen Mädchen, und ich wußte schon unbestimmt, wenn Elstir mich rufen würde, um mich vorzustellen, so würde ich jenen fragenden Ausdruck haben, der nicht Erstaunen, sondern den Wunsch, erstaunt zu scheinen, zum Ausdruck bringt – ein so schlechter Schauspieler ist ein jeder und ein so guter Physiognomiker der Nebenmensch; – ich würde sogar so weit gehen, mit dem Finger mir auf die Brust zu tippen, um zu fragen: »Haben Sie wirklich mich gerufen?« und dann schnell angelaufen kommen, mit gelehrig-gehorsam gesenktem Haupt, im kühlen Ausdruck aber den Verdruß verhehlend, der Betrachtung alter Fayencen entrissen zu sein, um Leuten vorgestellt zu werden, die ich nicht kennen zu lernen begehre. Indessen betrachtete ich die Auslage und wartete auf den Augenblick, da der Ruf meines Namens aus Elstirs Munde, wie eine unschädliche Kugel, auf die man gefaßt ist, mich treffen würde. Die Gewißheit, den jungen Mädchen vorgestellt zu werden, hatte zur Folge gehabt, mich im Hinblick auf sie Gleichgültigkeit nicht nur spielen, sondern empfinden zu lassen. Das nunmehr unvermeidliche Vergnügen, sie kennen zu lernen, ward eingeschränkt, vermindert, schien mir geringer als das an einem Gespräch mit Saint-Loup oder einem Abendessen mit meiner Großmutter oder an Ausflügen in der Umgebung, von denen ich schon jetzt bedauerte, sie wahrscheinlich infolge der Beziehungen zu diesen Leuten vernachlässigen zu müssen, die vermutlich sich wenig für historische Monumente interessieren würden. Was übrigens mein bevorstehendes Vergnügen verminderte, war nicht nur, daß es bevorstand, sondern wie unvermittelt es sich verwirklichte. Gesetze, so exakt wie die der Hydrostatik, regeln die Schichtung der Vorstellungsbilder, die wir in einer gegebenen Reihenfolge anordnen, um durch die Nähe des Ereignisses sie umstürzen zu lassen. Elstir sollte mich rufen. Es war ganz und gar nicht in dieser Art gewesen, daß ich so oft am Strand und in meinem Zimmer die erste Bekanntschaft mit diesen jungen Mädchen mir vorgestellt hatte. Was stattfinden sollte, war ein anderes Geschehnis, auf das ich nicht vorbereitet war. Ich erkannte weder meinen Wunsch wieder noch seinen Gegenstand; fast bedauerte ich, mit Elstir ausgegangen zu sein. Aber vor allem war die Schrumpfung der Freude, die ich im Vorhergehenden zu empfinden glaubte, durch die Gewißheit bedingt, daß nichts sie mir nehmen könne. Und wie kraft einer Elastik gewann sie ihre ganze Ausdehnung zurück, als sie nicht mehr den Druck jener Gewißheit fühlte: im Augenblick, da ich mich entschloß, den Kopf zu wenden, sah ich Elstir ein paar Schritte weiter bei den jungen Mädchen stehen und ihnen Adieu sagen. Das Gesicht von der, welche ihm zunächst stand, war dick und durch ihre Blicke erhellt; es sah aus wie ein Kuchen, in dem man Platz für ein wenig Himmel gelassen hatte. Ihre Augen gaben, selbst wenn sie etwas fixierte, den Eindruck, sie bewegten sich, wie an sehr windigen Tagen die Luft, obwohl man sie nicht sehen kann, spüren läßt, wie schnell sie vor dem Azur vorbeizieht. Einen Augenblick kreuzten ihre Blicke die meinen, wie diese reisenden Stücke von Himmel an Gewittertagen: sie kommen einer langsameren Wolke nahe, streifen, berühren, überholen sie. Aber sie kennen sich nicht und entfernen sich weit voneinander. So standen unsere Blicke einen Moment einander gegenüber, keiner wußte, was der himmlische Kontinent, der da vor ihm lag, an Versprechen und Drohungen für die Zukunft verhielt. Nur gerade, als ihr Blick genau an dem meinen, ohne seine Geschwindigkeit zu verringern, vorbeizog, verschleierte er sich leicht. So zieht in einer klaren Nacht der Mond im Windstrom unter einer Wolke dahin und verschleiert einen Augenblick seinen Glanz, dann erscheint er schnell wieder. Aber Elstir hatte die jungen Mädchen schon verlassen, ohne mich gerufen zu haben. Sie schlugen eine Querstraße ein, er kam auf mich zu. Es war alles verfehlt.

Ich habe gesagt, daß Albertine mir an diesem Tage nicht wie an den vorhergehenden erschienen war und daß sie jedesmal mir anders vorkommen sollte. Aber in diesem Augenblick fühlte ich, daß Abweichungen im Anblick, in der Bedeutung, in der Größe eines Menschen ebensowohl an der Wandelbarkeit gewisser Verfassungen liegen können, die gerade zwischen uns und ihm herrschen. Eine von ihnen, die in dieser Hinsicht die größte Rolle spielt, ist das Vertrauen. (An diesem Abend hatte das Vertrauen, sodann das Hinfälligwerden des Vertrauens, ich werde Albertine kennen lernen, im Zeitraum weniger Sekunden sie in meinen Augen beinahe gleichgültig und dann wieder unendlich kostbar erscheinen lassen; einige Jahre später führte das Vertrauen, dann das Verschwinden des Vertrauens, daß Albertine mir treu sei, ähnliche Veränderungen herbei.)

Gewiß hatte ich auch in Combray schon je nach den Tageszeiten, je nachdem ich in den einen oder den anderen der beiden Modi eintrat, die in mein Fühlen sich teilten, den Gram, nicht bei meiner Mutter zu sein, größer und kleiner werden sehen; am ganzen Nachmittage war er so unmerklich gewesen wie Mondlicht, solange die Sonne scheint, und war die Nacht gekommen, herrschte er allein in meiner geängsteten Seele, wo alles Jüngstvergangene in der Erinnerung verlöscht war. Als ich jedoch damals sah, wie Elstir die jungen Mädchen verließ, ohne mich herangerufen zu haben, begriff ich, daß die wechselnde Bedeutung, die etwas, was uns freut oder bekümmert, in unsern Augen gewinnen kann, bisweilen nicht nur davon kommt, daß zwei innere Zustände einander ablösen, sondern daß unsichtbare Überzeugungen in uns sich verlagern; die lassen uns beispielsweise den Tod als etwas Gleichgültiges erscheinen, weil sie ein unwirkliches Licht über ihn verbreiten, und sie gestatten uns dergestalt, großes Gewicht unserer Anwesenheit auf einer musikalischen Soirée beizumessen, die jeden Reiz verlieren würde, wenn sich die innere Überzeugung, in welche diese Soirée getaucht ist, bei der Mitteilung verflüchtigen würde, wir sollten guillotiniert werden; etwas in meinem Innern wußte das freilich, und das war mein Wille; aber der weiß es umsonst, wenn Verstand und Gefühl fortfahren, nichts davon zu wissen; die sind durchaus bona fide, wenn sie annehmen, uns stünde der Sinn darauf, eine Geliebte zu verlassen, von der nur unser Wille weiß, wie fest wir an ihr halten. Sie sind blind in dem Glauben, daß wir die Geliebte alsbald wiederfinden werden. Aber wenn diese innere Überzeugung zergeht und sie ganz plötzlich erfahren, daß diese Geliebte auf immer fort ist, so haben Verstand und Gefühl verspielt und geberden sich wie von Sinnen.

Wechselndes inneres Überzeugtsein und auch Gegenstandslosigkeit des Liebens, das, wie es in der Seele schweifend präexistent ist, beim Bilde einer Frau ganz einfach deshalb verweilt, weil diese Frau fast unerreichbar ist! Und dann denkt man weniger an eine Frau, die man nicht ohne Mühe sich vergegenwärtigt, als an die Mittel und Wege, sie kennen zu lernen. Es tut sich eine lange Abflucht von Befürchtungen auf, und das ist schon genug, um unser Lieben an sie, als dessen kaum gekannten Gegenstand, zu binden. Die Liebe wird unermeßlich, und daran denken wir nicht, wie wenig Raum in ihr die wirkliche Frau behauptet. Und wenn wir dann – so ging es mir, als Elstir bei den jungen Mädchen stehen blieb – mit einem Male nicht mehr unruhig und besorgt sind, dann scheint, weil darin unser ganzes Lieben besteht, plötzlich dies im Augenblick, da wir die Beute, deren Wert wir nicht genug bedachten, in Händen halten, sich verflüchtigt zu haben. Was kannte ich von Albertine? Ein oder zwei Profile gegen einen Hintergrund von Meer und ganz gewißlich weniger schöne als von Frauen Veroneses, die ich nach rein ästhetischen Gesichtspunkten ihnen hätte vorziehen müssen. Konnte ich aber andere Gesichtspunkte haben, da nach dem Schwinden dieses Angstgefühls ich nur diese stummen Profile wiederzufinden vermochte und nichts anderes besaß? Seitdem ich Albertine gesehen, hatte ich tagtäglich tausend Überlegungen, die sie betrafen, angestellt und im Innern mit dem, was ich ›sie‹ nannte, eine regelrechte Unterhaltung gepflogen, in der ich sie fragen, antworten, denken und handeln ließ, und in der unabsehbaren Reihe von vorgestellten Albertinen, die allstündlich in mir sich ablösten, kam die wirkliche Albertine, die ich am Strande gesehen habe, nur am Anfang vor, wie die eigentliche Darstellerin einer Rolle, der Star, nur in den allerersten einer langen Reihe wiederholter Vorstellungen auftritt. Und diese Albertine war kaum mehr als eine Silhouette; alles, was sich darüber geschichtet hatte, war mein eigen; derart ist in der Liebe, was wir selber beibringen – selbst wenn man nur die Menge in Betracht zieht – dem überlegen, was von dem geliebten Geschöpf herrührt. Und das gilt selbst für die allerrealsten Liebesverhältnisse. Auch unter ihnen kommen solche vor, die um fast nichts sich nicht allein haben bilden, sondern sogar sich behaupten können – und sogar unter solchen, die fleischlich erhört wurden, findet sich das. Ein ehemaliger Zeichenlehrer meiner Großmutter hatte von einer belanglosen Mätresse eine Tochter. Die Mutter starb kurze Zeit nach der Geburt des Kindes, und den Zeichenlehrer grämte das so, daß er sie nicht lange überlebte. In den letzten Monaten seines Lebens gingen meine Großmutter und einige andere Damen aus Cornbray mit der Absicht um, die Zukunft des kleinen Mädchens sicherzustellen und zu einer laufenden Rente für sie zusammenzuschießen. Vor ihrem Lehrer hatten die Damen niemals auf diese Frau anspielen mögen, mit der er nie offiziell gelebt und überhaupt nur wenig Beziehungen unterhalten hatte. Meine Großmutter brachte die Sache in Vorschlag, einige Freundinnen ließen sich lange bitten: war das kleine Mädchen wirklich so wichtig? war sie auch nur die Tochter dessen, der sich für ihren Vater hielt? bei Frauen wie ihrer Mutter könne; man niemals wissen. Endlich entschloß man sich doch. Das kleine Mädchen kam und bedankte sich. Es war häßlich und sah dem alten Zeichenlehrer so ähnlich, daß jeder Zweifel fortfiel; da ihre Haare das einzig Nette an ihr waren, sagte eine Dame zum Vater, der sie hergebracht hatte: »Wie schönes Haar sie hat.« Und aus dem Gedanken heraus, nun, da die schuldige Frau tot und der Professor mit einem Fuß auch schon im Grabe stehe, sei eine Anspielung auf die Vergangenheit, von der man immer so getan, als kenne keiner sie, ohne Folgen, fügte meine Großmutter hinzu: »Das muß in der Familie liegen. Hatte ihre Mutter dies schöne Haar?« »Ich weiß es nicht«, antwortete der Vater naiv. »Ich habe sie immer nur im Hut gesehen.«

Ich mußte Elstir wieder einholen. Da erblickte ich mich in einem Spiegel. Und nun bemerkte ich – daß – nicht genug an dem Unglück, daß ich nicht war vorgestellt worden – meine Krawatte schief saß und mein Hut die langen Haare hervorkommen ließ; das stand mir schlecht, aber doch blieb, daß sie mich – selbst in diesem Zustand – mit Elstir getroffen hatten und mich nicht mehr vergessen konnten, eine Chance; eine weitere war, daß ich auf den Rat meiner Großmutter meine hübsche Weste angezogen (während wenig gefehlt hatte, und ich hätte meine abscheulichste getragen), und daß ich meinen hübschesten Spazierstock mitgenommen hatte; denn ein Ereignis, das wir uns wünschen, geht niemals vor sich, wie wir es uns gedacht haben; an Stelle günstiger Momente, auf welche wir glaubten zählen zu können, haben sich andere, die nicht von uns erhofft wurden, eingefunden, und im ganzen gleicht es sich aus; vor dem Schlimmsten hatten wir solche Angst, daß wir zum Schluß geneigt sind, anzunehmen, alles in allem sei uns das Glück eher noch günstig gewesen.

»Ich hätte sie so gerne kennen gelernt«, sagte ich Elstir, als ich bei ihm ankam. »Warum sind Sie dann meilenweit zurückgeblieben?« So sagte er – aber das war nicht etwa sein Gedanke. Hätte er nämlich den Wunsch gehabt, dem meinigen Gehör zu schenken, so wäre es ihm sehr leicht gewesen, mich zu rufen. Er sagte das, weil er vielleicht derartige Sätze früher gehört hatte. (Man kennt sie bei gewöhnlichen Leuten, wenn man bei falschem Benehmen sie ertappt.) Und vielleicht entnehmen selbst große Männer bei gewissen Gelegenheiten alltägliche Entschuldigungen demselben Repertorium wie die gewöhnlichen Leute, wie sie ja auch das tägliche Brot von demselben Bäcker beziehen; vielleicht sind aber auch solche Bemerkungen, die in gewissem Sinne von hinten gelesen sein wollen, da ihre buchstäbliche Bedeutung das Gegenteil von der Wahrheit sagt, der negative graphische Niederschlag von einem Reflex. »Sie hatten es eilig.« Ich sagte mir, sie hätten vor allem ihn wohl verhindert, jemanden zu rufen, der ihnen wenig sympathisch war; andernfalls hätte er es nicht unterlassen nach all den Fragen, die ich ihm ihretwegen gestellt hatte, und dem Interesse, das ich an ihnen, wie ihm nicht entgangen war, nahm. »Ich sprach Ihnen von Carquethuit«, sagte er mir, bevor ich ihn an seiner Tür verließ. »Ich habe eine kleine Skizze gemacht, auf der man die Küstenlinie viel besser sieht. Das Bild ist nicht allzu schlecht, aber es ist etwas anderes. Wenn Sie gestatten, so möchte ich Ihnen zur Erinnerung an unsere Freundschaft meine Skizze geben,« setzte er hinzu, denn die Leute, die uns abschlagen, was wir wollen, geben uns etwas anderes.

»Ich hätte sehr gern eine Photographie von dem kleinen Porträt von Miß Sacripant, wenn Sie eine besitzen. – Aber was ist das für ein Name?« »Der einer Person, die in einer törichten kleinen Operette mir das Modell lieferte.« »Aber Sie wissen, daß ich sie durchaus nicht kenne? Es macht den Eindruck, daß Sie das Gegenteil annehmen.« Elstir schwieg. »Es ist doch jedenfalls nicht Frau Swann vor ihrer Heirat?« sagte ich und stieß, wie das bisweilen geht, ganz plötzlich auf die Wahrheit. Dergleichen geschieht, alles in allem, recht selten, ist aber, wenn es einmal vorkommt, genug, der Theorie von den Vorahnungen ein gewisses Fundament zu leihen, vorausgesetzt man vergißt alle Irrtümer, die sie entkräften würden. Elstir erwiderte mir nicht. Es war wirklich ein Porträt von Odette de Crécy. Sie hatte es aus vielen Gründen nicht behalten wollen, deren einige allzu klar auf der Hand liegen. Aber es gab noch andere. Das Porträt lag vor dem Zeitpunkte, da Odette ihre Züge in Zucht genommen und aus Gesicht und Gestalt die Schöpfung zuwege gebracht hatte, wie in den Jahren, die folgten, ihre Friseure, ihre Schneider, sie selber – in Haltung, Sprechweise, Lächeln, Stellung der Hände, Blick und Gesinnung – in großen Zügen sie zu respektieren hatten. Die Verderbtheit des übersättigten Liebhabers war vonnöten, um für Swann reizvoller als die zahlreichen Photographien der Odette ne varietur (wie seine entzückende Frau sie war) die kleine Photographie zu machen, die in seinem Zimmer stand und unter einem Strohhut, den Stiefmütterchen zierten, eine schmächtige junge Frau zeigte, die ziemlich häßlich war, bauschige Locken und etwas Abgespanntes im Ausdruck hatte.

Aber auch wenn dies Porträt nicht, wie die Photographie, welche Swann die liebste war, vor der erwähnten Systematisierung von Odettes Zügen in einem neuen Typ gelegen hätte, der sie majestätisch und anziehend zugleich werden ließ, wäre sie selbst aus späterer Zeit gewesen, so hätte Elstirs Vision genügt, um diesen Typ zu zersetzen. Künstlerisches Genie wirkt wie die übermäßigen Hitzegrade, die Atomverbindungen auflösen können, um deren Bestandteile in genau gegenteiliger Ordnung zu gruppieren, die einem anderen Modell entspricht. Die ganze künstliche Harmonie, welche die Frau ihren Zügen aufzwang und nun alltäglich vor dem Ausgang auf ihre Dauer vor dem Spiegel kontrolliert, wo sie den Hut zurechtrückt, ihre Haare glatt streicht und freundlicher blickt, um ihren Fortbestand zu sichern – in der Sekunde macht ein Blick des großen Malers diese Harmonie zunichte und stellt an deren Statt die Züge dieses Frauenbildes um, derart dem ganz bestimmten malerischen Frauenideal, das er im Innern trägt, Genüge zu tun. In gleicher Weise kommt es häufig vor, daß von einem gewissen Alter an ein Auge, welches das Forschen gewöhnt ist, zu jeder Zeit die Elemente findet, deren es bedarf, um die Verhältnisse zu schaffen, welche ihm allein am Herzen liegen. Wie Arbeiter und Spieler, die keine Umstände machen und mit dem, was ihnen in die Hände fällt, vorlieb nehmen, könnten sie von jedwedem sagen: das ist, was ich brauche. So hatte eine Kusine der Prinzessin von Luxembourg, eine der unnahbarsten Schönheiten, früher einmal für eine Kunst sich begeistert, die damals neu war, und einen der größten naturalistischen Maler gebeten, sie zu malen. Umgehend hatte das Auge des Künstlers das, was es überall suchte, gefunden. Und auf der Leinwand sah man an Stelle der großen Dame ein Laufmädchen vor einem großen schräg nach vorn geneigten violetten Hintergrund, bei dem einem die Place Pigalle einfallen mußte. Soweit aber braucht man nicht zu gehen. Denn in einem