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Titelseite

Inhalt

Kapitel 1 – Noch fünf Kilometer …

Kapitel 2 – Den ersten wachen …

Kapitel 3 – Ein mehrflügeliges Gebäude, …

Kapitel 4 – Die Nacht begann …

Kapitel 5 – Ergotherapie. Das hieß, …

Kapitel 6 – Die Logopädie bei …

Kapitel 7 – In dieser Nacht …

Kapitel 8 – Das Abendessen bestand …

Kapitel 9 – Obwohl er mittlerweile …

Kapitel 10 – Kalter Boden unter …

Kapitel 11 – »Da ist er! …

Kapitel 12 – Er lag den …

Kapitel 13 – Es war draußen …

Kapitel 14 – Statt in sein …

Kapitel 15 – In der Nacht …

Kapitel 16 – Jakob beruhigte sich …

Kapitel 17 – Es dauerte lange, …

Kapitel 18 – Bei jedem Bissen …

Kapitel 19 – Es war ein …

Kapitel 20 – Zehn Minuten später …

Kapitel 21 – Dummerweise lagen die …

Kapitel 22 – Zum Abendessen war …

Kapitel 23 – Die nächste Stunde …

Kapitel 24 – Dazu mussten sie …

Kapitel 25 – NBI. Das Kürzel …

Kapitel 26 – Es dauerte noch …

Kapitel 27 – Timos erster Impuls …

Kapitel 28 – Auf dem Gang …

Kapitel 29 – Timo kam zu …

Kapitel 30 – Es war keiner …

Kapitel 31 – Ein Rollstuhl! Hektisch …

Kapitel 32 – Sowohl Sami als …

Kapitel 33 – Doch mit Valerie …

Kapitel 34 – Dann warteten sie. …

Kapitel 35 – »Hey.« Jemand tätschelte …

Nachwort

Bisher von Ursula Poznanski im Jugendbuchprogramm des Loewe Verlags erschienen

Über die Autorin

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Impressum

1

Noch fünf Kilometer bis zu Hannahs Haus, und der Regen ließ einfach nicht nach. Mit einer hastigen Bewegung wischte Timo die Tropfen vom Visier seines Helms und lenkte den Motorscooter um die nächste Ecke. Gleich würde er auf der Bundesstraße sein, und dort ging es erfahrungsgemäß schneller voran.

Trotzdem war er schon jetzt zu spät dran, und Hannah würde das nicht witzig finden. In den meisten Dingen war sie echt unkompliziert, aber Unpünktlichkeit hasste sie. Und wenn sie sauer war, würde sie sich über den Inhalt des Päckchens, das er ihr mitbrachte, vielleicht gar nicht freuen. War ohnehin zu befürchten, dass Schachtel und Geschenkpapier in dem durchnässten Rucksack auf dem Gepäckträger mittlerweile völlig aufgeweicht waren.

Es war ein tolles Geschenk, fand er, für diese noch tolleren sechs Monate, die sie jetzt zusammen waren. Er war so gespannt auf den Ausdruck in ihrem Gesicht, wenn er es ihr überreichen würde. Auf ihren Blick. Auf ihr Lächeln. Er hatte sich so verdammt viel Mühe gegeben.

Der Regen legte noch einmal an Heftigkeit zu, er prasselte auf die Straße, der Fahrtwind schlug ihm ins Gesicht, seine Jacke war bereits schwer vor Nässe. Mit dem Bus zu fahren wäre doch die bessere Wahl gewesen. Aber der ging eben nur alle heiligen Zeiten, und der Motorroller machte so viel mehr Spaß.

War ja auch nicht mehr weit.

Hinter sich hörte Timo ein Auto herankommen, beschleunigen, im nächsten Moment überholte es ihn. Wasser spritzte in einer hohen Fontäne unter den Reifen hervor. Timo würde eine Dusche brauchen und trockene Sachen, da ging kein Weg dran vorbei. So hatte er sich das nicht vorgestellt.

Und jetzt auch noch das. Ein Traktor mit Anhänger, der im Schneckentempo vor ihm herkroch. Wieder wischte Timo sich das Wasser vom Visier. Schwenkte vorsichtig nach links, um zu sehen, ob die Straße frei war.

Ja. War sie. Keine entgegenkommenden Lichter, und die nächste Kurve war noch weit entfernt.

Er atmete tief durch und gab Gas, zog hinüber auf die Gegenfahrbahn, holte alles aus dem Scooter heraus. Na also, das ging doch. Gleich würde er an dem Traktor vorbei sein, dann lag die Straße frei vor ihm.

Exakt in dem Moment, als Timo auf die rechte Spur zurückwechseln wollte, rutschte das Hinterrad des Motorrollers weg. Timo fühlte, wie er auf den Traktor zufiel, reflexartig verlagerte er sein Gewicht, kämpfte gegen den Sturz an und richtete den Scooter schließlich auf – Wahnsinn, war das knapp gewesen!

Der Rucksack war nicht vom Gepäckträger gefallen, zum Glück, wie Timo sich mit einem schnellen Griff nach hinten versicherte. Vorsichtig zog er nun endlich an dem Traktor vorbei, immer noch mit wild rasendem Puls – und sah plötzlich ein Hindernis vor sich, einen Wagen, grau wie der Regen und entsetzlich nah.

Das Auto war in die Kreuzung eingefahren, obwohl es keine Vorfahrt hatte, nun bremste es; Timo bremste auch, schlitterte, sah die Scheinwerfer, deren Licht sich auf der nassen Straße spiegelte, begriff, dass er den Zusammenstoß nicht mehr verhindern konnte. Er richtete sich auf seinem Sitz auf, vielleicht konnte er über die Motorhaube des Wagens hechten, vielleicht …

Sekundenbruchteile vor dem Aufprall verlangsamte sich die Zeit. Der Knall kam wie aus weiter Ferne, der gewaltige Ruck, der Timo aus dem Sattel hob und ihn über das fremde Auto katapultierte, tat nicht weh.

Er flog. Schwebte. Dachte mit Bedauern an die Schachtel in seinem Rucksack. Das Geschenk für Hannah. Das war sicher kaputtgegangen.

Dann kam der Schlag, die Schwärze, das Nichts.

Das Nichts blieb, durchzuckt von gelegentlichen Blitzen, die die Dunkelheit zerrissen und unmittelbar darauf wieder vergessen waren.

Kein Schmerz, keine Gefühle, keine Gedanken, kein Vergehen der Zeit. Aber irgendwann ein Geräusch. Hohes, gleichmäßiges Piepen. Es kam und verschwand wieder. Ein weiteres Auftauchen aus dem Nichts: Stimmen. Eine Berührung. Dann friedliches Zurückfallen in die Leere.

Das nächste Mal, als Timo in Kontakt mit der Welt trat, war es wieder einer Stimme wegen. Sie wirkte vertraut, aber obwohl er es versuchte, verstand er nicht, was sie sagte. Die Worte waren nur Geräusche, ohne Bedeutung. Immerhin waren es wohltuende Geräusche, unter deren Eindruck er langsam wieder wegdriftete.

Irgendwann dann eine Berührung, die ihn tatsächlich erreichte. Ein kräftiges Zupacken, an seinem … Arm?

Sein Bewusstsein schwebte unschlüssig zwischen Wachen und Vergessen, bis es sich an etwas festhakte. Einer Stimme, die er nicht verlieren wollte, die bleiben musste. Er versuchte, die Augen zu öffnen. Vergebens. Er versuchte, sich zu bewegen, wenigstens ein bisschen – ebenfalls ohne Erfolg.

Er wehrte sich gegen das Nichts, das ihn wieder einzuhüllen drohte, doch er war zu schwach.

Das nächste Mal, als er so etwas wie Bewusstsein erlangte, war es klarer. Er konnte eine feste Matratze im Rücken spüren und hörte wieder das Piepsen, außerdem Schritte und Stimmen. Was sie sagten, verstand er immer noch nicht.

Und – das war neu, aber alles andere als schön – er fühlte Schmerz. In den Beinen, an der Hüfte, im Kopf. Vor allem im Kopf. Dieser Schmerz schien wie in Watte gepackt zu sein. Zum Glück. Andernfalls wäre er unerträglich gewesen.

Erstmals versuchte er jetzt, sich zu orientieren. Wo war er? Wer war er? Was passierte hier?

Er schaffte es noch immer nicht, die Augen zu öffnen, aber er sah Licht durch seine Lider dringen. Außerdem gelang es ihm, seine rechte Hand zu bewegen. Glaubte er, ganz sicher sein konnte er nicht.

Jeder dieser Versuche war unendlich anstrengend. Er gab auf und schlief sofort wieder ein.

Beim nächsten Erwachen hatte er zum ersten Mal das Gefühl, dass Zeit vergangen war. Dass er geschlafen hatte und nicht einfach nur ausgeknipst gewesen war. Er bewegte seine Finger, ja, keine Frage, er bewegte sie, und nun schlug er auch die Augen auf.

Eine helle Fläche über ihm, Geräte, Lichtquellen. Er kannte diese Dinge, er hatte sie alle schon einmal gesehen, aber ihm fielen die Worte dafür nicht ein. Ihm fielen überhaupt keine Worte ein, nicht einmal sein Name. Etwas sirrte hinter seinen Schläfen.

Dann war jemand neben ihm, leuchtete ihm in die Augen, verzog das Gesicht, sagte etwas. Wieder Worte ohne Bedeutung.

Das Licht schmerzte im Kopf. Er schloss die Augen.

Timo.

Der Laut wiederholte sich, in unterschiedlichen Stimmfarben. Er war vertraut, oft gehört. Allmählich wurde auch klar, was damit gemeint war, oder wer, genauer gesagt.

Timo, das war er selbst. Das, was in diesem Körper steckte, der sich nicht bewegen ließ. Oder doch?

Langsam hob er die Lider, das Licht brannte in seinen Augen. Und da war noch etwas. Jemand.

Als hätte die Erinnerung an seinen Namen in Timos Kopf einen Schalter umgelegt, formten sich plötzlich Worte für das, was er sah.

Mann. Brille. Mantel. Grün.

Arzt.

»Timo«, sagte der Mann, und dann noch ein paar Dinge. Zu viel, zu schnell.

Der Mann ging, an seiner Stelle kam eine … eine Frau, die lächelte und Timos Hand nahm. Sie drückte sie, er drückte zurück. Glaubte er.

Dann ein Riss in der Wahrnehmung, ein Riss in der Zeit. Als er das nächste Mal nach oben blickte, war es Mama, die seine Hand hielt. Sie beugte sich zu ihm hinunter, küsste ihn, etwas Nasses tropfte auf sein Gesicht.

Dann Papa. Sagte etwas, aber die Worte waren wieder aus Timos Welt verschwunden. Er fühlte, wie sein Bewusstsein wegdriftete.

Untertauchen. Auftauchen. Jemand bewegte seine Beine, erst das rechte, dann das linke. Etwas stach in seinen Handrücken.

Wieder Mama. »So froh«, sagte sie. Er drückte ihre Hand, diesmal war er sicher, dass er das tat.

Die Zeit verhielt sich nach wie vor merkwürdig. Sie floss nicht, sondern sprang, ließ ihn in Phasen der Dunkelheit stürzen, ohne dass er abschätzen konnte, ob sie Sekunden oder Tage dauerten. Spuckte ihn dann wieder ans Licht, wo er versuchte, sein Bewusstsein an irgendetwas festzuhaken. Den Schläuchen, die in seinem Körper steckten. Dem Piepsen der Maschinen, sogar dem dumpfen Schmerz in seinem Kopf.

Aber es gelang ihm nicht auf Dauer, nach einiger Zeit war es jedes Mal so, als würde er zurückgesogen in ein schwarzes Loch, in dem nichts existierte, nicht einmal er selbst.

2

Den ersten wachen Augenblick, an den Timo sich später wirklich erinnern sollte, durchlebte er an dem Abend, als es Kürbisbrei mit Kartoffeln gab. Man hatte das Kopfteil von Timos Bett aufgerichtet. Ein junger Pfleger saß mit dem gefüllten Teller neben ihm und versuchte, ihn zu füttern.

Es klappte. Timo kaute, schluckte und hörte, wie der Pfleger ihn für jeden Bissen lobte. »Guter Junge. Toll machst du das. Ganz toll!«

Als würde er mit einem Hund reden, aber das störte Timo nicht, denn er verstand jedes Wort. Sein Blick klebte förmlich an dem Pfleger, und er wünschte sich, dass die Bewusstlosigkeit ihn nicht gleich wieder einfangen würde.

»Noch ein Löffel. Sehr gut. Und noch einer.«

Timo aß und lauschte. Mit jedem Wort gewann die Welt ein Stück ihrer Bedeutung zurück.

Ein paar Tage später konnte er bereits Gesprächen folgen, die neben seinem Bett geführt wurden. Seine Eltern waren hier, und einer der Ärzte, ein gewisser Dr. Schmiedeberg, erklärte ihnen, Timo würde morgen auf die Normalstation verlegt werden. »Er macht unglaublich rasante Fortschritte. Wenn man sich überlegt, dass wir vor drei Wochen nicht damit rechnen durften, dass er überhaupt wieder aufwacht … es hat nicht gut ausgesehen, das wissen Sie ja.«

Vor drei Wochen. So lange lag er also schon hier.

»Wie wird es jetzt weitergehen?«, hörte er seine Mutter sagen. »Wird er … also, wird er wieder gesund? Ganz gesund?«

»Ich will Ihnen keine Versprechungen machen.« Timo blieb kurz an dem Wort Versprechungen hängen. Was war das? Ach ja.

»Aber wenn Ihr Sohn sich weiter so gut erholt, hat er reelle Chancen, später ein normales Leben führen zu können.«

Was sollte das denn heißen? Natürlich würde er ein normales Leben führen, was für eines denn sonst? Timo öffnete den Mund, wollte dem Arzt erklären, wie er das sah, doch die Worte ließen ihn immer noch im Stich, gewissermaßen. Er verstand sie zwar jetzt, doch er wusste nicht mehr, wie man sie produzierte.

Das Gespräch war ohnehin längst weitergegangen.

»… zur Rehabilitation in eine spezielle Einrichtung überweisen«, sagte der Arzt gerade. »Dort ist man auf Fälle wie den von Timo spezialisiert, die Kollegen erzielen hervorragende Ergebnisse, besonders bei Jugendlichen.«

»Ja, Professor Kleist hat uns schon davon erzählt«, sagte Papa zögernd. »Es ist nur eben sehr weit weg …«

Mamas blasses Gesicht tauchte über Timo auf, sie beugte sich zu ihm hinunter, drückte ihm einen vorsichtigen Kuss auf die Stirn. »Bis morgen, mein Schatz.«

Er blinzelte ihr zu, sie lächelte, küsste ihn noch einmal, streichelte seinen Arm. »Es wird alles wieder gut«, sagte sie. »Alles.«

Dann gingen sie nach draußen. »Ich gebe Ihnen Informationsbroschüren mit«, hörte Timo Dr. Schmiedeberg noch sagen. »Der Markwaldhof hat einen großartigen Ruf, und ich bin sicher, Timo würde sich dort wohlfühlen.«

Von wegen. Er wollte in kein Rehabilitationszentrum, er wollte nach Hause, er würde auch so klarkommen. Der Arzt hatte doch selbst gesagt, dass er sich gut erholte. Auch wenn er jetzt schon wieder entsetzlich müde war und keinen Gedanken festhalten konnte.

Ein Bild tauchte auf und verschwand wieder. Augen. Grüne Augen, umrahmt von langen, geschwungenen Wimpern. Dann Dunkelheit.

Als er wieder wach wurde, hatte die Umgebung sich verändert. Kein Piepsen mehr, keine eiligen Schritte, auch das allgegenwärtige rhythmische Zischen, ein Geräusch wie von einem schwer atmenden Riesen – fort.

Stattdessen Ruhe. Cremefarbene Wände, Bilder von grünen Hügeln und gelben Blumen. Sehr vorsichtig drehte Timo den Kopf zur Seite, das hatte er bei jedem bisherigen Versuch mit furchtbaren Schmerzen bezahlt.

Diesmal hielten sie sich in Grenzen. Schwindelig wurde ihm allerdings, und zwar sehr, obwohl er doch flach auf dem Bett lag. Er atmete tief gegen die aufsteigende Übelkeit an. Außer seinem eigenen stand nur ein weiteres Bett im Zimmer. Der Patient, der dort lag, war deutlich älter als Timo – schätzungsweise so alt wie sein Vater. Er hatte die Augen geschlossen und bewegte sich nicht, Schläuche führten zu den Zugängen in den Venen, an einem Infusionsständer hing ein halb voller Beutel mit einer glasklaren Flüssigkeit.

Normalstation, der Begriff formte sich in Timos Kopf. Das hatte jemand gesagt, er wusste bloß nicht mehr, wer es gewesen war. War das hier die Normalstation?

Die Tür öffnete sich, eine Krankenschwester kam herein. Sie lächelte ihm zu. »Na? Du bist ja wach, das ist schön. Lass mal sehen, was dein Tropf macht, und dann messen wir Fieber.« Sie klopfte sanft gegen den Beutel, der auch über Timos Bett hing, drehte ein wenig am Regler und schob dann ein Thermometer unter Timos Achsel. »In fünf Minuten bin ich wieder da«, kündigte sie an und wandte sich zur Tür.

Okay, wollte Timo sagen, aber erst kam gar nichts aus seinem Mund und dann, als die Schwester schon draußen war, ein lang gezogener Laut, der einfach nur schrecklich klang. Wie der eines Tieres.

Der Mann im Nebenbett hatte sich nicht gerührt, also versuchte Timo es noch einmal. Leiser. Er dachte an das Wort Okay, konzentrierte sich darauf. Dann sagte er es, oder meinte jedenfalls, das würde er, aber es war wieder nur ein Geräusch, als hätte er Schmerzen.

Die Erkenntnis sickerte langsam in Timos Bewusstsein ein, und ihm wurde innerlich kalt. Etwas war kaputtgegangen, die Verbindung zwischen seinen Gedanken und der Fähigkeit, sie auszudrücken, existierte nicht mehr.

Aber das würde er wieder lernen können, oder? Wenn er trainierte, als wäre Sprechen ein Sport, dann würde es eines Tages doch wieder funktionieren?

Er versuchte es noch einmal. Mit etwas ganz Einfachem, seinem Namen nämlich. Timo. Ti-mo.

»Daaaaaauuuu–«

Entsetzt brach er ab. Er klang wie der Junge, der ein paar Straßen weiter wohnte und den seine Eltern oft im Rollstuhl in den Park schoben. Seine dünnen Arme waren immer angewinkelt, sein Kopf lag auf der linken Schulter, als wäre er zu schwer für den Hals. Und wenn er zu sprechen versuchte, hörte er sich an wie Timo jetzt eben.

Das durfte nicht sein. Durfte nicht. Jemand musste ihm helfen, so schnell wie möglich.

In dieser Nacht träumte Timo von den dunkelgrünen Augen, und diesmal wurden sie von einem Gesicht umrahmt, das er gut kannte und das ein Gefühl reinen Glücks in ihm weckte. Alles war gut. Sie war da, sie waren zusammen. Er nahm sie in die Arme, drückte sie fest an sich. Was hatte er sie vermisst.

Dann zog sie ihn mit sich, einen Hügel hinunter, auf dem gelbe Blumen wuchsen. Einmal stolperte er, und etwas stach ihn in den Arm – ein Ast oder etwas Ähnliches, doch das war egal. Er und sie fanden einen Platz an einem Bach, wo sie sich ins Gras legten und in den Himmel schauten …

»Ach du liebe Zeit, wie ist denn das passiert? Wie kann das überhaupt sein? Regine? Walter? Kommt ihr bitte schnell?«

Jemand packte ihn an der Schulter, und Timo schlug die Augen auf. Eine der Krankenschwestern kniete neben ihm. Und er lag nicht im Bett, sondern … auf dem Boden. In der Ecke direkt neben der Tür.

»Er hat sich den Zugang rausgerissen, und er muss irgendwie vom Bett bis hierher gelangt sein. Ist mir ein Rätsel, er ist doch kaum kräftig genug, um einen Arm zu heben.«

Zwei weitere Gestalten tauchten auf, eine weiblich, die andere männlich, und griffen nach ihm. »Kannst du aufstehen?«

Konnte er nicht, ebenso wenig wie antworten. Mit Mühe schaffte er es, ein Bein anzuwinkeln, aber an eigenständiges Gehen war nicht zu denken.

»Los, tragen wir ihn zurück. Regine, holst du Schmiedeberg oder Kleist?«

Sie hoben ihn hoch, jemand stützte seinen Kopf, der jetzt zu schmerzen begann. Scharfes Pochen, vom Nacken bis zu den Schläfen.

»Was du für Sachen machst.« Der Pfleger mit dem hellbraunen Pferdeschwanz streckte Timos rechten Arm aus, suchte eine Vene und legte einen neuen Zugang, an den er die Infusion hängte. »Steckt mehr in dir, als wir alle gedacht haben.« Er grinste. »Aber das ist ein gutes Zeichen. Nur zieh die Show nicht gleich noch mal ab, okay?«

Selbst wenn Timo gewollt hätte, wäre er dazu nicht imstande gewesen. Es war ihm selbst ein Rätsel, wie er die Strecke bis zur Tür zurückgelegt hatte. Vielleicht war er es ja gar nicht selbst gewesen, sondern jemand hatte ihn getragen?

Nein. Totaler Quatsch. Vom Personal würde das keiner tun, und von den Patienten war hier niemand dazu fähig.

Plötzlich hatte er die tiefgrünen Augen wieder vor sich, die Augen des Mädchens, dessen Namen er nicht mehr wusste. Wahrscheinlich gab es sie gar nicht, er hatte sie im Traum erfunden, aber sein Gefühl, das war echt gewesen.

War es immer noch. Da steckte so viel Sehnsucht in seinem kaputten Körper; die konnte nur daher kommen, dass es das Mädchen wirklich gab und sie sich kannten. Vielleicht sogar gut.

Bloß konnte er niemanden fragen, weder nach ihr noch nach all dem anderen Zeug, das er nicht mehr wusste. Warum er überhaupt hier war, zum Beispiel. Was passiert war. Das konnte keine Kleinigkeit gewesen sein, wenn man sich seinen Zustand vor Augen führte.

Aber niemand kam auf die Idee, ihm einfach zu sagen, was Sache war. Sie behandelten ihn, als wäre er überhaupt nicht anwesend, redeten über ihn, während sie an seinem Bett standen, aber mit ihm sprachen sie nur dann, wenn sie ihn begrüßten oder sich verabschiedeten.

Wenn das so blieb, dann …

Die Tür wurde geöffnet, Schritte näherten sich. »Hallo, Timo.« Ein groß gewachsener Mann zog sich einen der Besucherstühle heran und setzte sich. Das Gesicht kam Timo vage bekannt vor. Hager, mit Brille über der schmalen Nase. Dunkles Haar mit grauen Einsprengseln. Und der weiße Mantel plus Stethoskop – ganz klar ein Arzt.

Sieh an, auf manche seiner Eindrücke konnte Timo sich offenbar noch verlassen.

»Ich habe gehört, du hast vergangene Nacht einen Spaziergang gemacht.« Der Arzt beugte sich über Timo, betrachtete ihn aufmerksam. »Da hast du uns eine ziemliche Überraschung beschert, damit hätte niemand gerechnet.« Er wartete, als ob Timo etwas darauf hätte erwidern können. Aber der hatte die Neandertalergeräusche, die er letztens von sich gegeben hatte, noch zu gut in Erinnerung, als dass er schon wieder einen neuen Versuch mit dem Sprechen wagen wollte.

»Ich wüsste zu gerne, wie du das geschafft hast.« An der Manteltasche des Arztkittels klemmte ein kleines Schild, vermutlich ein Namensschild. Timo versuchte, es zu entziffern, aber die Buchstaben hätten ebenso gut chinesische Schriftzeichen sein können.

Lesen war also auch verloren gegangen.

»Du kannst es mir nicht erzählen, ich weiß«, fuhr der Arzt fort. »Aber – kannst du dich selbst noch daran erinnern?«

Langsam bewegte Timo den Kopf ein Stück nach rechts, dann nach links. Es waren nur Zentimeter, doch seine Botschaft war angekommen.

»Also nicht. Okay. Kannst du dich an mich erinnern?«

Ein wenig. Das Gesicht des Arztes war eines von vielen, die immer wieder aufgetaucht und verschwunden, die im Lauf der zeitlosen Phase miteinander verschmolzen waren.

Er wiederholte seine reduzierte Version eines Kopfschüttelns.

»Das macht nichts«, sagte der Arzt munter. »Ich bin Professor Kleist, Andreas Kleist. Ich war einer der Chirurgen, die dich operiert haben.«

Operiert. Das war eine neue Information.

»Wir mussten deine Schädeldecke öffnen, weil du nach dem Unfall eine starke Hirnschwellung hattest und der Druck schlimmere Schäden hätte nach sich ziehen können. Danach haben wir dich in ein künstliches Koma versetzt, damit dein Körper sich ganz auf die Heilung konzentrieren kann. Und vor einer Woche haben wir dich dann langsam aufgeweckt.«

Gerade eben hatte Timo sich noch Information gewünscht, jetzt fühlte er sich fast davon erschlagen. Sie hatten ihm die Schädeldecke geöffnet. Oh Gott. War die mittlerweile wieder geschlossen?

»Du hast das Bewusstsein zurückerlangt, das ist das Wichtigste.« Kleist sah Timo eindringlich an. »Wir waren nicht sicher, ob es so sein würde. Ich hatte schon Fälle, da haben geringere Verletzungen in einem Wachkoma geendet. Aber du … du wirst dich wieder erholen, und wir sind alle sehr froh darüber.« Er drückte kurz Timos Arm, dann stand er auf und ging.

Timo dämmerte langsam weg, aber immerhin war ihm das bewusst. Es war gut, es half ihm, gesund zu werden. Wenn er das nächste Mal aufwachte, ging es ihm vielleicht noch etwas besser.

An der Schwelle vom Wachen zum Schlafen erwartete ihn bereits das Mädchen mit den dunkelgrünen Augen, streichelte sein Gesicht und lachte.

Plötzlich war ihr Name da: Hannah. Er erinnerte sich an Hannah, sie war seine Freundin, und sie besuchte ihn im Krankenhaus, natürlich tat sie das.

Timo wurde innerlich ganz leicht, und das Gefühl blieb, auch als er wieder aufwachte.

Ihm war bewusst, dass er sie nicht wirklich gesehen hatte, aber das war egal. Er konnte sich an sie erinnern. Sie war real, auch wenn ihr Besuch bei ihm es nicht gewesen war. Das war okay, sie sollte ihn so nicht sehen.

Erst wenn er wieder er selbst war.

Als seine Eltern am nächsten Tag mit Professor Kleist in sein Zimmer kamen und vorsichtig die Sprache auf das Thema Markwaldhof brachten, blinzelte Timo so lange, bis sie irritiert innehielten. Dann neigte er den Kopf und hob ihn wieder, hoffte, dass sie begriffen.

Er wollte schnell wieder auf den Beinen sein. Wenn dazu ein Aufenthalt in einem Rehabilitationszentrum nötig war, dann war er dazu bereit.

Doch es dauerte noch zwei Wochen, bis das Krankenhaus grünes Licht für eine Überstellung gab. Die Fahrt war weit und belastend, Timos Allgemeinzustand noch nicht so stabil, dass man sie ihm zumuten wollte.

Er hätte gern widersprochen, aber reden klappte weiterhin nicht, damit entfiel auch die Möglichkeit, seine Eltern nach Hannah zu fragen. Mit etwas Mühe hätte er sicherlich ihren Namen tippen können, wenn man ihm ein Notebook oder Tablet gegeben hätte, aber niemand kam auch nur im Entferntesten auf diese Idee. War wahrscheinlich schädlich für sein demoliertes Hirn. Und selbst danach fragen … ja eben. Da schloss sich der verdammte Kreis.

Immerhin bekam er auch hier schon täglich Therapien, man bewegte seine Arme und Beine, ermunterte ihn dazu, das mit dem Essen selbst zu versuchen, und ein paar Minuten pro Tag durfte er sitzen, statt zu liegen. Dabei wurde ihm immer noch schnell schwindelig, aber er war fest entschlossen, es jedes Mal ein wenig länger auszuhalten.

Mit jedem Tag, der verging, wurde Timo unzufriedener. Er konnte denken, er verstand, was um ihn herum passierte – gut, seine Erinnerung funktionierte nicht zuverlässig, aber das würde noch werden. Dagegen machte er kaum Fortschritte, was seinen Körper betraf. Sosehr er sich bemühte, die Kontrolle über seine Arme, Beine, Hände und vor allem die Sprache zurückzugewinnen; nichts davon gehorchte ihm so, wie er es gewohnt gewesen war.

Am schlimmsten war die Sache mit dem Sprechen. Hannah ging ihm nicht aus dem Kopf, aber seine Eltern erwähnten sie nicht, und sie tauchte auch nicht auf. Manchmal zweifelte er daran, dass sie wirklich existierte, und das waren die quälendsten Momente. Es war ja auch möglich, dass er sie nur erträumt hatte, und sein kaputtes Gehirn gaukelte ihm nun vor, dass es sie gab.

Keine Chance, das Gegenteil zu beweisen.

Nicht mal fluchen klappte, das tat Timo dafür ausgiebig in Gedanken. Zum Beispiel als ihm beim fünften Versuch wieder die Schnabeltasse aus den Händen rutschte, bevor er sie zum Mund führen konnte. Eine Plastiktasse, wie man sie Kleinkindern gab. Die gingen allerdings geschickter damit um. Beim sechsten Mal versuchte Timo es mit mehr Schwung, traf aber nur sein Kinn, dann fiel das Gefäß wieder auf den Boden.

Die Ergotherapeutin, eine freundliche Frau mit graublondem Pagenschnitt, hob sie geduldig auf. »Du machst das sehr gut«, sagte sie lächelnd, woraufhin Timo das Ding am liebsten an die Wand geschmissen hätte. Nicht, dass er dazu fähig gewesen wäre, aber allein die Vorstellung tat gut.

Irgendwann, nach einer Viertelstunde, schaffte er es, die Tasse zum Mund zu führen und ein paar Schlucke des mittlerweile kalt gewordenen Tees zu trinken. Danach war er erschöpft. Die Therapeutin half ihm dabei, sich wieder auf dem Bett auszustrecken, lobte ihn noch einmal und ging.

Timo lag da und starrte das Bild an der gegenüberliegenden Wand an. Grüne Hügel mit gelben Blumen, die waren auch in seinen Träumen gewesen. Vielleicht war es ja auch nur irgendein Bild von irgendeinem Mädchen gewesen, das in seinem Gedächtnis hängen geblieben war und ein Eigenleben entwickelt hatte.

Obwohl er wusste, dass er es bereuen würde, versuchte er, ihren Namen auszusprechen. Hannah. Es wurde nichts weiter daraus als ein lang gezogenes, schwankendes Aaaaa. Beschämt schloss er den Mund und kämpfte gegen aufsteigende Tränen an. Vielleicht war es besser, wenn Hannah nicht existierte.

Zwei Tage später wurde Timo in den Markwaldhof überstellt.

3

Ein mehrflügeliges Gebäude, das wirkte wie ein altes Herrenhaus. Elfenbeinweißer Verputz, eine von Pappeln gesäumte Zufahrt und rundum … nichts. Nur sanfte, bewaldete Hügel und insgesamt ziemlich viel Natur.

Timos Eltern waren dem Krankentransport mit ihrem eigenen Wagen gefolgt, sie hatten sich dafür extra den ganzen Tag freigenommen. Sein Vater schob den Rollstuhl zum Aufzug und dann in das Zimmer, das man Timo zugewiesen hatte. 404.

Beim Hineinrollen erlebte er eine Art Déjà-vu, als er einen Blick in das Bett neben seinem warf. Wieder jemand, der nicht einmal den Kopf drehte, wenn die Tür sich öffnete, sondern nur teilnahmslos ins Nichts starrte.

Dieser Mitbewohner war allerdings jünger als der im Krankenhaus; er war ungefähr in Timos Alter, aber ein ganzes Stück schwerer gebaut. Blonde, unordentliche Locken, an der rechten Kopfseite abrasiert, dort schlängelte sich eine lange, dicke Narbe vom Scheitel bis zum Ohr.

Wieder jemand, der nur noch aus Körper bestand, eingesperrt in sich selbst, ohne Kontakt zur Umwelt. Aber vielleicht war es ja ganz gut so. Ein Zimmernachbar in besserem Zustand hätte sich wahrscheinlich unterhalten wollen, und das … ging ja nicht.

Noch nicht, sagte Timo sich verbissen. Noch.

»Denkst du, du wirst dich hier wohlfühlen, mein Schatz?« Mama war sichtlich den Tränen nahe, versuchte aber ihr Bestes, das zu verbergen. »Wir kommen dich so oft wie möglich besuchen. Vielleicht nicht immer alle beide, aber einer schafft es sicher jedes Wochenende. Und wenn es dir ein bisschen besser geht, bringen wir Lara und Benny mit, ja?«

Timo hob und senkte das Kinn. Ja. Er hatte seine jüngeren Geschwister seit dem Unfall nicht mehr gesehen, seine Eltern wollten die beiden nicht verstören. Obwohl sie elf und dreizehn waren, aber okay. Timo hatte sich letztens im Spiegel betrachtet, die Entscheidung war schon in Ordnung gewesen.

Nicht viel später war er alleine im Zimmer. Na gut, nicht wirklich alleine, aber der Typ im Nebenbett sah und hörte nichts. Timo hatte ihm einen seiner Urlaute entgegengebellt, und die Reaktion war gleich null gewesen.

Er betrachtete seine Hände, die wie leblos neben ihm auf dem Bett lagen. Hob langsam die linke, das ging, Finger krümmen klappte auch, aber den dreieckigen Haltegriff über seinem Kopf greifen – Fehlanzeige.

Entmutigt ließ er den Arm zurücksinken. Kein Trost, dass es ihm besser ging als dem Zombie im Bett neben ihm. Der lag bei der Tür, Timo näher am Fenster, was nett war. Er konnte ein paar Äste sehen, die sich im Wind bewegten, Wolken und ein Stück blauen Himmel.

Theoretisch gab es auch einen Fernseher im Zimmer, aber die Fernbedienung würde er ohnehin nicht halten können. Geschweige denn die richtigen Tasten treffen.

Die Tür ging auf, und eine groß gewachsene Frau mit dunklem, kurzem Haar kam herein. »Hallo, Timo. Ich bin Renate, Renate Zieler. Ich bin deine Physiotherapeutin.« Sie nahm seine Hand und drückte sie. Wartete, bis er zurückdrückte, dann lächelte sie ihn an. »Wir werden morgen mit der Therapie beginnen, aber was hältst du davon, wenn du heute schon ein wenig aus dem Bett kommst? Du könntest zumindest aus dem Fenster sehen.«

Die Idee war verlockend, Timo wollte vorsichtig nicken, aber Renate wartete seine Antwort gar nicht ab. »Dann machen wir das. Ich bin gleich wieder da.«

Sie verschwand und kam Minuten später mit einem Rollstuhl zurück. »So. Dann lass uns loslegen.«

Die Frau war erstaunlich kräftig, außerdem saß jeder ihrer Handgriffe. Sie hatte Timo schneller in den Rollstuhl bugsiert, als die Pfleger im Krankenhaus das am Morgen zu zweit geschafft hatten.

»Ich stelle dich hierhin, ist das in Ordnung? Da kannst du in den Park schauen, dort wirst du bald auch spazieren gehen können, wenn unsere Arbeit so läuft, wie ich mir das vorstelle.« Sie legte ihm ein kleines Kästchen mit einem großen roten Knopf in den Schoß. »Wenn du dich wieder hinlegen möchtest, drückst du da drauf. Ansonsten komme ich in einer halben Stunde zurück.«

Sie sah ihn an, konnte offenbar in seinem Blick lesen, dass er sie verstanden hatte, nickte zufrieden und ging.

Timo umklammerte das Kästchen mit der Notruftaste. Das ging alles ziemlich … schnell hier. Bis er es schaffte, auf irgendetwas zu reagieren, war sein Gegenüber schon wieder fort.

Er blickte nach draußen. Der Tag war freundlich, und einige Patienten nutzten ihn für einen Spaziergang im Park. Ein älterer Mann stützte sich schwer auf seinen Rollator, während er auf eine Parkbank zusteuerte. Ein Mädchen, etwa fünfzehn Jahre alt, humpelte am Arm eines Pflegers den Weg entlang. Und dazwischen gab es einige Patienten, denen es deutlich besser ging, die sich ohne Gehhilfen fortbewegten, die sich miteinander unterhielten und lachten. Unwillkürlich fragte Timo sich, ob er selbst je wieder so gesund sein würde.

Er hörte, wie sich hinter ihm die Tür öffnete; war Renate zurück? Saß er denn schon eine halbe Stunde lang hier?

»Hey!« Eine tiefe, ein wenig heisere Stimme. »Da ist ja wirklich ein Neuer.«

In seinem üblichen Zeitlupentempo drehte Timo den Kopf. Im Eingang stand ein Junge, ungefähr so alt wie Timo selbst, aber in viel besserem Zustand. Groß gewachsen, schlaksig, mit braunem Haar, das ihm bis in die Augen fiel. Eigentlich wirkte er nur deshalb wie ein Patient, weil er einen Jogginganzug und eines dieser Plastikarmbänder mit Barcode trug. Erst als er ins Zimmer kam, bemerkte Timo, dass der andere das rechte Bein ein wenig nachzog.

»Wow, dein Hinterkopf sieht aus wie frisch gepflügt«, stellte er fest. »Lass mich raten: Schädelhirntrauma mit Hirnödem? Und sie haben dir die Schädeldecke aufgeklappt?«

Selbst wenn Timo fit genug gewesen wäre zu antworten, hätte er keine vernünftige Auskunft geben können. Er wusste nur die wenigen Fakten, die Professor Kleist erwähnt hatte, aber man hatte ihm ja noch nicht mal gesagt, was ihm überhaupt zugestoßen war.

Der andere stand nun direkt vor ihm. »Wenn meine Vermutung stimmt, dann haben wir etwas gemeinsam.« Er drehte sich um. An einer Stelle seines Hinterkopfs waren die Haare kürzer; dort sah Timo eine rote Narbe durchschimmern.

»Ich bin Carl. Mit C.« Der Junge beugte sich zu ihm und blickte ihm aufmerksam ins Gesicht. »Du verstehst mich, oder? Du siehst jedenfalls nicht so stumpf aus wie ein paar andere hier.« Er deutete zum Nebenbett. »Wie Magnus zum Beispiel. Magnus ist Gemüse, aber immerhin Gemüse mit Hoffnung, heißt es. Es gibt hier auch welche, bei denen ist das Hirn bloß noch Matsch.«

Timo fühlte, wie sein Mund sich zu einem Lächeln verzog. Carls respektlose Art war erfrischend. So viel besser als die Betroffenheit seiner Eltern oder die Sachlichkeit der Ärzte.

»Ah.« Ein ausgestreckter Zeigefinger näherte sich Timos Gesicht. »Sprechen klappt nicht, habe ich recht? Wenn du es versuchst, klingt es, als hätte dir jemand die Zunge amputiert?«

Der Vergleich traf die Sache auf den Punkt. Diesmal hörte Timo sich auflachen, und es klang ganz normal.

»Klasse.« Carl sah zufrieden aus. »Du hast Humor und hältst nicht viel von Selbstmitleid, stimmt’s? Dann pass mal auf, ich gebe dir eine Tour durchs Schloss.«

Er drehte Timos Rollstuhl um und steuerte ihn auf die Zimmertür zu. Sekunden später waren sie auf dem Gang, und Carl legte an Tempo zu. Grüßte rechts und links ein paar Leute, bog einmal scharf nach links ab, und sie standen vor einem Aufzug.

Die Kurve hatte Timo schwindelig gemacht, er spürte auch das Pochen sich ankündigender Kopfschmerzen, obwohl er immer noch unter einer beträchtlichen Dosis Schmerzmittel stand. Trotzdem fühlte er sich besser als zu jedem anderen Zeitpunkt seit seinem Aufwachen. Lebendig.

Sie fuhren zwei Stockwerke tiefer, dort schob Carl den Rollstuhl auf einen Seitenausgang zu. In den Park.

Es war ein frühlingswarmer Tag, aber dennoch ließ jeder Windhauch Timo frösteln. Er wusste nicht, wann er das letzte Mal an der frischen Luft gewesen war. Genau genommen hatte er nicht einmal Ahnung, welcher Monat gerade war. April möglicherweise, oder Mai?

Kleine Steinchen knirschten unter den Rädern des Rollstuhls. »Siehst du, hier kriechen oder rollen die Beschädigten herum, wenn das Wetter einigermaßen okay ist. Da drüben«, er streckte einen Arm über Timos Schulter aus und deutete auf einen etwa Dreißigjährigen, der auf Krücken den Weg entlanghumpelte, »das ist Georg. Freeclimber, ziemlich erfolgreich, bis er vor einem halben Jahr abgerutscht ist. Schwere Kopf- und Rückenverletzungen, aber jetzt läuft er schon wieder. Also, fast. Hi, Georg!«

Der Mann, der mit konzentrierter Miene einen Fuß vor den anderen setzte, blickte auf. »Ah. Carl. Du hast ein neues Opfer, wie ich sehe?«

»Jetzt mach ihm doch keine Angst!«, erwiderte Carl genüsslich. »Das ist Timo, so steht es jedenfalls auf seinem Krankenblatt. Verkehrsunfall, SHT. Und er ist ein neuer Freund

Verkehrsunfall. Timo packte die Armlehnen seines Rollstuhls fester. Kurz hatte ihm das Bild einer nassen Straße und eines Traktors vor Augen gestanden. Konnte ebenso Einbildung wie eine Erinnerung gewesen sein.

»Mit dem Reden und dem Laufen hat Timo es noch nicht so, aber das wird schon. Das kennen wir ja noch von mir, nicht wahr?«

Georg runzelte in gespieltem Ernst die Stirn. »Wenn du so weitermachst, wird Sporer dich frühzeitig entlassen. Und dann bleibt dir dein Quasimodo-Gang wahrscheinlich für immer.«

»Was?« Carl klang erschüttert. »Du meinst, mit meiner Ballett-Karriere ist es vorbei?«

Beide lachten, dann setzte sich der Rollstuhl wieder in Bewegung.

Timo war mittlerweile wirklich kalt, aber trotzdem genoss er den Spaziergang enorm. Die Rehabilitation am Markwaldhof war vielleicht doch eine gute Idee gewesen, die Atmosphäre war so entspannt, die Leute waren witzig, niemand schien die eigene Tragödie allzu ernst zu nehmen.

Bisher jedenfalls. Ein paar Minuten später schoss ein dunkelhaariges Mädchen auf sie zu, als wollte sie mit ihrem Rollstuhl den von Timo rammen. Carl versuchte auszuweichen, doch das Mädchen stellte ihr Gefährt blitzschnell quer und versperrte ihnen den Weg.

»Ich will es wiederhaben«, sagte sie gefährlich leise.

»Äh – was?«

Die Dunkelhaarige zog ihre ebenso dunklen Augenbrauen über der sommersprossigen Nase zusammen. »Carl mit C«, sagte sie, »stell dich gefälligst nicht blöd. Ich habe dir mein iPad geliehen, unter der Voraussetzung, dass ich es nach zwei Tagen wieder zurückbekomme. Das war vor vier Tagen und aus blankem Mitleid, aber noch mal passiert mir das nicht.«

Carl trat einen Schritt neben den Rollstuhl und deutete auf Timo. »Wir haben einen Neuzugang im Jugendtrakt, um den muss sich doch jemand kümmern. Das hier ist Timo, der nicht läuft und nicht spricht, aber er versteht uns, denke ich. Timo, das ist Mona, die Fürstin der Finsternis und des Netflix-Abos.«

»Ah. Verstärkung für die Hirnis.« Mona musterte Timo aufmerksam. »Wie lange bist du denn schon hier?«

Er erwiderte ihren Blick. Hatte sie nicht kapiert, dass es mit dem Sprechen bei ihm nicht klappte, oder wollte sie ihn auf die Probe stellen?

»Drei Tage?«, schlug sie vor. »Zwei? Oder bist du heute erst angekommen?«

Er senkte die Lider für eine Sekunde, bevor er sie wieder hob. Mona begriff sofort. »Er ist erst heute aufgenommen worden, Carl mit C, du Arsch. Deine dämlichen Ausreden kannst du bei anderen versuchen – ich will mein iPad zurück. Wenn es in einer Stunde nicht auf meinem Nachttisch liegt, kannst du was erleben.«

Sie drehte den Rollstuhl so, dass der halbe Weg wieder frei war. »Hallo, Timo«, sagte sie dann ein wenig freundlicher. »Schön, dass du da bist. Also, für dich nicht so, schätze ich, aber für uns andere ist ein bisschen Abwechslung echt nett. Wir sehen uns.« Damit schoss sie davon, erstaunlich schnell.

Carl sah zu Timo hinunter. »Nimm ihr den Ausdruck Hirnis nicht übel, für sie ist es schwerer als für andere«, sagte er leise, ganz ohne die Ironie, die er bisher an den Tag gelegt hatte. »Sie war Leistungssportlerin. Turmspringerin, du weißt schon, das sind die, die vom Sprungbrett hüpfen und diese tollen Drehungen in der Luft machen. Bis sie einmal schlecht abgesprungen oder ausgerutscht ist, genau weiß ich es nicht, und mit dem Rücken auf der Turmkante aufgeschlagen hat. Seitdem …«

Scheiße, dachte Timo.

»Na gut, dann bringe ich dich wieder zurück.« Carl drehte den Rollstuhl herum. »Und das iPad auch. Mona steckt mitten in der zweiten Staffel von Stranger Things, da ist es wirklich nicht fair, sie auf Entzug zu setzen.«

Vor Timos Zimmer wartete bereits Renate, mit mühsam unterdrückter Wut im Blick. »Großartig, Carl. Echt großartig. Bist du eigentlich irre geworden? Du kannst nicht einfach jemanden aus seinem Zimmer verschleppen, wenn du keine Ahnung hast, wie sein Zustand ist.«

»Ich kann aber Befunde lesen«, erwiderte Carl ungerührt. »Und nach allem, was auf dem an Timos Bett steht, ist es sehr unwahrscheinlich, dass ein kleiner Ausflug ihn umbringen könnte.«

Wortlos drängte Renate ihn zur Seite und packte die Griffe von Timos Rollstuhl. »Wir sprechen uns noch«, sagte sie, zu Carl gewandt. »Und jetzt ab. Wird Zeit, dass du entlassen wirst.«

»Ganz deiner Meinung.« Carl kam in Timos Blickfeld und beugte sich zu ihm hinunter. »Bis demnächst. Falls dich nicht vorher die Langeweile umbringt, aber das ist dann Renates Schuld.«

Schnaubend schob die Physiotherapeutin Timo ins Zimmer, an Magnus vorbei und zu seinem eigenen Bett. Ein paar geübte Griffe, und Timo lag flach, die Decke bis zu den Schultern hochgezogen.

»Du bist eiskalt«, murmelte Renate. »Ich würde Carl am liebsten erwürgen, aber ich habe so viel Arbeit in seinen Heilungsprozess gesteckt, da bringe ich das nicht übers Herz.« Sie strich Timo leicht über die Wange. »Den Rufknopf lasse ich dir hier, ja? Gleich bei deiner rechten Hand. Wenn du etwas brauchst, einfach drücken.« Damit ging sie aus dem Zimmer.

Timo schloss die Augen. Er fror tatsächlich, merkte auch, wie müde die kurze Zeit im Park ihn gemacht hatte, außerdem war ihm wieder schwindelig. Trotzdem wäre er sofort wieder mit Carl nach draußen gegangen. Es fühlte sich nach Leben an. Wie ein Schritt in die richtige Richtung.

4

Die Nacht begann früh am Markwaldhof, ähnlich wie es schon im Krankenhaus gewesen war. Um neun wurde das Licht im Zimmer ausgeschaltet, da dämmerte Timo aber sowieso nur noch vor sich hin. Vage bekam er mit, dass sein Blutdruck und seine Temperatur gemessen wurden und ein Arzt, der ihm fremd vorkam, ihm ein paar Dinge sagte, die er sofort wieder vergaß. Danach – Dunkelheit.

Und dann, irgendwann später, ein Ruck. Fast ein Schlag, an der Schulter. Timo öffnete mühsam die Augen.

Licht. Und … da war jemand. Saß an seiner Bettkante und musterte ihn mit versteinerter Miene.

Blonde Locken, an der rechten Seite abrasiert. Blaue Augen und ein Tattoo am linken Unterarm. Eine Schlange, die sich um die Erdkugel wand.

»Na, bist du wach?«

Er sprach sogar. Magnus sprach, und zwar klar und deutlich. Von wegen Gemüse, Carl hatte sich geirrt, Magnus war in viel besserem Zustand als Timo.

»Hm.« Der blondgelockte Kopf legte sich schief. »Du hörst mich, nicht wahr? Und verstehst mich auch?« Er hielt einen Moment inne, als horche er in sich hinein. Timo tastete mit seiner rechten Hand nach dem Kästchen mit dem Notfallknopf. Das hier war eine Sensation, Magnus war buchstäblich über Nacht geheilt, das mussten die Ärzte sehen …

Mit einer blitzartigen Bewegung schnappte sein Bettnachbar sich das Kästchen. »Ach nein, das lassen wir lieber.« Er lächelte. »Und überhaupt – das kleine Gespräch hier bleibt unter uns, einverstanden? Ich meine, nicht dass du irgendjemandem groß etwas erzählen könntest. Aber wenn sich das ändern sollte – halt die Klappe, Timo. Klar? Ist viel besser für dich.«

Timo öffnete den Mund, konzentrierte sich auf das Wort warum und versuchte, es verständlich herauszubringen. Das Ergebnis war kläglich, und Magnus bog sich in lautlosem Lachen.

»Geil! Du sprichst fließend Hirngeschädigt, da kenne ich noch ein paar. Ist es deine dritte Fremdsprache oder deine vierte?«

Timo schluckte, den Blick auf das Kästchen in Magnus’ Händen gerichtet. Jemand musste das hier erfahren, auch wenn es offenbar ein ziemlicher Widerling war, der den neurologischen Lottosechser gelandet hatte.

Hatte Magnus bisher ständig simuliert? Ein Koma vorgetäuscht? Ging das überhaupt? Oder hatte sich sein Gehirn wirklich mit einem Schlag regeneriert?

»Also, wir hätten das geklärt, ja? Du stammelst nicht herum, bis irgendjemand kapiert, was du meinen könntest. Ist zwar unwahrscheinlich, aber ich will trotzdem keine hässlichen Überraschungen erleben. Ansonsten gibt es für dich auch die eine oder andere Überraschung. Und die wird dann mehr als nur hässlich.«

Damit stand Magnus auf – ein wenig schwankend, wie Timo bemerkte –, schaltete das Licht aus und ging durch die Tür. Mit dem Kästchen.

In diesem Moment begriff Timo, dass er bloß träumte. Das war bei Weitem die wahrscheinlichste Erklärung für das, was eben passiert war. Deshalb verhielt Magnus sich auch so unlogisch – einerseits wollte er keinesfalls, dass Timo jemandem verriet, was er gesehen hatte, andererseits spazierte er ganz unbeschwert aus dem Zimmer. Auf einen Gang hinaus, wo er jederzeit einem Arzt oder einer Krankenschwester im Nachtdienst begegnen konnte.

Timo rückte seine Hand nah an seinen Oberschenkel heran und versuchte, sich zu kneifen. Es tat nicht weh, er hatte einfach keine Kraft in den Fingern, aber er spürte es. Was eigentlich bedeuten musste, dass er wach war. Trotzdem war das Bett neben seinem zweifellos leer. Und das Gerät mit dem Notfallknopf fort.

Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als zu warten – Magnus würde zurückkommen, entweder alleine oder in Begleitung einiger glücksstrahlender Ärzte.

Allerdings wurde es immer schwieriger, die Augen offen zu halten. Musste er ja auch nicht, er konnte ebenso mit geschlossenen Augen warten, dunkel war es ohnehin …

Als er wieder erwachte, war es draußen hell. Ein paar Sekunden lang herrschte völlige Leere in Timos Kopf, dann kehrten die Erinnerungen an die letzte Nacht zurück, sie waren völlig klar, nicht verschwommen und lückenhaft, wie es Erinnerungen an Träume meist waren.

Langsam drehte er seinen Kopf nach rechts. Da lag Magnus, unbeweglich. Er starrte nicht zur Decke, sondern hatte die Augen geschlossen, seine Brust hob und senkte sich regelmäßig.

Timo wandte den Blick keinen Moment von ihm ab, beobachtete ihn genau. Magnus rührte sich keinen Millimeter. Dann kam eine der Krankenschwestern ins Zimmer und stellte Timos Kopfteil hoch. Als er halb aufrecht im Bett saß, stießen seine Finger unter der Decke an das Kästchen.

Hatte Magnus es zurückgelegt? Oder war es die ganze Zeit über da gewesen, und Timo hatte die nächtliche Episode nur geträumt?

Hirngeschädigt. Das Wort pochte in seinem Kopf, in diesem Kopf, der so unzuverlässig geworden war. Da war eine Halluzination doch viel wahrscheinlicher als die plötzliche wundersame Heilung seines Mitbewohners.

»Dr. Sporer kommt gleich noch vorbei, in einer Stunde bringen wir dich zur Ergotherapie, und am Nachmittag gibt es dann Logopädie.« Sie lächelte ihn an und ging, zwei Minuten später war sie wieder da, mit seinem Frühstück. In Ecken geschnittenes Marmeladenbrot und seine alte Freundin, die Schnabeltasse.

»Du hast ja keine Probleme mit dem Schlucken, nicht wahr? Versuch es erst mal alleine, wenn du Hilfe brauchst, bin ich gleich bei dir, okay? Aber Magnus muss gefüttert werden, sein Schluckreflex ist noch nicht ganz wiederhergestellt.«

Timo nickte, was die Krankenschwester strahlend lächeln ließ. Sie war jung, Mitte zwanzig vielleicht, und sehr hübsch mit ihrem kastanienbraunen Zopf, was er aber nur am Rande wahrnahm. Viel mehr beschäftigte ihn Magnus.

Er konnte noch nicht mal selbstständig schlucken. Da war es doch völlig abwegig zu glauben, er würde nachts herumschleichen, Timo drohen und anschließend Spaziergänge durch den Markwaldhof unternehmen.

Besser das Ganze als sehr realistischen Traum abhaken und sich der Sache mit dem Frühstück widmen.

Die Brotstückchen waren in perfekter Größe geschnitten, Timo musste sie nur in den Mund stecken, kauen und schlucken. Aber allein sie richtig zu fassen zu bekommen, war eine Herausforderung und jedes Mal, wenn es ihm gelang, ein kleiner Triumph.

»Das klappt doch schon wunderbar!«, hörte er die Schwester vom Nebenbett her sagen. Sie hielt Magnus eine Schüssel vors Gesicht und fütterte ihn daraus mit einem undefinierbaren Brei. Apfelmus vielleicht. Zwischendurch massierte sie seinen Kehlkopf, sprach mit ihm, wischte ihm immer wieder Breireste vom Kinn.

Halluzination, dachte Timo. Ganz klare Sache. Er nahm seinen Kampf mit der Schnabeltasse wieder auf. Jedes Mal brauchte er zwei oder drei Anläufe, bis er den eigenen Mund traf, mehrmals fiel die Tasse ihm aus den Händen. Es war irgendwie entwürdigend, aber das galt sowieso für die ganze Situation hier.

Und dann auch noch Hagebuttentee.

Nach dem Frühstück war Timo so erschöpft, wie er es früher nach einem schwierigen Fußballmatch gewesen war. Als die Krankenschwester sein Frühstücksgeschirr holte und ihn dafür lobte, wie gut er das mit dem Essen hinbekommen hatte, empfand er das nicht als albern, sondern als vollkommen angebracht. Er versuchte, ihr Namensschild zu lesen, als sie sich über ihn beugte, doch das war aussichtslos. Er erkannte, dass dort Buchstaben standen, war aber nicht imstande, sie zu einem Wort zu verbinden. Fragen ging auch nicht, es war ein Albtraum. Und was, wenn es so blieb?

Timo reagierte nicht, als die namenlose Krankenschwester sich erkundigte, ob sie ihn wieder hinlegen sollte oder ob er lieber weiter sitzen bleiben wollte, mit aufrechtem Kopfteil.

Es war ihm egal. Schulterzucken klappte immerhin, und das tat er nach einiger Zeit.

»Okay.« Die Krankenschwester war überhaupt nicht beleidigt. »Dann bleib sitzen, gut? Gleich kommt sowieso Dr. Sporer, und danach wirst du abgeholt zur Therapie.«

Timo nahm es zur Kenntnis und drehte seinen Kopf in Richtung Fenster. Draußen nieselte es, das hieß, Carl würde wohl kaum wieder mit ihm eine Tour durch den Park machen.

Der Doktor kam zehn Minuten später. Mittelgroß, schlank, mit schütterem Haar. »Unser Neuzugang«, begrüßte er Timo, schnappte sich seine Hand und schüttelte sie. »Da freue ich mich sehr. Ich bin Dr. Sporer. Wir haben große Pläne mit dir.« Er lachte und zeigte dabei gerade, sehr weiße Zähne. »Darf ich mir mal deinen Kopf ansehen?«

Er war der Erste, der fragte. Timo senkte und hob das Kinn. Er hielt still, als die tastenden Finger des Arztes über die Operationsnarben wanderten. Wuchs dort schon wieder Haar?

»Ist sehr schön verheilt.« Sporer machte sich einige Notizen auf seinem Clipboard. Er war jünger als die meisten Ärzte, die Timo in der Klinik behandelt hatten. Ohne den weißen Mantel hätte er eher wie ein Unternehmer gewirkt. Dynamisch, erfolgreich, karrierebewusst.

»Ich habe schon gehört, dass du noch Schwierigkeiten mit dem Sprechen hast«, sagte er und klickte seinen Kugelschreiber ein paarmal auf und zu. »Aber wir könnten es mit Ja-Nein-Fragen versuchen. Was hältst du davon?«