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H. G. Wells

Im Jahre des Kometen

Phantastischer Roman

H. G. Wells

Im Jahre des Kometen

Phantastischer Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-954189-32-8

null-papier.de/436

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Inhaltsverzeichnis

Pro­log – Der Mann im Turm

Ers­tes Buch – Der Ko­met

Ers­tes Ka­pi­tel – Staub im Schat­ten

Zwei­tes Ka­pi­tel – Net­tie

Drit­tes Ka­pi­tel – Der Re­vol­ver

Vier­tes Ka­pi­tel – Krieg

Fünf­tes Ka­pi­tel – Die Ver­fol­gung des Lie­bes­paa­res

Zwei­tes Buch – Die grü­nen Gase

Ers­tes Ka­pi­tel – Die Wand­lung

Zwei­tes Ka­pi­tel – Das Er­wa­chen

Drit­tes Ka­pi­tel – Der Ka­bi­netts­rat

Drit­tes Buch – Die neue Welt

Ers­tes Ka­pi­tel – Lie­be nach der Wand­lung

Zwei­tes Ka­pi­tel – Die letz­ten Tage mei­ner Mut­ter

Drit­tes Ka­pi­tel – Das Fest der Neu­ge­burt und der Neu­jahrs­tag

Epi­log – Das Fens­ter im Turm

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie die­ses E-Book aus mei­nem Ver­lag er­wor­ben ha­ben.

Soll­ten Sie Feh­ler fin­den oder An­re­gun­gen ha­ben, so mel­den Sie sich bit­te bei mir.

Ihr
Jür­gen Schul­ze, Ver­le­ger, js@­null-pa­pier.de

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Prolog – Der Mann im Turm

Ich sah einen grau­haa­ri­gen Mann, ein Bild kraft­vol­len Al­ters, an ei­nem Schreib­tisch sit­zen und schrei­ben.

Es schi­en, als sei er in ei­nem Turm­zim­mer, hoch oben, so daß man durch das große Fens­ter zu sei­ner Lin­ken nur Wei­ten sah: einen fer­nen Mee­res­ho­ri­zont, ein Ge­bir­ge und den un­be­stimm­ten Dunst und Schim­mer des Son­nen­un­ter­gangs, der auf eine mei­len­weit ent­fern­te Stadt deu­tet. Die gan­ze Ein­rich­tung des Zim­mers mach­te den Ein­druck der Ord­nung und Schön­heit und war mir durch ein un­nenn­ba­res Et­was, durch al­ler­hand klei­ne Nüan­cen neu und fremd. Sie ent­sprach kei­nem Stil, den ich hät­te be­zeich­nen kön­nen, und die ein­fa­che Klei­dung des al­ten Man­nes er­in­ner­te we­der an eine be­stimm­te Zeit noch an ein be­stimm­tes Land. Es moch­te, so dacht’ ich, etwa die glück­li­che Zu­kunft sein, oder Uto­pi­en, oder das Land der rei­nen Träu­me. Ein ir­ren­des Erin­ne­rungs-Son­nen­stäub­chen, Hen­ry Jo­nes’ Wort und Er­zäh­lung von der »großen, gu­ten Stadt«, blitz­te mir durchs Ge­hirn und flog da­von und ließ mich im Dun­keln …

Der Mann, den ich sah, schrieb mit ei­ner Art Füll­fe­der … ein mo­der­ner Zug, der je­den his­to­ri­schen Rück­blick ver­bot. Und so oft er in sei­ner leich­ten, flie­ßen­den Schrift einen Bo­gen be­en­de­te, leg­te er ihn zu ei­nem wach­sen­den Stoß auf ei­nem zier­li­chen klei­nen Tisch un­ter dem Fens­ter. Die letz­ten Bo­gen la­gen lose da und ver­deck­ten zum Teil an­de­re, die zu Hef­ten zu­sam­men­ge­faßt wa­ren.

Of­fen­bar war er sich mei­ner Ge­gen­wart nicht be­wußt, und ich stand und war­te­te, bis sei­ne Fe­der pau­sie­ren wür­de. Trotz sei­ner ho­hen Jah­re schrieb er mit fes­ter Hand …

Hoch über sei­nem Kopf ent­deck­te ich einen schräg ge­neig­ten Kon­kavspie­gel; eine Be­we­gung dar­in fes­sel­te un­wi­der­steh­lich mei­ne Auf­merk­sam­keit. Ich hob die Au­gen und sah, ver­zerrt und phan­tas­tisch, aber hell und in schö­nen Far­ben, das ver­grö­ßer­te, zu­rück­ge­strahl­te, flüch­ti­ge Bild ei­nes Palas­tes, ei­ner Ter­ras­se, der Per­spek­ti­ve ei­ner brei­ten Stra­ße mit vie­len Men­schen – – in­fol­ge der Krüm­mun­gen des Spie­gels gro­tesk, un­mög­lich aus­se­hen­den Men­schen – – die ab und zu gin­gen. Rasch dreh­te ich mei­nen Kopf, um durch das Fens­ter hin­ter mir deut­li­cher zu se­hen; aber es lag zu hoch, als daß ich die­se nä­her­lie­gen­de Sze­ne di­rekt hät­te über­bli­cken kön­nen, und nach ei­nem kur­z­en Zö­gern wand­te ich mich wie­der dem Zerr-Spie­gel zu.

Jetzt aber lehn­te sich der schrei­ben­de Mann im Stuhl zu­rück. Er leg­te die Fe­der weg und stieß den halb un­mu­ti­gen, halb von ei­ner ge­wis­sen Be­frie­di­gung über das, was er ge­schrie­ben hat­te, er­füll­ten Seuf­zer aus: »Ah! Ar­beit, Ar­beit! wie du mich froh machst und ver­zagt!«

»Was ist dies für ein Ort?«, frag­te ich, »und wer sind Sie?«

Er sah sich mit der ra­schen Be­we­gung des Er­stau­nens um.

»Was ist dies für ein Ort?«, wie­der­hol­te ich, »und wo bin ich?«

Ei­nen Au­gen­blick lang blick­te er mich un­ter ge­run­zel­ten Brau­en fest an; dann mil­der­te sich sein Aus­druck zu ei­nem Lä­cheln.

Er wies auf einen Stuhl ne­ben dem Tisch. »Ich schrei­be«, sag­te er.

»Über dies hier?«

»Über die Wand­lung.«

Ich setz­te mich. Es war ein sehr be­que­mer Stuhl, der ge­schickt un­ter dem Licht auf­ge­stellt war.

»Wenn Sie le­sen möch­ten – –« sag­te er.

Ich deu­te­te auf das Ma­nu­skript. »Die Er­klä­rung?«, frag­te ich.

»Die Er­klä­rung!«, ant­wor­te­te er.

Und wäh­rend er mich an­sah, zog er einen fri­schen Bo­gen zu sich her­an.

Ich blick­te von ihm auf sein Zim­mer und wie­der auf den klei­nen Tisch … Ein Heft, das eine deut­li­che »I« trug, fiel mir auf und ich nahm es zur Hand; da­bei lä­chel­te ich ihm in die freund­li­chen Au­gen. »Schön!«, sag­te ich, plötz­lich ohne je­des Un­be­ha­gen, und er nick­te und schrieb wei­ter. Und in ei­ner Stim­mung, die zwi­schen Ver­trau­en und Neu­gier schwank­te, be­gann ich zu le­sen.

Dies ist die Ge­schich­te, die je­ner glück­li­che, em­sig aus­se­hen­de alte Mann in dem hei­te­ren Raum ge­schrie­ben hat.

Erstes Buch – Der Komet

Erstes Kapitel – Staub im Schatten

I.

Ich habe mir vor­ge­nom­men, die Ge­schich­te der »großen Wand­lung« zu schrei­ben, so­weit sie mein ei­ge­nes Le­ben und das Le­ben ei­ni­ger eng mit mir ver­bun­de­ner Men­schen be­rührt hat, und zwar ur­sprüng­lich nur zu mei­nem ei­ge­nen Ver­gnü­gen.

Vor lan­ger Zeit schon, in mei­ner her­ben, un­glück­li­chen Ju­gend, reg­te sich in mir der Wunsch, ein Buch zu schrei­ben. Heim­lich zu krit­zeln und mich als Schrift­stel­ler zu träu­men, war ei­ner mei­ner Haupt­genüs­se, und voll Mi­t­emp­fin­dung und Neid las ich je­den Fet­zen über die Welt der Li­te­ra­tur und das Le­ben von Li­te­ra­ten, den ich nur er­wi­schen konn­te. Selbst in­mit­ten des ge­gen­wär­ti­gen Glücks ist es mir noch ein Ge­nuß, daß ich Muße und Ge­le­gen­heit fin­de, die­se al­ten, hoff­nungs­lo­sen Träu­me wie­der auf­zu­neh­men und teil­wei­se zu ver­wirk­li­chen. Aber das al­lein, glau­be ich, wür­de in ei­ner Welt, in der für einen al­ten Mann so vie­les zu tun ist, was ein leb­haf­tes und stets wach­sen­des In­ter­es­se bie­tet, noch nicht ge­nü­gen, mich an den Schreib­tisch zu trei­ben. Ich sehe, daß eine sol­che Zu­sam­men­fas­sung mei­ner Ver­gan­gen­heit, wie sie die­ser Be­richt mit sich brin­gen muß, not­wen­dig wird für mei­nen ei­ge­nen, si­che­ren, geis­ti­gen Zu­sam­men­hang. Der Gang der Jah­re bringt den Men­schen schließ­lich zum Rück­blick; mit Zwei­und­sieb­zig ist ei­nem die ei­ge­ne Ju­gend weit wich­ti­ger, als mit Vier­zig. Und ich habe den Kon­takt mit mei­ner Ju­gend ver­lo­ren. Das alte Le­ben scheint mir so ab­ge­schnit­ten vom neu­en, so fremd­ar­tig und un­ver­nünf­tig, daß ich bis­wei­len fin­de, es grenzt ans Un­glaub­li­che. Die Da­ten sind da­hin, die Orte, die Ge­bäu­de. Neu­lich, auf mei­nem Nach­mit­tags­spa­zier­gang übers Moor, da, wo ehe­dem die düs­te­ren Aus­läu­fer von Swa­thinglea sich nach Leet zu er­streck­ten, blieb ich wie er­starrt ste­hen und frag­te mich: Hab ich wirk­lich hier im Ge­strüpp, zwi­schen Ab­fall und Scher­ben ge­kau­ert und – mord­be­reit – mei­nen Re­vol­ver ge­la­den? War so et­was je in mei­nem Le­ben denk­bar? War eine der­ar­ti­ge Stim­mung, ein sol­cher Ge­dan­ke, ein sol­ches Vor­ha­ben je­mals mög­lich bei mir? Hat nicht viel­mehr ir­gend­ein wun­der­li­cher Nacht­mar aus dem Land der Träu­me eine falsche Erin­ne­rung in die Ge­schich­te mei­nes ent­schwun­de­nen Le­bens ge­schmug­gelt? Es müs­sen noch vie­le am Le­ben sein, die an sich die­sel­ben oder ähn­li­che Fra­gen stel­len. Und ich den­ke, auch die, die jetzt her­an­wach­sen, um in dem großen Un­ter­neh­men der Mensch­heit an un­se­re Stel­le zu tre­ten, wer­den manch ei­ner Er­zäh­lung wie der mei­nen be­dür­fen, um die alte Welt der Schat­ten, vor dem An­bruch un­se­res Ta­ges, auch nur zum kleins­ten Bruch­teil zu ver­ste­hen. Zu­fäl­lig ist mein Fall auch ziem­lich ty­pisch für die Wand­lung, die mich in­mit­ten ei­nes Wir­bels von Lei­den­schaft pack­te; und ein selt­sa­mes Ge­schick stell­te mich eine Zeit­lang ge­ra­de­zu in den An­gel­punkt der neu­en Ord­nung …

Mei­ne Erin­ne­rung führt mich durch den Zeit­raum von fünf­zig Jah­ren zu­rück in ein klei­nes, schlecht er­leuch­te­tes Zim­mer mit ei­nem Schie­be­fens­ter, das auf den ge­stirn­ten Him­mel blickt, und im sel­ben Au­gen­blick kehrt mir auch der cha­rak­te­ris­ti­sche Ge­ruch je­nes Zim­mers wie­der – der durch­drin­gen­de Ge­ruch ei­ner schlecht ge­putz­ten Lam­pe, in der bil­li­ges Pe­tro­le­um brennt. Die Be­leuch­tung durch Elek­tri­zi­tät war da­mals schon seit fünf­zehn Jah­ren be­kannt; aber der grö­ße­re Teil der Welt be­nütz­te noch im­mer sol­che Lam­pen. Die­se gan­ze ers­te Sze­ne spielt sich, we­nigs­tens für mich, in die­ser Ge­ruchs­be­glei­tung ab. Das war die abend­li­che At­mo­sphä­re des Zim­mers. Bei Tag hat­te es ein fei­ne­res Aro­ma, et­was Sti­cki­ges, eine be­son­de­re Art lei­ser, pri­ckeln­der Schär­fe, die sich mir – wes­halb, weiß ich nicht – mit dem Be­griff Staub ver­bin­det.

Man ge­stat­te mir, die­ses Zim­mer im ein­zel­nen zu be­schrei­ben. Es hat­te viel­leicht acht zu sie­ben Fuß Flä­chen­in­halt; die Höhe über­traf die­se Di­men­sio­nen um ein Be­trächt­li­ches. Die De­cke war aus Gips, stel­len­wei­se ge­sprun­gen und aus­ge­baucht, grau vom Lam­pen­ruß und an ei­ner Stel­le von ei­ner Grup­pe gel­ber und oliv­grü­ner Fle­cken ge­färbt, die von durch­ge­si­cker­ter Feuch­tig­keit stamm­ten. Die Wän­de wa­ren mit ei­ner trüb-brau­nen Ta­pe­te be­deckt, auf der sich in schrä­gen Rei­hen in Form ei­ner krau­sen Strau­ßen­fe­der oder ei­ner Akan­thus­blü­te ein ro­tes Mus­ter wie­der­hol­te, das an den we­ni­ger ver­bli­che­nen Stel­len von ei­ner Art schmut­zi­ger Far­ben­pracht war. Die­se Ta­pe­te wies meh­re­re große, gips­ran­di­ge Wun­den auf, die von Par­loads ver­geb­li­chen Ver­su­chen her­rühr­ten, Nä­gel in die Wand zu schla­gen, um Bil­der dar­an auf­zu­hän­gen. Ein Na­gel hat­te die Rit­ze zwi­schen zwei Back­stei­nen ge­trof­fen und saß; und an ihm hin­gen, von zer­ris­se­nen und zu­sam­men­ge­kno­te­ten Ja­lou­sie­schnü­ren ein biß­chen un­si­cher ge­hal­ten, Par­loads Bü­cher­b­or­te: mit ei­nem kleb­ri­gen blau­en Lack an­ge­stri­che­ne und mit ei­ner Fran­se aus aus­ge­schla­ge­nem ame­ri­ka­ni­schem, mit Reiß­stif­ten be­fes­tig­ten Tuch ver­zier­te Bret­ter. Dar­un­ter stand ein klei­ner Tisch, der sich ge­gen je­des plötz­lich dar­un­ter­ge­scho­be­ne Knie mit der Ge­häs­sig­keit ei­nes Maul­tie­res be­nahm; auf ihm lag eine De­cke, de­ren schwarz und ro­tes Mus­ter durch die Un­fäl­le von Par­loads mit­teil­sa­mem Tin­ten­faß et­was we­ni­ger mo­no­ton er­schi­en; und auf ihr wie­der­um, als Leit­mo­tiv des Gan­zen, stand und stank die Lam­pe. Die­se Lam­pe, muß man wis­sen, be­stand aus ei­ner weiß­li­chen, durch­sich­ti­gen Sub­stanz, die we­der Por­zel­lan noch Glas war; sie hat­te eine Glo­cke aus der­sel­ben Sub­stanz, eine Glo­cke, die die Au­gen des Le­sers in kei­ner Wei­se schütz­te und wun­der­voll ge­eig­net war, rück­sichts­los die Tat­sa­che her­vor­zu­he­ben, daß nach dem Fül­len der Lam­pe Staub und Pe­tro­le­um mit sorg­lo­ses­ter Frei­ge­big­keit auf ihr her­um­ge­schmiert wor­den wa­ren.

Die un­ebe­nen Die­len­bret­ter des Zim­mers wa­ren mit zer­kratz­tem, scho­ko­la­de­far­be­nem Lack über­zo­gen, auf dem in Staub und Schat­ten un­deut­lich eine klei­ne In­sel zer­schlis­se­nen Tep­pichs er­blüh­te.

Fer­ner war da ein sehr klei­nes Ka­min aus Guß­ei­sen, in ei­nem Stück, le­der­gelb an­ge­stri­chen und ein noch klei­ne­res guß­ei­ser­nes Miß­ge­bil­de von Ofen­vor­set­zer, das den gan­zen Feu­er­stein se­hen ließ. Kein Feu­er brann­te dar­in; nur ein paar Fet­zen zer­ris­se­nen Pa­piers und der zer­bro­che­ne Kopf ei­ner Mais­kol­ben­pfei­fe wa­ren hin­ter dem Git­ter zu se­hen; in der Ecke stand, wie bei­sei­te ge­wor­fen, ein en­ger ecki­ger, la­ckier­ter Koh­len­kas­ten mit schad­haf­tem Griff. In je­nen Ta­gen war es Sit­te, je­des Zim­mer von ei­ner ge­son­der­ten Feu­er­stel­le aus zu hei­zen, die mehr Schmutz als Wär­me spen­de­te; und von dem klapp­ri­gen Schie­be­fens­ter, dem klei­nen Ka­min und der schlecht sit­zen­den Tür er­war­te­te man, sie wür­den auch ohne wei­te­re An­lei­tung die Ven­ti­la­ti­on des Zim­mers un­ter­ein­an­der or­ga­ni­sie­ren.

Par­loads Roll­bett auf der einen Sei­te des Zim­mers barg sei­ne grau­en La­ken un­ter ei­ner al­ten Fli­cken­de­cke, und un­ter ihm stan­den sei­ne Kis­ten und al­ler­hand sons­ti­ges Zu­be­hör; die bei­den Fens­te­r­e­cken wa­ren von ei­ner al­ten Eta­ge­re und ei­nem Wasch­stän­der ver­sperrt, auf dem die ein­fa­chen Toi­let­ten­re­qui­si­ten aus­ge­brei­tet la­gen.

Die­ser von Drechs­ler­ar­beit star­ren­de Wasch­tisch aus Tan­nen­holz war von ir­gend je­mand ge­macht, der ver­sucht hat­te, durch fes­seln­de De­ko­ra­tio­nen von Ku­geln und Knol­len, die über Ge­fü­ge und Bei­ne ge­sät wa­ren, die Auf­merk­sam­keit von der gro­ben Dürf­tig­keit der Ar­beit ab­zu­len­ken. Da­rauf war das Werk of­fen­bar ei­nem Men­schen von un­end­li­cher Muße über­ge­ben wor­den, der mit ei­nem Topf Ocker, Fir­nis und ein paar bieg­sa­men Käm­men aus­ge­rüs­tet war. Die­ser hat­te den Ge­gen­stand zu­nächst an­ge­stri­chen, ihn dann, so den­ke ich mir, mit Fir­nis über­schmiert und sich schließ­lich mit den Käm­men dar­an ge­macht, den Fir­nis zu ei­ner ge­spens­ti­schen Nach­ah­mung ir­gend­ei­nes brau­nen Hol­zes um­zu­strei­chen und zu käm­men. Der also ent­stan­de­ne Wasch­tisch hat­te of­fen­bar eine lan­ge Lauf­bahn rück­sichts­lo­sen Ge­brau­ches hin­ter sich; er war be­schnit­zelt, ge­tre­ten, zer­split­tert, ge­k­nufft, ver­sengt, ge­häm­mert, aus­ge­dörrt und über­schwemmt wor­den, er hat­te alle mög­li­chen Aben­teu­er er­lebt, nur in Brand ge­steckt und ge­scheu­ert hat­te man ihn noch nie; und schließ­lich war er in dies hohe Asyl, in Par­loads Man­sar­de, ge­ra­ten, um den ein­fa­chen An­for­de­run­gen, die Par­loads per­sön­li­che Rein­lich­keit stell­te, ge­recht zu wer­den. Man sah in der Haupt­sa­che eine Schüs­sel, einen Krug, einen Ei­mer aus Blech, fer­ner ein Stück gel­ber Sei­fe auf ei­nem Schäl­chen, eine Zahn­bürs­te, einen rat­ten­schwän­zi­gen Ra­sier­pin­sel, ein Dril­lich­hand­tuch und noch ein paar ne­ben­säch­li­che Ge­gen­stän­de dar­auf. In je­nen Ta­gen be­sa­ßen nur sehr wohl­ha­ben­de Leu­te mehr als eine sol­che Aus­rüs­tung, und es ist an­zu­mer­ken, daß je­der Trop­fen Was­ser, den Par­load ver­brauch­te, von ei­nem un­glück­li­chen Dienst­mäd­chen ge­tra­gen wer­den muß­te – Par­load nann­te sie die »Skla­vin« – und zwar vom Keller­ge­schoß bis oben ins Haus und um­ge­kehrt. Schon be­gin­nen wir zu ver­ges­sen, eine wie mo­der­ne Er­fin­dung die kör­per­li­che Rein­lich­keit ist. Es ist eine Tat­sa­che, daß Par­load in sei­nem gan­zen Le­ben nie­mals schwim­men ge­gan­gen war und daß er seit sei­ner Kind­heit kein Voll­bad mehr ge­nom­men hat­te. Das tat zu der Zeit, von der ich er­zäh­le, un­ter Fünf­zig nicht Ei­ner.

Eine Kom­mo­de mit zwei großen und zwei klei­nen Schieb­la­den – eben­falls son­der­bar ge­fa­sert und ge­streift – ent­hielt Par­loads Klei­der­re­ser­ve; höl­zer­ne Pflö­cke an der Tür tru­gen sei­ne bei­den Hüte und ver­voll­stän­dig­ten das In­ven­tar ei­nes »Schlaf- und Wohn­zim­mers«, wie ich es vor der Wand­lung kann­te. Aber ich ver­gaß – noch ein Stuhl war vor­han­den, ein Stuhl mit ei­nem Pols­ter­kis­sen, das für die Lö­cher in dem ge­floch­te­nen Sitz nur un­zu­läng­lich um Ent­schul­di­gung bat. Ich ver­gaß ihn im Mo­ment, weil ich bei der Ge­le­gen­heit, mit der ich die­se Ge­schich­te am bes­ten be­gin­ne, auf eben die­sem Stuhl saß.

Ich habe Par­loads Zim­mer so ge­nau be­schrie­ben, weil es zum Ver­ständ­nis der Ton­art bei­tra­gen wird, in der mei­ne ers­ten Ka­pi­tel ge­schrie­ben sind; aber man darf nicht etwa den­ken, die­se son­der­ba­re Aus­stat­tung oder der Lam­pen­ge­ruch wä­ren mir da­mals be­son­ders auf­ge­fal­len. Ich nahm all die­se schmut­zi­ge Un­ge­müt­lich­keit hin, als sei sie die na­tür­lichs­te und pas­sends­te Um­rah­mung des Da­seins, die man sich nur vor­stel­len konn­te. Es war die Welt, wie ich sie kann­te. Mein geis­ti­ges Ich war da­mals ganz von erns­te­ren und wich­ti­ge­ren Din­gen in An­spruch ge­nom­men, und jetzt erst fal­len mir die­se Ein­zel­hei­ten der Um­ge­bung als be­mer­kens­wert, als be­zeich­nend, ja ge­ra­de­zu als die äu­ße­ren, sicht­ba­ren Kund­ge­bun­gen der Un­ord­nung un­se­res in­ne­ren We­sens in je­ner al­ten Welt auf.

II.

Par­load stand am of­fe­nen Fens­ter, das Opern­glas in der Hand, und such­te den neu­en Ko­me­ten, fand ihn, wur­de un­si­cher und ver­lor ihn wie­der.

Ich hielt den Ko­me­ten da­mals ein­fach für Blöd­sinn, weil ich von an­dern Din­gen re­den woll­te. Aber Par­load war ganz von ihm er­füllt. Mir war der Kopf heiß, ich fie­ber­te vor Är­ger und Er­bit­te­rung, ich woll­te ihm mein Herz öff­nen – woll­te mir end­lich das Herz durch ir­gend­ei­ne ro­man­ti­sche Dar­stel­lung mei­ner Küm­mer­nis­se er­leich­tern – und ich ach­te­te kaum auf das, was er mir sag­te. Es war das ers­te­mal, daß ich von die­sem neu­en Fleck un­ter den zahl­lo­sen Fle­cken am Him­mel hör­te, und ich frag­te we­nig dar­nach, ob ich je wie­der von dem Ding hö­ren wür­de.

Wir wa­ren zwei jun­ge Leu­te ziem­lich des­sel­ben Al­ters. Par­load war zwei­und­zwan­zig, acht Mo­na­te äl­ter als ich. Er war – ich glau­be sein ei­gent­li­cher Ti­tel war »Ur­kun­den­schrei­ber« – bei ei­nem klei­nen An­walt in Over­cast­le, wäh­rend ich Drit­ter im Bu­re­aust­ab von Ra­w­d­ons Ton­gru­be in Clay­ton war. Zu­erst wa­ren wir ein­an­der im »Par­la­ment« des Ver­eins christ­li­cher jun­ger Män­ner zu Swa­thinglea be­geg­net; wir hat­ten ent­deckt, daß wir zu den­sel­ben Stun­den Kur­se der Fort­bil­dungs­schu­le in Over­cast­le be­such­ten, er für Na­tur­wis­sen­schaf­ten, ich für Ste­no­gra­phie; wir hat­ten uns da­her ge­wöhnt, zu­sam­men nach Hau­se zu ge­hen. So ent­stand un­se­re Freund­schaft. (Swa­thinglea, Clay­ton und Over­cast­le wa­ren zu­sam­men­hän­gen­de Städ­te in dem großen In­dus­trie­ge­biet der »Mid­lands«) Wir hat­ten ein­an­der un­se­re ge­hei­men re­li­gi­ösen Zwei­fel mit­ge­teilt, wir hat­ten uns un­ser ge­mein­sa­mes In­ter­es­se für den So­zia­lis­mus an­ver­traut; er war zwei­mal Sonn­tags bei mei­ner Mut­ter zum Nachtes­sen ge­we­sen, und ich hat­te frei­en Zu­tritt in sei­ne Woh­nung. Par­load war da­mals ein großer, flachs­haa­ri­ger, lin­ki­scher jun­ger Mann mit un­ver­hält­nis­mä­ßig stark ent­wi­ckel­tem Na­cken und Hand­ge­lenk und un­ge­heu­rer Be­geis­te­rung fä­hig. Jede Wo­che wid­me­te er zwei Aben­de den Kur­sen der wis­sen­schaft­li­chen Fort­bil­dungs­schu­le in Over­cast­le. Sein Lieb­lings­ge­gen­stand war die Phy­sio­gra­phie, und durch die­se ge­hei­me Brücke zu sei­nem Geis­tes­le­ben war es den Wun­dern des Wel­ten­rau­mes ge­lun­gen, von sei­ner See­le Be­sitz zu er­grei­fen. Er hat­te sich ein al­tes Opern­glas von sei­nem On­kel an­ge­eig­net, der jen­seits des Moors zu Leet eine Farm be­saß, dazu hat­te er sich eine bil­li­ge Pa­pier-Pla­ni­sphä­re und einen astro­no­mi­schen Al­ma­nach ge­kauft, und eine Zeit­lang wa­ren Tag und Mond­schein für ihn nur lee­re Un­ter­bre­chun­gen der ihn al­lein be­frie­di­gen­den Be­schäf­ti­gung – des Stern­gu­ckens. Die Tie­fen hat­ten ihn ge­packt, die Un­be­grenzt­hei­ten und ge­heim­nis­vol­len Mög­lich­kei­ten, die un­er­leuch­tet in je­nem un­er­mes­se­nen Ab­grund schwe­ben moch­ten. Mit un­end­li­cher Mühe und an der Hand ei­nes sehr klar ge­schrie­be­nen Ar­ti­kels in ei­ner klei­nen Mo­nats­schrift, die nach al­len un­ter dem glei­chen Bann Ste­hen­den an­gel­te, war es ihm schließ­lich ge­lun­gen, sein Opern­glas auf den neu­en Be­su­cher ein­zu­stel­len, der aus dem äu­ße­ren Raum in un­se­re Sphä­re ein­trat. In ei­ner Art Ver­zückung starr­te er auf je­nen klei­nen zit­tern­den Licht­fleck un­ter den glän­zen­den Na­del­spit­zen – starr­te und starr­te. Mei­ne Küm­mer­nis­se muß­ten war­ten.

»Wun­der­voll!«, seufz­te er; und dann, als ge­nü­ge ihm die­ser ers­te Aus­bruch nicht, noch­mals: »Wun­der­voll!«

Er wand­te sich zu mir. »Möch­test du nicht se­hen?«

Ich muß­te se­hen, und dann muß­te ich hö­ren: Die­ser kaum sicht­ba­re Ein­dring­ling soll­te bald zu ei­nem der größ­ten Ko­me­ten wer­den, den die­se Welt je­mals ge­se­hen hat­te; sein Lauf muß­te ihn der Erde auf eine Ent­fer­nung von höchs­tens so und so viel zwan­zig Mil­lio­nen Mei­len nahe brin­gen – ein rei­ner Kat­zen­sprung, wie Par­load zu fin­den schi­en; das Spek­tro­skop son­dier­te schon sei­ne che­mi­schen Ge­heim­nis­se und ver­wirr­te die For­scher durch eine nie da­ge­we­se­ne Li­nie in Grün. Schon jetzt, wäh­rend er – in ganz un­ge­wöhn­li­cher Rich­tung – einen son­nen­wärts ge­wand­ten Schweif ent­roll­te, den er als­bald wie­der auf­roll­te, wur­de er pho­to­gra­phiert. Wäh­rend die­ser Er­öff­nung dach­te ich die gan­ze Zeit über in ei­ner Art Un­ter­strö­mung erst an Net­tie Stuart und den Brief, den ich eben von ihr er­hal­ten hat­te, und dann an das ab­scheu­li­che Ge­sicht des al­ten Ra­w­don, wie ich es die­sen Nach­mit­tag ge­se­hen hat­te. Bald ent­warf ich Ant­wor­ten an Net­tie und bald ver­spä­te­te Er­wi­de­run­gen an mei­nen Bro­therrn und dann wie­der flamm­te »Net­tie« auf im Hin­ter­grun­de mei­ner Ge­dan­ken …

Net­tie Stuart war die Toch­ter des Ober­gärt­ners bei der Wit­we des rei­chen Herrn Ver­ral. Sie und ich hat­ten Küs­se ge­tauscht und wa­ren ein Lie­bes­paar ge­wor­den, noch eh wir un­ser acht­zehn­tes Jahr vollen­det hat­ten. Mei­ne und ihre Mut­ter wa­ren Cou­si­nen und alte Schul­freun­din­nen, und ob­gleich mei­ne Mut­ter durch ein Ei­sen­bah­n­un­glück vor­zei­tig zur Wit­we ge­wor­den war und Zim­mer ver­mie­ten muß­te (der Pfar­rer von Clay­ton wohn­te bei ihr), was sie im öf­fent­li­chen An­se­hen weit un­ter Frau Stuart stell­te, so hielt doch die freund­li­che Ge­wohn­heit ge­le­gent­li­cher Be­su­che im Land­haus des Gärt­ners zu Checks­hill To­wers die Be­zie­hun­gen der Freun­din­nen auf­recht. Meist be­glei­te­te ich mei­ne Mut­ter. Und ich ent­sin­ne mich, wie Net­tie und ich, in der Däm­me­rung ei­nes hel­len Ju­lia­bends, ei­nes je­ner lan­gen, gol­de­nen Aben­de, die nicht so sehr der Nacht wei­chen als viel­mehr aus Rit­ter­lich­keit schließ­lich den Mond und ein ge­wähl­tes Ge­fol­ge von Ster­nen ein­las­sen, ne­ben dem Gold­fisch­teich, wo die von Buchs ein­ge­faß­ten Wege zu­sam­men­sto­ßen, un­ser ers­tes scheu­es Ge­ständ­nis tausch­ten. Ich ent­sin­ne mich noch – und im­mer wird in mir et­was er­be­ben bei die­ser Erin­ne­rung – der zit­tern­den Er­re­gung je­nes Aben­teu­ers. Net­tie war weiß ge­klei­det, ihr Haar floß in Wel­len wei­chen Dun­kels über ih­ren tie­fen, leuch­ten­den Au­gen nie­der, um ih­ren zart ge­form­ten Hals lief ein klei­nes Hals­band von Per­len mit ei­ner klei­nen Gold­mün­ze, die auf ih­rer Brust ruh­te. Drei Jah­re mei­nes Le­bens – ja, ich glau­be fast ihr und mein gan­zes Le­ben lang – hät­te ich von da ab für sie ster­ben kön­nen!

Man muß ver­ste­hen – und mit je­dem Jahr wird es schwe­rer zu ver­ste­hen – wie voll­stän­dig an­ders da­mals die Welt war als jetzt. Es war eine fins­te­re Welt, voll von Un­heil, Krank­hei­ten und Schmer­zen, die zu ver­hü­ten ge­we­sen wä­ren, voll von Här­ten und tö­rich­ten, un­ge­woll­ten Grau­sam­kei­ten. Und doch, viel­leicht ge­ra­de in­fol­ge des all­ge­mei­nen Dun­kels, gab es Au­gen­bli­cke ei­ner sel­te­nen und flüch­ti­gen Schön­heit, wie sie, mei­ner Er­fah­rung nach, heu­te nicht mehr mög­lich zu sein schei­nen. Die große Um­wäl­zung ist her­ein­ge­bro­chen auf im­mer­dar, Glück und Schön­heit ist un­se­re At­mo­sphä­re, es ist Frie­de auf Er­den und den Men­schen ein Wohl­ge­fal­len … Nie­mand wür­de auch nur zu träu­men wa­gen, er könn­te zum Leid frü­he­rer Zei­ten zu­rück­keh­ren – und doch ward je­nes Elend durch­drun­gen, ward der graue Vor­hang da und dort durch­blitzt von Freu­den voll ei­ner In­ten­si­tät, von Emp­fin­dun­gen voll ei­ner Le­ben­dig­keit, wie sie mir heu­te völ­lig aus dem Le­ben ent­schwun­den schei­nen. Ich möch­te wohl wis­sen, – hat die Wand­lung das Le­ben sei­ner Ex­tre­me be­raubt, oder ist es viel­leicht nur, daß mich die Ju­gend ver­las­sen hat – selbst die Kraft der mitt­le­ren Jah­re ver­läßt mich schon! –, daß sie ihre Verzweif­lun­gen, ihre Ent­zückun­gen mit sich ge­nom­men und mir nur die Kri­tik und viel­leicht Sym­pa­thie und Erin­ne­rung ge­las­sen hat?

Ich weiß es nicht. Man müß­te jetz­t jung sein und zu­gleich da­mals jung ge­we­sen sein, um die­se un­mög­li­che Fra­ge zu ent­schei­den.

Vi­el­leicht hät­te ein küh­ler Beo­b­ach­ter in den al­ten Ta­gen we­nig Schön­heit in un­se­rer klei­nen Ge­mein­schaft ge­fun­den. Ich habe, wäh­rend ich ar­bei­te, hier im Schreib­tisch un­se­re zwei Pho­to­gra­phien zur Hand; sie zei­gen mir einen lin­ki­schen jun­gen Men­schen in schlecht sit­zen­den, fer­tig ge­kauf­ten Klei­dern; und Net­tie – – ja, Net­tie ist eben­falls schlecht an­ge­zo­gen und ihre Hal­tung ist mehr als nur ein biß­chen steif. Ich aber sehe sie durch das Bild hin­durch: ihre le­bens­vol­le Fri­sche und et­was von dem ge­heim­nis­vol­len Reiz, den sie auf mich aus­üb­te, kom­men mir wie­der in Erin­ne­rung. Ihr wah­res Ge­sicht tri­um­phiert über den Pho­to­gra­phen – sonst hät­te ich dies Bild längst weg­ge­wor­fen.

Das We­sen der Schön­heit läßt sich nicht in Wor­te fas­sen. Ich woll­te, ich be­herrsch­te die Schwes­ter­kunst und ver­möch­te hier am Ran­de et­was zu zeich­nen, was sich der Schil­de­rung durch Wor­te ent­zieht. In ih­ren Au­gen lag ein ge­wis­ser Ernst. Ein Et­was, eine kaum merk­li­che Ei­gen­art, lag um ihre Ober­lip­pe, so daß ihr Mund sich rei­zend schloß und süß zum Lä­cheln öff­ne­te. Ach, je­nes erns­te, süße Lä­cheln!

Nach­dem wir uns ge­küßt und be­schlos­sen hat­ten, un­se­ren El­tern noch eine Wei­le nichts von der un­wi­der­ruf­li­chen Wahl, die wir ge­trof­fen hat­ten, zu sa­gen, kam der Au­gen­blick, da wir, scheu und vor Zeu­gen, Ab­schied neh­men muß­ten. Mei­ne Mut­ter und ich wan­der­ten durch den mond­be­glänz­ten Wald – das Farn­dickicht ra­schel­te vom auf­ge­scheuch­ten Wild – zum Bahn­hof von Checks­hill und dann nach un­se­rer ärm­li­chen Kel­ler­woh­nung in Clay­ton zu­rück, und fast ein Jahr lang sah ich, au­ßer in mei­nen Ge­dan­ken, nichts mehr von Net­tie. Aber bei un­se­rer nächs­ten Be­geg­nung wur­de ab­ge­macht, wir woll­ten uns schrei­ben, und dies ta­ten wir auch – in aller­größ­ter Heim­lich­keit – denn Net­tie woll­te nicht, daß ir­gend je­mand bei ihr zu Hau­se, nicht ein­mal ihre ein­zi­ge Schwes­ter, von ih­rer Lie­be er­fuhr. So muß­te ich denn mei­ne kost­ba­ren Do­ku­men­te ver­sie­gelt und un­ter der Adres­se ei­ner ver­trau­ten Schul­freun­din von ihr, die nahe bei Lon­don wohn­te, schi­cken … Noch heu­te könn­te ich jene Adres­se auf­schrei­ben, ob­gleich Haus und Stra­ße und Vo­r­ort so spur­los ver­schwun­den sind, daß kei­ner mehr sie zu fin­den ver­möch­te.

Mit un­se­rer Kor­re­spon­denz be­gann un­se­re Ent­frem­dung; denn zum ers­ten­mal ka­men wir in an­de­re als sinn­li­che Berüh­rung, such­te un­ser Geist nach Aus­druck.

Nun muß man wis­sen, daß die Welt des Den­kens da­mals im selt­sams­ten Zu­stand war; sie er­stick­te fast an ver­al­te­ten, un­taug­li­chen For­meln; sie wand sich wie ein La­by­rinth in ne­ben­säch­li­chen Scha­blo­nen und Kom­pro­mis­sen, Un­ter­schla­gun­gen, Kon­ven­tio­nen und Aus­flüch­ten. Nied­ri­ge Um­schrei­bun­gen be­su­del­ten auf je­der­manns Lip­pen die Wahr­heit. Ich war von mei­ner Mut­ter in ei­nem wun­der­li­chen, alt­mo­di­schen Glau­ben an ge­wis­se re­li­gi­öse For­meln, ge­wis­se An­stands­re­geln, ge­wis­se Be­grif­fe so­zia­ler und po­li­ti­scher Ord­nung er­zo­gen, die zur Wirk­lich­keit und den Be­dürf­nis­sen des da­ma­li­gen All­tags­le­bens nicht mehr in Be­zie­hung stan­den als rei­ne Wä­sche, die man mit La­ven­del in einen Schrank ein­schließt. Ihre Re­li­gi­on roch auch tat­säch­lich nach La­ven­del. Sonn­tags tat sie alle Din­ge der Wirk­lich­keit, die Klei­der, so­gar den Haus­rat des All­tags von sich ab, barg ihre Hän­de, die vol­ler Beu­len und manch­mal vom Scheu­ern auf­ge­ris­sen wa­ren, in schwar­zen, sorg­sam ge­flick­ten Hand­schu­hen, leg­te ihr al­tes, schwarz­sei­de­nes Kleid an, setz­te ih­ren Hut auf und führ­te mich, der ich eben­falls un­na­tür­lich sau­ber und nett aus­sah, in die Kir­che. Dort san­gen wir und senk­ten das Haupt, hör­ten me­lo­di­sche Ge­be­te an und stimm­ten in me­lo­di­sche Ant­wor­ten ein, und stan­den er­quickt und er­leich­tert, mit ei­nem Ge­mein­de-Seuf­zer, auf, wenn die Lob­prei­sung mit ih­rem An­fang: »Gott der Va­ter, Gott der Sohn«, die kur­ze zah­me Pre­digt ab­schloß. In die­ser Re­li­gi­on mei­ner Mut­ter gab es eine Höl­le, eine rot­haa­ri­ge Höl­le voll krau­ser Flam­men, die der­einst sehr furcht­bar ge­we­sen sein muß­te; es gab einen Teu­fel, der zu­gleich ex of­fi­cio des eng­li­schen Kö­nigs Feind war. Die ar­gen Lüs­te des Flei­sches wur­den schwer ver­ket­zert. Man er­war­te­te von uns, wir soll­ten glau­ben, der grö­ße­re Teil un­se­rer un­glück­li­chen Welt wer­de für all sei­ne Wir­ren und Un­ru­hen all­hier bü­ßen, in­dem er der­einst die aus­er­le­sens­ten Qua­len zu er­dul­den habe – in alle Ewig­keit, Amen. Aber frei­lich sa­hen die­se krau­sen Flam­men recht lus­tig aus. Das Gan­ze war längst vor mei­ner Zeit zu ei­ner sanf­ten Un­wirk­lich­keit aus­ge­reift und ver­blaßt. Wenn es mir in mei­ner Kind­heit noch großen Schre­cken ein­flö­ßte, so habe ich das ver­ges­sen; es war lan­ge nicht so furcht­bar wie die Ge­schich­te vom Rie­sen, der von der Boh­nen­ran­ke er­schla­gen wur­de … Und jetzt sehe ich es al­les nur noch als Rah­men für mei­ner ar­men Mut­ter ab­ge­ar­bei­te­tes, runz­li­ges Ge­sicht, sehe es fast mit Lie­be, als einen Teil ih­rer selbst. Und Mr. Gab­bi­tas, un­ser klei­ner, rund­li­cher Mie­ter, selt­sam ver­än­dert durch sei­ne Amt­stracht, schi­en ihr, wenn er mann­haft die Stim­me er­hob, um jene alt­vä­te­rischen Ge­be­te zu sin­gen, noch ein ganz be­son­de­res und in­ti­me­res In­ter­es­se an Gott ein­zu­flö­ßen. Sie strahl­te ihre ei­ge­ne zit­tern­de Mil­de auf ihn über und ver­tei­dig­te ihn ge­gen alle An­grif­fe rän­ke­süch­ti­ger Theo­lo­gen. Sie war in Wahr­heit – wenn ich das da­mals hät­te se­hen kön­nen – die werk­tä­ti­ge Er­fül­lung al­les des­sen, was sie mich gern ge­lehrt hät­te.

So er­scheint es mir jetzt; aber es ist et­was Uner­bitt­li­ches, Har­tes um die ernst­haf­te In­ten­si­tät der Ju­gend; und wenn ich an­fäng­lich all die­se Din­ge, die feu­ri­ge Höl­le und Got­tes Ra­che für jede Un­ter­las­sungs­sün­de, so ernst ge­nom­men hat­te, als sei­en das ge­nau so fest­ste­hen­de Tat­sa­chen wie Blad­dens Ei­sen­wer­ke und Ra­w­d­ons Ton­gru­ben, so schlug ich sie mir doch bald mit glei­cher Ernst­haf­tig­keit aus dem Sinn.

Mr. Gab­bi­tas näm­lich nahm bis­wei­len, wie man sag­te, »No­tiz« von mir; er hat­te mich ver­an­laßt, wei­ter­zu­stu­die­ren, als ich die Schu­le ver­ließ, und mit den bes­ten Ab­sich­ten hat­te er mir, um dem Gift der Zeit von vorn­her­ein ent­ge­gen­zu­ar­bei­ten, Bur­bles »Wi­der­leg­te Skep­sis« ge­lie­hen und mich auf die Stifts­bi­blio­thek in Clay­ton auf­merk­sam ge­macht.

Der aus­ge­zeich­ne­te Bur­ble war ein schwe­rer Schlag für mich. Aus sei­ner Wi­der­le­gung der Skep­sis schi­en klar her­vor­zu­ge­hen, daß die Din­ge für die dok­tri­näre Or­tho­do­xie und das gan­ze ab­ge­blaß­te und kei­nes­wegs grau­en­vol­le Jen­seits, das ich bis­her eben­so hin­ge­nom­men hat­te, wie ich die Son­ne hin­nahm, äu­ßerst schlecht stan­den; und um mir die­se Idee noch fes­ter ein­zu­pau­ken, war das ers­te Buch, das ich mir von der Biblio­thek hol­te, eine ame­ri­ka­ni­sche Aus­ga­be der ge­sam­mel­ten Wer­ke Shel­leys, sei­ne leicht­be­schwing­te Pro­sa und sei­ne äthe­ri­sche Poe­sie. Bald war ich für den schrei­ends­ten Un­glau­ben reif. Gleich dar­auf mach­te ich im Ve­rein jun­ger Män­ner Par­loads Be­kannt­schaft, der mir un­ter dem Sie­gel der schwär­zes­ten Ver­schwie­gen­heit mit­teil­te, daß er »durch und durch So­zia­list« sei. Er lieh mir meh­re­re Num­mern ei­ner Zeit­schrift, die den Lärm-Ti­tel »Die Trom­pe­te« trug, und die eben auf ei­nem Kreuz­zug ge­gen die über­lie­fer­te Re­li­gi­on be­grif­fen war. Die Ju­gend­jah­re je­des nur ei­ni­ger­ma­ßen in­tel­li­gen­ten jun­gen Man­nes sind der An­ste­ckung durch phi­lo­so­phi­sche Zwei­fel, durch Ge­ring­schät­zung und neue Ide­en aus­ge­setzt und wer­den es ge­sun­der­wei­se im­mer sein, und ich muß ge­ste­hen, das Fie­ber die­ser Pha­se pack­te mich hef­tig. Ich spre­che von Zwei­fel, aber es war we­ni­ger Zwei­fel – was et­was Kom­pli­zier­tes ist – als viel­mehr ein auf­ge­reg­tes, nach­drück­li­ches Ver­nei­nen. »Das soll­te ich ge­glaubt ha­ben!« Und da­bei war ich – nicht zu ver­ges­sen – eben am An­fang mei­ner Lie­bes­brie­fe an Net­tie!

Wir le­ben heu­te, seit sich die »große Wand­lung« in fast al­len Din­gen voll­zo­gen hat, in ei­ner Zeit, in der je­der Mensch zu ei­ner Art in­tel­lek­tu­el­ler Mil­de er­zo­gen wird, ei­ner Mil­de, die un­se­re Kraft in nichts be­ein­träch­tigt; und es wird uns schwer, die halb er­stick­te, blind­lings kämp­fen­de Art und Wei­se zu ver­ste­hen, in der sich das Den­ken mei­ner Ge­ne­ra­ti­on von jun­gen Män­nern voll­zog. Über ge­wis­se Fra­gen über­haupt nur nach­zu­den­ken, war ein Akt der Auf­leh­nung, der einen so­fort ins Schwan­ken ver­setz­te zwi­schen Heim­lich­keit und Trotz. Man be­ginnt heut­zu­ta­ge Shel­ley – all sei­ner Sang­bar­keit zum Trotz – lär­mend und schlecht zu fin­den, weil sei­ne Ge­gen­par­tei ver­schwun­den ist, nicht mehr exis­tiert; und doch hat es eine Zeit ge­ge­ben, in der neue Ge­dan­ken zu die­sem Klim­bim zer­schmet­ter­ten Gla­ses grei­fen muß­ten. Es wird nach­ge­ra­de et­was schwie­rig, sich die­se gä­ren­de Geis­tes­ver­fas­sung vor­zu­stel­len, die Nei­gung, los­zu­brül­len, der be­ste­hen­den Au­to­ri­tät ein »Bäh!« ins Ge­sicht zu schrei­en, die an­hal­ten­de Note der Her­aus­for­de­rung auf­recht­zu­er­hal­ten, wie wir un­ge­schlif­fe­ne Bur­schen sie da­mals an­schlu­gen. Ich fing an, mit Gier eine Lek­tü­re zu ver­schlin­gen wie Car­ly­le, Brow­ning und Hei­ne sie zur Ver­blüf­fung der Nach­welt hin­ter­las­sen ha­ben – und nicht nur sie zu le­sen, son­dern sie zu be­wun­dern und nach­zuah­men. Mei­ne Brie­fe an Net­tie schwenk­ten nach ein oder zwei auf­rich­tig ge­mein­ten Aus­brü­chen glü­hen­der Zärt­lich­keit in schwüls­ti­gen und auf­rei­zen­den Wen­dun­gen zur Theo­lo­gie, So­zio­lo­gie und zum Kos­mos ab. Ohne Zwei­fel mach­ten sie ihr viel zu schaf­fen.

Noch im­mer hege ich die leb­haf­tes­te Sym­pa­thie und et­was, was dem Neid ganz merk­wür­dig gleich sieht, für mei­ne ent­schwun­de­ne Ju­gend; den­noch wür­de es mir schwer fal­len, mich ge­gen ir­gend­wen zu ver­tei­di­gen, der mich als einen al­ber­nen, po­sie­ren­den, sen­ti­men­ta­len, mei­ner ver­blaß­ten Pho­to­gra­phie au­ßer­or­dent­lich ähn­li­chen Töl­pel glatt ver­ur­tei­len woll­te. Und wenn ich mich ge­nau­er auf die Art und den Ton der müh­se­li­gen Ver­su­che, mei­ner Liebs­ten be­deu­ten­de Din­ge zu schrei­ben, be­sin­nen soll, so muß ich ge­ste­hen – ich zit­te­re … Trotz­dem woll­te ich, sie wä­ren nicht alle ver­nich­tet.

Ihre Brie­fe an mich wa­ren ein­fach ge­nug, in ei­ner rund­li­chen, un­aus­ge­schrie­be­nen Schrift und schlech­tem Stil ge­schrie­ben. Die ers­ten zwei oder drei ver­rie­ten ein scheu­es Ver­gnü­gen am Ge­brauch des Wor­tes »Liebs­ter«, und ich ent­sin­ne mich, daß ich erst in Ver­le­gen­heit ge­riet, dann aber ent­zückt war, weil sie un­ter mei­nen Na­men ein iri­sches Dia­lekt­wort ge­schrie­ben hat­te, das »Lieb­ling« be­deu­te­te. Als dann frei­lich die in mir herr­schen­de Gä­rung zum Aus­druck zu kom­men be­gann, lau­te­ten ihre Ant­wor­ten we­ni­ger be­glückt.

Ich will nicht mit un­se­rer Ge­schich­te er­mü­den: wie wir uns auf al­ber­ne, ju­gend­li­che Art zank­ten und wie ich am nächs­ten Sonn­tag un­ein­ge­la­den nach Checks­hill ging und die Sa­che nur schlim­mer mach­te, wie ich dann einen Brief schrieb, den sie »süß« fand und al­les da­mit wie­der gut­mach­te. Auch von all den spä­te­ren Schwan­kun­gen des Miß­ver­ste­hens will ich nicht er­zäh­len. Stets war ich der Sün­der und schließ­li­che Bü­ßer, bis zu je­nem letz­ten Kum­mer, der hier an­fing; da­zwi­schen­hin­ein er­leb­ten wir ein paar Mo­na­te in­nigs­ter Zu­sam­men­ge­hö­rig­keit, und ich lieb­te sie zärt­lich. Das Un­glück bei der gan­zen Ge­schich­te war das: so­bald ich im Dun­keln und al­lein war, dach­te ich ganz in­ten­siv an sie, an ihre Au­gen, an ihre Küs­se, an ihre gan­ze süße, hold­se­li­ge Ge­gen­wart; wenn ich mich aber hin­setz­te, um zu schrei­ben, dach­te ich an Shel­ley und Burns und mich sel­ber und al­ler­lei der­ar­ti­ge nicht her­ge­hö­ri­ge Din­ge. Wenn man ver­liebt ist, und da­bei in solch gä­ren­der Ver­fas­sung, so ist es schwe­rer, den Lie­ben­den zu spie­len, als wenn man gar nicht liebt. Und Net­tie, das weiß ich, lieb­te nicht mich, son­dern die sü­ßen Ge­heim­nis­se … Nicht mei­ne Stim­me soll­te ihre Träu­me zur Lei­den­schaft er­we­cken! … So blieb in un­sern Brie­fen ein Miß­klang. Dann schrieb sie mir plötz­lich einen, in dem sie ihre Zwei­fel aus­sprach, ob sie je einen Men­schen lieb ha­ben kön­ne, der So­zia­list sei und nichts von der Kir­che wis­sen woll­te. Kurz dar­auf kam ein zwei­ter Brief, mit ganz un­er­war­tet neu­en Wen­dun­gen. Sie glau­be, wir paß­ten nicht zu­ein­an­der, un­ser Ge­schmack und un­se­re Ide­en sei­en zu ver­schie­den, sie habe schon lang dar­an ge­dacht, mir mein Wort zu­rück­zu­ge­ben. Kurz … wenn ich es auch erst nicht ganz be­griff – ich war ver­ab­schie­det. Ihr Brief hat­te mich er­reicht, eben als ich nach der kei­nes­wegs höf­li­chen Wei­ge­rung des al­ten Ra­w­don, mein Ge­halt auf­zu­bes­sern, nach Hau­se ge­kom­men war. Ich war also an je­nem Abend, von dem ich hier schrei­be, in ei­nem Zu­stand fie­bri­scher Er­re­gung, weil ich mich mit zwei neu­en und er­staun­li­chen, zwei fast über­wäl­ti­gen­den Tat­sa­chen ver­traut ma­chen muß­te: näm­lich, daß ich we­der für Net­tie noch für Ra­w­don un­ent­behr­lich war.

Und da­bei von Ko­me­ten re­den!

Was war zu tun?

Ich hat­te mich so dar­an ge­wöhnt, Net­tie als mein un­ver­brüch­li­ches Ei­gen­tum an­zu­se­hen – die gan­ze Tra­di­ti­on »treu­er Lie­be« wies mich dar­auf hin – daß es mich aufs tiefs­te ver­letz­te, als sie plötz­lich, nach­dem wir Küs­se ge­tauscht und uns Lie­bes­wor­te zu­ge­flüs­tert hat­ten und ein­an­der in den klei­nen, küh­nen Ver­trau­lich­kei­ten der Ju­gend so nah ge­kom­men wa­ren, von Tren­nung sprach. Und auch Ra­w­don fand mich nicht un­ent­behr­lich! Ich fühl­te mich plötz­lich vom gan­zen Wel­tall so zu­rück­ge­sto­ßen und mit Ver­nich­tung be­droht, daß ich mich auf ir­gend­ei­ne po­si­ti­ve und nach­drück­li­che Wei­se be­haup­ten muß­te. We­der in der Re­li­gi­on, die man mich ge­lehrt, noch in der Re­li­gi­ons­lo­sig­keit, die ich selbst mir er­wor­ben hat­te, gab es Bal­sam für ver­wun­de­te Ei­gen­lie­be.

Soll­te ich die Stel­lung bei Ra­w­don so­fort auf­ste­cken und auf ir­gend­wel­che au­ßer­ge­wöhn­li­che, ra­sche Wei­se der be­nach­bar­ten Ton­gru­be sei­nes Kon­kur­ren­ten Fro­bis­her zum Auf­schwung ver­hel­fen?

Der ers­te Teil des Pro­gramms war ja leicht aus­führ­bar. Man ging ein­fach zu Ra­w­don und sag­te ihm: »Sie wer­den noch von mir hö­ren!« Aber wenn Fro­bis­her mich im Stich ließ? Doch das war Ne­ben­sa­che. Viel wich­ti­ger war die An­ge­le­gen­heit mit Net­tie. Ich fühl­te schon, wie mir der Kopf förm­lich schwirr­te von rhe­to­ri­schen Frag­men­ten, die mir in dem Brief, den ich ihr schrei­ben woll­te, von Nut­zen sein konn­ten. Hohn, Iro­nie, Zärt­lich­keit … was soll­te ich wäh­len? …

»Ver­dammt!«, sag­te Par­load plötz­lich.

»Was?«, frag­te ich.

»Sie feu­ern in Blad­dens Ei­sen­hüt­te und der Rauch steigt ge­ra­de vor mein Stück Him­mel!«

Die Un­ter­bre­chung kam just, als ich so weit war, mei­ne Ge­dan­ken auf ihn los­zu­las­sen.

»Par­load!«, sag­te ich, »höchst wahr­schein­lich werd’ ich fort müs­sen. Ra­w­don will mir kei­ne Zu­la­ge ge­ben, und, da ich sie ein­mal ver­langt habe, fin­de ich, daß ich zu den al­ten Be­din­gun­gen nicht mehr blei­ben kann. Du ver­stehst. Also werd’ ich wohl weg müs­sen aus Clay­ton … für im­mer.«

III.

Par­load leg­te das Opern­glas weg und sah mich an.

»Schlech­te Zeit zum Wech­seln jetzt!«, sag­te er nach ei­ner klei­nen Pau­se.

Ra­w­don hat­te das­sel­be ge­sagt, nur in we­ni­ger lie­bens­wür­di­gem Ton.

Aber Par­load ge­gen­über war ich im­mer ge­neigt, die he­ro­i­sche Sai­te an­zu­schla­gen.

»Ich bin die­ser ein­tö­ni­gen Skla­ven­ar­beit für an­de­re müde!«, sag­te ich.

»Man kann eben­so­gut an­ders­wo sei­nen Kör­per ver­hun­gern las­sen, wie hier sei­ne See­le!«

»Da bin ich nicht ganz dei­ner Mei­nung«, be­gann Par­load lang­sam …

Und da­mit er­öff­ne­ten wir eine un­se­rer end­lo­sen Un­ter­hal­tun­gen, ei­nes je­ner lan­gen, ziel­lo­sen, in­ten­siv ver­all­ge­mei­nern­den und weit­schwei­fig per­sön­li­chen Ge­sprä­che, wie sie den Her­zen jun­ger Men­schen bis zum Ende der Welt teu­er sein wer­den. Das je­den­falls hat die Wand­lung nicht be­sei­tigt.

Es wäre eine un­glaub­li­che Ge­dächt­nis­leis­tung, wenn ich mich noch je­nes gan­zen la­by­rin­thi­schen Wort­ne­bels ent­sin­nen könn­te; ich er­in­ne­re mich auch tat­säch­lich kaum ei­nes Wor­tes, ob­gleich die äu­ße­ren Um­stän­de und die uns um­ge­ben­de At­mo­sphä­re als schar­fes, kla­res Bild vor mei­nem Geis­te ste­hen. Ich po­sier­te, nach mei­ner Ge­wohn­heit, und be­nahm mich ohne Zwei­fel sehr tö­richt, als ge­kränk­ter und lei­den­der Ego­ist; Par­load da­ge­gen spiel­te die Rol­le des mit un­er­meß­li­chen Wel­ten­räu­men be­schäf­tig­ten Phi­lo­so­phen.

Wir gin­gen hin­aus in die war­me Som­mer­nacht und spra­chen uns nur um so frei­er aus. Aber ei­nes Wor­tes von mir ent­sin­ne ich mich noch.

»Mit­un­ter möch­te ich«, sag­te ich mit ei­ner Ges­te gen Him­mel, »dein Ko­met oder ir­gend sonst was stie­ße wirk­lich auf die­se Welt und feg­te uns alle weg, uns und al­les, Streiks, Krie­ge, Aufruhr, Lie­be, Ei­fer­sucht und das gan­ze Elend des Le­bens.«

»Ah!«, sag­te Par­load; und der Ge­dan­ke schi­en ihn zu be­schäf­ti­gen.

»Das wür­de den Jam­mer des Le­bens nur noch ver­meh­ren«, sag­te er un­ver­mit­telt, als ich gleich dar­auf von an­de­ren Din­gen zu spre­chen be­gann.

»Was?«

»Der Zu­sam­men­stoß mit ei­nem Ko­me­ten wür­de die Din­ge nur zu­rück­brin­gen. Was vom Le­ben üb­rig blie­be, wür­de nur noch wüs­ter, als es jetzt ist.«

»Aber wes­halb soll­te über­haup­t et­was üb­rig blei­ben?«, sag­te ich …

Das war so un­ser Stil; und mitt­ler­wei­le gin­gen wir die enge Stra­ße vor sei­ner Woh­nung und dann die Stu­fen und Gas­sen hin­auf nach Clay­ton und zur großen Land­stra­ße.

Aber mei­ne Erin­ne­run­gen füh­ren mich so le­ben­dig zu je­nen Ta­gen vor der Wand­lung zu­rück, daß ich ver­ges­se, daß heu­te all die­se Orte bis zur Un­kennt­lich­keit ver­än­dert sind. Die enge Stra­ße, die Stu­fen, der Aus­blick von Clay­ton Crest, ja, die gan­ze Welt, in der ich ge­bo­ren und er­zo­gen und ge­formt ward – all das ist aus Raum und Zeit und fast auch aus der Vor­stel­lung all de­rer ver­schwun­den, die um eine Ge­ne­ra­ti­on jün­ger sind als ich. Der Le­ser ver­mag nicht, wie ich, den dun­keln, schma­len ver­las­se­nen Weg zwi­schen den häß­li­chen Häu­sern zu se­hen, den dun­keln, ver­las­se­nen Weg, den an der Ecke eine trü­be Gas­la­ter­ne be­leuch­te­te; er fühlt nicht un­ter sei­nen Soh­len das har­te, klein­ge­stein­te Pflas­ter, er be­merkt nicht da und dort die matt er­leuch­te­ten Fens­ter, noch die Schat­ten der da­hin­ter ein­ge­sperr­ten Men­schen auf den häß­li­chen, oft ge­flick­ten, krumm­ge­zo­ge­nen Gar­di­nen. Noch auch ver­mag er im Geist an dem Wirts­haus vor­über­zu­ge­hen mit sei­nem hel­le­ren Gas­licht und sei­nen son­der­ba­ren, un­durch­sich­ti­gen Fens­tern, noch die ver­dor­be­ne Luft und eben­so ver­dor­be­ne Spra­che zu wit­tern, die der Tür ent­ström­ten oder die ver­schrumpf­te scheue Ge­stalt – ir­gend­ein zer­lump­tes Gas­sen­kind – zu er­bli­cken, die die Stu­fen her­ab und an uns vor­bei­schleicht.

Wir ka­men durch eine län­ge­re Stra­ße, durch die ras­selnd und Rauch und Feu­er spei­end eine plum­pe Dampf­tram­bahn fuhr, wäh­rend man wei­ter ab­wärts den schmie­ri­gen Glanz der Schau­fens­ter und die Pech­fa­ckeln der Hau­sie­rer­kar­ren sah, de­ren Feu­er die Nacht durch­lo­der­te. Ein wir­res Men­schen­ge­schie­be dräng­te sich durch jene Stra­ße, und von ei­nem lee­ren Bau­platz zwi­schen den Häu­sern her hör­ten wir die Stim­me ei­nes Wan­der­pre­di­gers. Der Le­ser kann all das nicht se­hen, wie ich, und kann sich auch – es sei denn, er ken­ne die Bil­der, die der große Ma­ler Hyde der Welt hin­ter­las­sen hat – die Wir­kung des großen Gerüsts nicht vor­stel­len, an dem wir vor­über ka­men, das, un­ten von ei­ner blei­chen Gas­lam­pe er­leuch­tet ge­gen den blas­sen Him­mel em­por­ra­gend, mit ei­nem plötz­li­chen, schar­fen Rand ab­schnitt.

Die­se Gerüs­te! Sie wa­ren das bun­tes­te in je­ner gan­zen ver­schwun­de­nen Welt. Auf ih­nen ver­ei­nig­ten sich in im­mer neu­en Schich­ten von Leim und Pa­pier all die ro­hen Un­ter­neh­mun­gen je­ner Zeit zu ei­ner Dis­so­nanz grel­ler Far­ben: Pil­len­ver­käu­fer und Pre­di­ger, Thea­ter und Wohl­tä­tig­keits­an­stal­ten, Wun­der­sei­fen und er­staun­li­che Kon­ser­ven, Schreib­ma­schi­nen und Näh­ma­schi­nen ver­ban­den sich zu ei­ner Art sicht­bar ge­wor­de­nen Ge­schreis. Und da­hin­ter kam eine schmut­zi­ge Aschen­gas­se, eine Gas­se ohne Be­leuch­tung, in de­ren zahl­lo­sen Pfüt­zen sich da und dort ein Stern des Him­mels spie­gel­te. Acht­los patsch­ten wir im Ei­fer des Ge­sprächs hin­durch.

Dann wei­ter durch die Gar­ten­par­zel­len – eine Kohl­wild­nis. Vor­über an ver­kom­men aus­se­hen­den Schup­pen und ei­ner ge­spens­ti­schen, ver­las­se­nen Fa­brik bis zur Land­stra­ße. Die Land­stra­ße führ­te in ei­ner Kur­ve an ein paar Häu­sern und ei­ner Bier­knei­pe vor­bei bis zu ei­ner Stel­le, von wo aus man das gan­ze Tal über­sah, in dem über­füllt und zu­sam­men­wach­send vier In­dus­trie­städ­te la­gen.

Ich will nicht leug­nen, daß mit dem Zwie­licht ein Zau­ber geis­ter­haf­ter Grö­ße über die gan­ze Ge­gend kam und bis zum Ta­ges­grau­en auf ihr brü­te­te. Die furcht­ba­re Ge­mein­heit ih­rer Ein­zel­hei­ten ward ver­schlei­ert. Die Hüt­ten mit ih­ren Be­woh­nern, das star­ren­de Ge­wim­mel der Schorn­stei­ne, die häß­li­chen Fle­cken wi­der­wil­li­ger Ve­ge­ta­ti­on zwi­schen den not­dürf­ti­gen Zäu­nen aus Faß­dau­ben und Draht, die rost­far­be­nen Nar­ben, die die Hü­gel drü­ben um­rahm­ten, wo man das Ei­sen­erz aus­hob, und die un­frucht­ba­ren Schla­cken­ber­ge bei den Blasö­fen wa­ren ver­schlei­ert; der Dampf und der bro­deln­de Rauch und Staub aus Gie­ße­rei, Lehm­gru­ben und Hochö­fen wa­ren von der Nacht ver­wan­delt, in ihr auf­ge­gan­gen. Die staub­ge­schwän­ger­te At­mo­sphä­re, tags­über ein grau­er Alp­druck, wur­de mit Son­nen­un­ter­gang zu ei­nem Mys­te­ri­um tiefer, leuch­ten­der Far­ben: blau und pur­purn, dun­kel­rot und grell­rot, selt­sam hel­le, klar­grü­ne und gel­be Strei­fen über dem dun­keln Him­mel. Je­der der Hochofen-Par­ven­üs krön­te sich, wenn die Kö­ni­gin, die Son­ne, fort war, mit Flam­men; zit­tern­de Glut be­gann die dun­keln Aschen­hau­fen zu be­le­ben, jede Ton­gru­be brüs­te­te sich re­bel­lisch mit ei­nem vul­ka­ni­schen Licht­kranz. Die Herr­schaft des Tags zer­split­ter­te zu tau­send klei­nen Ein­zel­staa­ten bren­nen­der Koh­le. Die klei­ne­ren Stra­ßen im Tal be­steck­ten sich mit matt­gel­ben Gas­la­ter­nen, die sich an al­len Haupt­plät­zen und Kreuz­punk­ten mit der grün­li­chen Bläs­se der Glüh­st­rümp­fe und dem grel­len kal­ten Glanz der elek­tri­schen Bo­gen misch­ten. Ver­schlun­ge­ne Bahn­ge­lei­se ho­ben hel­le Si­gnal-Häu­schen über ihre Schnitt­punk­te, und in recht­e­cki­gen Kon­stel­la­tio­nen sah man rote und grü­ne Si­gnals­ter­ne fun­keln. Die Züge wur­den zu feu­er­fau­chen­den, schwar­zen Glie­der­schlan­gen.

Und hoch über all dem hat­te Par­load ein Reich ent­deckt, ein Reich, un­greif­bar und fast ver­ges­sen, we­der von Son­ne noch Hochofen be­herrscht – das All der Ster­ne.

Dies war die Sze­ne­rie manch ei­nes Ge­sprächs, das wir mit­ein­an­der ge­führt hat­ten. Und wenn wir am Tag über die Höhe wan­der­ten und nach Wes­ten blick­ten, so la­gen vor uns Acker­land und Parks und große Her­ren­häu­ser, in der Fer­ne der Turm ei­ner Ka­the­dra­le; da­zwi­schen, wenn ein Re­gen im An­zug war, hin­gen die Käm­me fer­ner Ber­ge klar in der Luft. Jen­seits des Ge­sichts­fel­des, weit hin­ten, lag Checks­hill; im­mer fühl­te ich es dort, und im Dun­kel noch mehr als bei Tag: Checks­hill und Net­tie.

Uns bei­den jun­gen Bur­schen, die wir den Aschen­pfad ne­ben der aus­ge­fah­re­nen Stra­ße da­hin­wan­der­ten und un­se­re Küm­mer­nis­se er­ör­ter­ten, uns schi­en es, als sei die­ser Hü­gel­rücken ein all­um­fas­sen­der Aus­blick auf die gan­ze große Welt.

Dort auf der einen Sei­te, in wim­meln­dem Dun­kel, um die scheuß­li­chen Fa­bri­ken und Werk­stät­ten her­um, schar­ten sich die Ar­bei­ter, schlecht ge­klei­det, schlecht er­nährt, schlecht un­ter­rich­tet, schlecht ver­sorgt, über­vor­teilt bei je­der Ge­le­gen­heit, nicht ein­mal ih­res un­ge­nü­gen­den Le­bens­un­ter­halts von ei­nem Tag zum an­dern ge­wiß, und zwi­schen ih­ren elen­den Heim­stät­ten schwol­len die Ka­pel­len und Kir­chen und Knei­pen gleich Mist­ge­wäch­sen in­mit­ten ei­ner all­ge­mei­nen Fäul­nis; und drü­ben, in Raum, Frei­heit und Wür­de, kaum der we­ni­gen Hüt­ten ach­tend, die so über­völ­kert und ma­le­risch wa­ren, und in de­nen die Ar­bei­ter ver­ka­men, leb­ten die Grund­be­sit­zer und Her­ren, de­nen Ton­gru­be, Gie­ße­rei, Farm und Mine ge­hör­ten. Weit in der Fer­ne, un­ver­mit­telt und schön, aus ei­nem klei­nen Ge­wirr al­ter Buch­lä­den, Pfarr­häu­ser und Gast­hö­fe und al­lem sons­ti­gen Zu­be­hör ei­ner ver­fal­len­den Han­dels­stadt her­aus reck­te die Ka­the­dra­le von Low­che­s­ter einen schlich­ten, aber wir­kungs­vol­len Turm in un­be­stimm­te, ver­schwim­men­de Him­mel em­por. So er­schie­nen uns in un­sern ers­ten Ju­gend­ein­drücken die Um­ris­se der gan­zen Welt.

Wie jun­ge Men­schen pfle­gen, sa­hen wir al­les ganz naiv. Zor­nig und zu­ver­sicht­lich er­dach­ten wir uns Lö­sun­gen der be­ste­hen­den Zu­stän­de, und wer sie kri­ti­sier­te, war ein Par­t­ei­ge­nos­se der Räu­ber. Es war ja auch eine ganz of­fen­ba­re Räu­be­rei, fan­den wir: dort, in den großen Häu­sern, lau­er­te der Grund­be­sit­zer und Ka­pi­ta­list mit sei­nem Schur­ken von An­walt und sei­nem Be­trü­ger von Pfaf­fen, und wir an­dern alle wa­ren Op­fer ih­rer aus­ge­klü­gel­ten Ge­mein­hei­ten. Ohne Zwei­fel zwin­ker­ten und ki­cher­ten sie sich zu, über ih­ren aus­er­le­se­nen Wei­nen, in­mit­ten ih­rer blen­den­den, scham­los an­ge­zo­ge­nen Da­men, und dach­ten sich aus, wie sie die Ar­men noch mehr schin­den könn­ten! Und auf der an­de­ren Sei­te, in­mit­ten von Schmutz, von Bru­ta­li­tät, von Un­wis­sen­heit und Be­trun­ken­heit, dul­de­ten die Mas­sen ih­rer schuld­lo­sen Op­fer, die Ar­bei­ter. Und wir hat­ten all das fast auf den ers­ten Blick durch­schaut; es brauch­te nur noch mit der nö­ti­gen Be­red­sam­keit und Ein­dring­lich­keit be­haup­tet zu wer­den, um das Ant­litz der gan­zen Welt zu wan­deln. Der Ar­bei­ter wür­de sich er­he­ben – in Ge­stalt ei­ner Ar­bei­ter­par­tei und mit jun­gen Leu­ten wie Par­load und mir an der Spit­ze – wür­de sich sein Recht er­zwin­gen, und dann – –?

Dann wur­de den Räu­bern die Höl­le heiß ge­macht und al­les lös­te sich auf in Wohl­ge­fal­len.

Wenn mir mein Ge­dächt­nis nicht einen schlim­men Streich spielt, so tat das dem Ka­te­chis­mus des Den­kens und Han­delns, den Par­load und ich für das En­d­er­geb­nis mensch­li­cher Weis­heit hiel­ten, durch­aus kei­nen Ab­bruch. Wir glaub­ten dar­an voll Glut, und voll Glut wie­sen wir jede noch so na­he­lie­gen­de Mil­de­rung sei­ner Här­te zu­rück. Manch­mal wa­ren wir bei un­se­ren großen Ge­sprä­chen voll über­eil­ter Hoff­nun­gen auf einen na­hen Tri­umph un­se­rer Leh­re, noch häu­fi­ger war un­se­re Stim­mung ein hei­ßer Groll ge­gen die Ver­wor­fen­heit und Bor­niert­heit, die eine so ein­fa­che Neu­ge­stal­tung der Wel­t­ord­nung auf­hiel­ten. Dann wur­den wir bös­ar­tig und dach­ten an Bar­ri­ka­den und ähn­li­che Ge­walt­ta­ten. Ich weiß, in je­ner Nacht, von der ich hier er­zäh­le, war ich sehr er­bit­tert, und das ein­zi­ge Ge­sicht der Hy­dra des Ka­pi­ta­lis­mus und Mo­no­po­lis­mus, das ich ei­ni­ger­ma­ßen deut­lich zu er­ken­nen ver­moch­te, lä­chel­te ge­nau so, wie der alte Ra­w­don ge­lä­chelt hat­te, als er sich wei­ger­te, mir mehr als lum­pi­ge zwan­zig Schil­ling in der Wo­che zu ge­ben. Ich hat­te das drin­gen­de Be­dürf­nis, mei­ne Selb­st­ach­tung durch einen Ra­che­akt an ihm zu wah­ren, und ich fühl­te, – könn­te dies da­durch ge­sche­hen, daß ich die Hy­dra er­schlug, so konn­te ich ihre Lei­che auch gleich Net­tie vor die Füße wer­fen und mei­ne zwei­te Fra­ge er­le­di­gen. »Was sagst du jetz­t, Net­tie!«

Je­den­falls kommt dies dem Stim­mungs­ge­halt mei­ner da­ma­li­gen Denk­wei­se so ziem­lich nah; und der Le­ser kann sich vor­stel­len, wie ich an je­nem Abend wü­te­te und ges­ti­ku­lier­te. Man stel­le sich vor – zwei klei­ne schwar­ze Ge­stal­ten, von we­nig an­zie­hen­den Um­ris­sen, mit­ten in je­ner trost­lo­sen Nacht des flam­men­den In­dus­tria­lis­mus, wäh­rend mei­ne schwa­che Stim­me mit ei­nem Stich ins Pa­the­ti­sche pro­tes­tier­te … an­klag­te …

Man wird die­se Phan­tas­te­rei­en mei­ner Ju­gend als ärm­li­ches, al­ber­nes, ge­mach­­­­­­­­­­­­nach­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­