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Band 169

 

Dunkle Welt Modul

 

Rainer Schorm

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

1. Perry Rhodan

2. Cel Rainbow

3. Perry Rhodan

4. Perry Rhodan

5. Baar Lun

6. Perry Rhodan

7. Rufus Darnell

8. Agor Phuurk

9. Perry Rhodan

10. Perry Rhodan

11. Agor Phuurk

12. Perry Rhodan

13. Eric Leyden

14. Perry Rhodan

15. Eric Leyden

16. Perry Rhodan

17. Perry Rhodan

18. Baar Lun

19. Perry Rhodan

20. John Marshall

21. Perry Rhodan

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Im Jahr 2036 entdeckt der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff. Damit erschließt er der Menschheit den Weg zu den Sternen.

In den Weiten der Milchstraße treffen die Menschen auf Gegner und Freunde; es folgen Fortschritte und Rückschläge. Nach 2051 wird die Erde unbewohnbar, während Milliarden Menschen an einen unbekannten Ort umgesiedelt werden.

Der Schlüssel zu diesen Ereignissen liegt in der Galaxis Andromeda. Dorthin bricht Perry Rhodan im modernsten Raumschiff der Menschheit auf; die MAGELLAN erreicht Anfang 2055 ihr Ziel. Rasch erfahren die Menschen mehr über Andromeda, wo die Meister der Insel – auch Faktoren genannt – eine zentrale Rolle spielen.

Die Herrscher über eine ganze Galaxis bereiten sich auf den unfassbar großen Krieg vor. Bei einem Geheimtreffen mit Faktor III will Rhodan weitere Hintergründe erfahren – Treffpunkt ist die DUNKLE WELT MODUL ...

1.

Perry Rhodan

Schneetreiben

 

Etwas war vor seinen Augen.

Perry Rhodan wischte durch die Luft. Die Irritation verschwand. Gleich darauf bemerkte er einige winzige Lichtreflexe, die durch die Luft taumelten. Sie glänzten wie Schneeflocken in der Sonne.

Rhodan stutzte. Er kannte das Phänomen. Es handelte sich um Kreellschnee. Seit die MAGELLAN die Ödnis erreicht hatte, waren diese Erscheinungen immer intensiver geworden. Winzige, maximal molekülgroße Teilchen exotischer Fremdmaterie, die aus dem Creaversum durch die dünn gewordene Membran diffundierte, die das Normaluniversum von der fremden Dimension der Crea trennte. Vergleichbares war bereits während des Flugs durch das Gebiet der Gaids aufgetreten. Mittlerweile war der Kreellschnee beinahe zum Normalzustand geworden, zumindest außerhalb des Schiffs. Vor langer Zeit hatte ein immenser Materietransfer aus dem fremden Kontinuum – eine Redrift von Kreell – das gesamte Raumgebiet von Andromeda verwüstet, das die Menschen und Paddler derzeit durchquerten, und nur eine lebensfeindliche Ödnis hinterlassen.

Gegen jene Katastrophe war der Kreellschnee geradezu harmlos. Pseudoflocken tanzten vor Rhodans Augen umher und sanken langsam zu Boden. An einigen Stellen sammelte sich das eigenartige Material sogar; ein Hinweis darauf, dass die Menge erheblich zunahm.

»Es wird Winter!«, sagte Rhodan leise zu sich selbst. Die Ähnlichkeit zu normalem Schneefall war verblüffend, obwohl das Kreell alles andere war als zu Kristallen gefrorenes Wasser. »Aber wie kommt das verdammte Zeug ins Schiffsinnere?«

Rhodan war auf dem Weg zur Zentrale der FERNAO. Die diskusförmige Protektorenjacht hatte sich von der MAGELLAN gelöst und flog dem Schiffskombinat aus der Paddlerplattform PE-hilfreich und dem kugelförmigen Riesenschiff der Menschen voraus. Die Plattform benötigte lange Beschleunigungsphasen, um auf Transitionsgeschwindigkeit zu kommen; die integrierte Masse der MAGELLAN war zusätzlicher Ballast. Deshalb verlief der Flug der Werftplattform sehr gemächlich. Rhodan hatte die FERNAO als Vorhut starten lassen. Das Ziel war Modul, die alte Heimat von Baar Lun. Dort wollte Rhodan Faktor III treffen. Der Meister der Insel selbst hatte Rhodan darum gebeten.

Der Weltraum war niemals absolut leer, aber was in der Ödnis geschah, war außergewöhnlich. Die Dichte der driftenden Kreellteilchen war so groß, dass sie das Raumschiff abbremste. Vor dem Schutzschirm hatte sich ein Kissen aus glühendem Gas gebildet, das sich vor der FERNAO staute und mit hohem Energieaufwand beiseitegeschoben werden musste. Nicht einmal Eric Leyden wusste genau, ob man von ionisierten Gasen, einem Plasma, sprechen sollte oder ob es sich um etwas völlig anderes handelte. Die Triebwerke kämpften gegen eine Art Strömung an. An diesen Anblick hatte Rhodan sich beinahe gewöhnt.

Kreell – ein Gegenwind aus einer fremden Dimension, dachte Rhodan. Noch eine Absurdität, die uns kaum jemand glauben wird, wenn wir irgendwann zur Erde zurückkehren.

Rhodan aktivierte eine Verbindung zur Zentrale. »Mister Rainbow, ich renne bestimmt offene Türen ein, aber ich habe gerade Kreellschnee beobachtet. Im Innern des Schiffs, wohlgemerkt. In Sektion Drei, um genau zu sein. Können Sie mir etwas dazu sagen?«

Ein leichtes Kribbeln auf der Kopfhaut und das Gefühl von Kälte nahmen zu. Unwillig schüttelte Rhodan den Kopf. Bisher waren die Pseudoflocken zu klein, um eine spürbare Wirkung zu haben. Da das Schneetreiben jedoch stärker wurde, mochte sich das ändern.

Die Stimme des Lakotaindianers klang nicht so gelassen, wie Rhodan das von ihm kannte. »Ich habe mehrere gleichlautende Meldungen vorliegen, alle aus dem Schiffsinnern. Besonders betroffen ist der Bereich um die Zentralkugel im Sektor Blau. Also genau an Ihrem Standort. Wie schlimm ist es?«

Rhodan wischte sich etwas von der Wange. Es brannte. Immer mehr des absurden Pseudoschnees füllte die Luft und tanzte umher. Dazu kam eine Art Wind auf, der das Gestöber vor sich hertrieb. Woher diese Luftbewegung kommen mochte, war Rhodan ein Rätsel.

»Bis vor ein paar Sekunden hätte ich gesagt: übersichtlich. Ich habe jedoch den Eindruck, es wird stärker. Sehr viel stärker. Es klingt bestimmt verrückt, aber es sieht ganz so aus, als braue sich an Bord der FERNAO ein Schneesturm zusammen.«

Das Heulen des Alarms überraschte Rhodan nicht. Der Kommandant vermutete eine Gefahr und reagierte sofort. Rhodan blinzelte. Das absurde Schneetreiben aus dem Nichts nahm zu.

Cel Rainbows Stimme kam verzerrt aus dem Akustikfeld. »Ich habe den zentralen Antigravschacht und zwei stark betroffene Abschnitte des äquatorialen Ringkorridors sperren und versiegeln lassen. Sie sollten sich in Sicherheit bringen, Sir. Das Zeug ist alles andere als harmlos. Benötigen Sie Hilfe?«

»Nein, ich denke nicht«, lehnte Rhodan ab. Gleich darauf bereute er seine Voreiligkeit. Er zischte laut. Seine Haut brannte. Das war nicht die Kälte von Schneeflocken, das war hochaktives Kreell, Materie aus einer fremden Dimension. Die Wirkungen wusste kaum jemand einzuschätzen, aber Rhodans Körper reagierte unmissverständlich: mit Schmerzen. Das lag an der schieren Menge des auftauchenden Kreells. Die einzelnen Flocken mochten kaum mehr sein als jeweils ein Molekül, aber ausschlaggebend war die Gesamtmasse.

Rhodan wedelte mit den Händen und schüttelte den Kopf, um die sich absetzenden Flocken loszuwerden. »Hier bilden sich Ablagerungen. Sieht aus wie im tiefsten Winter«, sagte er. »Zum Glück ist Reginald auf der MAGELLAN geblieben. Er hasst Schnee. Und ich glaube, für Autum gilt dasselbe. Komme ich von meiner gegenwärtigen Position aus zur Zentrale durch?«

Rainbows Antwort war ernüchternd und eindeutig. »Nein. Ich habe soeben die beiden dazwischenliegenden Sektoren isoliert. Ich beobachte dort genau das Gleiche, was Sie vor Ort als Schneesturm sehen. Er hat sich innerhalb von Sekunden aufgebaut. Dort darf sich niemand mehr aufhalten. Denken Sie an die toten Gaids. Dieser Schnee könnte ähnlich gefährlich sein. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass Deringhouse auch im Schiffskombinat mehr Schnee bekommen wird, als ihm lieb ist.«

»Also gut.« Rhodan setzte sich mit eingezogenem Kopf in Bewegung. »Ich sehe zu, dass ich Doktor Leydens Labor erreiche.«

»Tun Sie das. Die FERNAO fliegt gerade durch ein Raumgebiet, in dem sich aus dem üblichen Kreellschnee so etwas wie ein Sturm ausbildet – der sich nun offenbar sogar im Innern des Schiffs manifestiert. Draußen tobt ein Blizzard aus Kreell. Willkommen in Alaska.«

»Alaska?«, fragte Rhodan irritiert.

Rainbow lachte. »Unser Leitender Ingenieur hat es den Chilkoot-Trail genannt. Die Route der alten Goldgräber in Alaska.«

»Wie passend.« Rhodan schlug den Kragen der Bordmontur nach oben. Seine Haut schmerzte mittlerweile wie bei einem Sonnenbrand.

Er wusste, dass sein Zellaktivator mit solchen Kleinigkeiten fertigwerden würde, aber die Empfindung blieb. Er hastete durch den Schnee, der keiner war. Dabei kniff er die Augen so fest wie möglich zusammen. Was diese interdimensionalen Flocken mit seinen Augen anstellen würden, stellte er sich lieber nicht vor. Er kämpfte sich weiter. Die weiße Auskleidung des Gangs vor ihm verstärkte die Illusion von Winter.

Rhodan berührte den Kontakt eines Schotts. Die Zeit, bis es sich öffnete, kam ihm ungewöhnlich lang vor. Die Haut seiner Hände war kräftig gerötet. Einige stecknadelkopfgroße Punkte waren tiefrot.

Die Schottflügel schoben sich zur Seite und sofort wurde Rhodan von einer Kreellschneewolke eingehüllt. Der Pseudoschnee wirbelte ihm entgegen. Es war ihm nicht möglich, das Gesicht völlig zu schützen, obwohl er die Arme hob. Er zog die Jacke der Bordmontur über den Kopf. Das Brennen verstärkte sich und wurde zum ausgewachsenen Schmerz. Ihm war klar, dass er den kurzen Gang durchqueren musste, um den Labortrakt zu erreichen. In Eric Leydens Labor war eine Abschirmung eventuell möglich – im Korridor nicht! Gebeugt eilte er durch den wirbelnden, funkelnden Kreellschnee. Er spürte Widerstand, als blase ein kräftiger Wind.

Wenn Rufus Darnell wüsste, wie passend der Name Chilkoot-Trail ist ..., dachte er.

Schneeteilchen bildeten einen weißlich-transparenten Flaum auf seiner Montur. Besorgt registrierte er, dass sich das Kreell durch das Gewebe zu fressen begann. Er musste sich beeilen. Wie gefährlich ein großflächiger Kontakt mit dieser exotischen Materie sein würde, war ihm bewusst. Die Rötungen auf seiner Haut lieferten ihm einen unübersehbaren Beweis.

Schwer atmend schob sich Rhodan auf das nächste Sperrschott zu. Die Flocken erschienen wie aus dem Nichts.

Sie werden tatsächlich größer ... Warum hält der Libraschirm das verdammte Zeug nicht ab?, dachte er. Ringsum bildeten sich Schneeverwehungen, die keine waren. Links vom Schott türmte sich etwas wie ein Hügel auf, weiß glitzernd.

Rhodans Wahrnehmung war irritiert. Die optischen Eindrücke sagten eindeutig: Kälte. Dem widersprach die gemessene Temperatur. Rhodan registrierte, dass sie zwar sank, aber weit vom Gefrierpunkt entfernt war. Das Brennen auf seinen Handrücken wiederum kannte er aus seiner Erinnerung heraus. So fühlte es sich tatsächlich an, wenn eiskalter Schnee bei kräftigem Wind die Haut berührte. Kreellflocken trafen seine Lippen. Rhodan spuckte aus. Instinktiv erwartete er Feuchtigkeit durch schmelzende Flocken, aber es fühlte sich eher an, als schlucke er extrascharfe Chiliflocken.

Er presste die Hand auf die Kontaktfläche. Auch diesmal dauerte es lange, bis sich die Schottflügel bewegten. Direkt neben ihm wuchs ein Eiszapfen: langsam, wie in Zeitlupe, aber deutlich schneller, als Rhodan das aus der Natur kannte.

»Man könnte glauben, ich hätte eine dieser bizarren Spaßdrogen von Aralon eingeworfen!«, murmelte er.

Das Schneetreiben im folgenden Ringkorridorsegment war deutlich stärker. Zum Glück lag Leydens Labor nur noch knappe zwanzig Meter entfernt. Den Boden bedeckte allerdings eine Schicht, die aussah wie Raueis. Rhodan versuchte, sich an der Gangwand entlangzutasten. Seine Füße wirbelten Kreellschnee auf. Was mit seinen Stiefeln geschehen mochte, wenn er damit auf eine der Eisflächen trat, wollte er nicht herausfinden.

Ein, zwei rote Flecken auf dem weiß bepuderten Boden irritierten ihn.

Blut?

Er hob die Hände. Sie waren mit winzigen Blutstropfen bedeckt, die aus mikroskopisch kleinen Verletzungen austraten.

»Kommandant?«, rief er und hoffte, die Verbindung würde stabil sein. Er hörte Rainbow antworten, aber er verstand so gut wie nichts. »Berechnen Sie, ob und wie sich das Phänomen ausbreitet. Evakuieren Sie alle Bereiche, die davon erfasst werden könnten!«

Die Antwort bestand aus wildem Knacken und Pfeifen. Rhodan hoffte, dass seine Warnung angekommen war. Andererseits war Cel Rainbow ein erfahrener Kommandant und wusste, was zu tun war. Er spürte ein warmes Gefühl auf seinem Rücken.

Es frisst sich durch die Montur, dachte Perry Rhodan alarmiert. Ich muss raus aus diesem verdammten Nicht-Schneesturm!

2.

Cel Rainbow

Chilkoot-Trail

 

Der Kommandant der FERNAO starrte auf die Bilder der Außenbeobachtung.

Wirbelnde Ströme tobten rings um das Raumschiff. Für den Lakota wirkte das alles wie ein winterlicher Schneesturm, den er als Kind einmal in den Rockies erlebt hatte. Die Gewalt von Wind und Schnee hatte sich in sein Gedächtnis eingegraben – ebenso wie die Erkenntnis, dass man gegen Naturgewalten nichts ausrichten konnte.

»Ist es das?«, fragte er laut in Richtung der Ortungsstation.

»Exakt. Ein Kreellsturm!«, lautete die Antwort. Freder Karminski runzelte die Stirn. »Wir haben das Gebiet des Modarksystems erreicht, in dem Modul steht.«

»Als ob ich das nicht wüsste!«, sagte Rainbow. Ruckartig erhob er sich aus dem Kommandosessel. »Ist das schuld daran, dass ich dieses Zeug auf einmal in meinem Schiff habe?«

Rufus Darnell stand mitten in einer Holowolke. Er ließ die Schiffspositronik gerade etliche seiner Strömungsmodelle durchrechnen und aktualisierte sie fortlaufend. »Ich habe davor gewarnt. Das normale Kreellgestöber hat sich hier potenziert.«

Limber Baldivieso kontrollierte die Anzeigen des Libraschirms. Obwohl die Systeme bisher keine Überlastung meldeten, war der Ersten Offizierin zweifellos bewusst, dass es in dieser Situation lediglich eine Frage der Zeit war.

Rainbow registrierte einige kleine Schweißperlen auf der Stirn der Siebenundzwanzigjährigen, darüber klebten zwei glänzende Kreellflocken in ihrem dunklen, stoppelkurzen Haar. Nur ein kompletter Idiot kennt keine Angst. Baldivieso ist gewiss keine Idiotin. Er hielt viel von ihr und war bisher nie enttäuscht worden.

Rainbow kniff die Augen zusammen und musterte die Darstellung des tobenden Chaos, in das die FERNAO mit voller Fahrt hineinraste. »Ich habe Ihre Warnung an den Protektor durchgegeben, wie Sie vielleicht bemerkt haben. Dass es derart schlimm werden würde, war mir nicht klar.«

»Das war sicher niemandem klar«, sagte Darnell. »Kein Mensch hat so etwas je zuvor erlebt.«

»Wir werden langsamer!«, stellte Rainbow trocken fest. »Warum das?«

»Die aufsummierte Masse des treibenden Kreells ist enorm«, antwortete Darnell. »Es ist, als würden wir durch eine Dunkelwolke fliegen. Die durchschnittliche Teilchendichte ist in der letzten Minute enorm angestiegen. Der Widerstand, den die FERNAO überwinden muss, steigt. Ich wette, die Reaktorleistung der Triebwerke fährt stetig nach oben.«

Rainbow setzte sich wieder und kontrollierte seine Anzeigen. »Das können Sie laut sagen, Darnell. Wir müssen unbedingt raus aus diesem verdammten Mahlstrom!«

Darnell biss sich auf die Unterlippe. Die Informationen, die ihm zur Verfügung standen, waren allesamt älteren Datums. Sie stammten größtenteils von Icho Tolot, dessen letzter Besuch auf Modul lange zurücklag. Darnells Spezialität waren Strömungsmodelle, aber ohne ausreichende Datengrundlage glich seine Arbeit dem Stochern im Nebel, das war dem Kommandanten klar.

Karminski schob Darnell ein neues Paket mit aktuellen Messwerten zu. Die Strömungslage des Kreellgestöbers veränderte sich deutlich. Ein Blick auf die Bilder der Außenbeobachtung verriet Rainbow, dass die Kreellteilchen mit enormer Wucht in den Schirm der FERNAO schlugen. »Sie haben vorhin eine Passage erwähnt, Mister Darnell«, sagte er. »Sie haben sie den Chilkoot-Pass genannt. Ich will nicht drängeln, aber es sieht aus, als würde dieser Sturm der FERNAO früher oder später den Garaus machen.«

»Die Berechnung läuft«, versicherte Darnell. »Wir können nicht weit davon entfernt sein. Die Passage war bei unserem Anflug erkennbar. Sie hat sich offenbar verlagert – das ist bei einem derart hochkomplexen und volatilen System nicht verwunderlich.«

»Beeilen Sie sich!«, sagte Rainbow fordernd. »Und vielleicht erklärt mir endlich jemand, wie dieses Kreellgestöber einen Schneesturm in meinem Schiff auslösen kann? Und warum er nicht überall auftaucht, sondern nur in Sektion Drei?« Er wischte wütend in die Luft. »Sehen Sie sich das an, Mister Darnell.«

Der Leitende Ingenieur der FERNAO starrte ungläubig auf einige der eigenartigen, flockenartigen Erscheinungen, die durch die Luft der Zentrale segelten. »Ich ...«, setzte er an, um sofort abzubrechen.

»Ja«, kommentierte Rainbow ironisch. »So weit war ich auch schon! Rhodan steckt nicht weit von hier in einem wahren Schneesturm, und wir wissen nicht, was da vorgeht.«

»Das sollten Sie bei Gelegenheit Doktor Leyden fragen«, murmelte Darnell. Er konzentrierte sich augenscheinlich auf die Kompensation der Strömungsabweichungen. »Ich bin sicher, unser Genie kennt die Antwort bereits. Immerhin hat er auch an Bord der FERNAO seine eigenen Labors. Er hat lediglich vergessen, uns arme Sterbliche zu informieren!«

Rainbow lächelte schmallippig. »Der Protektor ist bereits auf dem Weg zu Doktor Leydens Labortrakt. Wenn er ihn unversehrt erreicht, kann er ihn fragen. Ich gebe ihm Ihre Empfehlung weiter, Mister Darnell.«

Ein grünes Signal ließ Darnell aufatmen. Rainbow spürte die Erleichterung seines Ingenieurs geradezu körperlich.

»Ich hab's!«, rief Darnell und schob der Pilotin hektisch eine berechnete Trajektorie zu.

Zohra Rahimi tat, was sie konnte. Ihre Finger flogen durch die Steuerungsholos, wie bei einer Weltklassepianistin.

Die Triebwerke traten in Aktion und schoben die FERNAO aus dem bisherigen Kurs auf eine neue Bahn. Ein rotes Blinken zeigte Cel Rainbow, dass die Belastung des Schutzschirms und des Raumschiffs einen gefährlichen Wert erreicht hatte. Das leichte Rütteln der Schiffszelle war ein weiteres deutliches Zeichen. Die Positronik leitete sämtliche Energie, die nicht anderweitig gebraucht wurde, in die Stabilisierung des Libraschirms. Dass einige Vibrationen durchkamen, war dieser Umleitung geschuldet. Solange keine Gefahr für Leib und Leben bestand, musste die Besatzung mit dieser Belastung leben.

»Was ist jetzt?«, fragte Rainbow.

»Geduld«, sagte Zohra Rahimi. »Die von Darnell prognostizierte Passage ist ein gutes Stück entfernt, und wir haben durch den Bremseffekt des Kreellgestöbers Fahrt verloren.«

»Turbulenzen!«, schrie Freder Karminski, obwohl alle Offiziere die nötigen Informationen selbst in Echtzeit auf ihren Anzeigen hatten.

Rainbow verspürte einen leichten Schlag. Die FERNAO hatte einen Bereich der Strömung gestreift, in dem das Kreellgestöber etwa doppelt so stark war. Baldivieso wurde ihn ihren Sitz gedrückt, in dem sie sich vor einigen Sekunden niedergelassen hatte.

»Da müssen wir durch«, murmelte Rufus Darnell. »Dann wird's ruhiger werden.«

»Kann ich mich darauf verlassen?«, wollte Rainbow wissen. »Oder müssen wir uns auf weitere Überraschungen gefasst machen?«

Übergangslos war die Luft erfüllt mit glitzernden Pseudoflocken. Ein nicht fühlbarer Wind trieb sie gegen die Flugrichtung der FERNAO. Limber Baldivieso schrie auf.

Rainbow fühlte brennende Kälte auf seiner Wange und wischte die Flocken weg. »Das verdammte Zeug ist gefährlich«, sagte er laut, aber ruhig. »Mister Darnell. Das bedeutet, dass der Protektor in Gefahr ist. Das ist mehr als eine Unannehmlichkeit. Ich habe große Teile der Sektion Drei bereits abgeriegelt. Sagen Sie mir, dass wir bald durch sind.«

»Sind wir ... müssten wir sein!«, äußerte Rufus Darnell fieberhaft.

Cel Rainbow sah auf und registrierte, dass das Kreelltreiben im Innern der Zentrale aufgehört hatte. Das war ein gutes Zeichen. »Mister Darnell, ich will etwas hören! Vorzugsweise etwas Positives!«, verlangte er. »Wenn das so weitergeht, ist die FERNAO Schrott, bevor wir die Passage erreicht haben.«

3.

Perry Rhodan

Niederschläge

 

Perry Rhodan erreichte den Zugang zu Eric Leydens Labortrakt. Er sah aus den Augenwinkeln eine Schneewelle auf sich zukommen und hechtete förmlich ins Innere, während das Schott sich öffnete. Sein Rücken brannte mittlerweile. Gesicht und Hände fühlten sich an, als seien sie wund gescheuert. Rhodan blieb liegen. Er hörte, wie sich der Zugang schloss. Dann spürte er, wie ihn jemand berührte, und er schrie auf. Jemand hängte etwas an seine Montur.

»Mister Rhodan, um Himmels willen!« Die Stimme war die von Eric Leyden. »Sind Sie in einen Schredder geraten?« Ein leises Summen klang auf. Ein kaum sichtbares Flackern verriet, dass sich ein Schutzschirm aufbaute.

Rhodan stemmte sich auf alle viere. »Kreellschnee!«, sagte er undeutlich. Der Zellaktivator pochte. Offenbar waren die Verletzungen stärker, als er befürchtet hatte, neben den Schmerzen fühlte er sich erschöpft. Das war ungewöhnlich. Der Zellaktivator kompensierte dies üblicherweise. Das Brennen wurde schwächer, verschwand aber nicht. Die Folgen des Kontakts mit dem Kreellschnee erwiesen sich als hartnäckig, trotz der heilenden Impulse.

»Ja«, erwiderte der norwegische Hyperphysiker, dessen Frisur wie immer einem zerrupften Vogelnest glich. »Ich habe das Labor abzuschirmen versucht, aber das gelang mir nicht ausreichend. Individuelle Schirmblasen halten das Phänomen sehr viel besser ab. Das ist eine Frage der räumlichen Ausdehnung. Aber warten Sie, hier ist jemand, der Ihnen helfen kann.«

Rhodan setzte sich auf. In einiger Entfernung saß John Marshall. Der elegante, dunkelhaarige Mann hatte sich verändert, war stark abgemagert. Sein rätselhafter Substanzverlust schien, wie Chefarzt Julian Tifflor vermutete, mit der Parafähigkeit Marshalls zusammenzuhängen. Dennoch wirkte er erholt und deutlich gesünder als noch vor Kurzem.

Sud kam auf Rhodan zu. Das Mentamalgam aus Sue Mirafiore und Sid González war wie er selbst, Marshall und Leyden in eine Schirmblase gehüllt. Rhodan tat sich schwer damit, in Sud nicht Sue Mirafiore zu sehen, denn es war ihr Körper: zierlich, die dunkelbraunen Haare halblang und graue Augen. Die Psyche allerdings hatte sich verändert. Die junge Mutantin war definitiv nicht mehr dieselbe.

»Perry! Halt still!« Die Stimme war die von Sue, aber die Betonung irritierte ihn nach wie vor. Sud hatte eine komplett andere Sprechmelodie als die Mutantin vor ihrer Transformation. Sud nahm eine Schaltung an dem kleinen Projektor vor, und die beiden Schirmblasen verbanden sich.

Das ist kein richtiger Schutzschirm, registrierte Rhodan. Eher ein etwas stärkeres Prallfeld.

Rhodan bemühte sich, zuckte aber zusammen, als Sud ihn berührte. Ihre Hände wurden semitransparent und schoben sich durch die arg mitgenommene Montur in seine Haut hinein, ohne dass er das spürte. Funken flogen. Sud setzte ihre oder seine? Paragabe ein, um die Schäden zu heilen. Rhodan war jedes Mal aufs Neue fasziniert von der Fähigkeit des Mentamalgams. Die Schmerzen verschwanden. Die Haut seiner Hände schuppte sich wie nach einem Sonnenbrand.

Marshall war aufgestanden und beobachtete Sud. Nach wie vor war der Mutant wacklig auf den Beinen, aber er wirkte nicht mehr wie ein sterbender Schwindsüchtiger.

»Ich dachte, du brauchst die Unterstützung durch herkömmliche Medizintechnik?«, wunderte sich Rhodan. Suds Heilkraft war spezifischer geworden, dafür aber etwas schwächer.

Das Mentamalgam lächelte auf die Art, wie Sid González es früher getan hatte. In Sue Mirafiores Gesicht wirkte es ein wenig deplatziert. »Du trägst einen Zellaktivator, Perry. Das ist mehr, als jede Medizintechnik leisten könnte. Du bist ein unkomplizierter Patient, was das angeht.«

Marshall grinste müde. »Das bezieht sich auf mich. Glaub mir, ich wäre gern ein weniger großes Problem.«

»Du kannst aufstehen«, sagte Sud zu Rhodan. »Da wird nichts zurückbleiben.«

Leyden mischte sich ein. »Letztlich sind diese absurden Flocken nur verkettete Moleküle. Die Masse ist zu vernachlässigen. Deshalb sind die Folgen nur oberflächlich, zumindest nehme ich das an.«

Rhodan zupfte an dem, was von seiner Montur übrig war. Zahllose winzige Löcher verwandelten sie in etwas, was eher ein Flickenteppich war als festes Gewebe. An einigen Stellen, an denen das Kreell größere Flächen gebildet hatte, war es fadenscheinig und dünn. »Ich sehe aus wie nach einer langen Expedition in der Wildnis.«

»Wie ein Penner!« Das war Sid in Reinform. Sofort nach der Bemerkung änderte sich der Gesichtsausdruck, und Bestürzung machte sich auf Suds Gesicht breit. »Tut mir leid, Perry!«

Der winkte ab. »Schon gut. Wenn ich eine flapsige Bemerkung nicht mehr aushalte, gehe ich in Rente.« Er wandte sich an Leyden. »Könnten Sie mir bitte erklären, warum dieses Zeug im Innern der FERNAO auftaucht? Wir haben einen Libraschirm. Die Belastungswerte sind hoch, also tut er, was er tun soll.« Rhodan spürte, dass sein Einsatzschiff bockte und sich schüttelte. Das war ein Zeichen für die enorme Belastung des Schutzschirms. »Haben Sie eine Erklärung dafür?«

Leyden holte tief Luft. Dann aktivierte er eine sehr komplexe, dreidimensionale Bildwiedergabe. Sie zeigte etwas, was Rhodan an die grafische Darstellung der Windverhältnisse auf einer Wetterkarte erinnerte.

»Was ist das?«, wollte er wissen.

»Weltraumwetter!«, antwortete der Hyperphysiker. »Die Wetterprognose direkt von Freder Karminski. Das Phänomen Kreellschnee kennen wir, seit wir uns durch die Ödnis bewegen. Genau genommen, waren die Unfälle, denen die Gaids zum Opfer fielen, nichts anderes. Die exotische Materie, die aus dem Creaversum zu uns herüberdriftet, taucht überall auf, aber durchaus nicht gleichmäßig, wie Sie sehen! Das sind Ströme und Wirbel – die Dichte variiert ziemlich kräftig. Wir nähern uns Modul. Dort ist die Durchlässigkeit der interdimensionalen Membran extrem groß. Das bekommen wir mit. Sehen Sie sich das an.«

Rhodan erkannte, dass die Ströme eine gewaltige Kugelschale bildeten.

»Da drin liegt das Modarksystem.« Leyden projizierte einige astrometrische Datenangaben hinzu. »Die Sonnen und Planeten haben diese wirbelnde Wolke mit ihrer Gravitation geschaffen, und wir sind wohl gerade in eine solche Bö hineingeflogen. Deshalb kam es zu diesem Phänomen. Ich fürchte, das wird immer wieder geschehen, wenn wir uns Modul weiter nähern.«

»Als ob wir eine Wahl hätten«, murmelte Rhodan. »Aber ich weiß nach wie vor nicht, wie dieses Kreell ins Schiff gelangt ist. Verraten Sie mir das heute noch, oder soll ich morgen wiederkommen?«

Marshall grinste.

Leyden riss sich zusammen und wandte Rhodan seine ganze Aufmerksamkeit zu. »Wie? Oh, nein. Aber Sie gehen von einer falschen Annahme aus. Nämlich dass der Kreellschnee sich nur draußen, außerhalb der FERNAO und des Libraschirms, spontanmanifestiert und dann vom Schirm abgewehrt werden kann. Das ist so nicht richtig. Der Schnee, den wir an Bord erlebt haben, ist vielmehr innerhalb des Schirms materialisiert. Der Libraschirm stanzt uns nicht aus dem Raum-Zeit-Kontinuum aus. Er leitet lediglich von außen auftreffende Objekte und Energien in den Halbraum ab. Das Innere des Schiffs bleibt jedoch unverändert Teil des Normaluniversums. Das vom Libraschirm umschlossene Volumen mit der FERNAO im Zentrum bietet genügend Raum, dass der Kreellschnee sich auch dort bilden kann. Es ist also keine Frage, ob der Schirm funktioniert. Das tut er. Aber eben nur, wenn er auf Teilchen trifft, die sich extern manifestiert haben. Die Kreellpartikel indessen, die im Innern des Schiffs auftauchen, gehören zum Binnenraum der Libraschirmblase. Der Schnee taucht zudem relativ ortsfest auf, und weil die FERNAO sich bewegt, kommt es zu diesen ... Quasi-Schneestürmen.«

Er unterbrach sich kurz. »Es gab auf der Erde mal die Absicht, ein Bauwerk zu errichten, das über eine enorm große Kuppel verfügen sollte, so hoch, dass sich im Innern Wolken gebildet hätten. Absolut größenwahnsinnig natürlich, um nicht zu sagen irre. Wie vieles damals. Aber der Punkt ist: Logischerweise hätte es darin bei genügend ausgeprägter Feuchtigkeit regnen können ... oder schneien, um beim Thema zu bleiben. Der Vergleich hinkt vielleicht, aber ein derart bizarres Phänomen wie der Kreellschnee ist für uns alle neu. Was ich gerade sage, ist daher in weiten Teilen Spekulation.«

Leyden drehte sich von Rhodan weg und aktivierte mit einem kurzen Wink eine interne Komverbindung. Cel Rainbows schmales Gesicht erschien. »Der Protektor ist in meinem Labor und in Sicherheit«, teilte Leyden ihm mit. »Ich entnehme den internen Messprotokollen außerdem, dass die Schneeschauer beginnen, sich abzuschwächen. Trotzdem sollten Sie vorsichtig sein, wenn Sie die gesperrten Sektoren freigeben. Diese Materie ist gefährlich. Fragen Sie Mister Rhodan. Ich spreche von Erfrierungen und Schlimmerem.«

Rainbow kontrollierte mit einem Seitenblick einige Anzeigen. »Doktor Leyden, Ihre Einschätzung ist richtig. Wir haben keine neuen Alarmmeldungen mehr. Ich initiiere die nächste Beschleunigungsphase, sobald Icho Tolot sein Okay gibt.«

Rhodan reckte sich. »Tun Sie das. Ich komme in die Zentrale.«

»Ich begleite Sie«, sagte Leyden.

Marshall nickte Rhodan kurz zu und verließ mit Sud das Labor.

»Warum waren die beiden eigentlich bei Ihnen?«, erkundigte sich Rhodan. Die Mutanten suchten den Labortrakt im Allgemeinen nur auf, wenn sie Teil einer Untersuchung waren.