cover image

H. G. Wells

Die Riesen kommen!

H. G. Wells

Die Riesen kommen!

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Felix Paul Greve
1. Auflage, ISBN 978-3-954189-25-0

null-papier.de/433

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Buch – Das Auf­kom­men des Nähr­stoffs

Ka­pi­tel I – Die Ent­de­ckung des Nähr­stoffs

Ka­pi­tel II – Die Ex­pe­ri­men­tal­farm

Ka­pi­tel III – Die Rie­sen­rat­ten

Ka­pi­tel IV – Die Rie­sen­kin­der

Ka­pi­tel V – Die Er­nied­ri­gung Mr. Ben­sing­tons

Zwei­tes Buch – Der Nähr­stoff im Dorf

Ka­pi­tel I – Der Nähr­stoff kommt auf

Ka­pi­tel II – Der Rie­sen­balg

Drit­tes Buch – Die Ern­te des Nähr­stoffs

Ka­pi­tel I – Die ver­än­der­te Welt

Ka­pi­tel II – Das Rie­sen­lie­bes­paar

Ka­pi­tel III – Der jun­ge Cadd­les in Lon­don

Ka­pi­tel IV – Red­woods zwei Tage

Ka­pi­tel V – Das Rie­sen­la­ger

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie die­ses E-Book aus mei­nem Ver­lag er­wor­ben ha­ben.

Soll­ten Sie Feh­ler fin­den oder An­re­gun­gen ha­ben, so mel­den Sie sich bit­te bei mir.

Ihr
Jür­gen Schul­ze, Ver­le­ger, js@­null-pa­pier.de

Newslet­ter abon­nie­ren

Der Newslet­ter in­for­miert Sie über:

htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

Erstes Buch – Das Aufkommen des Nährstoffs

Kapitel I – Die Entdeckung des Nährstoffs

I

In den mitt­le­ren Jah­ren des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts trat in die­ser un­se­rer wun­der­li­chen Welt zum ers­ten Male eine Klas­se von Men­schen wu­chernd auf, von Men­schen, die zum größ­ten Teil dazu neig­ten, ält­lich zu wer­den, Men­schen, die man, und zwar sehr rich­tig, trotz ih­rer leb­haf­ten Ab­nei­gung ge­gen die­sen Ti­tel »Na­tur­wis­sen­schaf­ter« nennt. Sie ha­ben eine sol­che Ab­nei­gung ge­gen die­ses Wort, daß es aus den Spal­ten der »Na­tur« – und sie war von An­fang an ihr be­son­de­res und cha­rak­te­ris­ti­sches Blatt – eben­so sorg­fäl­tig ver­bannt wird, als wäre es – je­nes an­de­re Wort, das in Eng­land die Ba­sis je­der wirk­lich schlech­ten Spra­che ist. Aber das große Pub­li­kum und sei­ne Pres­se weiß es bes­ser, und »Na­tur­wis­sen­schaf­ter« sind sie, und wenn sie zu ir­gend­wel­cher Berühmt­heit auf­tau­chen, wer­den sie zu »be­deu­ten­den Na­tur­wis­sen­schaf­tern«, und die äu­ßers­ten Ti­tel, die wir ih­nen ge­ben, sind »her­vor­ra­gen­de Na­tur­wis­sen­schaf­ter« und »in wei­ten Krei­sen be­kann­te Na­tur­wis­sen­schaf­ter«.

Si­cher­lich ver­dien­ten so­wohl Mr. Ben­sing­ton wie Pro­fes­sor Red­wood all die­se Ti­tel längst, ehe sie jene wun­der­ba­re Ent­de­ckung mach­ten, von der die­ser Be­richt er­zählt. Mr. Ben­sing­ton ge­hör­te der Roy­al So­cie­ty an und war Vor­sit­zen­der des Che­mi­ker­ver­ban­des ge­we­sen; und Pro­fes­sor Red­wood war Pro­fes­sor, Pro­fes­sor der Phy­sio­lo­gie im Bond Street Col­le­ge der Lon­do­ner Uni­ver­si­tät, und er war von den An­ti­vi­vi­sek­tio­nis­ten ein über das an­de­re Mal an­ge­grif­fen wor­den. Und bei­de hat­ten von frü­he­s­ter Ju­gend auf ein Le­ben aka­de­mi­scher Aus­zeich­nung ge­lebt.

Na­tür­lich wa­ren es Leu­te, die nach gar nichts aus­sa­hen; das tun alle wah­ren Wis­sen­schaf­ter. Ein Schau­spie­ler von dem al­ler­mil­des­ten Be­neh­men hat mehr per­sön­li­che Di­stink­ti­on als die gan­ze kö­nig­li­che Aka­de­mie zu­sam­men. Mr. Ben­sing­ton war kurz und sehr, sehr kahl, und er ging leicht ge­beugt; er trug eine gol­de­ne Bril­le und Tuchs­tie­fel, die we­gen sei­ner zahl­rei­chen Hüh­ne­rau­gen an vie­len Stel­len auf­ge­schnit­ten wa­ren, und Pro­fes­sor Red­wood war in sei­ner Er­schei­nung ganz ge­wöhn­lich. Bis sie auf die Nah­rung der Göt­ter tra­fen (denn so muß ich sie nen­nen), führ­ten sie ein Le­ben von so her­vor­ra­gen­der und eif­ri­ger Obs­ku­ri­tät, daß es schwer ist, auch nur ir­gend et­was zu fin­den, was man dem Le­ser von ih­nen er­zäh­len könn­te.

Mr. Ben­sing­ton ge­wann sich die Spo­ren (wenn man von ei­nem Herrn in ge­schlitz­ten Tuchs­tie­feln einen sol­chen Aus­druck ge­brau­chen kann) durch sei­ne glän­zen­den For­schun­gen über die Gif­ti­ge­ren Al­ka­loi­de, und Pro­fes­sor Red­wood er­hob sich zur Be­deu­tung – ich ent­sin­ne mich nicht ge­nau, wie er sich zur Be­deu­tung er­hob! Ich weiß, er war sehr be­deu­tend, und das ist al­les. Sol­che Din­ge wach­sen all­mäh­lich. Ich glau­be, ein um­fäng­li­ches Werk über Re­ak­ti­ons­zei­ten mit zahl­rei­chen Plat­ten sphyg­mo­gra­phi­scher Zeich­nun­gen (jede Be­rich­ti­gung ist will­kom­men) und mit ei­ner be­wun­de­rungs­wür­di­gen neu­en Ter­mi­no­lo­gie mach­te die Sa­che für ihn.

Das all­ge­mei­ne Pub­li­kum sah von die­sen bei­den Her­ren we­nig oder nichts. Bis­wei­len sah es an Or­ten wie der Roy­al In­sti­tu­tion oder Kunst­ver­ei­ni­gung Mr. Ben­sing­ton ge­wis­ser­ma­ßen, we­nigs­tens sei­ne er­rö­ten­de Kahl­heit und ein we­nig von sei­nem Kra­gen und Rock, und es hör­te Frag­men­te ei­nes Vor­trags oder Auf­sat­zes, von dem er sich ein­bil­de­te, er lese ihn hör­bar; und ein­mal ent­sin­ne ich mich – ei­nes Mit­tags in der ent­schwun­de­nen Ver­gan­gen­heit – als die Bri­tish As­so­cia­tion zu Do­ver tag­te, da traf ich auf die Sek­ti­on C. oder D. oder einen ähn­li­chen Buch­sta­ben, die in ei­nem Wirts­haus Quar­tier ge­nom­men hat­te, und ich folg­te zwei ernst­haft aus­se­hen­den Da­men mit Pa­pier­pa­ke­ten aus blo­ßer Neu­gier durch eine Tür, die die Auf­schrift »Bil­lard« trug, in eine skan­da­lö­se Dun­kel­heit, die nur durch einen La­ter­na ma­gi­ca-Kreis mit Red­wood­schen Zeich­nun­gen un­ter­bro­chen wur­de.

Ich be­ob­ach­te­te, wie die La­ter­nen­plat­ten ka­men und gin­gen, und lausch­te ei­ner Stim­me (was sie sag­te, habe ich ver­ges­sen), und ich glau­be, es war Pro­fes­sor Red­woods Stim­me. Von der La­ter­ne her kam ein Sum­men, und ich hör­te noch einen an­de­ren Ton, was mich, im­mer noch in blo­ßer Neu­gier, dort hielt, bis das Licht un­er­war­tet auf­ge­dreht wur­de. Und da merk­te ich, daß die­ser Ton das Kau­en der »Buns« und But­ter­brö­te und so wei­ter war, die un­ter dem Schutz der Dun­kel­heit bei der La­ter­na ma­gi­ca zu es­sen die Her­ren von der Bri­tish As­so­cia­ti­on dort­hin ge­kom­men wa­ren.

Und Red­wood, ent­sin­ne ich mich, re­de­te im­mer wei­ter, wäh­rend das Licht schon wie­der auf­ge­dreht war, und schlug auf die Stel­le, wo sei­ne Zeich­nung auf dem Schirm hät­te sicht­bar sein sol­len – und sie war auch wie­der sicht­bar, so­bald die Dun­kel­heit wie­der her­ge­stellt war. Ich ent­sin­ne mich sei­ner von da­mals als ei­nes ganz ge­wöhn­li­chen, leicht ner­vös aus­se­hen­den, dunklen Man­nes, der den An­schein er­weck­te, als sei er mit et­was an­de­rem be­schäf­tigt und tue, was er eben da tat, un­ter der un­er­klär­li­chen Emp­fin­dung ei­ner Pf­licht.

Ein­mal – in den al­ten Ta­gen – habe ich auf ei­ner Er­zie­hungs­kon­fe­renz in Blooms­bu­ry auch Ben­sing­ton ge­hört. Wie die meis­ten her­vor­ra­gen­den Che­mi­ker und Bo­ta­ni­ker re­de­te Mr. Ben­sing­ton sehr apo­dik­tisch über Lehr­me­tho­den – frei­lich bin ich über­zeugt, eine durch­schnitt­li­che Schul­klas­se hät­te ihn in ei­ner hal­b­en Stun­de zum Wahn­sinn ge­trie­ben – und so weit ich mich noch ent­sin­ne, setz­te er eine Ver­bes­se­rung von Pro­fes­sor Arm­strongs heu­ris­ti­scher Metho­de aus­ein­an­der, mit de­ren Hil­fe ein Durch­schnitts­kind von ei­ner be­son­de­ren Art star­rer Gründ­lich­keit um den Preis von sechs bis acht­tau­send Mark für Ap­pa­ra­te, ei­ner voll­stän­di­gen Ver­nach­läs­si­gung al­ler an­de­ren Stu­di­en und der un­ge­teil­ten Auf­merk­sam­keit ei­nes Leh­rers von un­ge­wöhn­li­cher Be­ga­bung im Lau­fe von zehn bis zwölf Jah­ren fast eben­so­viel Che­mie soll­te ler­nen kön­nen, wie man sich aus ei­nem je­ner an­fecht­ba­ren Hand­bü­cher zu ei­ner Mark ho­len konn­te, die da­mals so ver­brei­tet wa­ren …

Ganz ge­wöhn­li­che Leu­te, wie man sieht, au­ßer­halb ih­rer Wis­sen­schaft. Oder, wenn schon ir­gend et­was, so auf der un­prak­ti­schen Sei­te des Ge­wöhn­li­chen. Und das, wird man fin­den, ist über die gan­ze Welt hin mit den »Na­tur­wis­sen­schaf­tern« als ei­ner Klas­se der Fall. Was groß an ih­nen ist, ist ih­ren Mit­wis­sen­schaf­tern ein Är­ger­nis und dem großen Pub­li­kum ein Ge­heim­nis. Was nicht groß an ih­nen ist, liegt auf der Hand.

Was nicht groß an ih­nen ist, dar­über exis­tiert kein Zwei­fel, kein Men­schen­ge­schlecht zeigt so au­gen­fäl­li­ge Klein­heit. Sie le­ben, so­weit mensch­li­cher Ver­kehr in Be­tracht kommt, in ei­ner en­gen Welt, ihre For­schun­gen for­dern un­end­li­che Auf­merk­sam­keit und fast mön­chi­sche Ab­schlie­ßung; und was üb­rig bleibt, ist nicht sehr viel. Wenn man ir­gend­ei­nen wun­der­li­chen, scheu­en, miß­ge­stal­te­ten, grau­köp­fi­gen, selbst­ge­fäl­li­gen, klei­nen Ent­de­cker großer Ent­de­ckun­gen sieht, der lä­cher­lich mit dem wei­ten Band ei­nes Rit­ter­schafts­or­dens ge­schmückt ist und einen Empfang von Ge­nos­sen ab­hält, oder wenn man den Not­schrei der »Na­tur« über die »Ver­nach­läs­si­gung der Na­tur­wis­sen­schaft« liest, so­bald der En­gel der Ge­burts­tag­seh­run­gen an der Roy­al So­cie­ty vor­über­geht, oder wenn man ei­nem un­er­müd­li­chen Flech­ten­for­scher lauscht, der über das Werk ei­nes an­dern un­er­müd­li­chen Flech­ten­for­schers re­det, so zwin­gen einen sol­che Din­ge zu der Er­kennt­nis von der un­ent­weg­ten Klein­heit des Men­schen.

Und trotz al­lem ist das Riff der Wis­sen­schaft, das die­se klei­nen »Wis­sen­schaf­ter« er­baut ha­ben und noch bau­en, so wun­der­voll, so un­ge­heu­er­lich, so voll von halb­ge­form­ten Ver­spre­chun­gen für die ge­wal­ti­ge Zu­kunft des Men­schen! Sie schei­nen nicht zu wis­sen, was sie tun! Ohne Zwei­fel hat­te vor lan­ger Zeit, als er sei­nen Be­ruf wähl­te, als er sein Le­ben den Al­ka­loi­den und ver­wand­ten Ver­bin­dun­gen wid­me­te, selbst Mr. Ben­sing­ton eine dunkle Ah­nung von der Vi­si­on, – mehr als eine dunkle Ah­nung. Wel­cher jun­ge Mann wür­de sein Le­ben ohne eine sol­che In­spi­ra­ti­on nur um sol­cher Ehren und sol­cher Stel­lung wil­len, wie sie ein »Wis­sen­schaf­ter« er­war­ten kann, sol­cher Ar­beit hin­ge­ben, wie es jun­ge Leu­te tun? Nein, sie müs­sen das Glor­rei­che ge­se­hen ha­ben, sie müs­sen die Vi­si­on ge­habt ha­ben, aber so nah, daß sie sie ge­blen­det hat. Der Glanz hat sie ge­blen­det, er­bar­mungs­voll, so daß sie die Fa­ckeln des Wis­sens für den Rest ih­res Le­bens in Ruhe tra­gen kön­nen – da­mit wir se­hen!

Und viel­leicht er­klärt es Red­woods An­flug von Zer­streut­heit, daß er – jetzt kann dar­an kein Zwei­fel mehr be­ste­hen – un­ter sei­nen Kol­le­gen an­ders war, er war an­ders in­so­fern, als et­was von der Vi­si­on noch in sei­nen Au­gen schim­mer­te.

II

Die Nah­rung der Göt­ter nen­ne ich ihn, die­sen Stoff, den Mr. Ben­sing­ton und Pro­fes­sor Red­wood zu­sam­men her­stell­ten; und wenn man be­denkt, was er be­reits voll­bracht hat und was al­les er si­cher­lich noch voll­brin­gen wird, so liegt in dem Na­men ge­wiß kei­ne Über­trei­bung. Ich wer­de den Stoff also mei­ne gan­ze Er­zäh­lung hin­durch wei­ter so nen­nen. Aber Mr. Ben­sing­ton hät­te ihn kal­ten Blu­tes so we­nig so be­nannt, wie er sei­ne Woh­nung auf Slo­a­ne Street mit kö­nig­li­chem Schar­lach und Lor­beer­kranz be­klei­det ver­las­sen hät­te. Die Phra­se war von sei­ner Sei­te nichts als ein ers­ter Schrei des Er­stau­nens. Er nann­te den Stoff nur in sei­ner ers­ten Be­geis­te­rung und im gan­zen höchs­tens eine Stun­de oder so die Nah­rung der Göt­ter. Nach­her ent­schied er, er sei ab­surd. Als er zum ers­ten­mal an die Sa­che dach­te, sah er gleich­sam einen Durch­blick un­ge­heu­rer Mög­lich­kei­ten – buch­stäb­lich un­ge­heu­rer Mög­lich­kei­ten, aber bei die­ser blen­den­den Vi­si­on schloß er nach ei­nem Star­ren der Ver­blüf­fung die Au­gen, wie es ein ge­wis­sen­haf­ter »Na­tur­wis­sen­schaf­ter« eben soll. Spä­ter klang die Nah­rung der Göt­ter bei­na­he un­an­stän­dig schrill. Er war er­staunt, daß er den Aus­druck ge­braucht hat­te. Aber trotz al­lem blieb et­was von je­nem klar­äu­gi­gen Mo­ment an ihm hän­gen und brach im­mer von Zeit zu Zeit wie­der her­aus …

»Wahr­haf­tig, wis­sen Sie«, sag­te er, rieb sich die Hän­de an­ein­an­der und lach­te ner­vös, »das hat mehr als theo­re­ti­sches In­ter­es­se.«

»Zum Bei­spiel« – er sprach ver­trau­lich, brach­te das Ge­sicht dem des Pro­fes­sors ganz nahe und senk­te die Stim­me zum Flüs­tern – »es wür­de sich, wenn man es rich­tig an­faßt, ver­kau­fen las­sen« …

»Ge­wiß«, sag­te er, in­dem er fort­trat, »als Nah­rungs­mit­tel. Oder we­nigs­tens als Nah­rungs­zu­satz.«

»An­ge­nom­men na­tür­lich, daß es schmack­haft ist. Das kön­nen wir nicht wis­sen, ehe wir es nicht prä­pa­riert ha­ben.«

Er mach­te auf dem Ka­min­tep­pich kehrt und stu­dier­te die sorg­fäl­tig ge­zeich­ne­ten Schlit­ze auf sei­nen Tuch­schu­hen.

»Name?«, sag­te er, in­dem er auf eine Fra­ge die Au­gen hob. »Ich für mei­nen Teil nei­ge zur gu­ten al­ten klas­si­schen An­spie­lung. Sie – sie macht die Na­tur­wis­sen­schaft so ehr–. Gibt ihr einen An­flug alt­mo­di­scher Wür­de. Ich habe ge­dacht … Ich weiß nicht, ob Sie es ab­surd von mir fin­den … Ein we­nig Phan­ta­sie ist doch ge­le­gent­lich er­laubt … Hera­kleo­phor­bia. Eh? Die Nah­rung ei­nes mög­li­chen Hera­kles? Sie wis­sen, es könn­te …«

»Na­tür­lich, wenn Sie mei­nen, lie­ber nicht –«

Red­wood sann nach, die Au­gen ins Feu­er ge­rich­tet, und er­hob kei­nen Ein­wand.

»Sie mei­nen, es gin­ge?«

Red­wood be­weg­te ernst den Kopf.

»Es könn­te auch Ti­ta­no­phor­bia hei­ßen, wis­sen Sie. Nah­rung der Ti­ta­nen … Sie zie­hen das ers­te vor?«

»Sie sind ganz si­cher, Sie fin­den es nicht ein we­nig zu – –«

»Nein.«

»Ah! das freut mich.«

Und so nann­ten sie den Stoff wäh­rend ih­rer gan­zen Un­ter­su­chun­gen Hera­kleo­phor­bia, und in ih­rem Be­richt – dem Be­richt, der nie ver­öf­fent­licht wur­de, weil die un­er­war­te­ten Ent­wi­cke­lun­gen all ihre Ar­ran­ge­ments um­s­tie­ßen, wird er un­ab­än­der­lich so be­nannt. Drei ver­wand­te Sub­stan­zen wur­den prä­pa­riert, ehe sie auf die eine stie­ßen, die ihre Spe­ku­la­ti­on vor­aus­ge­sagt hat­te, und von ih­nen spra­chen sie un­ter den Na­men Hera­kleo­phor­bia I, Hera­kleo­phor­bia II, Hera­kleo­phor­bia III. Hera­kleo­phor­bia IV nen­ne ich hier – und da be­ste­he ich auf Ben­sing­tons ur­sprüng­li­chem Na­men – die Nah­rung der Göt­ter.

III

Die Idee ge­hör­te Mr. Ben­sing­ton. Da sie aber bei ihm durch einen von Pro­fes­sor Red­woods Bei­trä­gen zu den phi­lo­so­phi­schen Ab­hand­lun­gen an­ge­regt wor­den war, so zog er ganz rich­ti­ger­wei­se die­sen Herrn zu Rate, ehe er sie wei­ter ver­folg­te. Au­ßer­dem war es als Un­ter­su­chung eben­so­sehr eine phy­sio­lo­gi­sche wie eine che­mi­sche Fra­ge.

Pro­fes­sor Red­wood ge­hör­te zu je­nen Wis­sen­schaf­tern, die auf Zeich­nun­gen und Kur­ven schwö­ren. Man kennt – wenn man ir­gend­wie die Art von Le­ser ist, die ich gern habe – die Art des wis­sen­schaft­li­chen Auf­sat­zes, die ich mei­ne. Es ist ein Auf­satz, der we­der Hand noch Fuß hat, und am Schluß kom­men fünf oder sechs ge­fal­te­te Zeich­nun­gen, die man öff­nen kann, und die ei­gen­tüm­li­che Zick­zack­li­ni­en zei­gen, über­trie­be­ne Blit­ze oder ge­wun­de­ne, un­er­klär­li­che Din­ge, die man »ge­streck­te Kur­ven« nennt, auf Or­di­na­ten ge­stellt und in Abs­zis­sen wur­zelnd – und der­glei­chen mehr. Man zer­bricht sich lan­ge den Kopf dar­über und en­digt mit dem Arg­wohn, daß man sie nicht nur sel­ber nicht ver­steht, son­dern daß auch der Au­tor sie nicht ver­steht. Aber wirk­lich, man muß wis­sen, vie­le von die­sen Wis­sen­schaf­tern ver­ste­hen ganz gut, was ihre Auf­sät­ze sa­gen wol­len; was das Hin­der­nis zwi­schen uns er­rich­tet, ist nur ein Man­gel des Aus­drucks.

Ich nei­ge zu dem Glau­ben, daß Red­wood in Zeich­nun­gen und Kur­ven dach­te. Und nach sei­nem mo­nu­men­ta­len Werk über Re­ak­ti­ons­zei­ten (der un­wis­sen­schaft­li­che Le­ser wird er­mahnt, noch ein klein we­nig län­ger aus­zu­hal­ten, und al­les wird klar sein wie das Ta­ges­licht) be­gann Red­wood ge­streck­te Kur­ven und Sphyg­mo­gra­phien auf das Wachs­tum an­zu­wen­den, und ei­ner sei­ner Auf­sät­ze über das Wachs­tum gab auch Mr. Ben­sing­ton sei­ne Idee ein.

Red­wood, muß man wis­sen, hat­te wach­sen­de Din­ge je­der Art ge­mes­sen, Kat­zen, jun­ge Hun­de, Son­nen­blu­men, Pil­ze, Boh­nen­pflan­zen und (bis sei­ne Frau dem ein Ende mach­te) sein Baby, und er be­wies, daß das Wachs­tum nicht mit gleich­mä­ßi­ger Ge­schwin­dig­keit vor sich ging, oder, wie er es dar­stell­te, so:

son­dern sprung­wei­se und in­ter­mit­tie­rend; etwa so:

und daß of­fen­bar nichts gleich­mä­ßig und ste­tig wuchs; und so­weit er her­aus­brin­gen konn­te, konn­te nichts gleich­mä­ßig und ste­tig wach­sen; es war, als müß­te je­des le­ben­de We­sen erst Kraft zum Wachs­tum an­häu­fen, es wuchs nur eine Zeit­lang kräf­tig und muß­te dann eine Wei­le war­ten, ehe es wie­der wei­ter wach­sen konn­te. Und in der ver­hüll­ten und hoch­tech­ni­schen Spra­che des wirk­lich gründ­li­chen »Na­tur­wis­sen­schaf­ters« ver­mu­te­te Red­wood, der Pro­zeß des Wachs­tums ver­lan­ge wahr­schein­lich die An­we­sen­heit ei­ner be­trächt­li­chen Men­ge ei­ner not­wen­di­gen Sub­stanz im Blut, die nur sehr lang­sam ge­bil­det wur­de, und wenn die­se Sub­stanz vom Wachs­tum auf­ge­zehrt sei, wer­de sie nur sehr lang­sam er­setzt, und in­zwi­schen habe der Or­ga­nis­mus zu war­ten. Er ver­glich sei­ne un­be­kann­te Sub­stanz mit dem Öl bei Ma­schi­nen. Ein wach­sen­des Tier war, ver­mu­te­te er, wie eine Lo­ko­mo­ti­ve, die eine Stre­cke lau­fen kann und dann ge­ölt wer­den muß, ehe sie wei­ter­lau­fen kann. (»Aber warum soll­te man die Lo­ko­mo­ti­ve nicht von drau­ßen ölen?«, sag­te Mr. Ben­sing­ton, als er den Auf­satz las.) Und all dies, sag­te Red­wood mit der köst­li­chen Sprung­haf­tig­keit sei­ner Klas­se, könn­te sehr wahr­schein­lich ein Licht auf das Ge­heim­nis ge­wis­ser der röh­ren­lo­sen Drü­sen wer­fen. Als ob sie über­haupt et­was da­mit zu tun hät­ten!

In ei­ner spä­te­ren Mit­tei­lung ging Red­wood wei­ter. Er gab ein wah­res Le­xi­kon von Zeich­nun­gen – ge­nau wie Ra­ke­ten­bah­nen sa­hen sie aus und der An­gel­punkt da­von – so­weit es einen An­gel­punkt hat­te – war, daß sich das Blut von jun­gen Hun­den und Kat­zen und der Saft von Son­nen­blu­men und Pil­zen in der Pha­se, die er die »Wachs­tums­pha­se« nann­te, im Ver­hält­nis ge­wis­ser Ele­men­te von ih­rem Blut und Saft an den Ta­gen un­ter­schied, wo sie nicht be­son­ders wuch­sen.

Und als Mr. Ben­sing­ton, der die Zeich­nun­gen seit­lich und um­ge­kehrt be­trach­tet hat­te, klar zu wer­den be­gann, worin die­ser Un­ter­schied be­stand, über­kam ihn ein großes Er­stau­nen. Denn man sieht, der Un­ter­schied konn­te wahr­schein­lich an der Ge­gen­wart ge­ra­de der Sub­stanz lie­gen, die er kürz­lich in sei­nen Un­ter­su­chun­gen über sol­che Al­ka­loi­de zu iso­lie­ren ge­sucht hat­te, wie sie das Ner­ven­sys­tem am meis­ten sti­mu­lie­ren. Er leg­te Red­woods Auf­satz auf das Pa­tent­le­se­pult, das un­be­quem von sei­nem Lehn­ses­sel fort­schwang, nahm sei­ne gol­de­ne Bril­le ab, hauch­te dar­auf und putz­te sie sehr sorg­fäl­tig.

»Bei Gott!«, sag­te Mr. Ben­sing­ton.

Dann setz­te er die Bril­le wie­der auf und wand­te sich von neu­em dem Pa­tent­le­se­pult zu, das so­fort, als er mit dem Ell­bo­gen ge­gen sei­nen Arm stieß, ein ko­ket­tes Krei­schen aus­stieß und den Auf­satz mit all sei­nen Zeich­nun­gen zer­streut und ver­knit­tert auf den Bo­den ab­warf. »Bei Gott!«, sag­te Mr. Ben­sing­ton, als er mit ge­dul­di­ger Nicht­ach­tung der Ge­wohn­hei­ten die­ses Mö­bels sei­nen Ma­gen über die Leh­ne des Ses­sels spann­te, und da er die Bro­schü­re noch im­mer au­ßer Griff­wei­te fand, so ließ er sich zur Ver­fol­gung auf alle Vie­re nie­der. Auf dem Bo­den kam ihm der Ge­dan­ke, den Stoff die Nah­rung der Göt­ter zu nen­nen …

Denn man sieht, wenn er recht hat­te, und wenn Red­wood recht hat­te, so konn­te er durch In­jek­ti­on oder durch Zu­ga­be die­ser sei­ner neu­en Sub­stanz zur Nah­rung die »Ru­he­pha­se« be­sei­ti­gen, und statt, daß das Wachs­tum so fort­schritt:

muß­te es (wenn man mich ver­steht) so lau­fen:

IV

Die Nacht nach sei­ner Un­ter­re­dung mit Red­wood konn­te Mr. Ben­sing­ton kaum einen Au­gen­blick schla­fen. Ein­mal frei­lich schi­en es, als ob er in eine Art Halb­schlaf ver­fiel, aber es war nur einen Mo­ment, und da träum­te er, er habe ein tie­fes Loch in die Erde ge­gra­ben und gös­se Ton­nen um Ton­nen von der Nah­rung der Göt­ter hin­ein, und die Erde schwöl­le und schwöl­le, und alle Gren­zen der Län­der bars­ten, und die Kö­nig­li­che Geo­gra­phi­sche Ge­sell­schaft war wie eine große Schnei­der­gil­de ins­ge­samt an der Ar­beit und mach­te den Äqua­tor wei­ter …

Das war na­tür­lich ein lä­cher­li­cher Traum, aber er zeugt bes­ser für den Zu­stand geis­ti­ger Er­re­gung, in den Mr. Ben­sing­ton ge­riet, und für den wirk­li­chen Wert, den er auf sei­ne Idee leg­te, als ir­gend et­was von dem, was er sag­te oder tat, wenn er wach und auf sei­ner Hut war. Sonst hät­te ich ihn nicht er­wähnt, denn im all­ge­mei­nen glau­be ich, ist es durch­aus nicht in­ter­essant, wenn sich die Leu­te von ih­ren Träu­men er­zäh­len.

Durch ein merk­wür­di­ges Zu­sam­men­tref­fen hat­te auch Red­wood in die­ser Nacht einen Traum, und dies war sein Traum:

Es war eine in Feu­er aus­ge­führ­te Zeich­nung auf ei­ner lan­gen Rol­le des Ab­grunds. Und er, Red­wood, stand auf ei­nem Pla­ne­ten vor ei­ner Art schwar­zer Tri­bü­ne und hielt einen Vor­trag über die neue Art des Wachs­tums, die nun mög­lich war, und zwar vor der »Mehr als Kö­nig­li­chen In­sti­tu­ti­on ur­sprüng­li­cher Kräf­te« – ur­sprüng­li­cher Kräf­te, die bis­lang stets, selbst im Wachs­tum von Ras­sen, Rei­chen, Pla­ne­ten­sys­te­men und Wel­ten, so ge­lau­fen wa­ren: –

Und in ei­ni­gen Fäl­len so­gar so: –

Und er setz­te ih­nen ganz klar und über­zeu­gend aus­ein­an­der, daß die­se lang­sa­men, die­se selbst re­tro­gres­si­ven Metho­den durch sei­ne Ent­de­ckung sehr bald ganz au­ßer Mode kom­men wür­den.

Lä­cher­lich, na­tür­lich! Aber auch das zeigt –

Daß ei­ner die­ser Träu­me als ir­gend­wie über das hin­aus, was ich ka­te­go­risch ge­sagt habe, be­deu­tungs­voll oder pro­phe­tisch an­zu­se­hen wäre, be­haup­te­te ich kei­nen Mo­ment.

Kapitel II – Die Experimentalfarm

I

Mr. Ben­sing­ton woll­te die­sen Stoff ur­sprüng­lich, so­bald er nur ein­mal wirk­lich im­stan­de war, ihn zu prä­pa­rie­ren, an Kaul­quap­pen ver­su­chen. Man stellt sol­che Ver­su­che zu­nächst im­mer an Kaul­quap­pen an; dazu sind Kaul­quap­pen da. Und sie ka­men über­ein, daß er die Ex­pe­ri­men­te lei­ten soll­te, und nicht Red­wood, denn Red­woods La­bo­ra­to­ri­um war voll von dem bal­lis­ti­schen Ap­pa­rat und von Tie­ren, die zu ei­ner Un­ter­su­chung über die »Täg­li­che Va­ria­ti­on in der Stoß­lust des jun­gen Bul­len­kalbs« nö­tig wa­ren, ei­ner Un­ter­su­chung, die Kur­ven von ab­nor­mer und ganz ver­blüf­fen­der Art er­gab – und die An­we­sen­heit von Glas­hä­fen mit Kaul­quap­pen war durch­aus nicht er­wünscht, so lan­ge die­se Un­ter­su­chung fort­ging.

Als aber Mr. Ben­sing­ton sei­ner Cou­si­ne Jane einen Teil des­sen mit­teil­te, was ihm auf der See­le lag, leg­te sie ein promp­tes Veto ge­gen die Ein­füh­rung ir­gend­wel­cher be­trächt­li­chen An­zahl von Kaul­quap­pen oder ähn­li­chen ex­pe­ri­men­ta­len Ge­schöp­fen in ihre Woh­nung ein. Sie hat­te nichts da­ge­gen, wenn er eins der Zim­mer in der Woh­nung für die Zwe­cke ei­ner nicht­ex­plo­si­ven Che­mie be­nutz­te, bei der, so­weit sie in Fra­ge stand, nichts her­aus­kam; sie dul­de­te, daß er einen Gas­ofen und einen Aus­guß hat­te, und auch einen staub­dich­ten Schrank der Zuf­lucht vor dem wö­chent­li­chen Ge­wit­ter der Rei­ni­gung, des­sen sie sich nicht be­ge­ben woll­te. Und da sie Leu­te ge­kannt hat­te, die dem Trunk er­ge­ben wa­ren, so sah sie sei­ne Be­gier nach Aus­zeich­nung in ge­lehr­ten Ge­sell­schaf­ten als einen aus­ge­zeich­ne­ten Er­satz für die grö­be­re Form der Ver­derbt­heit an. Aber ir­gend­wel­che Art von Le­be­we­sen – »krab­be­lig«, wie sie sein muß­ten, wenn sie am Le­ben wa­ren, und »stin­kig«, wenn tot – die konn­te und woll­te sie nicht dul­den. Sie sag­te, so et­was sei si­cher­lich un­ge­sund, und Ben­sing­ton sei ein no­to­risch schwäch­li­cher Mann – es sei Un­sinn, wenn er das leug­ne. Und als Ben­sing­ton ver­such­te, die un­ge­heu­re Be­deu­tung die­ser mög­li­chen Ent­de­ckung klarzu­ma­chen, sag­te sie, das sei al­les recht schön, aber wenn sie zu­gä­be, daß er al­les im Hau­se scheuß­lich und un­ge­sund mach­te (und dar­auf lie­fe al­les hin­aus), dann sei sie über­zeugt, wer­de er sich zu al­ler­erst be­kla­gen.

Und Mr. Ben­sing­ton ging ohne Rück­sicht auf sei­ne Hüh­ne­rau­gen im Zim­mer auf und ab und re­de­te ohne den ge­rings­ten Er­folg fest und zor­nig auf sie ein. Er sag­te, nichts soll­te dem Fort­schritt der Wis­sen­schaft im Wege ste­hen, und sie sag­te, der Fort­schritt der Wis­sen­schaft sei eins, aber in ei­ner Eta­gen­woh­nung einen Hau­fen Kaul­quap­pen ha­ben, sei ein an­de­res; er sag­te, in Deutsch­land sei es fest­ste­hen­de Tat­sa­che, daß ei­nem Man­ne mit ei­ner sol­chen Idee so­fort ein ge­hö­rig ein­ge­rich­te­tes La­bo­ra­to­ri­um von zwan­zig­tau­send Ku­bik­fuß zur Ver­fü­gung ge­stellt wür­de, und sie sag­te, sie sei froh und sei im­mer froh ge­we­sen, daß sie kei­ne Deut­sche sei; er sag­te, es wür­de ihn un­s­terb­lich ma­chen, und sie sag­te, es sei viel wahr­schein­li­cher, daß es ihn krank ma­chen wür­de, wenn er in ei­ner Woh­nung wie ih­rer, einen Hau­fen Kaul­quap­pen hielt; er sag­te, er sei Herr in sei­nem Hau­se, und sie sag­te, lie­ber als einen Hau­fen Kaul­quap­pen be­sor­gen, wol­le sie als An­stands­da­me in eine Schu­le ge­hen; und dann bat er, sie sol­le ver­nünf­tig sein, und dann bat sie, er sol­le ver­nünf­tig sein und all das mit den Kaul­quap­pen auf­ge­ben; und er sag­te, sie könn­te sei­ne Ide­en re­spek­tie­ren, und sie sag­te, wenn sie stin­kig wä­ren, woll­te sie nicht, und dann ließ er sich hin­rei­ßen und sag­te – Hux­leys klas­si­schen Be­mer­kun­gen über den Ge­gen­stand zum Trotz – ein schlim­mes Wort. Das Wort war gar nicht sehr schlimm, aber schlimm ge­nug war es schon.

Und dar­auf war sie schwer be­lei­digt, und er muß­te um Ver­zei­hung bit­ten, und die Aus­sicht, daß er die Nah­rung der Göt­ter je in ih­rer Woh­nung an Kaul­quap­pen wür­de ver­su­chen kön­nen, schwand in die­ser Bit­te um Ver­zei­hung völ­lig da­hin.

Also muß­te Ben­sing­ton einen an­de­ren Weg in Er­wä­gung zie­hen, wie er die­se Ex­pe­ri­men­te mit der Er­näh­rung ins Werk set­zen konn­te, wie sie nö­tig wa­ren, um sei­ne Ent­de­ckung zu de­mons­trie­ren, so­bald er sei­ne Sub­stanz iso­liert und prä­pa­riert hat­te. Ein paar Tage lang grü­bel­te er über die Mög­lich­keit, sei­ne Kaul­quap­pen bei ei­ner ver­trau­ens­wür­di­gen Per­son in Pen­si­on zu ge­ben, und dann brach­te der zu­fäl­li­ge An­blick der Phra­se in ei­ner Zei­tung sei­ne Ge­dan­ken auf eine Ex­pe­ri­men­tal­farm.

Und Kücken! So­wie ihm der Ge­dan­ke kam, war es der Ge­dan­ke an eine Ge­flü­gel­farm. Plötz­lich be­fiel ihn eine Vi­si­on von wild wach­sen­den Kücken. Er sah ein Bild von Hüh­ner­kä­fi­gen und Ge­he­gen, äu­ße­ren und noch äu­ße­ren Ge­he­gen, und fort­schrei­tend grö­ßer wer­den­den Hüh­ner­kä­fi­gen. Kücken sind so zu­gäng­lich, so leicht zu füt­tern und zu be­ob­ach­ten, so viel tro­ckener zu hand­ha­ben und zu mes­sen, daß ihm Kaul­quap­pen jetzt im Ver­gleich mit ih­nen zu sei­nem Zweck als ganz wil­de und un­zähm­ba­re Bes­ti­en er­schie­nen. Er konn­te gar nicht be­grei­fen, warum er nicht von An­fang an statt an Kaul­quap­pen an Kücken ge­dacht hat­te. Un­ter an­de­rem hät­te ihm das all den Är­ger mit sei­ner Cou­si­ne Jane er­spart. Und als er Red­wood das vor­schlug, war Red­wood ganz sei­ner Mei­nung.

Red­wood sag­te, er sei über­zeugt, da­mit, daß die ex­pe­ri­men­tie­ren­den Phy­sio­lo­gen so­viel an un­nö­tig klei­nen Tie­ren ar­bei­te­ten, be­gin­gen sie einen großen Feh­ler. Es sei ge­nau, wie wenn man in der Che­mie mit un­ge­nü­gen­den Ma­te­rial­men­gen ar­bei­te­te; Irr­tü­mer in der Beo­b­ach­tung und Hand­ha­bung wür­den un­ver­hält­nis­mä­ßig groß. Es sei ge­ra­de jetzt von ele­men­ta­rer Wich­tig­keit, daß die Wis­sen­schaf­ter ihr Recht auf großes Ma­te­ri­al ver­trä­ten. Des­halb neh­me er sei­ne ge­gen­wär­ti­ge Rei­he von Ex­pe­ri­men­ten im Bond Street Col­le­ge an Bul­len­käl­bern vor, ob­gleich ihr ge­le­gent­li­cher Über­mut in den Gän­gen den Stu­den­ten und Pro­fes­so­ren an­de­rer Ge­gen­stän­de bis zu ei­nem ge­wis­sen Gra­de un­be­quem wer­de. Aber die Kur­ven, die er er­hielt, sei­en ganz aus­nahms­wei­se in­ter­essant und wür­den sei­ne Wahl bei der Ver­öf­fent­li­chung vollauf recht­fer­ti­gen. Er für sein Teil wür­de, wenn es nicht um die un­an­ge­mes­se­ne Do­tie­rung der Wis­sen­schaft in Eng­land wäre, nie an klei­ne­ren Tie­ren als Wal­fi­schen ar­bei­ten. Aber ein öf­fent­li­ches Vi­va­ri­um auf ge­nü­gend großem Fuße, um dies mög­lich zu ma­chen, sei, fürch­te er, vor­läu­fig, we­nigs­tens in Eng­land, ein uto­pis­ti­sches Ver­lan­gen. In Deutsch­land – usw.

Da Red­woods Bul­len­käl­ber sei­ne täg­li­che Auf­merk­sam­keit ver­lang­ten, so fiel die Aus­wahl und Aus­rüs­tung der Ex­pe­ri­men­tal­farm zum großen Teil Ben­sing­ton zu. Auch die gan­zen Kos­ten, so war es aus­ge­macht, soll­te Ben­sing­ton be­strei­ten, we­nigs­tens bis man durch­set­zen konn­te, daß eine Sum­me da­für be­wil­ligt wur­de. Also wech­sel­te er sei­ne Ar­beit im La­bo­ra­to­ri­um sei­ner Woh­nung da­mit ab, daß er die Stra­ßen, die süd­lich aus Lon­don her­aus­führ­ten, nach Far­men auf und ab jag­te, und sei­ne spä­hen­de Bril­le, sei­ne ein­fäl­ti­ge Kahl­heit und sei­ne zer­fetz­ten Zeug­schu­he er­füll­ten die Be­sit­zer zahl­rei­cher un­er­wünsch­ter An­we­sen mit eit­len Hoff­nun­gen. Und er an­non­cier­te in meh­re­ren Ta­ges­zei­tun­gen und der »Na­tur« um ein ver­ant­wort­li­ches (ver­hei­ra­te­tes) Paar zu fin­den, pünkt­lich, flei­ßig und an Ge­flü­gel ge­wöhnt, das eine Ex­pe­ri­men­tal­farm von drei Äckern ganz in sei­ne Ob­hut neh­men soll­te.

Er fand das An­we­sen, das er nö­tig zu ha­ben mein­te, in Hick­ley­brow bei Urs­hot in Kent. Es war ein wun­der­li­cher, klei­ner, iso­lier­ter Hof in ei­nem Tal, um­ge­ben von al­ten Fich­ten­wäl­dern, die nachts schwarz und un­heim­lich wa­ren. Eine buck­li­ge Dü­nen­schul­ter schnitt sie vom Son­nen­un­ter­gang ab, und ein ha­ge­rer Brun­nen mit ei­nem bau­fäl­li­gen Wet­ter­dach eng­te den Wohn­sitz ein. Das klei­ne Haus war un­be­wach­sen, meh­re­re Fens­ter wa­ren zer­bro­chen und der Wa­gen­schup­pen zeig­te um Mit­tag einen schwar­zen Schat­ten. Es lag an­dert­halb Mei­len vom letz­ten Hau­se des Dor­fes ent­fernt, und sei­ne Ein­sam­keit wur­de zwei­fel­haft von ei­ner zwei­deu­ti­gen Fa­mi­lie von Echos un­ter­bro­chen.

Das An­we­sen mach­te Ben­sing­ton den Ein­druck, als pas­se es her­vor­ra­gend gut für die Er­for­der­nis­se wis­sen­schaft­li­cher Un­ter­su­chung. Er ging über das Grund­stück und ent­warf mit ge­schwun­ge­nem Arm Ge­he­ge und Kä­fi­ge, und er fand, daß die Kü­che eine Rei­he von Brut­ap­pa­ra­ten und Pfle­ge­müt­tern be­her­ber­gen konn­te, wenn man sie nur ein ganz klein we­nig ver­än­der­te. Er nahm das An­we­sen so­fort; auf dem Rück­weg nach Lon­don mach­te er in Dun­ton Green Halt und schloß mit ei­nem pas­sen­den Paar ab, das auf sei­ne An­non­cen geant­wor­tet hat­te, und noch am sel­ben Abend ge­lang es ihm, eine Men­ge von Hera­kleo­phor­bia I zu iso­lie­ren, die ge­nüg­te, um die­se Ab­schlüs­se mehr als zu recht­fer­ti­gen.

Das pas­sen­de Paar, das be­stimmt war, un­ter Mr. Ben­sing­ton die ers­ten Ver­wal­ter der Nah­rung der Göt­ter auf Er­den ab­zu­ge­ben, war nicht nur sehr merk­lich be­jahrt, son­dern auch au­ßer­or­dent­lich schmut­zig. Die­sen letz­te­ren Punkt sah Mr. Ben­sing­ton nicht, weil nichts die Kräf­te all­ge­mei­ner Beo­b­ach­tung so sehr ver­nich­tet wie ein Le­ben ex­pe­ri­men­tie­ren­der Wis­sen­schaft. Sie hie­ßen Skin­ner, Mr. und Mrs. Skin­ner, und Mr. Ben­sing­ton sprach sie in ei­nem klei­nen Zim­mer mit her­me­tisch ver­sie­gel­ten Fens­tern, ei­nem fle­cki­gen Ka­min­spie­gel und ein paar ver­küm­mer­ten Cal­ceo­la­ri­en.

Mrs. Skin­ner war eine sehr klei­ne alte Frau, ohne Hau­be, mit schmut­zig weißem Haar, das vom Ge­sicht straff zu­rück­ge­stri­chen war. Das Ge­sicht be­stand an­fangs haupt­säch­lich und jetzt, nach dem Ver­lust von Zäh­nen und Kinn, fast aus­schließ­lich nur noch aus – Nase. Sie war in Schie­fer­far­be ge­klei­det (so­weit ihr Kleid über­haupt eine Far­be hat­te), die an ei­ner Stel­le von ro­tem Fla­nell durch­bro­chen war. Sie öff­ne­te ihm und sprach be­hut­sam mit ihm und späh­te ihn um und über ihre Nase her an, wäh­rend sie be­haup­te­te, Mr. Skin­ner neh­me eine Än­de­rung an sei­ner Toi­let­te vor. Sie hat­te einen Zahn, der ihre Auss­pra­che be­hin­der­te, und sie hielt ihre bei­den lan­gen, ver­schrumpf­ten Hän­de ner­vös ge­gen­ein­an­der. Sie sag­te Mr. Ben­sing­ton, sie habe Jah­re lang Ge­flü­gel be­sorgt und wis­se mit Brut­ap­pa­ra­ten ge­nau Be­scheid; ja, sie sel­ber hät­ten ein­mal eine Ge­flü­gel­farm auf­ge­tan, und sie sei­en schließ­lich nur am Man­gel von Lehr­lin­gen ge­schei­tert. »Die Lehr­lin­ge, die zah­len’s«, sag­te Mrs. Skin­ner.

Mr. Skin­ner, der schließ­lich er­schi­en, war ein breit­ge­sich­ti­ger Mann, der lis­pel­te und schiel­te, daß er ei­nem über den Kopf weg­sah. Er trug auf­ge­schlitz­te Pan­tof­feln, die an Mr. Ben­sing­tons Sym­pa­thi­en ap­pel­lier­ten, und litt of­fen­bar an Knopf­man­gel. Er hielt Rock und Hemd mit ei­ner Hand zu­sam­men und zeich­ne­te mit dem Zei­ge­fin­ger der an­de­ren Mus­ter auf das schwarz­gol­de­ne Tisch­tuch, wäh­rend sein frei­es Auge Mr. Ben­sing­tons Da­mo­kles­schwert, wenn ich so sa­gen darf, mit ei­nem Aus­druck trau­ri­ger Los­ge­löst­heit be­ob­ach­te­te. »Se wol­len die Farm nich ums Ge­schäff auf­tun. Nei, Härr. Ganz egal, Herr. Eggs­pe­ri­men­te! Ganß rech.«

Er sag­te, sie könn­ten so­fort auf die Farm gehn. Ab­ge­sehn von ein biß­chen Schnei­de­rei tue er nichts in Dun­ton Green. »Es is hier nich so elen­gant, wie ich mir ge­dach hab, und was ich krieg, is kaum der Mühe wert«, sag­te er, »un wenn es Ih­nen also paß, daß wir kom­men tun …«

Und eine Wo­che dar­auf wa­ren Mr. und Mrs. Skin­ner auf der Farm in­stal­liert, und der Ak­kord­zim­mer­mann aus Hick­ley­brow va­ri­ier­te die Auf­ga­be, Ge­he­ge und Hüh­ner­häu­ser zu er­rich­ten durch eine sys­te­ma­ti­sche Er­ör­te­rung über Mr. Ben­sing­ton.

»Ich hab noch nich viel von ’m ge­sehn«, sag­te Mr. Skin­ner. »Aberst so­weit ich aus ’m kluch wer’, scheint er ’n Schafs­kopp zu sein.«

»Ich meint, er schi­en ’n biß­chen dö­sig«, sag­te der Zim­mer­mann aus Hick­ley­brow.

»Er ver­beiß sich aufs Ge­flü­gel«, sag­te Mr. Skin­ner. »O du mei­ne Güte! Man könnt mei­nen, nie­man’ ver­steht was vons Ge­flü­gel als er.«

»Aus­sehn tut er wie ne Hen­ne«, sag­te der Zim­mer­mann aus Hick­ley­brow, »mit sei­ne Bril­le!«

Mr. Skin­ner trat nä­her an den Zim­mer­mann aus Hick­ley­brow her­an und sprach ver­trau­lich, und das eine trau­ri­ge Auge be­trach­te­te das fer­ne Dorf, und das an­de­re glänz­te hell und bos­haft. »Soll je­den Tag ge­mes­sen wer’n – jede Hen­ne, sag er. Daß er auch sieht, daß se orrent­lich wach­sen. Was, o … eh? Jede Hen­ne – je­den Tag.«

Und Mr. Skin­ner hob die Hand, um hin­ter ihr auf kul­ti­vier­te und an­ste­cken­de Art zu la­chen, und er bu­ckel­te die Schul­tern stark – und nur sei­nem einen Auge ge­lang es nicht, mit­zu­la­chen. Dann kam ihm ein Zwei­fel, ob der Zim­mer­mann die Poin­te auch ganz er­faßt habe, und er wie­der­hol­te mit durch­drin­gen­dem Flüs­tern: »Ge­mes­sen

»Er ’s schlim­mer als un­ser al­ter Päch­ter; laß mich hän­gen, wenn’s nich wahr is«, sag­te der Zim­mer­mann aus Hick­ley­brow.

II

Ex­pe­ri­men­tie­ren­de Ar­beit ist das Lang­wei­ligs­te von der Welt (es sei­en denn die Be­rich­te dar­über in den Phi­lo­so­phi­schen Ab­hand­lun­gen), und es schi­en Mr. Ben­sing­ton end­los lan­ge zu dau­ern, ehe sein ers­ter Traum von un­ge­heu­ren Mög­lich­kei­ten durch einen Bro­cken der Ver­wirk­li­chung er­setzt wur­de. Er hat­te die Farm im Ok­to­ber ge­nom­men, und es wur­de Mai, ehe die ers­ten Spu­ren des Er­folgs be­gan­nen. Hera­kleo­phor­bia I und II und III muß­ten ver­sucht wer­den und blie­ben er­folg­los; es gab Är­ger über die Rat­ten der Ex­pe­ri­men­tal­farm, und es gab Är­ger mit den Skin­ners. Die ein­zi­ge Art, wie man Skin­ner dazu brin­gen konn­te, daß er et­was tat, was man ihm sag­te, war, daß man ihn entließ. Dann rieb er sein un­ra­sier­tes Kinn – er war im­mer ganz wun­der­bar un­ra­siert und trug doch nie­mals einen Bart – mit fla­cher Hand und sah Mr. Ben­sing­ton mit ei­nem Auge an und mit dem an­dern über ihn weg und sag­te: »Ooh, na­tür­lich, Härr – wenn’s Ihn’n Ernß is …!«

Aber zu­letzt däm­mer­te der Er­folg auf. Und sein He­rold war ein Brief in der lan­gen, schlan­ken Hand­schrift Mr. Skin­ners.

»Die neue Brut is raus«, schrieb Mr. Skin­ner, »und ge­fällt mich nich ganz, wie se aus­sieht. Wächs sehr üp­pig – ganz an­ners als das glei­che Volk, eh Ihre let­zen An­wei­sun­gen ka­men. Das let­ze war, eh die Katz se hol­te, n’ hüb­sches fes­ses Kücken, aber die­se wach­sen wie die Dis­seln. Hab ich noch nie ge­sehn. Se pi­cken so fes­te, im­mer übern Stie­bel, daß ich de ge­nau­en Maße, wie be­foh­len, nich ge­ben kann. Es sin rich­ti­ge Rie­sen und fres­sen auch so. Wir brau­chen bald neu Fut­ter, denn so’n Fres­sen hat man bei Kücken noch nich er­lebt. Grö­ßer als Ban­tams. Wenn’s so wei­ter geht, müß­ten sie was für’n Jahr­markt wer’n, so üp­pig sin se. Krieg­t’n Schreck let­ze Nacht, dacht, die Katz wär dran, un als ich aus­’n Fens­ter kuck, hätt ich schwör’n kön­nen, ich seh se un­term Draht rein­krie­chen. Die Kücken war’n wach und pick­ten hung­rig her­um, als ich raus­kam, aber konn­te nichs von die Katz sehn. Da gab ich ih­n’n ne Hand­voll Korn und mach­te feß zu. Möch­te gern wis­sen, ob ich so wei­ter füt­tern soll wie be­foh­len. Das Fut­ter, das Sie ge­mischt ha­ben, is fast alle, un ich misch nich gern sel­ber neu­es, von we­gen den Mall­hör mit den Pud­ding. Mit den bes­ten Wün­schen von uns bei­den und der Bit­te, die ge­ehr­te Gunst wei­ter zu be­wah­ren

ganz er­ge­bens Ihr Al­fred New­ton Skin­ner.«

Die An­deu­tung ge­gen Schluß be­zog sich auf einen Milch­pud­ding, in den ein we­nig Hera­kleo­phor­bia II hin­ein­ge­ra­ten war, was für die Skin­ners schmerz­li­che und fast ver­häng­nis­vol­le Fol­gen hat­te.

Aber Mr. Ben­sing­ton, der zwi­schen den Zei­len las, sah in die­sem wu­chern­den Wachs­tum sein lan­ge ge­such­tes Ziel er­reicht. Am Mor­gen dar­auf stieg er auf dem Bahn­hof Urs­hot aus, und in der Rei­se­ta­sche in sei­ner Hand trug er, ver­sie­gelt in drei Zinn­do­sen, einen Vor­rat von der Nah­rung der Göt­ter, der für alle Kücken in Kent ge­nügt hät­te.

Es war ein hel­ler und schö­ner Mor­gen spät im Mai, und sei­ne Hüh­ne­rau­gen wa­ren so­viel bes­ser, daß er be­schloß, zu Fuß durch Hick­ley­brow auf sei­ne Farm zu ge­hen. Es wa­ren zu­sam­men drei und eine hal­be Mei­le durch Park und Dorf und dann an den grü­nen Lich­tun­gen der Ge­he­ge von Hick­ley­brow hin. Die Bäu­me wa­ren ganz über­sät mit den grü­nen Fle­cken des Spät­früh­lings, die He­cken stan­den vol­ler Ka­mil­len und Him­mels­röschen und das Holz voll blau­er Hya­zin­then und pur­pur­ner Orchi­de­en. Und über­all herrsch­te großer Vo­gel­lärm, Ge­zwit­scher von Dros­seln, Am­seln, Rot­kehl­chen, Fin­ken und vie­len an­de­ren, und in ei­nem war­men Win­kel des Parks ent­roll­te sich ein Far­ren­strich, und dort husch­te und sprang fal­bes Rot­wild.

Die­se Din­ge brach­ten Mr. Ben­sing­ton sei­ne frü­he und ver­ges­se­ne Lust am Le­ben zu­rück; die Aus­sich­ten sei­ner Ent­de­ckung wur­den vor sei­nem Auge leuch­tend und freu­dig, und ihm war, er müs­se wirk­lich zum glück­lichs­ten Tage in sei­nem Le­ben ge­kom­men sein. Und als er in dem son­nen­hel­len Ge­he­ge an der Sand­bank un­term Schat­ten der Fich­ten die Kücken sah, die das Fut­ter ge­fres­sen hat­ten, das er für sie ge­mischt hat­te, rie­sen­haft und töl­pisch, grö­ßer schon als man­che Hen­ne, die ver­hei­ra­tet und ein­ge­rich­tet ist, und im­mer noch wach­send, im­mer noch in ih­ren ers­ten, wei­chen, gel­ben Fe­dern (am Rücken hin ganz schwach mit Braun durch­zo­gen), da wuß­te er wirk­lich, daß sein glück­lichs­ter Tag ge­kom­men war.

Auf Mr. Skin­ners Drän­gen ging er in das Ge­he­ge hin­ein, als er aber ein- oder zwei­mal durch die Ris­se in sei­nen Schu­hen ge­pickt war, lief er wie­der hin­aus und sah sich die Un­ge­heu­er durch die Draht­net­ze an. Er leg­te die Au­gen eng ans Netz und folg­te ih­ren Be­we­gun­gen, als habe er noch nie im Le­ben ein Kücken ge­se­hen.

»Wie se sein wer’n, wenn se aus­ge­wach­sen sin, kann man sich nich vor­stell’n«, sag­te Mr. Skin­ner.

»So groß wie ein Pferd«, sag­te Mr. Ben­sing­ton.

»Bei­nah«, sag­te Mr. Skin­ner.

»An ei­nem Flü­gel könn­ten sich meh­re­re satt es­sen!«, sag­te Mr. Ben­sing­ton. »Dann kann man sie wie Och­sen in Bra­ten schnei­den.«

»Aberst se werd’n nich so wei­ter wach­sen«, sag­te Mr. Skin­ner.

»Nicht?«, sag­te Mr. Ben­sing­ton.

»Nein«, sag­te Mr. Skin­ner. »Ich kenn’ das. Sie fan­gen üp­pig an, aberst das hört mal auf, ver­las­sen Sie sich da­drauf! Ja.«

Es ent­stand eine Pau­se.

»Das is de Be­hann­lung«, sag­te Mr. Skin­ner be­schei­den.

Mr. Ben­sing­ton rich­te­te plötz­lich die Bril­le auf ihn.

»Auf den an­nern Hof ha­ben wir se faß eben­so­groß ge­krieg«, sag­te Mr. Skin­ner, und er hob das bes­se­re Auge fromm em­por und ließ sich ein we­nig fort­rei­ßen, »ich un mei­ne Frau.«

Mr. Ben­sing­ton nahm sei­ne ge­wohn­te all­ge­mei­ne In­spek­ti­on der Grund­stücke vor, aber er kehr­te bald zu dem neu­en Ge­he­ge zu­rück. Es war auch, muß man wis­sen, so viel mehr als er je zu er­war­ten ge­wagt hat­te. Der Gang der Wis­sen­schaft ist so ge­wun­den und lang­sam; nach den kla­ren Ver­spre­chun­gen und ehe die prak­ti­sche Ver­wirk­li­chung ein­tritt, kom­men fast im­mer Jah­re und Jah­re kom­pli­zier­ter Ar­beit, und hier – hier war die Nah­rung der Göt­ter nach we­ni­ger als ei­nem Jahr des Pro­bie­rens! Es schi­en zu viel – zu viel. Jene auf­ge­scho­be­ne Hoff­nung, die die täg­li­che Nah­rung der wis­sen­schaft­li­chen Phan­ta­sie ist, soll­te nicht mehr sein Teil sein! So schi­en es ihm we­nigs­tens da­mals. Er kehr­te ein übers an­de­re Mal um und starr­te die­se sei­ne ver­blüf­fen­den Kücken an.

»Las­sen Sie se­hen«, sag­te er. »Sie sind zehn Tage alt. Und ne­ben ei­nem ge­wöhn­li­chen Kücken sollt ich den­ken – etwa sechs bis sie­ben­mal so groß …«

»’s wir’ Sseit sein, daß wir mehr ver­lan­gen«, sag­te Mr. Skin­ner zu sei­ner Frau. »Er ’s so ßufrie­den da­mit, wie wir die Kücken ins hin­te­re Ge­he­ge zu Gan­ge ge­bracht ha­ben – so ßufrie­den is er.«

Er neig­te sich ver­trau­lich zu ihr. »Meint, es is das alte Fut­ter«, sag­te er hin­ter sei­ner Hand und ließ ein Geräusch un­ter­drück­ten La­chens in sei­nem Kehl­kopf hö­ren …

Mr. Ben­sing­ton war an die­sem Tage wirk­lich ein glück­li­cher Mann. Er war nicht in der Stim­mung, Ein­zel­hei­ten im Be­trieb zu ta­deln. Der strah­len­de Tag hob die im­mer wach­sen­de Nach­läs­sig­keit des Skin­ner­paa­res leb­haf­ter her­vor, als er sie je ge­se­hen hat­te. Aber sei­ne Be­mer­kun­gen wa­ren al­ler­mil­des­ter Art. Die Zäu­nung vie­ler Ge­he­ge war in Un­ord­nung, aber er schi­en es für ganz be­frie­di­gend zu hal­ten, als Mr. Skin­ner aus­ein­an­der­setz­te, das täte »ein Fuchß oder ’n Hund oder so was«. Er mach­te dar­auf auf­merk­sam, daß der In­ku­ba­tor nicht ge­rei­nigt war.

»Das is er nich, Herr«, sag­te Mrs. Skin­ner mit ge­kreuz­ten Ar­men, in­dem sie blö­de hin­ter ih­rer Nase lach­te. »Scheint, wir ha­ben noch kei­ne Zeit ge­habt, ihn zu rei­ni­gen, noch nich, so lan­ge wir hier sind …«

Er ging nach oben, um sich ein paar Rat­ten­lö­cher an­zu­se­hen, die, wie Skin­ner be­haup­te­te, eine Fal­le recht­fer­ti­gen wür­den – sie wa­ren frei­lich enorm – und er ent­deck­te, daß das Zim­mer, in wel­chem die Nah­rung der Göt­ter mit Mehl und Kleie ge­mischt wur­de, in ganz schmäh­li­cher Un­ord­nung war. Die Skin­ners ge­hör­ten zu den Leu­ten, die für ge­ris­se­ne Schüs­seln und alte Kan­nen und Ein­mach­büch­sen und Mos­tert­do­sen Ver­wen­dung ha­ben, und da­mit war der Raum be­sät. In ei­nem Win­kel faul­te ein großer Hau­fen Äp­fel, die Skin­ner er­üb­rigt hat­te, und an ei­nem Na­gel im schrä­gen Teil der De­cke hin­gen meh­re­re Ka­nin­chen­fel­le, an de­nen er sei­ne Be­ga­bung als Kür­sch­ner zu pro­bie­ren be­ab­sich­tig­te: (»Bei die Fel­len und Din­ger weiß ich so ziem­lich mit al­lens Be­scheid«, sag­te Skin­ner.)

Mr. Ben­sing­ton rümpf­te über die­se Un­ord­nung frei­lich kri­tisch die Nase, aber er mach­te kei­nen un­nö­ti­gen Lärm, und so­gar, als er fand, wie sich eine We­s­pe in ei­nem Topf halb voll Hera­kleo­phor­bia IV güt­lich tat, be­merk­te er nur mil­de, die­sen Stoff ver­schlie­ße man bes­ser ge­gen die Feuch­tig­keit, als daß man ihn so der Luft aus­set­ze.

Und er wand­te sich von die­sen Din­gen so­fort wie­der ab, um zu be­mer­ken – was ihm seit ei­ni­ger Zeit im Kopf ge­le­gen hat­te: – »Ich glau­be, Skin­ner – wis­sen Sie, ich wer­de eins von die­sen Kücken tö­ten – als Pro­be. Ich glau­be, wir wer­den es heu­te nach­mit­tag tö­ten, und ich wer­de es mit nach Lon­don neh­men.«

Er tat, als bli­cke er in noch einen Ha­fen, und nahm dann die Bril­le ab, um sie zu put­zen.

»Ich hät­te gern«, sag­te er, »ich hät­te sehr gern eine Re­li­quie – ein Me­men­to – von die­ser be­son­de­ren Brut an die­sem be­son­de­ren Tage.«

»Ne­ben­bei«, sag­te er, »Sie ge­ben die­sen klei­nen Kücken doch kein Fleisch?«

»O! n­ein, Härr«, sag­te Skin­ner, »ich kann Sie ver­si­chern, Härr, wir ver­stehn viel zu viel von die Be­hand­lung vons Vo­gel­vieh je­der Art, um so­was zu tun.«

»Ganz si­cher, daß Sie nicht Ihren Mit­tags­ab­fall – – mir war, ich hät­te die Kno­chen ei­nes Ka­nin­chens in der hin­te­ren Ecke des Ge­le­ges her­um­lie­gen se­hen – –«

Aber als sie hin­gin­gen und sie sich an­sa­hen, fan­den sie, daß es die grö­ße­ren Kno­chen ei­ner Kat­ze wa­ren; sie wa­ren sehr sau­ber und tro­cken ab­ge­pickt.

III

»Das ist kein Kücken«, sag­te Mr. Ben­sing­tons Cou­si­ne Jane.

»Na, ich soll­te mei­nen, ich kenn’ ein Kücken, wenn ich’s sehe«, sag­te Mr. Ben­sing­tons Cou­si­ne Jane hit­zig.

»Ers­tens ist es für ein Kücken zu groß, und au­ßer­dem kann man ganz ge­nau se­hen, daß es kein Kücken ist.«

»Es sieht eher aus wie eine Trapp­gans, als wie ein Kücken.«

»Für mei­nen Teil«, sag­te Red­wood, der sich wi­der­stre­bend von Ben­sing­ton in die Er­ör­te­rung hin­ein­zie­hen ließ, »muß ich ge­ste­hen, in An­be­tracht all des Be­weis­ma­te­ri­als – –«

»O! wenn Sie so kom­men«, sag­te Mr. Ben­sing­tons Cou­si­ne Jane, »statt wie ein ver­nünf­ti­ger Mensch Ihre Au­gen auf­zu­ma­chen – –«

»Ja, aber wirk­lich, Miß Ben­sing­ton, –!«

»O! nur wei­ter!«, sag­te Cou­si­ne Jane. »Sie Män­ner sind alle gleich.«

»In An­be­tracht all des Be­weis­ma­te­ri­als fällt es si­cher­lich un­ter die De­fi­ni­ti­on – ohne Zwei­fel ist es ab­norm und hy­per­tro­phisch – zu­mal es aus dem Ei ei­ner nor­ma­len Hen­ne aus­ge­brü­tet ist – ja, ich glau­be, Miß Ben­sing­ton, ich muß zu­ge­ben – so­weit man ihm ir­gend­ei­nen Na­men ge­ben kann, muß man es ein Kücken nen­nen.«

»Sie mei­nen, es ist ein Kücken?«, sag­te Cou­si­ne Jane.

»Ich glau­be, es ist ein Kücken«, sag­te Red­wood.

»Was für ein Un­sinn!«, sag­te Mr. Ben­sing­tons Cou­si­ne Jane, und: »O!«, ge­gen Red­woods Kopf ge­rich­tet, »ich hab’ kei­ne Ge­duld mehr mit Ih­nen«, und dann mach­te sie plötz­lich kehrt und ging zum Zim­mer hin­aus und schlug die Tür hin­ter sich zu.

»Und mir fällt ein Stein vom Her­zen, daß ich es auch sehe, Ben­sing­ton«, sag­te Red­wood, als der Wi­der­hall des Tür­zu­schla­gens er­stor­ben war. »Ob­gleich es so groß ist.«

Ohne das ge­rings­te Drän­gen von sei­ten Mr. Ben­sing­tons setz­te er sich in den nied­ri­gen Ses­sel am Ka­min und be­kann­te sich zu Ta­ten, die selbst bei ei­nem un­wis­sen­schaft­li­chen Mann ge­wagt ge­we­sen wä­ren. »Ich weiß, Sie wer­den es vor­ei­lig von mir fin­den, Ben­sing­ton«, sag­te er, »aber die Sa­che ist die, ich habe vor bei­na­he ei­ner Wo­che ein we­nig da­von – nicht viel – aber et­was – in Ba­bys Fla­sche ge­tan.«

»Aber wenn nun – –!«, rief Mr. Ben­sing­ton aus.

»Ich weiß«, sag­te Red­wood und blick­te das Rie­sen­kücken in der Schüs­sel auf dem Ti­sche an.

»Es ist al­les gut ge­wor­den, dem Him­mel sei Dank«, und er fühl­te in sei­ner Ta­sche nach sei­nen Zi­ga­ret­ten.

Er gab frag­men­ta­ri­sche De­tails. »Arme klei­ne Kerl wur­de schwe­rer … furcht­ba­re Angst. – Winkles, ein scheuß­li­cher Schafs­kopf … frü­he­rer Schü­ler von mir … nütz­te nichts … Mrs. Red­wood – un­be­ding­tes Ver­trau­en zu Winkles … Sie wis­sen ja, Mann mit ’nem We­sen wie eine Klip­pe – tür­mend … Kein Ver­trau­en zu mir, na­tür­lich … Hab’ Winkles un­ter­rich­tet … kaum ge­dul­det in der Kin­der­stu­be … Ir­gend­was muß­te ge­sche­hen … Schlüpf­te hin­ein, als die Amme früh­stück­te … hol­te die Fla­sche.«

»Aber er wird wach­sen«, sag­te Mr. Ben­sing­ton.

»Er wächst. An­dert­halb Pfund, letz­te Wo­che. Sie soll­ten Winkles hö­ren. Es ist die Be­hand­lung, sag­te er.«

»Him­mel! Das sagt Skin­ner auch!«

Red­wood sah das Kücken von neu­em an. »Die Schwie­rig­keit ist, die Sa­che auf­recht zu er­hal­ten«, sag­te er. »Sie las­sen mich nicht al­lein in die Kin­der­stu­be, weil ich ein­mal ver­sucht habe, eine Wachs­tums­kur­ve von Ge­or­gi­na Phyl­lis zu be­kom­men. – Sie wis­sen ja – und wie ich ihm eine zwei­te Do­sis ge­ben soll –«

»Müs­sen Sie?«

»Er hat zwei Tage lang ge­schri­en – kann je­den­falls mit sei­ner ge­wöhn­li­chen Nah­rung nicht mehr aus­kom­men. Er braucht jetzt mehr.«

»Sa­gen Sie’s Winkles.«

»Zum Hen­ker mit Winkles!«, sag­te Red­wood.

»Sie kön­nen sich an Winkles ma­chen und ihm Pul­ver fürs Kind ge­ben – –.«

»Das wer­de ich schon noch tun müs­sen«, sag­te Red­wood und stütz­te das Kinn auf die Faust und starr­te ins Feu­er.

Ben­sing­ton stand eine Wei­le da und strei­chel­te die Fe­dern auf der Brust des Rie­sen­kückens. »Das wer­den ko­los­sa­le Vö­gel«, sag­te er.

»Das wer­den sie«, sag­te Red­wood, die Au­gen noch im­mer auf die Glut ge­rich­tet.

»So groß wie Pfer­de«, sag­te Ben­sing­ton.

»Grö­ßer«, sag­te Red­wood. »Das ist es ge­ra­de!«

Ben­sing­ton wand­te sich von dem Pro­be­kücken ab. »Red­wood«, sag­te er, »die­se Vö­gel wer­den Sen­sa­ti­on er­re­gen.«

Red­wood nick­te mit dem Kop­fe ge­gen das Feu­er.

»Und bei Gott!«, sag­te Ben­sing­ton, in­dem er sich plötz­lich mit ei­nem Blitz in der Bril­le um­dreh­te, »Ihr klei­ner Jun­ge auch.«

»Da­ran den­ke ich ge­ra­de«, sag­te Red­wood.

Er lehn­te sich zu­rück, seufz­te, warf sei­ne halb auf­ge­rauch­te Zi­ga­ret­te ins Feu­er und schob die Hän­de tief in die Ho­sen­ta­schen. »Da­ran denk ich ge­ra­de. Die­se Hera­kleo­phor­bia wird im Ge­brauch ein wun­der­li­ches Zeug wer­den. Wie das Kücken ge­wach­sen sein muß – –!«

»Ein klei­ner Jun­ge, der so wächst«, sag­te Mr. Ben­sing­ton lang­sam und starr­te bei die­sen Wor­ten das Kücken an.

»Ich sage nur!«, sag­te Ben­sing­ton. »Groß wird er.«

»Ich wer­de ihm im­mer klei­ne­re Do­sen ge­ben«, sag­te Red­wood. »Oder auf je­den Fall wird Winkles es tun.«

»Es ist bei­na­he ein zu ge­wag­tes Ex­pe­ri­ment.«

»Sehr ge­wagt.«

»Und doch, wis­sen Sie, ich muß ge­ste­hen. – Ir­gend­ein Baby wird es frü­her oder spä­ter ver­su­chen müs­sen.«

»O, wir wer­den es an ir­gend­ei­nem Baby ver­su­chen – si­cher!«

»Ge­­­­­­­­­