Liebe Leser,

mein Name ist Lemuel Gulliver. Wir schreiben das Jahr 1725, und ich bin nicht mehr der Jüngste. Früher war ich Schiffsarzt, jetzt bin ich Großvater. So ändern sich die Zeiten. Früher liebte ich die Abenteuer, heute liebe ich meine Ruhe. So ändern sich die Menschen. Früher war mir England, meine Heimat, zu klein, und nun ist mir der Obstgarten, wo ich sitze und schreibe, fast zu groß. So ändert sich das Augenmaß.

Der Obstgarten gehört zu einem alten Haus, das mir gehört, und es liegt in Redriff, an der englischen Küste. Wir haben heuer einen milden Herbst, und ich höre, weil das Küchenfenster offen steht, wie meine Frau mit den Pfannen und Töpfen klappert. Außer unserem Haus gehört mir noch ein Grundstück in Epping, wo John, unser Sohn, mit seiner Familie wohnt, und der Londoner Gasthof »Zum schwarzen Ochsen« in der

Von meinen Ersparnissen als Schiffsarzt hätte ich die drei Grundstücke nicht kaufen können. Beim Erwerb des Hauses mit dem Obstgarten, worin ich jetzt sitze, kam mir zupasse, dass mich Onkel William in seinem Testament mit einem Legat bedacht hatte. Doch das meiste Geld verdiente ich seinerzeit auf den Jahrmärkten. Ohne jene Einkünfte wäre ich heute kein dreifacher Hausbesitzer, sondern womöglich ein armseliger Dorfbarbier, der den Bauern die Bärte schabt und die Stockzähne reißt.

Ja, die Jahrmärkte brachten mir ein schönes Stück Geld ein, das erste Mal im Jahre 1702, als ich aus Liliput und Blefuscu zurückgekommen war und die winzigen Pferde, Kühe und Schafe herumzeigte, die ich mitgebracht hatte. Ich brauchte nichts zu tun, als die Tierchen auf einen Tisch zu setzen, zu füttern und aufzupassen, dass sie nicht vom Tisch fielen. Meine Frau saß an der Kasse, und ganz England rannte uns die Bude ein. Noch als ich das possierliche Kleinvieh

Im Jahre 1706, nach meiner Rückkehr aus Brobdingnag, dem Reich der Riesen, machte ich das zweite große Jahrmarktsgeschäft. Damals zeigte ich meinen staunenden Landsleuten das Hühnerauge der Riesenkönigin, das so groß war wie eine Kanonenkugel, nur nicht ganz so rund. Auch den Backenzahn ihres Leibkutschers stellte ich aus. Man hätte das Ding für einen alten, geschwärzten Schornstein halten können. Außerdem bewunderte man besonders das Schneckenhaus, worüber ich gestolpert war und mir das Bein gebrochen hatte.

Ich würzte meine Erklärungen und Beschreibungen mit Sätzen, die des Nachdenkens wert waren. An einen der Sätze erinnere ich mich noch. Er stammte vom Doktor Jonathan Swift, einem hochgelehrten Mann voller Phantasie, und lautet: »Die Philosophen haben zweifellos Recht, wenn sie behaupten, dass nichts an und für sich klein oder groß ist, sondern einzig und allein im Vergleich mit anderem.« Die drei Wespenstacheln schenkte ich später der Universität Oxford, in deren naturwissenschaftlichem Kabinett sie noch heute Staunen erregen.

Das alles ist rund zwanzig Jahre her. Soeben ist, aus dem Wipfel über mir, ein roter, reifer Apfel auf den Tisch gefallen, und da musste ich an jenen Riesenapfel denken, der mich damals im Garten des Königs um ein Haar erschlagen hätte. Der königliche Hofzwerg saß versteckt im Baum und rüttelte an einem Zweig. Denn er war eifersüchtig, weil ich viel, viel kleiner war als er

Eigentlich habe ich immer Glück gehabt. Sogar wenn die Schiffe, auf denen ich fuhr, im Sturm zerbrachen und versanken, wurden für mich aus den Unglücksfällen Glücksfälle. Ich kam zu den Zwergen und zu den Riesen und zu Geld. Und an Erinnerungen wurde ich reicher als ein Millionär. Ich will nicht geizig sein. Ich will sie verschenken, indem ich sie aufschreibe. Für alle Menschen, die neugierig sind. Für die Gelehrten, fürs Volk und für die Kinder.