image

Gegen die diktierte Aktualität
Wolfgang Rihm und die Schweiz

Für Wolfgang Rihm
zum 60. Geburtstag

Gegen die diktierte Aktualität

Wolfgang Rihm und die Schweiz

Für Wolfgang Rihm

zum 60. Geburtstag

Herausgegeben von Antonio Baldassarre

unter Mitarbeit von
Mark Sattler und Numa Bischof Ullmann

image

image

Lektorat: Inge Praxl, Hollitzer Wissenschaftsverlag, Wien
Cover, Layout und Satz: Verlagsbüro Johann Lehner, Wien
Druck und Bindung: Interpress, Budapest

Coverabbildung: Wolfgang Rihm, composer-in-residence an den Internationalen Musikfestwochen Luzern (heute Lucerne Festival), 21. August 1997; Foto: Georg Anderhub, mit freundlicher Genehmigung von Georg Anderhub und Lucerne Festival.

Gegen die diktierte Aktualität – Wolfgang Rihm und die Schweiz. Für Wolfgang Rihm zum 60. Geburtstag, hg. von Antonio Baldassarre, unter Mitarbeit von Mark Sattler und Numa Bischof Ullmann. Wien: Hollitzer Wissenschaftsverlag, 2012

Impressum:
© Hollitzer Wissenschaftsverlag, Wien 2012
www.hollitzer.at

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-99012-081-1 hbk

ISBN 978-3-99012-082-8 pdf

ISBN 978-3-99012-083-5 epub

INHALT

Antonio Baldassarre

Mutmassungen über Wolfgang Rihm und die Schweiz: Ein Vorwort

Studien

Thomas Gartmann

Zusammentreffen zweier „Triebtäter“: Zu Wolfgang Rihms Wölfli-Liedern

Eleonore Büning

Wolfgang Rihms Kompositionen für Paul Sacher

Thomas Meyer

Der vollgesogene Komponist. Der vollgesogene Hörer. Antworten auf Brahms; Fragen zu Wolfgang Rihms Orchesterstücken Nähe fern 1–3

Mark Sattler

Rihms Beziehungen zu Luzern

Dieter Ammann / Florian Hauser

Von Rihm und Ruhm, einem Frosch und einem Vogel – und von der Freundschaft: Der Komponist Dieter Ammann im Geburtstagsgespräch mit Florian Hauser über den Kollegen W. R.

Jürg Huber

„Man schreibt wieder Musik“: Stationen und Positionen der deutschschweizerischen Wolfgang-Rihm-Rezeption

Stimmen

Anne-Sophie Mutter

„Gelungene Zeit“

Michael Haefliger

Der sanfte Titan – Zu Wolfgang Rihms 60. Geburtstag

Jonathan Nott

Happy Birthday Wolfgang!

James Gaffigan

Part of Our Family

Antonio Baldassarre und Iso Fuchs

Aufführungen von Werken Wolfgang Rihms in der Schweiz

Mutmassungen über Wolfgang Rihm und die Schweiz

Ein Vorwort

Antonio Baldassarre

Über Wolfgang Rihm und sein Werk zu sprechen, kann immer nur vorläufig sein, alles andere wäre eine Anmassung. Sein musikalisches Schaffen entzieht sich gleichsam der Rubrizierung und Etikettierung – mit Recht hat sich der Komponist schon früh gegen die Vereinnahmung gewehrt, abgesetzt von allzu vereinfachenden Denkfiguren wie der „Neuen Einfachheit“ und der Ideologie der „poststrukturalistischen Musik“, und der damit korrespondierenden lässigen, teilweise gar nachlässigen begrifflichen Verwertung im Kulturfeuilleton, ebenso wie in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Musik nach 1970.1

Rihms Musik will, verlangt gleichsam nach Offenheit und Freiheit, verengt sich nur zum Schein – und manchmal zum Schutz vor der eigenen kraftvollen Spontaneität und Expressivität. Rihms Musik hat etwas Triebhaftes, Vegetatives, manchmal gar (Selbst-) Zerstörerisches, insbesondere mit Blick auf den Schaffensakt2 – beginnt eigentlich erst dort, wo andere oft genug enden. Es sei ihm – so offenbart er in einem Interview aus dem Jahre 1997 – ein tiefer Wunsch, „dass im Enden ein Öffnen liegt.“3

Leicht erkauft ist das freilich nicht. Komponieren ist für Rihm – so sehr der Geist daran auch beteiligt ist – immer auch ein aufreibender physischer Kraftakt:

Um zu sehen, wer ich bin, muß ich mir ins eigene Fleisch schneiden, mich öffnen und einen Spiegel fragen, was er sieht. […] Der Schnitt ins eigene Fleisch vollbringt auch hier Wunder: Er legt offen, bricht Brücken ab und entlarvt heuchlerische Anteilnahme. Plötzlich nicht wiedererkennbar sein: ein alter Wunschtraum der allzu konturierten Existenz. […] Nichts ist so sehr physisch erlebbare Kraft und Energie wie Musik, und wir begeben uns ihrer Möglichkeiten und mauern uns ein in ängstlich gereinigte Interieurs. Ich bin dieser freiwilligen Kastration nicht gewachsen.4

Trotz allem fügen sich solche und ähnliche Äusserungen nicht in das aus dem 19. Jahrhundert überlieferte Bild, dass „grosse Kunst“ nur ein „Leidender“ schaffen, schöpfen kann. Rihm ist in ganz besonderen Masse auch ein Genussmensch, durchaus im Diesseits wohnhaft, dem Metaphysischen zwar nicht abgeneigt, aber stets austariert durch seine Affinität fürs Sinnliche. Dass auch avancierte Musik im eigentlichen und emphatischen Sinne nicht nur „Kopfmusik“ sein muss (ein weiteres, aus dem 19. Jahrhundert dem 20. und 21. Jahrhundert, insbesondere über den Diskurs der Materialbeherrschung vermitteltes Missverständnis), belegt Rihms Schaffen auf mannigfache Weise.

Die vehemente, teilweise auch verächtliche Ablehnung, welche Rihms Schaffen anfangs entgegenschlug – man hat ihm gar vorgeworfen, „faschistisch“ zu sein5 – hat in einem nicht geringen Ausmass mit dem Unbehangen an der sinnlichen Erfahrung von Musik zu tun, mit der Ausserkraftsetzung der vor allem in den Hochburgen der seriellen Musik – Donaueschingen und Darmstadt – gepflegten, wenn auch nicht ausnahmslose geteilten Rituale:6 Rihms Musik will von der sinnlich-ästhetischen Erfahrung hin zur geistig-intellektuellen Auseinandersetzung – und nicht umgekehrt. Seine Verteidigung von Louis Spohr als „akademischer Avantgardist“, ebenso wie sein Eintreten für Sibelius, von dessen Musik, insbesondere der 4. Sinfonie, Rihm offenherzig bekennt, dass er sie liebe,7 sind aufschlussreiche Belege in diesem Zusammenhang. An Spohr fasziniert Rihm besonders die in Musik gesetzte „künstlerische Freiheit“, deren kompositorisches Korrelat die durch szenische Gesänge evozierten Brüche sind:8

Für einen Komponisten der Gegenwart – sofern er sich überhaupt mit der Vergangenheit von Musik schmerzhaft auseinandersetzen will – ist es eben jener Einbruch des szenischen Gesanges in die Nomenklatur konzertanter Sachlichkeit, der anrührt. Daß da ein Funke ist, darauf baute ich auf, als ich meine Abgesangsszenen konzipierte.9

Und mit Blick auf Sibelius meint Rihm:

Was mag Adornos Haß hervorgerufen haben?[10] Sicher auch, daß diese Musik Logik veranschaulicht, ohne sie als „Beziehungsreichtum“ auf dem Papier vordergründig vorzuzeichnen. Die subkutanen Beziehungen sind unerschöpflich reich. Die Löcher, von denen Adorno sprach, erweisen sich als Freiräume, als Orte der gelassen-beredten Atmung. Organisch, dabei ohne Gelenkigkeit, kennt Sibelius’ Musik das Strömen ohne Druck. Großzügig und unvorhersehbar verweist sie nicht ständig auf sich und die Absichtserklärungen ihres Komponisten. Gerade weil es eine rücksichtlose persönliche Musik voller Geheimnisse ist, wird sie als Sprache verstanden.11

Die auf Sibelius gemünzte Äusserung ist insofern bemerkenswert, als ohne den expliziten Sibelius-Bezug man meinen könnte, Rihm spräche über sich selbst: „Freiräume“, „Orte der gelassen-beredten Atmung“, „organisch“, „Strömen ohne Druck“, „Grosszügigkeit“, „rücksichtlose persönliche Musik voller Geheimnisse“, „Sprache“ sind dieselben Attribute und Metaphern, mit welchen Rihm immer wieder seine eigene Musik charakterisiert, beschreibt, in Worte zu fassen versucht.

Sinnliche Expressivität (oder doch expressive Sinnlichkeit?) bezeichnet bei Rihm indes nicht nur eine ästhetische, sondern in ganz besonderem Umfang auch eine kompositorische Kategorie. Es ist der unmittelbare, nicht durch vormusikalische Entscheidungen gefärbte Ton, welcher der Musik Rihms eine derart starke und unverstellbar erfahrbare und in ihrer Präsenz manchmal überwältigende Körperlichkeit verleiht (eine an den herkömmlichen Kategorien festhaltende Analyse der Musik Rihms bleibt gerade deshalb nicht nur unzulänglich, sondern wird durch die Musik selbst in ihrer Falschheit überführt).

Diese ins Elementare gewendete Körperlichkeit kann nicht nur angreifen, sondern macht es auch oft genug, bedient nie – einem Ingres gleich – nur den sinnlichen bzw. auditiven Voyeurismus. Davor bewahrt Rihm in letzter Instanz sein ausgeprägtes Bewusstsein für Geschichte – aber auch dabei handelt es sich um eine subjektive, sich im Fliessen befindende und in der Substanz vorwärts gerichtete schaffensästhetische Kategorie: „Tradition kann immer nur ‚meine Tradition‘ sein. Ich muß bei mir erforschen, woher ich komme. Aber das ist nicht Leben-füllend. Viel interessanter ist es herauszufinden, wohin ich gehe.“12 Das beschreibt Ein-sich-Einlassen, ein Sich-Aussetzen im Interesse der Kunstproduktion. Denn Kunst muss auch für Rihm sich der paradoxen Aufgabe stellen, das innerhalb der Grenzen der künstlerischen Logik zu realisieren, was die künstlerische Illusion gerade zu unterdrücken versucht: nämlich die Idee, dass das spezifische musikalische Werk sich hätte anders entwickeln können, als es sich tatsächlich entwickelte. In Rihms Worten: „Es geht von jedem Punkt in viele Wege weiter, und was wir als Komponisten tun, ist zu entscheiden, welchen Weg wir nehmen, und ihn so erscheinen zu lassen, dass er folgerichtig scheint.“13

Vor dem bis hierhin Exponierten mag man sich in der Tat fragen, wie aus alle dem sich die enge Beziehung zwischen Rihm und der Schweiz erklären lässt. Dass es sich bei der Schweiz keineswegs um einen Nebenschauplatz der Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte der Werke Rihms handelt, verdeutlichen nicht nur die diesem Band beigefügte Zusammenstellung aller in der Schweiz stattgefundenen Aufführungen von Werken Rihms, soweit sie ermittelbar waren, sondern auch die zahlreichen Auftragskompositionen, welche Rihm von Schweizer Persönlichkeiten und Institutionen erhielt. Darunter finden sich das Anne-Sophie Mutter gewidmete und von Paul Sacher 1992 bestellte Violinkonzert Gesungene Zeit, die am 25. September 2009 im Theater Basel uraufgeführte Oper Drei Frauen, sowie die im Auftrag des Luzerner Sinfonieorchesters und in intensiver Auseinandersetzung mit den vier Sinfonien von Johannes Brahms zwischen 2011 und 2012 entstandene Symphonie Nähe fern.

Luzern, Basel und Zürich, aber auch Bern nehmen in dieser Topographie eine bedeutende Position ein. Die Studien von Eleonore Büning, Mark Sattler und Thomas Meyer leuchten diese besondere Beziehung sowohl in geographischer als auch kompositorischer und schaffensästhetischer Hinsicht aus, während der Beitrag von Thomas Gartmann sich eines stark mit Bern verbundenen Themas annimmt: Rihms Vertonungen von Texten des aus dem Kanton Bern stammenden Adolf Wölfli, der die Jahre von 1895 bis zu seinem Tod 1930 als „unheilbar Gemeingefährlicher“ in der psychiatrischen Klinik Waldau bei Bern verbrachte und posthum zu einem Hauptvertreter der Art brut wurde – Bern bzw. dem Berner Streichquartett scheint zudem das Verdienst zu gebühren, mit der Aufführung des 3. Streichquartetts (Im Innersten) am 28. Februar 1980 das erste Rihm-Konzert in der Schweiz ausgetragen zu haben.

Das Interview von Florian Hauser mit dem Schweizer Komponisten Dieter Ammann, der als Dozent an der Hochschule Luzern – Musik wirkt und mit Wolfgang Rihm seit einem Meisterkurs freundschaftlich verbunden ist, bietet interessante Inneneinsichten in schaffensästhetische Momente und ist darüber hinaus ein spannendes Zeitdokument einer Freundschaft zweier herausragender Künstler, welche sich in ganz unterschiedliche Richtungen entwickelt haben. Die Würdigungen bedeutender Persönlichkeiten runden das Bild nicht nur ab, sondern vermitteln auch einen besonderen Eindruck für die Wertschätzung, welche Rihm als Komponist und Mensch in der Schweiz geniesst.

Die von Jürg Huber ausgebreitete deutschschweizerische Rezeptionsgeschichte zeigt, dass man sich dem Werk von Rihm von Anfang an zugewendet hatte. Fehlten auch in der schweizerischen Rezeption die boshaften Töne und die pauschalen Rückweisungen nicht, so überwiegen doch „sensible Einschätzungen“, zum Teil sehr schöpferische Zugänge und ein kaum von der Hand zu weisender sorgfältiger Umgang mit dem Werk Rihms.14

Die freundliche Aufnahme, welche Rihm und seine Werke in der Schweiz gefunden haben, spricht dafür, dass man sich geistig verwandt fühlt und sich versteht – miteinander umgehen kann und auch will. Das respektvolle Aufeinanderzugehen ist noch immer eine schweizerische Tugend im Umgang mit „dem Anderen“ (trotz zunehmender, insbesondere von bestimmten politischen Kreisen betriebenen Einschränkungen), wofür das im Grunde noch immer stark durch dörfliche (nicht provinzielle) Strukturen und Mentalitäten geprägte Gesellschaftsleben in der Schweiz eine wesentliche Voraussetzung bildet.

Rihm dürfte dieses dörfliche von urbaner Grösse nur träumende Milieu und die damit korrespondierende Mentalität aus den eigenen Lebensumständen sehr vertraut sein: geboren vor sechzig Jahren am 13. März 1952 im badischen Karlsruhe und dort noch immer als Komponist und Professor wirkend – Nike Wagner hat jüngst in ihrer Laudatio auf die Bedeutung von Karlsruhe für Rihm hingewiesen, allerdings als „provinziell“ missverstanden.15

Vielmehr handelt es sich sowohl bei Rihm wie bei der Schweiz um besondere „Sonderfälle“: Was die Schweiz beispielsweise in ihrer Beziehung zu Europa seit der Errichtung des modernen Bundesstaats im Jahre 1848 praktiziert, ist nicht weniger als der Versuch, das gewollte und geschätzte Fernbleiben auszugestalten, so wie Rihm und seine Musik zwar entscheidende und nachhaltige Impulse für die Entwicklung der Kompositionsgeschichte nach 1970 gegeben haben, aber sich deshalb nicht vereinnahmen liessen, den poststrukturalistischen und postmodernen Strömungen fern blieben. Das für die schweizerische Gesellschafts- und Kulturgeschichte zudem noch immer stark wirkende archaische Moment – das sich durchaus mit Rihms subjektivem und triebhaftem Komponieren trifft – mag das seine zu der besonderen Beziehung Rihm–Schweiz beigetragen haben.

Der heute zu Unrecht nur noch in Fachkreisen bekannte Schweizer Historiker und Journalist Herbert Lüthy, der zusammen mit Carl Jacob Burckhardt, Rudolf von Salis und Karl Schmid zu den herausragenden Persönlichkeiten der schweizerischen Geisteselite der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehörte, hat in seinem bemerkenswerten, 1961 publizierten Essay Die Schweiz als Antithese auf diesen für das schweizerische politische und gesellschaftliche System charakteristischen Archaismus hingewiesen: „Die Schweiz ist […] das archaischste Land des Westens, und gewisse Züge ihrer Mentalität und ihrer Einrichtungen wären vielleicht einem Kongolesen, dem sein Stamm oder sein Dorf die Welt ist, leichter verständlich, als einem Nachbarn aus der Einen und Unteilbaren Französischen Republik.“16

Geistesverwandtschaft, die sich auch darin bekundet, dass 1998 bei der Eröffnung einer der wichtigsten schweizerischen Kulturinstitutionen der jüngsten Zeit, nämlich des Kultur- und Kongresszentrums Luzern (KKL), neben der – unterdessen für solche Zwecke doch schon ein wenig verschlissenen – neunten Sinfonie Beethovens Rihms In-Schrift für Orchester mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Claudio Abbado gespielt wurde. Das ist mehr als nur eine Reverenz vor einem hoch angesehenen, längst schon in der Schweiz „heimischen“ Komponisten. Vielmehr schreibt dieser Festakt eine Geschichte der Geistesverwandtschaft fort, welche mit dem Eröffnungskonzert der neuen Tonhalle Zürich – damals als neuer und moderner Konzertsaal nicht weniger bedeutungsvoll als das KKL heute – am 20. Oktober 1895 ansetzt und an welchem bekanntlich Johannes Brahms mitwirkte. Der damals 62-jährige Brahms schrieb in diesem Zusammenhang begeistert an den Freund und Dirigenten des Tonhalle-Orchesters, Friedrich Hegar, dass dieses Eröffnungskonzert „das einzige in diesem Jahr“ sei, an das er „schon längst mit dem lebhaften Wunsch u[nd]. der festen Absicht denke es mitzumachen.“17 Dass mit der Übergabe dieser Geschenkschrift an Wolfgang Rihm sich die Wege zwischen Rihm und Brahms, Zürich und Luzern kreuzen (am Tag der Übergabe der Geschenkschrift am 20. August 2012 werden Rihms vier Orchesterstücke Nähe fern erstmals integral als Symphonie Nähe fern im Rahmen des Lucerne Festival aufgeführt), war nicht vorhersehbar – ist aber Kairos, dessen Tragweite in der Zukunft liegt: „offene Enden“ eben.

Abschliessend sei noch allen Institutionen und Personen herzlich gedankt, welche in ganz besonderer Weise zum Entstehen dieser Publikation beigetragen haben: den Autorinnen und Autoren der wissenschaftlichen Beiträge, Florian Hauser und dem Komponisten Dieter Ammann für das anregende Interview, sowie Anne-Sophie Mutter, Michael Haefliger, Jonathan Nott und James Gaffigan für ihre persönlichen Worte über Rihm und seine Musik. Danken möchte ich auch der Hochschule Luzern – Musik, dem Lucerne Festival, dem Luzerner Sinfonieorchester, der Paul Sacher Stiftung Basel sowie der Universal Edition Wien und dem Wiener Hollitzer Wissenschaftsverlag. Ein besonderer Dank gebührt – last but not least – auch Mark Sattler und Numa Bischof Ullmann, welche mich bei der Entstehung dieser Geschenkschrift sehr unterstützt haben.

Editorische Hinweise

Die vorliegende Publikation folgt der deutschen Rechtschreibung für die Schweiz und bewahrt bei Autoren mit einem schweizerischen Hintergrund die für die Standardversion des Deutschen in der Schweiz geltenden sprachsystematischen und ideomatischen Gepflogenheiten. Auf die Schreibung von „ß“ wird, wie in der Schweiz üblich, grundsätzlich verzichtet (anstelle von „ß“ erscheint immer „ss“). Dies gilt nicht – wenn auch nicht in jedem Fall – für Beiträge von Autorinnen und Autoren bzw. für Zitate aus dem bundesdeutschen bzw. österreichischen Sprachraum. Wenn aus syntaktischen oder gedanklichen Gründen die Originalform von Zitaten verändert werden musste (etwa bei syntaktischen Umstellungen von einzelnen Wörtern oder Satzgliedern, bei Auslassungen und bei Angaben von für das Verständnis notwendigen, im Original nicht vorhandenen Zusätzen), wurden diese Veränderungen deutlich markiert. Deklinationskongruenzen (auch in Werk- und Buchtiteln) wurden stillschweigend vorgenommen, sofern sie keine semantischen Veränderungen zur Folge haben.

1     Dazu Wolfgang Rihm, „Die Klassifizierung der ‚Neuen Einfachheit‘ aus der Sicht des Komponisten“ (1977), in: Wolfgang Rihm, ausgesprochen: Schriften und Gespräche, 2 Bände. Hg. Ulrich Mosch. Winterthur: Amadeus Verlag, Mainz: Schott Musik International, 1997, Bd. 1, 357–360, und Wolfgang Rihm, „Postmodern? Postmoderne?“, in: Neue Zürcher Zeitung, 29./30.6.1991.

2     Dazu Wolfgang Rihm, „Ins eigene Fleisch … (Lose Blätter über das Jungerkomponistsein)“ (1978), in: Rihm, ausgesprochen (wie Anm. 1), Bd. 1, 113–120.

3     Dazu Fussnote 47 im Beitrag von Thomas Meyer in diesem Band.

4     Rihm, „Ins eigene Fleisch … (Lose Blätter über das Jungerkomponistsein)“ (wie Anm. 2), 114, 115 und 120.

5     Vgl. Wolfgang Rihm, „ ‚Im Innersten‘, Drittes Streichquartett (1976)“, in: Rihm, ausgesprochen (wie Anm. 1), Bd. 2, 303–306, hier 304.

6     Theodor W. Adornos berühmter, aus einem 1954 für den Süddeutschen Rundfunk vorbreiteten Vortrag hervorgegangener Aufsatz „Das Altern der Neuen Musik“ ist in diesem Zusammenhang ein interessantes Dokument. Unter anderem diagnostiziert Adorno, dass die seriellen Techniken die Musik in ein wissenschaftliches Stadium getrieben hätten und der Verlust der Rezipienten in letzter Instanz auf ein Nachlassen der gestalterischen Kraft zurückzuführen sei, d.h. auf den Verlust subjektiver Ausdrucksfähigkeit und auf den Ausschluss von Irrationalität. Theodor W. Adorno, „Das Altern der Neuen Musik“ (1956), in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften. Hg. Rolf Tiedemann et al. Frankfurt/Main: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1997, Bd. 14, 143–167. Vgl. dazu auch Theodor W. Adorno, „Vers une musique informelle“ (1961), in: ibid., Bd. 16, 493–540.

7     Wolfgang Rihm, „Musik als schweifende Form. Auch über Jean Sibelius“ (1984/1997), in: Rihm, ausgesprochen (wie Anm. 1), Bd. 1, 243–251, hier 250.

8     Wolfgang Rihm, „Der Anlaß: Louis Spohr“, in: Rihm, ausgesprochen (wie Anm. 1), Bd. 1, 223–228, insbesondere 225, wo es u. a. heisst: „Es ist für mich, den Heutigen, natürlich in erster Linie wichtig, eigene Nöte, Ängste und Sicherheiten in der Gestalt von Louis Spohr, dem Gestrigen, zu spiegeln und zu brechen. Spohr soll, so wie er ist, Widerspruch erregen. Nicht den des Pharisäers, der nicht so werden will wie jener und es glaubt dadurch nicht zu werden, indem er es öffentlich mit lauter Stimme wünscht. Es ist vielmehr die Sorge um die künstlerische Freiheit selbst, die niemals freiwillig, wenn auch unwissend, begrenzt werden darf.“

9     Rihm, „Der Anlaß: Louis Spohr“ (wie Anm. 8), 224 (Hervorhebungen im Original). Mit dem „Einbruch des szenischen Gesanges“ bezieht sich Rihm auf Spohrs Violinkonzert Nr. 8 a-Moll op. 47 (1816), welches ihm – wie er im Zitat deutlich formuliert – Anregung für die Komposition der fünf Abgesangsszenen (1979–1981) war.

10   Rihm bezieht sich hier auf Theodor W. Adorno, „Glosse über Sibelius“ (1958) in: Adorno, Gesammelte Schriften (wie Anm. 6), Bd. 17, 247–252.

11   Rihm, „Musik als schweifende Form. Auch über Jean Sibelius“ (wie Anm. 7), 250–251.

12   Wolfgang Rihm, „Musikalische Freiheit“ (1983/1996), in: Rihm, ausgesprochen (wie Anm. 1), Bd. 1, 23–39, hier 23 (Hervorhebung im Original).

13   Zitiert im Beitrag von Thomas Meyer in diesem Band, S. 55.

14   Dazu Jürg Hubers Beitrag in diesem Band, S. 94.

15   Gehalten am 16. März 2012 im Rahmen der 21. Europäischen Kulturtage Karlsruhe Musik baut Europa (16. März – 6. April 2012). Vgl. dazu auch Wolfgang Rihm, „Anstelle einer Biographie. Wolfgang Rihms Antwort auf die Frage: ‚Warum Karlsruhe?‘ “, in: Konzertprogramm der Musica viva in München (musica viva, 15. Juni 2012), 33–34. Darin findet sich die bemerkenswerte Äusserung: „Karlsruhe ist eine Stadt des Maßes. Manche verwechseln das mit MittelMaß.“ (33)

16   Herbert Lüthy, Die Schweiz als Antithese (1961), in: Herbert Lüthy, Gesammelte Werke, 7 Bände. Hg. Irene Riesen und Urs Bitterli. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2002–2005, Bd. 2 (2003), 410–430, hier 414.

17   Brief von Johannes Brahms an Friedrich Hegar, Juni 1895, Autograph im Besitz der Zentralbibliothek Zürich und online geschaltet unter http://www.zb.uzh.ch/ausstellungen/exponat/005881/ (letzter Zugriff 28. April 2012) (Orthographie und Interpunktion wie im Original).

STUDIEN

image

Zusammentreffen zweier „Triebtäter“:

Zu Wolfgang Rihms Wölfli-Liedern

Thomas Gartmann

I.

Ich habe Dich, geliebet !
Ich liebe Dich, nicht mehr.
Ich scheiss Dihr in die Augen !
Dann sieh’st Du mich, nicht mehr.
Du bist ein Gottes, -Leugner !
Bringst mich zum Bettel, -Staab !
Und hast auch Keine, Eutter !
Drumm öffne mihr, das Graab.1

Ein merkwürdiges Gedicht. Auf den ersten Blick könnte es sich um ein Liebesgedicht handeln, mit dreihebigen Jamben und alternierend weiblicher und männlicher Kadenz, wobei sich die männlichen Enden reimen. Der fast mechanische Sing-Sang klingt nach Kinderlied und zu Gartenlauben-Lyrik herunter gesunkener Romantik, der auch Versatzstücken gleich einzelne Sprachbilder entstammen. Unter dieser Oberfläche brodelt es aber gewaltig. Die Orthographie führt ein Eigenleben, hält sich nicht an Normen, ist mehr Klangsprache (wenn nicht Sprechakt), die Dehnungen und Helligkeit der Vokale nachzeichnet, teils auch dialektal färbt.

Irritierend die Interpunktion: Oft steht ein Zeichen, zwei Striche übereinander, zwischen Doppelpunkt und Ausrufezeichen (hier vereinfacht als Ausrufezeichen gedruckt). Dieses fehlt einzig bei zwei Versen, die so resignierend zusammen gebracht werden: „Ich liebe Dich, nicht mehr – Drumm öffne mihr, das Graab.“ Durch Kommata werden auch die einzelnen Verse aufgerissen und zum Atmen gebracht und: Die Binnengliederung erhöht die Spannung als ein Innehalten und Zögern besonders vor kruden Aussagen. Umso mehr fallen die Verse aus dem Rahmen, wo das Komma fehlt: „Ich scheiss Dihr in die Augen!“ Dies ist auch ein Bruch der Sprachebene, eine Revolte gegen die clichierten Sentenzen einer erstarrten Bürgerlichkeit, zugleich Ausdruck einer Sexualität, die noch in der Analphase steckt, Auslöschung des Augenlichts und Menschenverachtung. Folgerichtig ist beim Opfer nicht von der Brust die Rede, sondern, nach einem stockenden Komma und in einer ähnlichen Viehsprache wie sie Noëlle Revaz in ihrem Roman Von wegen den Tieren der Hauptfigur in den Mund legt,2 von den fehlenden Eutern – handelt es sich doch hier noch um ein Kind.

Weitere Brüche ergeben sich aus der wechselnden Erzählperspektive, wenn dem Täter plötzlich das Dostojewskische „Gottesleugner“ aus Schuld und Sühne entgegen geschleudert wird. Schliesslich verkehren sich auch Opfer und Täter, oder es bleibt zumindest offen, für wen das Grab bestimmt ist, ob für das geschändete (oder gar ermordete?) Kind oder für den Täter. Ich-Störung, Fixierung, Wahnbildung und Todeswunsch sind dabei typische Zeichen für den 1908 vom Schweizer Psychiater Bleuler eingeführten Schizophrenie-Begriff.

Der Autor dieses Gedichtes ist Adolf Wölfli, geboren 1864 als siebtes Kind eines Steinhauers, Gelegenheitsdiebs und Trunkenbolds, der die Familie verlässt, als der Knabe fünfjährig ist. Die Mutter, eine Wäscherin, wird armengenössig. Man trennt die beiden, und Adolf wird Verdingbub – eine Praxis, die sich in bäuerlichen Gebieten der Schweiz noch weit ins 20. Jahrhundert erstreckte und (wie kürzlich eine Ausstellung und ein Film zeigten)3 – oft mit Gewalt, körperlicher Züchtigung und seelischer Not verbunden war. 10-jährig erfährt Adolf drei Monate verspätet vom Tod seiner Mutter. Er wird Bauernknecht, Wanderarbeiter, Friedhofsgärtner, verliebt sich unstandesgemäss und deshalb unglücklich, vergreift sich zweimal an Mädchen von 14 und 5 Jahren, wird zu Kerker verurteilt und als Rückfälliger und unheilbar Gemeingefährlicher von 1895 bis zu seinem Tode 1930 in die Psychiatrie weggesperrt, in die Klinik Waldau bei Bern, wo dann 1929 fast als sein Nachfolger Robert Walser eintritt. Während dieser hier aber verstummt, erlebt Wölfli geradezu einen Schaffensrausch und wird zum produktivsten Schöpfer der „Art brut“: Aufgefordert, sein bisheriges Leben aufzuzeichnen, schafft er ab 1899 ein wucherndes Werk aus 1’460 Zeichnungen, etwa 1’560 Collagen und 25’000 zu Heften gebundenen Seiten. Kernstück darin ist seine 1908–1912 entstandene Autobiographie von 2’615 Seiten, in der er seine Erlebnisse verarbeitet und mit fiktiven Weltreisen zu einem Gesamtkunstwerk anreichert und sich selbst immer wieder als „Zeichner und Componist“ bezeichnet.4 Den roten Faden dieser „Wahnbiographie“ bilden sich immer wiederholende Unglücksfälle („Todessturz“), Notzuchtversuche als Sünde und Bestrafung in zwanghafter Wiederkehr.

Für den Psychiater Walter Morgenthaler5 und in der Folge auch für Rainer Maria Rilke und Walter Benjamin ist Wölfli Inbegriff einer Kreativität des Abnormen. Noch zu Lebzeiten erfährt Wölfli wachsende Wertschätzung als bildender Künstler; mit der Documenta 1972, wo ihn Harald Szeemann im Kontext internationaler Kunst unter „individuelle Mythologien“ bekannt macht,6 und einer grossen internationalen Wanderausstellung 1976–1980 wird er international ein Begriff;7 1973–1976 beginnt die Transkription seines dichterischen Werks, die 1985 zu den ersten Bänden einer bisher nicht mehr weiter verfolgten Gesamtausgabe führte;8 1976 erfolgen erste Transkriptionsversuche einzelner Kompositionen.9

Doch bereits zuvor animierte Peter Vujica, der Intendant des Steirischen Herbstes, vier Jung-Komponisten zu einer Art Pasticcio aus Kammeroper-Bruchstücken unter Verwendung von originalen Wölfli-Texten. Abgesehen von dieser Vorgabe waren die Aufträge denkbar offen formuliert und führten so auch zu höchst unterschiedlichen Lösungen. Im Rahmen dieses Projekts schrieben Gösta Neuwirth auf einen eigenen Text und Ausschnitte der Autobiographie die Tragifarce Eine wahre Geschichte und Georg Friedrich Haas eine Kurzoper für Bariton, Ensemble und Tonband auf eine Textcollage um Erotik, Religiosität und Bestrafung unter dem Motto „der leidende Mensch“, und Anton Prestele komponierte Wölflis Trauermarsch für Bariton und Ensemble. Die Zusammenarbeit war sehr locker, wie Haas schreibt:

In einer nach zwei Monaten erfolgten gemeinsamen Besprechung stellten wir fest, dass unsere Projekte sich gegenseitig nicht behinderten. Freilich hat es immer wieder Kontakte zwischen Neuwirth, Prestele und mir gegeben, in denen wir vor allem die instrumentalen Besetzungen koordinierten, doch waren wir uns in dem Wunsch nach einer möglichst weitgehenden inhaltlichen und stilistischen Pluralität einig.10

11