»Ja, daran hab ich oft gedacht,« erwiderte Saint-Loup, »es besteht viel Ähnlichkeit, aber Sie werden sehn, er hat noch tausenderlei, was Duroc nicht hat.«

Der Freund von Saint-Loup hatte einen Bruder, einen Musikschüler an der Schola Cantorum, der dachte über jedes neue Musikwerk ganz anders als seine Eltern, Vettern und Klubkameraden, aber genau so wie alle andern Schüler der Schola; ebenso hatte der adlige Unteroffizier (Bloch stellte sich ihn als ungewöhnlichen Menschen vor nach meiner Beschreibung. War er gerührt, daß der junge Mann zur gleichen Partei gehörte wie er selbst, so machte doch die adelige Herkunft und religiöse und militärische Erziehung aus ihm etwas ganz andres und gab ihm den Reiz eines Eingeborenen aus fernem Land) eine »Mentalität« – ein Ausdruck, der damals aufkam – entsprechend der aller Dreyfusanhänger im allgemeinen und der Blochs im besondern, auf welche die Familienüberlieferungen und die Rücksichten auf das Vorwärtskommen keine Wirkung ausübten. Ähnlich war der Fall einer jungen orientalischen Fürstin, die ein Vetter von Saint-Loup geheiratet hatte: sie mache, sagte man, Verse so schön wie die von Victor Hugo und Alfred de Vigny, und doch vermutete man bei ihr eine andre Art Geist als danach zu erwarten war, nämlich den einer orientalischen Fürstin, die einsiedlerisch in einem Palast aus Tausend und eine Nacht lebt. Den Schriftstellern, die den Vorzug hatten, sich ihr zu nähern, blieb die Enttäuschung oder vielmehr die Freude vorbehalten, einer Unterhaltung beizuwohnen, die nicht an Scheherezade, sondern an einen Geist von der Art Alfred de Vignys oder Victor Hugos gemahnte.

Mit diesem jungen Mann wie auch mit den andern Freunden Roberts und mit Robert selber unterhielt ich mich besonders gern über das Leben in der Kaserne, die Offiziere in der Garnison und die Armee im allgemeinen. Da nun einmal die kleine Umwelt, in der wir essen, plaudern und unser wirkliches Leben führen, ungeheure Maße annimmt und gewaltig überschätzt wird, so daß neben ihr der abwesende Rest der Welt nicht aufkommen kann und wesenlos wird wie ein Traum, hatte ich angefangen, mich um die verschiedenen Persönlichkeiten in der Kaserne, um die Offiziere zu bekümmern, die ich im Hof bemerkte, wenn ich Saint-Loup besuchen kam, oder beim Aufwachen sah, wenn das Regiment unter meinen Fenstern vorüberkam. Gern hätte ich Einzelheiten über den Obersten gehört, den Saint-Loup so bewunderte, und über seinen Unterricht in Kriegsgeschichte, der mir angeblich »sogar vom ästhetischen Standpunkt« so gut gefallen haben würde. Ich kannte bei Robert einen gewissen Wortschwall, der allzu oft etwas leer wirkte, in andern Fällen aber merken ließ, wie er tiefe Ideen, für die er durchaus Verständnis besaß, sich angeeignet hatte. Was die Armee betraf, so war Robert damals leider vorwiegend mit der Dreyfusaffäre beschäftigt. Er sprach wenig darüber, weil er der einzige Dreyfusanhänger der Tafelrunde war; die andern waren heftige Gegner der Revision mit Ausnahme meines Tischnachbarn und neuen Freundes, dessen Meinungen ziemlich schwankend schienen. Er war ein überzeugter Bewunderer des Obersten, der für einen hervorragenden Offizier galt, die Bewegung gegen die Armee in verschiedenen Tagesbefehlen gebrandmarkt hatte und deshalb für einen Dreyfusgegner gehalten wurde; nun hatte er aber gehört, sein verehrter Vorgesetzter habe Äußerungen fallen lassen, die auf Zweifel an Dreyfus' Schuld hindeuteten, und er bewahre Picquart seine Achtung. In letzterer Beziehung war jedenfalls das Gerücht von des Obersten Dreyfusfreundschaft schwach begründet, wie es immer die Gerüchte sind, die, ohne daß man weiß, woher sie stammen, ein großes Ereignis umkreisen. Denn als bald danach der Oberst beauftragt worden war, den ehemaligen Chef des Nachrichtenbureaus zu verhören, behandelte er ihn mit einer Roheit und Verachtung, wie sie noch nicht vorgekommen war. Gleichwohl hatte mein Nachbar, der sich übrigens nicht gestattet hätte, den Obersten selbst um Auskunft zu bitten, in höflichem Tone – wie etwa eine katholische Dame einer jüdischen mitteilt, ihr Pfarrer tadle die Judenmetzeleien in Rußland und bewundere die Großmut gewisser Israeliten – zu Saint-Loup gesagt, der Oberst sei dem Dreyfusismus, wenigstens einem bestimmten Dreyfusismus gegenüber nicht der unduldsame, engherzige Gegner, als den man ihn hinstellte.

»Das wundert mich nicht,« sagte Saint-Loup, »denn er ist ein Mann von Geist. Aber trotzdem verblenden ihn die Vorteile seiner Herkunft und vor allem der Klerikalismus. Ja, Major Duroc,« wandte er sich dann an mich, »der Lehrer der Kriegsgeschichte, von dem ich dir gesprochen habe, der ist offenbar tief von unsern Ideen durchdrungen. Das Gegenteil würde mich auch sehr wundern; er ist ja nicht nur höchst intelligent, sondern auch Radikalsozialist und Freimaurer.«

Einmal aus Höflichkeit gegen seine Freunde, denen Saint-Loups Glaubensbekenntnisse eines Dreyfusanhängers peinlich waren, und dann, weil mich das übrige mehr anzog, fragte ich meinen Nachbarn, ob dieser Oberst tatsächlich aus der Kriegsgeschichte eine Darstellung von echt ästhetischer Schönheit mache.

»Tatsächlich.«

»Was verstehn Sie darunter?«

»Nun zum Beispiel, alles was Sie, nehmen wir an, in einer Erzählung aus der Kriegsgeschichte lesen, die kleinsten Tatsachen, die geringfügigsten Ereignisse sind Merkmale einer Idee, die man freilegen muß, die oft andere Ideen wie in einem Palimpsest überdecken. Auf diese Art bekommen Sie ein ebenso sinnvolles Ganzes, wie in irgendeiner beliebigen Wissenschaft oder Kunst, ein Ganzes, das dem Geiste genug tut.«

»Beispiele, wenn ich nicht zu viel verlange.«

»Es ist schwer, dir das so einfach zu erklären«, unterbrach Saint-Loup. »Du liest zum Beispiel, dies oder jenes Armeekorps hat einen Vorstoß gemacht ... Aber bevor man weiter geht, ist der Name des Korps und seine Zusammensetzung nicht ohne Bedeutung. Wird die Operation nicht zum erstenmal unternommen, sehn wir für die gleiche Operation noch ein Korps erscheinen, so kann das ein Anzeichen sein, daß die vorhergehenden durch besagte Operation vernichtet oder sehr geschwächt wurden, weil sie nicht imstande waren, sie gut auszuführen. Dann muß man erkunden, was für ein Korps das jetzt vernichtete war: waren es Stoßtruppen, die für starke Angriffe in Reserve gehalten worden, so hat ein neues weniger qualifiziertes Korps wenig Aussicht auf Erfolg da, wo jene versagt haben. Steht man nicht mehr im Anfang eines Feldzugs, kann das neue Korps aus sehr gemischten Bestandteilen zusammengestellt sein, das gibt den Kräften, über die der Kriegführende verfügt, der Nähe des Augenblicks, in dem sie denen des Gegners nicht gewachsen sein werden, eine Bedeutung, die für die Operation selbst, welche das Korps unternehmen will, von jeweils verschiedener Wichtigkeit sein kann; ist es nämlich nicht imstande, seine Verluste wettzumachen, so wird auch ein Erfolg mit mathematischer Genauigkeit es nur einer schließlichen Vernichtung entgegenführen. Nicht weniger bedeutungsvoll ist, nebenbei bemerkt, Name und Nummer des Korps, das ihm gegenübersteht. Handelt es sich um eine bedeutend schwächere Einheit, die aber bereits mehrere wichtige Einheiten des Gegners aufgerieben hat, so bekommt die Operation einen ganz andern Charakter. Sollte sie selbst mit dem Verlust der verteidigten Stellung enden, diese auch nur eine Weile gehalten zu haben, kann ein großer Erfolg sein, wenn es genügt hat, um mit geringen Kräften sehr wichtige Kräfte des Gegners zu vernichten. Wenn schon die Analyse der Kampftruppe so wichtige Probleme enthält, wirst du verstehn, wie bedeutsam das Studium der Stellung selbst ist, der Straßen und Eisenbahnstrecken, die sie beherrscht, der Verproviantierung, die sie beschützt. Man muß das, was ich den ganzen geographischen Kontext nennen möchte, studieren«, fügte er lachend hinzu. (Mit diesem Ausdruck war er offenbar sehr zufrieden; jedes Mal, wenn er ihn wieder anwandte, noch Monate später, hatte er immer dasselbe Lachen.) »Liest du, während der eine der Kriegführenden die Operation vorbereitete, wurde eine seiner Streifwachen in der Nähe der Stellung vom Gegner vernichtet, kannst du daraus unter anderm den Schluß ziehen, daß der erstere versucht hat, sich über die Verteidigungsarbeiten Aufklärung zu verschaffen, mit denen der andere seinen Angriff zum Scheitern zu bringen beabsichtigte. Eine besonders heftige Aktion gegen einen Punkt kann bedeuten: man will ihn erobern, aber auch: man will den Gegner da festhalten, nicht dort mit ihm kämpfen, wo er angegriffen hat, es kann auch bloß eine Finte sein, die durch verstärkte Kampftätigkeit die Wegnahme von Truppen an dieser Stelle verbergen soll (das ist eine klassische Finte aus den Kriegen Napoleons). Ferner, um die Bedeutung eines Manövers, sein wahrscheinliches Ziel und somit die andern Bewegungen, die es begleiten oder ihm folgen sollen, zu verstehn, ist es weniger wichtig, den erteilten Befehl – der kann zur Täuschung des Gegners gegeben worden sein und um einen möglichen Mißerfolg zu verdecken –, als das Militärreglement des betreffenden Volkes zu kennen. Es läßt sich immer annehmen, das Manöver, das eine Armee hat unternehmen wollen, sei gleich dem, welches das zur Zeit gültige Reglement für entsprechende Umstände vorschreibt. Nimm zum Beispiel den Fall: das Reglement schreibt vor, einen Frontangriff mit einem Flankenangriff zu begleiten, der Flankenangriff mißlingt, der Tagesbefehl behauptet, er sei außer Zusammenhang mit dem Frontangriff und nur eine Ablenkungsbewegung gewesen; dann ist mit großer Wahrscheinlichkeit die Wahrheit in dem Reglement und nicht in den Aussagen des Tagesbefehls zu suchen. Und bei jeder Armee kommen zu den Reglements noch die Traditionen, Gewohnheiten und Doktrinen hinzu. Das Studium der diplomatischen Tätigkeit, die immer auf die militärische einwirkt oder reagiert, darf auch nicht vernachlässigt werden. Aus anscheinend unwesentlichen Zwischenfällen, die von den Zeitgenossen falsch verstanden wurden, wirst du ersehn, daß der Feind auf eine Unterstützung rechnete, die, wie aus eben diesen Zwischenfällen hervorgeht, ihm versagt wurde, und daß er daher in Wirklichkeit nur einen Teil seines strategischen Programms ausführen konnte. Verstehst du, derart Kriegsgeschichte zu lesen, so wird, was dem Durchschnittsleser wirrer Bericht bleibt, für dich ein so vernunftgemäßes Ganzes sein wie ein Bild für den Kunstfreund, der sieht, was die dargestellte Person trägt und in Händen hält, während der verdutzte Museenbesucher von wesenlosen Farben irregeführt und gequält wird. Wie es aber bei gewissen Bildern nicht genügt zu bemerken, daß eine Person einen Kelch hält, man vielmehr wissen muß, warum der Maler ihr den Kelch in die Hände gegeben und was er damit versinnbildlicht hat, so sind militärische Operationen auch nicht nur durch ihren unmittelbaren Zweck bestimmt, sie werden im Geist des kriegführenden Feldherrn gewöhnlich älteren Schlachten nachgebildet, und diese sind, wenn du willst, eine Art Vorzeit, Bibliothek, Studium, Etymologie, Aristokratie für die neuen Schlachten. Beachte, daß ich jetzt nicht von der lokalen, wie soll ich sagen, spatialen Identität der Schlachten spreche. Die gibt es auch. Ein Schlachtfeld war und bleibt im Lauf der Jahrhunderte nicht das Feld einer einzigen Schlacht. Ist es Schlachtfeld gewesen, so bedeutet das: es hat bestimmte Bedingungen der geographischen Lage und geologischen Natur vereinigt und sogar bestimmte Mängel für den Gegner aufgewiesen (einen Fluß, zum Beispiel, der es in zwei Hälften teilt) und ist so zu einem guten Schlachtfeld geworden. Das ist es gewesen, wird es also wieder sein. Ein Maleratelier kann man nicht aus einem beliebigen Zimmer, ein Schlachtfeld nicht aus einer beliebigen Stätte machen. Es gibt Orte, die dafür vorher bestimmt sind. Noch einmal, nicht davon will ich dir sprechen, sondern von dem Typus der Schlacht, die man nachahmt, von einer Art strategischem Abzug, einem taktischen Pasticcio, wenn du willst, der Schlacht bei Ulm, Lodi, Leipzig, Cannä. Ich weiß nicht, ob es in Zukunft noch Kriege geben wird, auch nicht zwischen welchen Völkern, aber wenn, dann sei sicher: es wird (und zwar von Seiten des Feldherrn mit Bewußtsein) wieder ein Cannä, Austerlitz, Roßbach, Waterloo geben, von andern zu schweigen, die manche Leute sich nicht scheuen auszusprechen. Feldmarschall von Schlieffen und General von Falkenhausen haben schon im voraus gegen Frankreich eine Schlacht bei Cannä vorbereitet, nach Hannibals Art: Fesselung des Gegners auf der ganzen Front und Vorstoß beider Flügel, besonders des rechten in Belgien, während Bernhardi die schräge Schlachtordnung Friedrichs des Großen, die Schlacht bei Leuthen der bei Cannä vorzieht. Andere geben ihre Ansichten nicht so rücksichtslos zum Besten, aber ich wette mit dir, mein Junge, Beauconseil, der Schwadronführer, dem ich dich neulich vorgestellt habe, ein Offizier mit großer Zukunft, hat seine kleine Attacke am Pratzen schon gründlich studiert, kennt sie bis in alle Ecken und Enden und hält sie in Reserve; sollte er je Gelegenheit haben, sie auszuführen, wird er nicht danebenhauen, er wird sie uns groß und breit vorsetzen. Das Einstoßen des Zentrums bei Rivoli, glaub mir, das wird man machen, solange es noch Kriege gibt. Das ist ebensowenig veraltet wie die Ilias. Ich behaupte sogar, man ist fast verurteilt zu Frontangriffen, man will doch nicht wieder in den Irrtum von 70 verfallen, sondern angreifen, immer nur angreifen. Ganz klar bin ich mir allerdings darüber noch nicht; während nämlich sonst nur zurückgebliebene Geister sich diesem herrlichen Grundsatz widersetzen, möchte doch einer meiner jüngsten Lehrer, Mangin, ein genialer Mann, der Defensive ihren Platz einräumen, wenn auch natürlich nur provisorisch. Man kommt recht in Verlegenheit, ihm etwas zu erwidern, wenn er als Beispiel Austerlitz anführt, wo die Defensive nur das Vorspiel des Angriffs und Sieges ist«.

Solche Theorien Saint-Loups machten mich glücklich. Sie ließen mich hoffen, daß ich hier in Doncieres mit den Offizieren, von denen man mir beim Sauternes, der seinen Schimmer auf sie ausstrahlte, erzählte, nicht hereingefallen war wie in Balbec, wo meine Überschätzung alles vergrößerte, den König und die Königin von Polynesien, die kleine Gesellschaft der vier Feinschmecker, den jungen Spieler, den Schwager von Legrandin, die jetzt alle in meinen Augen so klein geworden waren, daß sie kaum noch für mich existierten. Was mir heute gefiel, würde mir vielleicht morgen nicht gleichgültig sein, wie es mir bisher immer geschehn war; das Wesen, das ich in diesem Augenblick noch war, würde vielleicht nicht einem nahen Untergang geweiht sein, denn der flüchtig glühenden Leidenschaft, die ich in diesen paar Abenden allem, was das militärische Leben betraf, entgegenbrachte, gab Saint-Loup durch seine Worte über die Kriegskunst eine geistige Grundlage von dauerhafter Natur; an die konnte ich mich halten, brauchte nicht zu versuchen, mir etwas vorzumachen, würde mich weiter wie bisher für die Arbeiten meiner Freunde in Doncières interessieren und gern bald wieder sie besuchen kommen. Um indes noch sicherer zu sein, daß die Kriegskunst wirklich eine Kunst im geistigen Sinne des Wortes sei, sagte ich zu Saint-Loup:

»Was Sie sagen, Verzeihung, was du sagst, interessiert mich sehr, aber da gibt es einen Punkt, der mich beunruhigt. Ich fühle es, ich könnte mich für die Kriegskunst begeistern. Nur müßte sie für mich auch darin mit den andern Künsten übereinstimmen, daß die lernbare Regel bei ihr nicht alles ist. Du sagst, man bildet Schlachten nach. Ich finde es in der Tat, wie du sagst, ästhetisch, unter einer modernen Schlacht eine ältere zu sehn, ich kann dir nicht sagen, wie sehr diese Vorstellung mir gefällt. Aber spielt denn dann der Genius des Feldherrn keine Rolle? Tut er wirklich weiter nichts als Regeln anzuwenden? Oder ist es, das vollkommene Wissen vorausgesetzt, mit den großen Generälen wie mit großen Chirurgen, die vor zwei inhaltlich genau übereinstimmenden Krankheitsbildern an einer Kleinigkeit, die sie, vielleicht auf Grund einer Erfahrung, neu deuten, doch spüren: in diesem Fall ist eher dies, im andern eher das zu tun, hier sollte man operieren, dort von einer Operation absehn.«

»Das will ich meinen! Du wirst sehn, wie Napoleon nicht angreift, wenn alle Regeln wollen, daß er angreife, eine dunkle Ahnung rät ihm davon ab. Lies zum Beispiel bei Austerlitz oder auch 1806 die Weisungen, die er Lannes gibt. Anderseite kannst du gewisse Generäle ein Manöver Napoleons schülerhaft nachahmen und zu einem diametral entgegengesetzten Ergebnis kommen sehn. Zehn Beispiele dafür 1870. Aber selbst um zu erklären, was der Gegner tun kann, ist das, was er tut, nur ein Anzeichen, das sehr Verschiedenes bedeuten kann. Von diesen verschiedenen Ausdeutungen kann jede die richtige sein, wenn man sich an vernünftige Überlegung und Wissenschaft hält, wie es ja auch verwickelte Fälle gibt, wo alle Heilkunde der Welt nicht hinreichen würde, um zu entscheiden, ob das unsichtbare Geschwür ein Gewebetumor ist oder nicht, ob ein Eingriff gemacht werden muß oder nicht. Witterung, Ahnung wie bei einer Wahrsagerin (du verstehst) entscheidet bei dem großen Feldherrn wie bei dem großen Arzt. So habe ich dir, um ein Beispiel herauszugreifen, gesagt, was eine Rekognoszierung im Anfang einer Schlacht bedeuten kann. Aber sie kann noch zehnerlei anderes bedeuten, zum Beispiel: der Feind soll glauben, man wird hier angreifen, während man dort angreifen will, oder die Bewegung soll ihm die Vorbereitungen zu der wirklichen Operation verschleiern, oder er soll gezwungen werden, Truppen heranzuziehen, sie dort, wo sie nicht gebraucht werden, festzusetzen und festzuhalten, oder man will sich vergewissern, über was für Kräfte er verfügt, Fühlung mit ihm behalten, ihn zwingen, sein Spiel aufzudecken. Daß man in einer Operation große Truppenmassen bindet, beweist durchaus nicht immer, daß diese Operation die eigentliche ist; man kann sie ernstlich ausführen, obwohl sie nur eine Finte ist, damit diese Finte eben mehr Aussicht hat, den Gegner zu täuschen. Hätte ich Zeit, von diesem Gesichtspunkt aus dir die Kriege Napoleons zu erzählen, glaub mir, die einfachen klassischen Bewegungen, die wir studieren und die du uns beim Felddienst zu deinem Spaziergangsvergnügen wirst ausführen sehn, kleiner Schlemmer – Verzeihung, ich weiß, du bist krank – also, im Kriege, wenn man hinter diesen Bewegungen die gespannte Aufmerksamkeit, das Nachdenken und Nachprüfen des Oberkommandos fühlt, erregen sie uns wie die einfachen Feuer eines Leuchtturms, dies körperliche Licht, das doch eine Ausgießung des Geistes ist und den Raum durchstreift, um den Schiffen die Gefahr anzuzeigen. Es ist vielleicht unrecht von mir, dir nur von Kriegsliteratur zu sprechen. Wie Bodenbeschaffenheit, Wind- und Lichtrichtung anzeigen, wo ein Baum wachsen wird, so bestimmen tatsächlich die Bedingungen, unter denen ein Feldzug geführt wird, und die Eigentümlichkeiten des Geländes, auf dem man manöveriert, in gewisser Weise die Pläne, zwischen denen ein Feldherr zu wählen hat, und begrenzen sie. Längs des Gebirges, in einem System von Tälern, in gewissen Ebenen kannst du fast mit Notwendigkeit, wie den großartigen Gang einer Lawine, den Marsch der Heere vorhersagen.«

»Jetzt nimmst du wieder dem Feldherrn die Freiheit und dem Gegner, der in seinen Plänen lesen will, das Ahnungsvermögen, das du mir vorhin für ihn zugestanden hast.«

»Aber durchaus nicht! Du erinnerst dich des philosophischen Buches, das wir in Balbec zusammen lasen über den Reichtum der Welt des Möglichen im Vergleich zur wirklichen Welt. In einer gegebenen Lage werden sich vier verschiedene Pläne aufdrängen, zwischen denen der Feldherr zu wählen hat, gerade wie eine Krankheit verschiedene Entwicklungen durchmachen kann, auf die der Arzt gefaßt sein muß. Und auch dann noch verursachen menschliche Schwäche und Größe neue Ungewißheit. Nehmen wir an, der Feldherr wählt aus zufälligem Anlaß (etwa weil er anderweitige Ziele erreichen will, weil die Zeit drängt oder sein Truppenbestand klein und die Verpflegung schlecht ist) unter den vier Plänen den ersten, der unvollkommener, aber weniger kostspielig und schneller auszuführen geht und zur Ernährung seiner Armee ein reicheres Land bietet. Er fängt also nach dem ersten Plan zu operieren an; der Feind, erst unsicher, durchschaut diesen bald, und zu große Hindernisse stellen sich der Ausführung entgegen; das nenne ich das Risiko aus menschlicher Schwäche; nun gibt der Feldherr den ersten Plan auf und versucht es mit dem zweiten, dritten oder vierten. Aber sein Versuch mit dem ersten Plan kann auch – und das nenne ich menschliche Größe – eine Finte gewesen sein, um den Gegner festzuhalten und dort, wo er sich nicht angegriffen glaubt, zu überraschen. So wurde bei Ulm Mack, der den Feind im Westen erwartete, von Norden her, wo er sich ungefährdet glaubte, eingeschlossen. Mein Beispiel ist übrigens nicht sehr gut gewählt. Und Ulm ist eher ein Typ der Aufrollungstaktik, wie man sie in Zukunft wiederaufnehmen wird, es ist nicht nur ein klassisches Beispiel, von dem Feldherrn sich werden anleiten lassen, sondern eine gewissermaßen notwendige Form (notwendig unter andern, es bleibt Wahl und Mannigfaltigkeit bestehn), notwendig wie eine typische Kristallbildung. Aber das alles besagt noch nichts. Ich komme auf unser philosophisches Buch zurück; es ist wie mit den logischen Prinzipien oder den wissenschaftlichen Gesetzen: die Wirklichkeit paßt sich ihnen ungefähr an; aber denke an den großen Mathematiker Poincaré: es ist nicht sicher, daß die Mathematik streng exakt sei. Die Reglements, von denen ich dir sprach, sind im Ganzen von einer Wichtigkeit zweiten Ranges und werden übrigens von Zeit zu Zeit geändert. So haben wir Kavalleristen eine Felddienstordnung von 1895, die, wie man wohl sagen kann, überholt ist, sie beruht auf der alten abgekommenen Lehrmeinung, die von dem Kavallerieangriff nur eine seelische Wirkung erwartet durch den Schrecken, den der Angriff auf den Gegner ausübt. Dagegen stehn die klügsten unserer Lehrer, die besten Köpfe in der Kavallerie und namentlich der Major, von dem ich dir sprach, auf dem Standpunkt, die Entscheidung werde durch ein richtiges Handgemenge herbeigeführt, in dem man mit Säbel und Lanze ficht und der Zähere Sieger bleibt, nicht nur einfach seelisch dadurch, daß er Schrecken erregt, sondern ganz wirklich.«

»Saint-Loup hat recht, wahrscheinlich wird die nächste Felddienstordnung Anzeichen dieser Entwicklung aufweisen«, sagte mein Nachbar.

»Es ist mir sehr angenehm, daß du mir zustimmst, deine Ansichten scheinen meinem Freunde nämlich mehr Eindruck zu machen als meine«, sagte Saint-Loup lachend, vielleicht verdroß ihn die entstehende Neigung zwischen seinem Kameraden und mir ein wenig, vielleicht aber wollte er nur liebenswürdig sein, sie auch öffentlich feststellen und anerkennen. »Und dann habe ich vielleicht die Wichtigkeit der Reglements etwas herabgesetzt. Sie werden verändert, das ist richtig. Aber bis dahin beherrschen sie die militärische Situation, die Feldzugs- und Konzentrationspläne. Spiegelt sich in ihnen eine falsche Auffassung der Strategie, so können sie den ersten Anstoß zur Niederlage geben. Das alles ist ein bißchen zu technisch für dich«, wandte er sich an mich. »Im Grunde wirst du dir sagen können: am stärksten wird die Entwicklung der Kriegskunst gefördert durch die Kriege selbst. Im Lauf eines etwas längeren Feldzugs kann man sehen, wie einer der Kriegführenden aus den Lehren nutzen zieht, die ihm Erfolge und Fehler des Gegners geben, wie er die Methoden des andern vervollkommnet und dieser wieder ihn überbietet. Aber das gehört alles der Vergangenheit an. Bei den furchtbaren Fortschritten der Artillerie werden die künftigen Kriege, wenn es überhaupt noch Kriege gibt, so kurz sein, daß, ehe man daran denken kann, aus Lehren Vorteil zu gewinnen, der Frieden geschlossen sein wird.«

»Sei nicht so empfindlich,« sagte ich zu Saint-Loup und antwortete damit auf das, was er vor seinen letzten Worten gesagt hatte. »Ich habe dir doch recht eifrig zugehört.«

»Wenn du nicht gleich wieder böse wirst, sondern es erlaubst,« nahm Saint-Loups Freund wieder auf, »möchte ich dem, was du gesagt hast, hinzufügen: es liegt nicht nur am Geist des Führers, wenn typische Schlachten nachgeahmt werden und sich häufen. Mitunter kann ein Fehler des Führers (wenn er zum Beispiel den Wert des Gegners unterschätzt) ihn dazu bringen, von seinen Truppen übertriebene Opfer zu verlangen, Opfer, die gewisse Einheiten mit erhabener Selbstverleugnung bringen; ihre Haltung entspricht dann der Haltung unserer Einheiten in anderen Schlachten und wird in der Geschichte als austauschbares Beispiel angeführt: um bei 1870 zu bleiben, die preußische Garde bei Saint-Privat, die Turkos bei Fröschweiler und Weißenburg.«

»Austauschbar, sehr richtig! ausgezeichnet! Du bist intelligent,« sagte Saint-Loup.

Diese Beispiele waren mir nicht gleichgültig, da es mir immer wichtig war, im Besonderen das Allgemeine gezeigt zu bekommen. Aber vor allem interessierte mich der Genius des Feldherrn, ich wollte mir klar darüber werden, worin er bestehe, wie in einer gegebenen Lage, in der ein ungenialer Feldherr dem Gegner nicht standhalten kann, der geniale es anfängt, die gefährdete Schlacht wiederherzustellen; das war doch nach Saint-Loup sehr wohl möglich und von Napoleon zu wiederholten Malen verwirklicht worden. Und um zu verstehn, was militärische Größe sei, bat ich um Vergleiche zwischen den Generalen, deren Namen ich kannte, fragte, wer eine richtige Feldherrnnatur, wer die höhere taktische Begabung habe, auf die Gefahr hin, meine neuen Freunde zu langweilen. Sie ließen sich aber wenigstens nichts anmerken und antworteten mir mit unermüdlicher Güte.

Ganz abgetrennt war ich (nicht nur von der großen, einzigen, in die Ferne reichenden Nacht, – da draußen pfiff von Zeit zu Zeit ein Zug und machte die Freude, hier zu sein, nur noch lebhafter, oder eine Stunde schlug, zum Glück noch lange nicht die, zu der die jungen Leute ihre Säbel nehmen und heimkehren mußten) – sondern auch von allen äußeren Sorgen, fast sogar von der Erinnerung an Frau von Guermantes, dank der Güte Saint-Loups, zu der die seiner Freunde hinzukam, die sie gewissermaßen verdichtete; dank auch der Wärme dieses kleinen Eßzimmers und der Schmackhaftigkeit der köstlichen Gerichte, die man uns vorsetzte. Die machten meiner Phantasie ebensoviel Vergnügen wie meinem Gaumen. Das Stückchen Natur, dem sie entnommen wurden, das rauhe Weihwasserbecken der Auster, darin noch einige Tropfen Salzwasser blieben, oder ästiges Rebholz und gelbliches Laub einer Weintraube, umgab sie bisweilen noch, selbst uneßbar, schön und fern wie Landschaft, und beschwor im Lauf des Essens eine Siesta am Weinberg und einen Gang durch Meerwellen; an andern Abenden brachte nur der Koch die besondere Herkunft der Gerichte zur Geltung; er bot sie in ihrem natürlichen Rahmen wie ein Kunstwerk dar; ein Fisch, in polnischer Brühe gekocht, kam auf langer irdener Platte, hob sich von einer Streu bläulicher Gräser ab, unversehrt, aber davon, daß er lebend ins kochende Wasser geworfen worden, noch verbogen, rings von Schalwerk kleiner Trabantentiere, Taschenkrebsen, Krabben und Muscheln umgeben, erschien er wie auf einer Keramik von Bernard Palissy.

»Ich bin eifersüchtig, ich bin wütend«, sagte Saint-Loup, halb lachend, halb im Ernst zu mir, auf meine endlosen Einzelgespräche mit seinem Freund anspielend. »Finden Sie ihn klüger als mich, lieben Sie ihn mehr? Dann gibts wohl nur noch ihn?« Männer, die sehr in eine Frau verliebt sind und unter lauter galanten Frauenfreunden leben, erlauben sich Scherze, die andere weniger unschuldig finden und nicht wagen würden.

Sobald die Unterhaltung allgemein wurde, vermied man es, von Dreyfus zu sprechen, um Saint-Loup nicht zu kränken. Gleichwohl machten zwei seiner Kameraden eine Woche später einmal die Bemerkung, es sei doch seltsam, daß er, der in einer ausgesprochen militärischen Umgebung lebe, so dreyfusfreundlich und fast antimilitaristisch sei. Ohne mich auf Einzelheiten einzulassen, sagte ich: »Der Einfluß der Umgebung ist eben nicht so wichtig, wie man glaubt.« Damit wollte ichs genug sein lassen und nicht die Gedankengänge wiederaufnehmen, die ich ein paar Tage vorher Saint-Loup vorgebracht hatte. Um mich aber für etwas, das ich ihm fast wörtlich gesagt hatte, zu entschuldigen, fügte ich hinzu: »Das ist es ja gerade, was ich neulich ...« Aber ich hatte nicht mit der Kehrseite seiner liebenswürdigen Bewunderung für mich und einige andere Personen gerechnet. Seiner Bewunderung für diese entsprach nämlich ein völliges Assimilieren ihrer Ideen, und schon nach vierundzwanzig Stunden hatte er vergessen, daß es nicht seine eigenen Ideen waren. Ganz als habe meine bescheidene These immer schon in seinem Hirn gewohnt und als jagte ich nur auf seinen Feldern, glaubte er mich nur herzlich willkommen heißen und mir beistimmen zu müssen:

»Gewiß doch! Die Umgebung spielt keine Rolle.«

Und lebhaft – als fürchte er, ich könnte ihn unterbrechen oder verstünde ihn nicht, fuhr er fort: »Den wahren Einfluß übt die geistige Umgebung aus! Man ist der Mensch seiner Idee!«

Er hielt einen Augenblick inne, mit dem Lächeln eines Menschen, der gut verdaut hat, ließ dann sein Monokel fallen, heftete seinen durchbohrenden Blick auf mich und sagte in herausforderndem Ton: »Alle Menschen derselben Idee sind einander ähnlich.« Gewiß hatte er ganz vergessen, daß ich ihm vor wenigen Tagen das gesagt hatte, woran er sich nun so genau erinnerte.

+++

Nicht jeden Abend kam ich in der gleichen Stimmung in Saint-Loups Restaurant. Kann eine Erinnerung, ein Kummer uns so ganz entschwinden, daß wir nichts mehr von ihm merken, so kommt er doch auch, und manchmal nach langer Zeit, wieder und verläßt uns nicht. An manchen Abenden hatte ich, wenn ich die Stadt durchquerte, um in das Restaurant zu gehn, solche Sehnsucht nach Frau von Guermantes, daß ich kaum atmen konnte: es war, als habe ein geschickter Anatom einen Teil meiner Brust bloßgelegt, herausgenommen und durch eine entsprechende Masse unkörperlichen Schmerzes, durch ein Äquivalent aus Sehnsucht und Liebe ersetzt. Und sind auch die Nähte gut gemacht, es ist doch recht beschwerlich zu leben, wenn man statt Eingeweiden Sehnsucht nach einem Wesen hat; die scheint mehr Platz zu brauchen als jene, man fühlt sie immerzu; und dann, was für ein zweideutiger Zustand, einen Teil seines Körpers denken zu müssen. Immerhin scheint man mehr wert zu sein. Beim leisesten Windhauch seufzt man vor Beklemmung, aber auch vor Liebesweh. Ich sah den Himmel an. War er klar, sagte ich mir: Vielleicht ist sie auf dem Lande, sie sieht dieselben Sterne an; wer weiß, wenn ich ins Restaurant komme, wird Robert zu mir sagen: »Eine gute Neuigkeit, meine Tante hat mir geschrieben, sie möchte dich sehn, sie kommt hierher.« Nicht nur an das Firmament heftete ich meine Gedanken an Frau von Guermantes. Ein sanft streifender Wind schien mir Botschaft von ihr zu bringen wie einst in den Kornfeldern von Méséglise von Gilberte: man ändert sich nicht, man läßt nur in das Gefühl, das man mit einem Wesen verbindet, manche eingeschlafenen Elemente eintreten, die es erweckt und doch nicht teilt. Und immer zwingt uns etwas, diese besondern Gefühle wahrer zu machen, das heißt, sie mit einem allgemeineren Gefühl sich verbinden zu lassen, das die ganze Menschheit teilt; die Individuen und der Kummer, den sie uns verursachen, sind nur eine Gelegenheit, mit diesem Gefühl zu kommunizieren. Es brachte einige Lust in meine Pein, daß ich wußte, sie war ein Teil der allgemeinen Liebe. Wohl glaubte ich in meinem Weh, mit dem Frau von Guermantes, ihre Kälte, ihre Ferne nicht so deutlich verknüpft waren, wie es im Geiste des Gelehrten Ursache mit Wirkung ist, Traurigkeiten wiederzuerkennen, die ich um Gilbertes willen empfunden hatte, oder in Combray, abends, wenn Mama nicht in meinem Zimmer blieb, oder bei dem Gedanken an gewisse Seiten von Bergotte, aber ich schloß nicht daraus, daß Frau von Guermantes gar nicht die Ursache dieses Wehs sei. Gibt es doch auch unbestimmte physische Schmerzen, die in Gebiete ausstrahlend sich verbreiten, welche außerhalb des erkrankten Körperteils liegen; wenn dann der Arzt genau den Punkt berührt, woher sie kommen, verlassen sie jene Gebiete und zerstreuen sich ganz; und doch gab vorher ihre Ausdehnung ihnen einen so verhängnisvoll undeutlichen Charakter: unfähig, sie zu erklären oder auch nur zu lokalisieren, hielten wir es für unmöglich, sie zu heilen. Nach dem Restaurant zu weitergehend, sagte ich zu mir selbst: »Jetzt hab ich schon vierzehn Tage Frau von Guermantes nicht gesehn.« Vierzehn Tage, das war wohl nur für mich etwas Ungeheueres, der ich, wenn es sich um Frau von Guermantes handelte, nach Minuten rechnete. Für mich bekamen nicht nur Sterne und Wind, sondern auch die errechenbaren Bruchteilchen der Zeit etwas schmerzlich Schönes. Jeder Tag war jetzt wie der immer in Bewegung scheinende Kamm eines undeutlich sichtbaren Hügels: auf der einen Seite, fühlte ich, könnte ich hinabsteigen ins Vergessen, auf der andern riß mich das Bedürfnis, die Herzogin wiederzusehn, fort. Und ich war bald mehr dem einen, bald mehr dem andern nah und ohne stabiles Gleichgewicht. Eines Tages sagte ich mir: »Heut Abend wird vielleicht ein Brief dasein«, und hatte, als ich zum Essen kam, den Mut, Saint-Loup zu fragen:

»Hast du nicht zufällig Nachrichten aus Paris?«

»Ja,« antwortete er düster, »schlechte.«

Ich atmete auf; der Kummer traf nur ihn, die Nachrichten waren von seiner Geliebten. Aber bald merkte ich, sie würden unter anderm zur Folge haben, daß Robert mich nicht zu seiner Tante mitnehmen könne.

Ich erfuhr, es war ein Streit zwischen ihm und seiner Geliebten ausgebrochen, sei es brieflich, sei es gelegentlich eines Morgenbesuches, den sie ihm zwischen zwei Zügen gemacht hatte. Und selbst die geringfügigeren Zwiste, die sie bisher gehabt hatten, schienen immer unversöhnlich sein zu müssen. Denn sie war übellaunig, stampfte gleich mit dem Fuß, weinte aus so unbegreiflichen Gründen wie Kinder, die sich in ein dunkles Kämmerchen einschließen, nicht zum Essen kommen, jede Auskunft verweigern und nur noch heftiger schluchzen, wenn man schließlich mit aller Vernunft zu Ende ist und ihnen Schläge gibt. Saint-Loup litt schrecklich unter diesem Zwist, aber wenn man das einfach so ausdrückt, fälscht man die Vorstellung, die man sich von seinem Schmerz zu machen hat. War er wieder allein und hatte nur noch an seine Geliebte zu denken, die mit Respekt vor ihm abgereist war, weil sie ihn energisch gesehn hatte, vergingen seine Qualen angesichts des Unabänderlichen, und das Aufhören einer Qual ist etwas so Süßes, daß der einmal zur Gewißheit gewordene Zwist für ihn ein wenig von dem Reiz bekam, den eine Versöhnung gehabt hätte. Etwas später stellte sich bei ihm als sekundäres Symptom ein neuer Schmerz ein, der seinem eigenen Wesen entsprang: er litt bei dem Gedanken, sie habe vielleicht eine Annäherung gesucht, es sei nicht ausgeschlossen, daß sie von ihm ein Wort erwarte. Lasse er sie nun warten, werde sie, um sich zu rächen, vielleicht an dem und dem Abend, dem und dem Ort etwas tun ... Er brauche ihr nur zu telegraphieren, er komme, damit sie es nicht tue: andere werden vielleicht die Zeit nutzen, die er verloren gehn lasse, in einigen Tagen würde es zu spät sein, um sie wiederzugewinnen, sie würde in andern Händen sein. Von all diesen Möglichkeiten wußte er nichts Bestimmtes, seine Geliebte wahrte ihr Schweigen, und das machte ihn schließlich so toll vor Schmerz, daß er sich fragte, ob sie sich nicht am Ende in Doncierès verborgen halte oder nach Indien verreist sei.

Man hat gesagt, Schweigen sei eine Macht; es ist aber in ganz besonderm Sinne eine schreckliche Macht derer, die geliebt werden. Sie steigert die Qual des Liebenden, der wartet. Nichts verlockt so sehr, uns einem Wesen zu nähern, als das, was uns von ihm trennt; und welche Schranke wäre schwerer zu durchbrechen als das Schweigen? Man hat auch gesagt, Schweigen sei eine Marter und könne den, der im Gefängnis dazu gezwungen werde, wahnsinnig machen. Aber marternder als Schweigen zu wahren, ist es, aushalten zu müssen, daß das geliebte Wesen schweigt! Robert sagte sich: »Was tut sie wohl, daß sie so schweigt? Gewiß betrügt sie mich mit andern?« Er sagte auch: »Was hab ich getan, daß sie so schweigt? Sie haßt mich vielleicht und für immer.« Und er machte sich Vorwürfe. So machte ihn das Schweigen wahnsinnig vor Eifersucht und Reue. Solches Schweigen ist grausamer als das der Gefängnisse, ist selbst Gefängnis. Eine wohl unkörperliche, doch undurchdringliche Klausur, dieses eingeschobene Stück leere Luft, das die Sehstrahlen des Verlassenen nicht durchdringen können. Was kann schrecklicher beleuchten als das Schweigen, das uns statt einer Abwesenden tausend zeigt, und jede ergibt sich einem andern Verrat! Bisweilen fühlte Robert eine plötzliche Entspannung, er glaubte, das Schweigen werde augenblicklich aufhören, der erwartete Brief werde kommen. Er sah ihn ankommen, er lauschte auf jedes Geräusch, ihm war schon leichter, er flüsterte: »Der Brief! Der Brief!« Hatte er dann schon eine Traumoase voll zärtlicher Liebe zu sehn gemeint, fand er sich wieder im Wirklichen, im Wüstensand endlosen Schweigens watend. Im voraus litt er, ohne einen einzigen zu übergehn, alle Schmerzen, die ein Bruch mit sich bringt, und glaubte doch wiederum zeitweise, den Bruch vermeiden zu können. Er glich den Leuten, die in der Aussicht, ihre Heimat verlassen zu müssen, – eine Aussicht, die sich dann gar nicht verwirklicht –, alle ihre Angelegenheiten ordnen. Ihre Gedanken, die nicht mehr wissen, wohin sie morgen gehören, bewegen sich für den Augenblick ganz losgelöst von ihren Trägern, wie das Herz, das man einem Kranken herausnimmt, getrennt vom Körper weiterschlägt. Immerhin gab ihm die Hoffnung auf die Wiederkehr der Geliebten Mut, im Bruche zu beharren, wie der Glaube, man könne lebend aus dem Kampfe wiederkehren, dem Tode zu trotzen hilft. Und da Gewohnheit von allem, was Menschen anpflanzen, am wenigsten Nährboden braucht, um zu gedeihen, und als erstes auf dem anscheinend trostlosesten Felsen keimt, hätte Robert an den Bruch, der zunächst eine Finte von ihm war, vielleicht ganz redlich sich gewöhnt. Aber immer im Ungewissen und voller Erinnerungen an jene Frau, geriet er in einen Zustand, welcher der Liebe glich. Indes zwang er sich, ihr nicht zu schreiben; vielleicht schien es ihm nicht so qualvoll, ohne seine Geliebte, als unter bestimmten Bedingungen mit ihr zu leben, oder er hielt es nach der Art, wie sie sich verlassen hatten, für nötig, ihre Entschuldigungen abzuwarten, damit sie bewahre, was sie nach seiner Meinung, wenn nicht an Liebe, so doch wenigstens an Achtung und Rücksicht für ihn empfände. Er beschränkte sich darauf, an das Telephon zu gehn, das man jüngst in Doncières eingerichtet hatte und von einer Zofe, die er bei seiner Freundin angestellt hatte, Erkundigungen einzuziehen und ihr Weisungen zu geben. Die Telephonverbindung war, nebenbei bemerkt, etwas umständlich und nahm ihm viel Zeit; Roberts Geliebte hatte nämlich ein kleines Grundstück in der Umgegend von Versailles gemietet. Damit folgte sie dem Geschmack ihrer literarischen Freunde, welche die Hauptstadt häßlich fanden; vor allem aber tat sie es um ihrer Tiere willen, der Hunde, des Affen, der Kanarienvögel und des Papageien, deren beständigen Lärm ihr Pariser Wirt nicht länger dulden wollte. Nun konnte Robert in Doncières des Nachts keinen Augenblick mehr schlafen. Einmal schlummerte er bei mir, von Müdigkeit überwältigt, ein wenig ein. Plötzlich fing er an, aus dem Schlafe zu sprechen, er wollte laufen, etwas verhindern, er sagte: »Ich höre sie, Sie werden nicht ... werden nicht ...« Dann wachte er auf. Er sagte, er habe geträumt, er sei auf dem Lande bei dem Quartierwachtmeister gewesen. Der versuchte ihn von einem Teil des Hauses zu entfernen. Saint-Loup hatte erraten, daß der Wachtmeister einen sehr reichen und sehr lasterhaften Leutnant zu Besuch habe, der, wie er wußte, sehr nach seiner Freundin begehrte. Und mit einmal hatte er im Traum deutlich die regelmäßig wiederkehrenden und aussetzenden Schreie gehört, die seine Geliebte in den Augenblicken der Wollust auszustoßen pflegte. Da hatte er den Wachtmeister zwingen wollen, ihn in das Zimmer zu führen. Und der hielt ihn fest, wollte ihn nicht hinein lassen und setzte eine sehr gekränkte Miene auf, so indiskret fand er dies Verlangen. Robert sagte, er werde diese Miene nie vergessen können.

»Ein idiotischer Traum«, schloß er, noch ganz außer Atem.

Aber schon in der nächsten Stunde war er einige Male drauf und dran, seiner Geliebten zu telephonieren und sie um eine Aussöhnung zu bitten. Seit kurzem hatte mein Vater Telephon, aber ich weiß nicht, ob Saint-Loup damit viel gedient gewesen wäre. Auch schien es mir nicht eben angemessen, meinen Eltern, ja auch nur einem Apparat in ihrem Hause die Vermittlerrolle zwischen Saint-Loup und seiner Geliebten zu geben, mochte diese auch noch so fein und vornehm empfinden. Der Eindruck von Saint-Loups Schrecktraum verwischte sich ein wenig in seinem Bewußtsein. Mit zerstreutem, starrem Blick kam er während all dieser schrecklichen Tage zu mir, und ich sah ihr Nacheinander wie die herrlich geschwungene Kurve eines schmiedeeisernen Geländers, an dem Robert lehnte und sann, was für einen Entschluß seine Freundin fassen werde.

Endlich fragte sie ihn, ob er sich darauf einlassen würde, zu verzeihen. Kaum hatte er begriffen, daß der Bruch vermieden war, sah er alle Nachteile einer neuen Annäherung. Übrigens litt er schon weniger und hatte den Schmerz fast hingenommen; er würde ja wohl doch in einigen Monaten von neuem sein Stechen zu fühlen bekommen, wenn die Liebschaft wieder begann. Er zauderte nicht lange. Vielleicht zauderte er überhaupt nur, weil er endlich sicher war, seine Geliebte wieder zu sich nehmen zu können, und es zu können, bedeutete für ihn, es zu tun. Allein sie bat ihn, nicht vor dem ersten Januar nach Paris zu kommen, damit sie erst ihre Ruhe wiederfinde. Er hatte nicht den Mut, nach Paris zu gehn, ohne sie dort zu sehn. Anderseits war sie damit einverstanden, mit ihm zu verreisen, aber dafür brauchte er einen richtigen Urlaub, den Rittmeister von Borodino ihm nicht bewilligen wollte.

»Das verdrießt mich wegen unseres Besuches bei meiner Tante, den wir nun aufschieben müssen. Ostern komme ich aber sicher wieder nach Paris.«

»Dann können wir nicht zusammen zu Frau von Guermantes gehen. Ostern werde ich schon in Balbec sein. Aber das macht gar nichts.«

»In Balbec? Aber da sind Sie doch erst im August hingegangen.«

»Ja, aber dies Jahr muß man mich aus Gesundheitsgründen früher hinschicken.«

Seine Hauptsorge war, ich könne ungünstig über seine Geliebte urteilen nach dem, was er mir von ihr erzählt hatte. »So heftig ist sie nur, weil sie zu freimütig ist und zu sehr in ihren Empfindungen aufgeht. Aber sie ist ein wundervolles Geschöpf. Du kannst dir nicht vorstellen, was für ein poetisches Zartgefühl sie hat. Jedes Jahr geht sie zum Totensonntag nach Brügge. Das ist hübsch, nicht wahr? Wenn du sie jemals kennen lernst, wirst du sehn, sie hat etwas Großzügiges ...« Und da er gewisse Ausdrücke literarischer Kreise aus der Umwelt dieser Frau angenommen hatte, fuhr er fort: »Sie hat etwas Siderales, Seherisches, du verstehst, was ich sagen will, der Dichter, der fast ein Priester ist.«

Ich suchte beim Essen die ganze Zeit nach einem Vorwand, der Saint-Loup gestatten würde, seine Tante zu bitten, sie möge mich empfangen, ohne seine Rückkehr nach Paris abzuwarten. Diesen Vorwand lieferte mir mein Wunsch, die Bilder Elstirs wiederzusehn, des großen Malers, den Saint-Loup und ich in Balbec kennengelernt hatten. Der Vorwand enthielt übrigens einige Wahrheit: bisher hatte ich, wenn ich Elstir besuchte, von seiner Malerei Verständnis und Liebe für Dinge nähergebracht bekommen wollen, die mehr waren als diese Kunst, ein richtiges Tauwetter, ein authentischer Provinzplatz, lebendige Frauen am Strande (allenfalls hätte ich von ihm das Porträtieren der Wirklichkeiten verlangt, die ich noch nicht tiefer zu durchdringen verstanden hatte, eines Weißdornpfades zum Beispiel, nicht damit er mir ihre Schönheit festhalte, sondern sie mir entdecke), jetzt aber war ich begierig auf die Originalität und den Reiz dieser Malereien selber, und vor allem wollte ich noch andre Bilder von Elstir sehn.

Übrigens schien mir jedes Bild von ihm, auch das unbedeutendste, etwas ganz anderes zu sein als die Meisterwerke selbst von größeren Malern. Sein Werk war wie ein verschlossenes Königreich mit unüberschreitbaren Grenzen und von unvergleichlicher Materie. Begierig hatte ich die seltenen Zeitschriften gesammelt, in denen Aufsätze über ihn veröffentlicht waren, und daraus erfahren, daß er erst neuerdings Landschaften und Stilleben male; begonnen habe er mit mythologischen Darstellungen (von zwei solchen hatte ich in seinem Atelier die Photographien gesehn), dann hatte er lange Zeit unter dem Eindruck der japanischen Kunst gestanden.

Einige der bezeichnendsten Werke seiner verschiedenen Malweisen befanden sich in der Provinz. Ein Haus etwa in Les Andelys, in dem eine seiner schönsten Landschaften hing, erschien mir so wertvoll, machte mir so viel Reiselust, wie ein Dorf aus der Gegend von Chartres, dessen Kalkstein eines der glorreichen Fenster einfaßt; und zu dem Besitzer dieses Meisterwerks, zu dem Menschen, der da in seinem bäurischen Haus an der Landstraße verborgen und eingeschlossen wie ein Astrologe, einen dieser Spiegel der Welt – denn das ist ein Bild Elstirs – befragte, der es vielleicht für mehrere tausend Franken gekauft hatte, fühlte ich die Sympathie, die uns zum Herzen und Charakter derer zieht, die über etwas Wesentliches ebenso denken wie wir. Drei wichtige Werke meines Lieblingsmalers waren in einer der Zeitschriften als im Besitz der Frau von Guermantes bezeichnet. Es war also doch schließlich ganz aufrichtig von mir, als ich an dem Abend, an dem Saint-Loup mir die Reise seiner Freundin nach Brügge ankündigte, beim Essen vor seinen Freunden ihm wie einen plötzlichen Einfall hinwarf:

»Wenn du erlaubst, komm ich noch ein letztes Mal auf das Thema von der Dame, über die wir gesprochen haben, zurück. Du erinnerst dich doch an Elstir, den Maler, den ich in Balbec kennen lernte.«

»Aber natürlich.«

»Du erinnerst dich meiner Bewunderung für ihn?«

»Gewiß, und auch des Briefes, den wir ihm überbringen ließen.«

»Nun denn, einer der Gründe, nicht der wichtigste, nur einer, der noch hinzukommt, weshalb ich besagte Dame gern kennen lernen möchte, du weißt doch noch, welche ich meine.«

»Ja doch! Was machst du für Parenthesen.«

»Dieser Grund ist, es gibt bei ihr wenigstens ein sehr schönes Bild von Elstir.«

»Ach, das wußte ich nicht.«

»Elstir wird Ostern sicherlich in Balbec sein, Sie wissen, er verbringt jetzt fast das ganze Jahr an der Küste. Sehr gern hätte ich vor meiner Abreise dies Bild gesehn. Ich weiß nicht, ob Sie vertraulich genug mit Ihrer Tante stehn; könnten Sie mich in ihren Augen geschickt ein wenig herausstreichen, damit sie nichts dagegen hat, und sie bitten, mich, da Sie doch um die Zeit nicht dasein werden, ohne Sie das Bild sehn zu lassen?«

»Selbstverständlich, ich verbürge mich für meine Tante, das wird gemacht.«

»Wie ich Sie liebe, Robert!«

»Es ist nett von Ihnen, mich zu lieben, aber noch netter wäre es, mich zu duzen, wie Sie es versprochen haben und wie du schon angefangen hattest.«

»Ich hoffe, was Sie da heimlich bereden, ist nicht Ihre Abreise«, sagte einer von Roberts Freunden zu mir. »Sie müssen wissen, wenn Saint-Loup in Urlaub geht, braucht sich deshalb hier nichts zu ändern, wir sind da! Es wird vielleicht für Sie weniger unterhaltsam sein, aber man wird sich alle Mühe geben, so gut es geht, Sie seine Abwesenheit vergessen zu machen.« Als man nämlich schon glaubte, Roberts Freundin werde allein nach Brügge gehn, wurde bekannt,