Die Autorinnen und Autoren des Bandes

Prof. Dr. Alexandra Grund-Wittenberg, geb. 1971, Studium der Evangelischen Theologie in Wuppertal, Bochum, Naumburg/S., Heidelberg und Tübingen; 2003 Promotion und 2008 Habilitation an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen; seit 2010 Lehrstuhl für Altes Testament an der Philipps-Universität Marburg.

Dr. Johannes Heger, geb. 1983, Studium der Katholischen Theologie und Germanistik für das Lehramt an Gymnasien in Bamberg; Referendariat in Würzburg und Bad Kissingen; 2017 Promotion an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; seit 2012 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Religionspädagogik und Katechetik an der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br.

Prof. Dr. Clemens Leonhard, geb. 1967, Studium der Katholischen Theologie in Wien; der Orientalistik und Judaistik in Wien, Toronto und Jerusalem; 1999 Promotion an der Universität Wien; 2005 Habilitation an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn; seit 2006 Professor für Liturgiewissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Rabbi Prof. Jonathan Magonet, geb. 1942, war Principal of Leo Baeck College, London; derzeit dort Emeritus Professor of Bible; außerdem Visiting Research Professor an der Seinan Gakuin University, Fukuoka, Japan; Herausgeber der Zeitschrift European Judaism.

Prof. Dr. Andreas Michel, geb. 1963, Studium der Katholischen Theologie und Geschichte in Freiburg, Jerusalem und Tübingen; 1997 Promotion und 2003 Habilitation; seit 2006 Inhaber der Professur für Biblische Theologie an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln.

Dr. Carolin Neuber, geb. 1977, Studium der Katholischen Theologie in Augsburg und Innsbruck; 2012–2017 Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Altes Testament am Seminar für Katholische Theologie der Universität Siegen; 2017 Promotion an der Universität Augsburg; seit Oktober 2017 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Alttestamentliche Literatur und Exegese an der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br.

Catharina Rachik, M.A., geb. 1983, Studium der Arabistik und Islamwissenschaft in Münster und Kairo; 2014 Abschluss Magistra Artium an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; seit Juni 2015 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich „Koran und Koranexegese“ am Zentrum für Islamische Theologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Dr. Agnethe Siquans, geb. 1971, Studium der Katholischen Theologie, Religionspädagogik und Judaistik in Wien; 2001 Promotion; 2010 Habilitation; seit Oktober 2011 Dozentin für Alttestamentliche Bibelwissenschaft am Institut für Bibelwissenschaft der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

Prof. Dr. Hans-Ulrich Weidemann, geb. 1969, Studium der Katholischen Theologie in Tübingen und Rom; 2003 Promotion und 2008 Habilitation an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen; seit 2008 Professor für Neues Testament am Seminar für Katholische Theologie an der Universität Siegen; seit 2016 Teildenomination für historische Masculinity-Studies.

Prof. Dr. habil. Stephan Winter M.A. (phil.), geb. 1970, Studium der Katholischen Theologie und der Philosophie in Frankfurt am Main (Sankt Georgen), München und Münster; 2001 Promotion zum Dr. theol. an der Universität Münster; 2010 Habilitation und Verleihung der Venia legendi für das Fach Liturgiewissenschaft an der Universität Erfurt; seit 2001 mit verschiedenen Aufgaben tätig im kirchlichen Dienst des Bistums Osnabrück und Tätigkeiten in Forschung und Lehre an verschiedenen Universitäten und Hochschulen, bis heute u.a. als Dozent für Liturgiewissenschaft am Institut für katholische Theologie der Universität Osnabrück; seit 2014 zudem zunächst Dozent, dann ordentlicher Professor für Liturgiewissenschaft an der PTH Münster.

Prof. Yair Zakovitch, M.A., Ph.D., geb. 1945, Studium an der Haifa University und der Hebrew University of Jerusalem; derzeit Father Takeji Otsuki Emeritus Professor of Bible, Department of Bible, The Hebrew University of Jerusalem.

Carolin Neuber (Hg.)

Der immer neue Exodus

Aneignungen und Transformationen des Exodusmotivs

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© Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2018
Alled Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller
Satz: SatzWeise GmbH, Trier
Druck: Sowa Sp. z.o.o., Warschau
Printed in Poland

www.bibelwerk.de
eISBN 978-3-460-51057-9
ISBN 978-3-460-03385-6

Inhalt

Ein altes Motiv immer neu – Zu den Transformationen des Exodus. Eine Einführung

Carolin Neuber

Exodus – historisch, mythisch, theologisch

Andreas Michel

„Und gedenke, dass du Sklave warst im Land Ägypten“ (Dtn 5,15). Zur Transformation des Exodusmotivs durch seine Verknüpfung mit der Sabbattradition

Alexandra Grund-Wittenberg

Auszug in die Wüste des Gerichts. Transformation des Exodusmotivs in Ez 20

Carolin Neuber

The Exodus – The Biblical Big Bang: Reading Psalm

Yair Zakovitch

Auszug unter dem Joch der Sklaverei. Transformationen des Exodus im Galaterbrief

Hans-Ulrich Weidemann

Exodus und Pesach: Transformation durch Interpretation im frühen Christentum und im Judentum

Clemens Leonhard

Christus – unser Passah?! Zu Rezeption und Transformation des Exodus in der christlichen Liturgie im Angesicht des Judentums

Stephan Winter

Das Exodus-Motiv im Midrasch Schir ha-Schirim Rabba

Agnethe Siquans

Der Exodus im Koran

Catharina Rachik

The Exodus theme in Jewish Tradition

Jonathan Magonet

Von der Befreiung des Schülervolkes von Rektor-Pharao. Das Exodusmotiv in der gelben Transformation der Simpsons

Johannes Heger

Die Autorinnen und Autoren des Bandes

STUTTGARTER BIBELSTUDIEN 242

Begründet von Herbert Haag, Norbert Lohfink und Wilhelm Pesch Fortgeführt von Rudolf Kilian, Hans-Josef Klauck, Helmut Merklein und Erich Zenger
Herausgegeben von Christoph Dohmen und Michael Theobald

Ein altes Motiv immer neu – Zu den Transformationen des Exodus

Eine Einführung

Von der Transformation eines Motivs, eines Motivkomplexes oder einer Tradition ist in exegetischer Literatur nicht selten zu lesen. In der Regel ist damit die gegenüber vorherigem Gebrauch bewusst veränderte Wiederaufnahme von etwas gemeint, das schon früher seinen Platz in der Überlieferung hatte. Im vorliegenden Band wird der Begriff „Transformation“ in einem ähnlichen, jedoch wesentlich geschärften Sinn verwendet, der sich am Transformationskonzept orientiert, das im Sonderforschungsbereich „Transformationen der Antike“ (SFB 644) an der Humboldt-Universität Berlin entwickelt und von Thomas Böhme programmatisch formuliert wurde.1 Am Beispiel der klassischen Antike wurde im Rahmen dieses Sonderforschungsbereichs ergründet, wie die Vergangenheit und der Zugriff auf sie in Beziehung zu setzen sind. Die Vergangenheit ist demnach nichts, das, einmal geschehen, unverändert feststeht und von späteren Zeiten als Faktum aufgedeckt, objektiv betrachtet und aneinandergereiht werden könnte. „Vielmehr wird die Vergangenheit erst im Effekt ihrer Transformation gebildet, modelliert, verändert, angereichert, aber auch negiert, verfemt, vergessen oder zerstört.“2 Dennoch ist sie auch nicht bloß rückblickende Konstruktion, da der Zugriff auf die Vergangenheit über real existierende Artefakte (Quellen und Monumente) geschieht. Die Artefakte bilden aus sich heraus wiederum nicht schon die Vergangenheit ab, der sie entstammen. Erst durch ihre Rezeption wird ein Zeugnis der Vergangenheit hervorgebracht, das ebenso sehr ein Zeugnis der Kultur ist, in der die Rezeption stattfindet. Die Berliner Forscher fassten diesen Zusammenhang unter den von ihnen neu geschaffenen Begriff Allelopoiese, das gegenseitige Erschaffen von Aufnahmekultur und Referenzkultur.3

Vergangenheit entsteht nach diesem Konzept erst in einem offenen Prozess in der Aneignung durch die Akteure der jeweiligen Gegenwart (diese können Personen sein, aber auch Institutionen, Diskursformationen u.a.). Indem die Rezipienten ihre eigene, auf dem Rezipierten aufgebaute oder davon distanzierte Kultur erschaffen, konstruieren sie zugleich das Rezipierte in einer Weise, die der eigenen Kultur entspricht. Der Transformationsprozess verläuft dementsprechend interdependent und asymmetrisch zwischen Referenz- und Aufnahmekultur. Das Rezipierte wird nicht nur einseitig übernommen, sondern auch verändert, so dass sich für jede historische Zeit, für jeden Aufnahmekontext ein anderes Bild der Referenzkultur ergibt. Bei diesem Vorgang entstehen häufig Transformationsketten, indem jede neue Gegenwart in ihrer kulturellen Produktion auf den Ergebnissen früherer Transformationen aufbaut. „Transformationen sind dabei performative Akte von Beobachtern, die ihre Konstruktionen von Objekten kommunizieren. Im Effekt entstehen dabei zugleich eine Antike und eine kulturelle Identität, welche sich in Referenz auf eben diese Antike konstituiert.“4 So kann sich etwa eine bestimmte Zeit an Merkmalen der klassischen Antike orientieren, die nicht eigentlich der Antike eignen, sondern dem Bild, dass sich die Aufnahmekultur von dieser macht.

Das Transformationskonzept des Berliner Sonderforschungsbereichs hat den Anspruch, ein generalisierbares Modell darzustellen, das über die Geschichtswissenschaften hinaus anwendbar und fruchtbar ist.5 Gerade für die Erforschung der Bibel, ihrer Überlieferung und Rezeption scheint es ein geeignetes Werkzeug zu sein. Hierbei sticht besonders das Exodusmotiv als Untersuchungsgegenstand hervor, das über einen langen Zeitraum in einer schier endlosen Transformationskette konstruiert und immer neu erfunden wurde. Das Exodusmotiv gehört zudem ins Zentrum biblischer Überlieferung und Theologie. Der Exodus stellt als Erzählung einer Befreiung aus Unterdrückung ein Grunddatum biblischer Überlieferung dar und konstituierte als Identifikationsmerkmal nicht nur die Identität des biblischen Israel als Gottesvolk. Schon seine literarische Fixierung im Buch Exodus ist unlösbar mit den komplexen innerjüdischen Prozessen der Entstehung und der Kanonwerdung der Tora verbunden. Darüber hinaus wirkte das Exodusmotiv in vielfältigen literarischen, liturgischen, politischen und sozialen Formationen weiter: in der Rezeption durch die Propheten im Babylonischen Exil, die einen neuen Exodus ankündigten, in den Geschichtspsalmen und in anderen jüdischen Texten, aber auch im frühen Judenchristentum, wo das Christusgeschehen vor diesem Hintergrund gedeutet wurde, weiter in den diversen jüdischen und christlichen Liturgien – bis hin zur modernen Literatur, Kunst, Theologie und Religionspädagogik. Seine Transformationsgeschichte reicht weit über das Judentum hinaus, der Exodus zählt auch im Christentum und sogar im Islam zu den grundlegenden identity markers. Im Unterschied zu Sabbat, Speisegeboten und Beschneidung gehört der Exodus zu jenen Motiven, die sich in allen drei sog. abrahamitischen Religionen finden. Es lohnt sich also, dieses Motiv und seine Rezeption einer genaueren Betrachtung zu unterziehen.6

Natürlich ist in den Bibelwissenschaften der Gedanke, dass ein Motiv oder eine Tradition bei ihrer erneuten Verwendung dem Aufnahmekontext entsprechend verändert werden kann, nicht neu. Doch wird bisher meist nur die eine Seite der Rezeption wahrgenommen, wie man beispielsweise an der folgenden Aussage erkennen kann: „Traditionen werden … in unterschiedlichen historischen Situationen relevant und als Modell für die Interpretation der je eigenen Erfahrungen verwendet. In diesem Zuge verändert sich dann häufig auch ihre konkrete, die Texte prägende und in Texten greifbare Gestalt.“7 In dieser Sichtweise sind Motive und Traditionen feststehende, vorgegebene Komplexe, die aufgegriffen werden, weil sie zufällig gerade zur gegenwärtigen Situation passen und nur noch ihre äußere Gestalt verändern. Nach dem oben dargestellten Transformationsmodell ist der Sachverhalt jedoch differenzierter zu fassen, wie nun am Beispiel des Exodusmotivs erschlossen werden soll.

Rezeption ist demnach immer ein wechselseitiger Vorgang. Dass und wie die Exoduserzählung „Wirkung“ zeigte, ist nur die eine Seite dieses komplexen und Jahrtausende umfassenden Prozesses. Denn keineswegs wird ein in sich stabiles literarisches oder theologisches Motiv wie ein Gepäckstück von Generation zu Generation weitergereicht und unverändert in neue Kontexte vermittelt. Tradierung bedeutet immer Aneignung, und dies führt zwangsläufig zu Transformationen sowohl der Rezipienten als auch des Rezipierten. Auf der einen Seite wird das Motiv für den jeweiligen Aufnahmekontext „passend gemacht“, es wird im Blick auf die je eigene Situation erst neu konstruiert, es können Erwartungen an ein Motiv bewusst konterkariert werden – kurz: es wird eine für den eigenen Bedarf passende story erzählt, die oft nur wenig oder gar nichts mit der eigentlichen history, den historischen Gegebenheiten, zu tun hat.8 Dabei entsteht eine Transformationskette, denn viele Wiederaufnahmen des Motivs beziehen sich auf frühere Transformationen, die sie vorfinden. Ein großer Teil der Exodus-Rezeption bezieht sich auf die Exodus-story, wie sie im Pentateuch erzählt wird. Dies ist aber bereits eine Rekonstruktion, die mehr über die Zeit ihrer Entstehung aussagt als über den eigentlichen „historischen“ Exodus. Wir wissen nicht, wie das Exodusereignis „gewesen ist“, wenn wir die Rezeption desselben betrachten. Wir wissen nur, wie in der jeweiligen Situation der Exodus „gewesen sein soll“, um jetzt hilfreich zu sein.9 Jede Generation, jede Gemeinschaft erzählt ihre eigene Exodus-story. Auf der anderen Seite wirkt die jeweilige Exodus-story auf ihren Aufnahmekontext ein. Die Verwendung eines Motivs führt dazu, dass der Diskurs, in dem sie erfolgt, angereichert wird, indem er sich z.B. Legitimation verschafft oder neue Verhaltensnormen etabliert. In dieser Sichtweise stellt das Exodusmotiv ein Element dar, das bei den Akteuren, in den Diskursformationen immer wieder einen solchen Transformationsprozess auslöst, in dem sich die Akteure für ihren jeweiligen Kontext neu schaffen und zugleich das verwendete Motiv transformieren. Damit ist es möglich, die Prozesse der „Rezeption“ des Exodusmotivs differenzierter zu beschreiben, nämlich als Aneignungsund Transformationsprozesse, die einen „Rückkopplungseffekt“ (Böhme) auf das rezipierte Motiv selbst haben.

In dem für die Antike erstellten Transformationsmodell werden die aus der Antike erhaltenen gegenständlichen Relikte, also Dokumente und Monumente, als Elemente wahrgenommen, die eine Rezeption entzünden und damit den Konstruktionsprozess der Referenzkultur in der jeweiligen Aufnahmekultur in Gang setzen. Im Falle des Exodusmotivs ist es schwierig zu bestimmen, worin diese „Relikte“ bestehen können, da das Exodusereignis, falls es überhaupt je stattgefunden hat, im Dunkel der Geschichte verborgen liegt.10 Die immer neuen Transformationen machen den Exodus erst zu dem, was er als Exodus sein kann. Wie für die Transformationen der Antike gilt auch für den Exodus: „In den Transformationsakten wird also die Potentialität [des Transformierten] kreiert und es wird nicht vordringlich entdeckt oder freigelegt, was [es] ‚in Wirklichkeit‘ gewesen sein mag.“11 Und wie für die Antike mag sich auch hier Einspruch regen, der fragt, wie es bei einer solchen Auflösung des Rezeptionsgegenstands dennoch zur bekannten Kontinuität in der Verwendung des Exodusmotivs kommen konnte.12 Offenbar enthält die Geschichte vom Exodus auch ein großes Beharrungsvermögen, eine Widerständigkeit, einen fast unveränderbaren Kern. Die Spannung zwischen Kontinuität und Potentialität, die für das Exodusmotiv gegeben zu sein scheint, ist die Grundlage für seine bis heute prägende Kraft. So konnte es in immer neuen religiösen, politischen und sozialen Konstellationen (Dispositiven) immer neuen Sinn generieren – zum Teil eben „neuen“ Sinn im wahrsten Sinne des Wortes.

Dieser Sammelband ist der Rekonstruktion des Exodusmotivs in solchen unterschiedlichen religiösen und politischen Kontexten gewidmet. Die Beiträge gehen der Frage nach, warum und mit welcher je neuen Ausprägung das Motiv in konkreten historischen und sozialen Situationen aufgenommen wurde und welchen Interessen das jeweils diente. Sie bieten keine flächendeckende Beschreibung der Rezeption des Exodusmotivs, sondern setzen einzelne Schlaglichter. Die Analysen dokumentieren die Kraft, die in der immer neu belebten Befreiungserfahrung steckt: Warum kann sie in so verschiedenen Situationen hilfreich sein – und für wen? Und worauf kann sie heute noch antworten? Transformation ist dabei niemals „unschuldig“, dient sie doch in der Regel strategischen Interessen wie der Etablierung von Identität und Abgrenzung, meist im Kontext von Krisensituationen und Neuformierungen. Die einzelnen Beiträge sind grob chronologisch angeordnet, eine absolute Chronologie wurde aber nicht angestrebt. Sie folgen der Entwicklung der story vom ersten Exodusgeschehen – der Frage nach der Historizität eines Auszugs aus Ägypten – bis zur Adaption dieser Befreiungsgeschichte in einer Folge der US-amerikanischen Fernsehserie The Simpsons. Es ist zu hoffen, dass die hier vorliegenden Untersuchungen einen ersten Anstoß für nachfolgende vertiefende Arbeiten bilden.

Andreas Michel blickt in seinem Beitrag auf die ersten Anfänge des Exodusmotivs, den möglichen „historischen“ Auszug aus Ägypten, und auf die Verwendung des Motivs in Texten bis zum Babylonischen Exil. Mit der Rückfrage nach der Historizität legt Michel auch einen Prüfstein für die späteren Transformationen dieses Befreiungsgeschehens. Ausgehend von der Kritik einiger Vertreter der archäologischen Forschung, die den Exodus für einen Mythos halten, differenziert Michel anhand der (legendarischen Züge in der) biblischen Erzählung und historisch-archäologischer Fakten detailliert, was aus historischer Sicht nicht möglich ist und was gewesen sein könnte. Eine Flucht kleinerer semitischer Gruppen um 1200 v.Chr. aus Ägypten wird weithin als denkbar angenommen. Erzählungen hiervon könnten bei Bewohnern des efraimitisch-manassitischen Berglands auf fruchtbaren Boden gefallen sein, die noch bis ins 10. Jh. unter der Herrschaft der ägyptischen Großmacht litten und denen die Botschaft von der Befreiung aus der ägyptischen Unterdrückung Hoffnung und Identität stiftete. Weitere „Stationen“ des Exodusmotivs sind die Zeit der assyrischen Oberherrschaft im 8./7. Jh. und die babylonische Zeit im 6. Jh., die den fremden Mächten die Macht des eigenen Gottes JHWH entgegenstellen. Bereits in der frühesten Zeit nach einem möglichen historischen Exodusereignis dürfte die Botschaft von der Befreiung aus Unterdrückung daher aufgegriffen worden sein, wobei „Ägypten“ zur Chiffre für die jeweilige Macht stand, der die Träger der Erzählungen begegnen wollten. Diese Erzählungen wirkten zugleich identitätsstiftend und prägten das Selbstverständnis der Trägergruppen als schwach und hilfsbedürftig, doch im Glauben an den Retter-Gott JHWH den Unterdrückern ebenbürtig oder gar überlegen. Es wird deutlich, dass das Exodusmotiv schon in den ersten Anfängen im Rahmen einer Transformationskette aufgebaut wurde – und so in die schriftlichen Zeugnisse Israels hineinwirkte.

Die Konstruktion und Transformation des Exodus in der hebräischen Bibel beleuchten drei Einzeluntersuchungen exemplarisch für die drei Kanonteile Tora, Propheten und Schriften. Alexandra Grund-Wittenberg geht der Verbindung von Exodus und Sabbat im Dekalog (Dtn 5,12–15) und in der priesterlichen Exoduserzählung nach. Die Arbeitsruhe erinnert nach Dtn an die Ausbeutung der Israeliten im Sklavenhaus Ägypten, was durch die Betonung der Arbeitsruhe gerade auch für die Sklaven hervorgehoben wird. Der Sabbat wird zu einem regelmäßigen kleinen Exodus aus knechtlicher Arbeit. Umgekehrt wird die Erinnerung an den als Erfahrung der Befreiung aus dem Sklavenhaus gezeichneten Exodus zum Impulsgeber für die Gesellschaft und befestigt zugleich Israels Identität als Volk der Befreiung. Im priesterlichen Duktus wird der Sabbat in den Zusammenhang der Auszugs- und Wüstenüberlieferung eingebunden. Für P ist der Exodus kein Selbstzweck, sondern Beginn der Entstehung Israels als Gottesvolk, mithin nicht nur Befreiung von den Lastarbeiten der Ägypter, sondern vor allem Befreiung zum Leben in Gottes Gegenwart. Die Teilnahme an den beiden Exodus-Gedenkfesten Pesach und Sabbat befördert das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die eng an ihren Retter-Gott gebunden ist und daraus Solidarität mit den sozial Schwachen zieht.

Ganz anders der Geschichtsrückblick in Ez 20*, mit dem sich der Beitrag von Carolin Neuber befasst: Ägypten ist nicht mehr das Sklavenhaus, sondern der Ort, an dem Israel den „Götzen Ägyptens“ anhängt. Die Herausführung aus diesem Land, die zugleich ein Bekenntnis zu JHWH als einzigem Bezugspunkt des Volkes fordert, scheitert. Das Befreiungsgeschehen wird zum Gericht. Kein anderer Text des Alten Testaments zeichnet den Exodus so negativ wie dieses Kapitel des Ezechielbuches. Während der Auszug aus dem Land der Unterdrückung in anderen Texten identitätsstiftend wirkt oder, in späten Texten aus dem Babylonischen Exil, die Hoffnung auf Restitution im eigenen Land wachhält, zerstört Ez 20* jegliche Bezugnahme auf den positiven Anfang, der sonst im Exodusereignis gesehen wird. Damit spricht der Text in die Situation des Exils hinein: Die Herausführung und Sammlung aus dem fremden Land ist zwar die Hoffnung der Exilierten, ihnen wird jedoch mit der Unheilsgeschichte vor Augen geführt, dass ohne eine klare Entschiedenheit für JHWH keine Zukunft möglich ist. Dass Ägypten nicht mehr als Sklavenhaus gezeichnet wird, sondern als Ort des Abfalls der Väter zu den Götzen, der von den Söhnen perpetuiert wird, macht aus den einstigen Opfern von Unterdrückung nun schuldig gewordene Täter der Übertretung. Die Transformation des Motivs ist extrem, die Erwartungen der Hörer/Leser werden bewusst durchkreuzt, um auch bei ihnen eine Transformation auszulösen.

In eine noch spätere Entstehungszeit ist Psalm 114 einzuordnen, der Traditionen von Schöpfung und Exodus zu einer neuen Aussageintention kombiniert, nach der Yair Zakovitch fragt. Die großen Umwälzungen in der Schöpfung, die das Exodusereignis verursacht hatte, finden nach Ps 114 immer noch statt; Schöpfung, Geschichte (= Exodus) und Gegenwart sind eins. Der Exodus als biblischer Big Bang hat Auswirkungen, die keine räumlichen und zeitlichen Grenzen kennen. Dasselbe gilt für den, der darin gehandelt hat: Gottes früheres Handeln verändert noch heute die Welt zum Guten. Damit trägt der Rekurs auf den als Heilsgeschehen für alle Zeiten und Räume konstruierten Exodus zur Konstitution einer Identität des erwählten Volkes bei.

Die nun folgenden fünf Artikel beleuchten, wie die Verwendung des Exodusmotivs in sehr unterschiedlichen Kontexten immer wieder auch zur Markierung von Gruppengrenzen dient, die in den ersten vier Fällen zwischen (früh)jüdischen und (früh)christlichen Gruppierungen der Antike und des Mittelalters verlaufen, im fünften Beitrag dagegen die entstehende muslimische Gemeinde betreffen.

Der Beitrag von Hans-Ulrich Weidemann widmet sich dem Exodusmotiv im Galaterbrief, das von Paulus auf das Herausreißen der Christus-Gläubigen „aus dem gegenwärtigen bösen Äon“ übertragen wird. Das Befreiungsgeschehen des Auszugs Israels aus Ägypten wird dabei nicht bloß als Motivgeber und heilsgeschichtliche Parallele herangezogen, sondern für die Argumentation so verändert, dass es ins Negative gewendet wird: Das als Finale des Exodus gegebene Gesetz wird zu einer Art Verlängerung und Verschärfung der Versklavung und somit der in Christus gegebenen Verheißung kontrastiv gegenübergestellt. Die Exodus-story wird dadurch radikal transformiert: Statt in die Freiheit führt der Exodus „unter das Joch der Sklaverei“. Dies geschieht mit Blick auf die Adressaten des Galaterbriefes, die sich offenbar als Heidenchristen unter das jüdische Gesetz stellen wollten. Für sie gestaltet Paulus diese radikale Neuinterpretation des Exodusmotivs, damit ihre Wahrnehmung verändert wird: Die Tora ist nicht länger Garant der im Exodus gewonnenen Freiheit, sondern wird degradiert zum „Pädagogen“, dem Israel untersteht, bis Christus das Gesetz außer Kraft setzt und die Verheißung einläutet. Die Transformation des Exodusmotivs erfolgt zielgerichtet auf die Gegenwart der galatischen Gemeinde und ihre Praxis hin. Damit wird das Motiv verändert, die neue Konstruktion des Motivs hat aber auch wieder prägende Auswirkungen auf die Rezeptionsgemeinde, deren Geschichte zum eigentlichen Exodusgeschehen wird.

Clemens Leonhard plädiert in seinem Beitrag dafür, die antiken Transformationsprozesse wahrzunehmen, statt eine vermeintliche Kontinuität von Motiven und Bedeutungen seit der biblischen Literatur zu insinuieren. Dabei nehmen die frühen christlichen wie die jüdischen Traditionen bereits in einigen späten biblischen Schriften angelegte Deutungsmuster wieder auf und führen sie weiter. Der Exodus hat für die jüdische wie christliche Liturgie eine besonders große Rolle. Die Rezeption und Transformation des Motivs ist daher eng verbunden mit den Entwicklungen ritueller Praxis in der Ausformung des rabbinischen Judentums und des Christentums. Dabei spielt wohl auch die gegenseitige Abgrenzung der entstehenden Gemeinschaften eine Rolle. Was von den Christen antijüdisch aufgegriffen wurde, wurde vom Judentum eher nicht zur Schärfung der eigenen Identität herangezogen. Christliche Autoren bedienen sich eher der allegorischen Exegese der Schrifttexte statt aus ihnen direkt eine rituelle Praxis abzuleiten. So transformiert der Exodus die Liturgie und Identität der sich voneinander abgrenzenden Größen Judentum und Christentum, und er wird in der Auseinandersetzung zwischen diesen selbst in erheblichem Maße transformiert.

Dies wird in den Überlegungen von Stephan Winter im Blick auf die christliche Osternachtfeier und exemplarisch anhand des Elements des Pesachlammes weitergeführt und illustriert. Bereits in der frühesten Phase des Christentums sind das Gedenken an Passion und Sterben Jesu Christi und die Exodus-Thematik mit der Schlachtung und dem Verzehr der Pesachlämmer in typologischer Lesart miteinander verbunden. Die in Christus Erlösten deuten ihre Rettung im Bild vom Durchzug durchs Rote Meer, sie fühlen sich hineingenommen in dieses Ereignis der Geschichte Gottes mit seinem Volk, wobei Christus als neuer Mose firmiert und zugleich als geschlachtetes Pesachlamm verstanden wird, dessen Blut vor dem Würgeengel des ersten Pesach (Ex 12) schützt. In einer Initiale des Codex Gisle wird die Verbindung zwischen Eucharistie und neu gedeutetem Exodus polemisch antijüdisch aufgenommen. Transformation kann also nicht nur, wie bei Ez 20* gesehen, die Aussage des Motivs in ihr Gegenteil verkehren, sondern wie im Codex Gisle gar zu dem Zirkelschluss führen, dass der Antijudaismus der Aufnahmekultur doch bereits in der Referenzkultur (der Schrift) angelegt sei.

Wie S. Winter der Verwendung des Exodusmotivs in der Abgrenzung des Christentums vom Judentum nachgeht, so spürt Agnethe Siquans umgekehrt dem Motiv in der Abgrenzung des rabbinischen Judentums vom entstehenden Christentum an einem nur auf den ersten Blick ungewöhnlichen Ort nach: im Hohelied, genauer im Midrasch zum Lied der Lieder. Die Befreiung Israels aus Ägypten wird darin zum entscheidenden Deuterahmen für das Hld – oder wird vielmehr das Hld zum Deuteschlüssel des Exodusbuches, das so als Liebesgeschichte zwischen JHWH und seinem Volk gelesenwerden kann? Die Befreiung aus Ägypten ist demnach auf alle späteren Notsituationen typologisch übertragbar, sie realisiert sich primär in der Bindung an JHWH. So wird der Exodus zu einem zeitlosen Modell für die Beziehung Gott-Volk, das in Zeiten, in denen die eigene Identität angefragt ist (z.B. im Angesicht des entstehenden Christentums), stabilisierend wirkt. Der Text kann mit der eigenen Situation ins Gespräch gebracht werden. Die rabbinischen Vorstellungen von einem richtigen jüdischen Leben formen dabei die Lektüre des biblischen Textes und verändern so diese Texte selbst, jedoch innerhalb des Rahmens, den diese Texte bereitstellen. Gerade wenn die Gegenwart keine Anzeichen für Erlösung und Befreiung sehen lässt, bieten die Tora und ihr Studium die Möglichkeit eines „inneren Exodus“. Das so transformierte Exodusmotiv kann die Identität stärken und transformiert wiederum die Gemeinde.

Um Identitätsbildung und Abgrenzung geht es auch in der Rezeption des Exodusmotivs im Koran, wie Catharina Rachik herausstellt. Es dient Muḥammad und der gerade entstehenden muslimischen Gemeinde im Konflikt mit ihrer Umgebung zur Identifikation mit Mose und den „Dienern Gottes“ in deren Streit mit Pharao. Zugleich verweist der Koran im Rückgriff auf die biblische Tradition darauf, dass Muḥammad und seine Anhänger rechtmäßige Erben der religiösen Geschichte ihrer Vorläufer sind. Die Transformation entsteht in einem lebendigen Dialog zwischen der Offenbarung der Suren und der die Offenbarung empfangenden Gemeinde und antwortet auf deren zeitgeschichtliche Umstände, Nöte und Fragen. Aus den „Kindern Israels“ werden bisweilen allgemein „Diener Gottes“, eine Gemeinschaft von Gläubigen an den einen, wahren Gott. Der Konflikt mit Pharao und den ägyptischen Zauberern wird dadurch transparent auf den Konflikt Muḥammads und seiner Anhänger in Mekka: Auch in der Unterdrückung sollen sie an ihrem Glauben festhalten, denn dann wird Gott ihnen gegen das Böse beistehen. Aus dem Exodus aus Ägypten wird eine spirituelle Befreiung, eine Rettung durch den Glauben und aus dem Unglauben.

Ähnlich und doch ganz anders sieht Rabbiner Jonathan Magonet in der am jüdischen Sederabend je neu aktualisierten Exoduserinnerung eine Befreiungserfahrung, die ewige und universale Geltung hat. Wer am Sederabend teilnimmt, erlebt in den Ritualen selbst den Übergang von Sklaverei zu Freiheit. So konnte die Erzählung vom Exodus aus Ägypten in der Geschichte des jüdischen Volkes in jeder Generation Hoffnung auf ein Ende der Unterdrückung und Verfolgung stiften. Doch es geht heute darin nicht mehr nur um ein einzelnes Volk, sondern um jeden Einzelnen und um die ganze Menschheit. Das kann konkrete politische Auswirkungen haben, z.B. während der Civil Rights Movement in den USA der 1960er Jahre, als u.a. jüdische Rabbis und Anwälte gegen Rassismus und für die Rechte von schwarzen US-Amerikanern und US-Amerikanerinnen einstanden. So kann der Durchzug durchs Rote Meer zum Sinnbild werden für den Weg der Schwarzen in die „weißen“ Institutionen und Wohnviertel. Der transformierte Exodus entfacht politische Sprengkraft mit dem Ziel, unsere Welt umzugestalten. Gerade weil zum Sederabend in informellem Kontext Familie und Freunde zusammentreffen, bestehen unendliche Möglichkeiten, die Ur-Erzählung neu zu entzünden. Eine Herausforderung besteht dabei für J. Magonet darin, was es für den modernen Staat Israel bedeutet, dass die Unterdrückten der Exodusgeschichte nun zu Machthabern geworden sind.

Mit dem Beitrag von Johannes Heger wird ein säkularer Rezeptionskontext, die modernen Medien, betreten. Die US-amerikanische Fernsehserie Die Simpsons will unterhalten, tut dies aber, indem sie spitzfindig und pointiert unsere gegenwärtige Welt auf die Schippe nimmt und uns damit einen Spiegel vorhält, wobei dementsprechend auch religiöse Themen, Motive und Zitate eingespielt werden. Die Aufnahmekultur bringt sich auch hier in der Transformation der Referenzkultur hervor, sie offenbart darin ihre Bedürfnisse, Defizite und Fragen und ist somit auch für die theologische Forschung interessant. Der Exodus wird in der Serie unverkennbar angespielt, jedoch vollständig verfremdet, denn die theologische Aussage der Befreiungserzählung fällt komplett aus. Im Setting der Serie geht es nicht mehr um die Beziehung zu Gott, sondern um Deutung und (eigenmächtige) Bewältigung der Lebenswelt. Für die praktische Theologie stellt nicht nur diese Rezeption des Exodus die Frage, was die Exodus-story heute noch, im religiösen wie im säkularen Umfeld, bedeuten und welche Kraft sie entfalten kann.

Selbst diese nur exemplarische Durchsicht der Transformationen des Exodus zeigt, dass der vorliegende Band ein lohnendes Projekt war, an dem viele Köpfe beteiligt waren, über deren Unterstützung ich mich freuen konnte. Mein erster Dank gebührt Prof. Dr. Hans-Ulrich Weidemann, der den Anstoß zur Fragestellung gegeben hat, mir mit steter Bereitschaft zur Diskussion, stetem Rat und unschätzbarer Hilfe zur Seite stand, auch als ich dann schon nicht mehr an seinem Lehrstuhl beschäftigt war. Dank auch den Kolleginnen und Kollegen vom Seminar für Katholische Theologie an der Universität Siegen, in dessen Umfeld es mir möglich war, das Projekt in Angriff zu nehmen. Drei der Beiträge nahmen ihren Anfang als Vorträge bei einer Lehrerfortbildung zum Thema Exodus, die am Siegener Seminar für Katholische Theologie veranstaltet wurde, und wurden für den hier vorliegenden Zusammenhang angepasst und überarbeitet. Ich danke Prof. Dr. Christoph Dohmen für die Aufnahme des Bandes in die Reihe Stuttgarter Bibel-Studien, Herrn Dr. Michael Hartmann für die Betreuung im Lektorat und Herrn Dr. Jean Urban Andres und dem Team von SatzWeise GmbH für die Erstellung der Druckvorlage. Einen herzlichen Dank auch meiner Hilfskraft an der Universität Freiburg i.Br. Frau Antonia Lelle für unermüdliches Korrekturlesen. Zu guter Letzt bleibt mir, allen Beitragenden dafür zu danken, dass sie sich bereitwillig auf den neuen Blickwinkel der Transformation eingelassen haben. Wie im Gleichnis der Arbeiter im Weinberg erhalten alle Beitragenden den gleichen Dank – die, die geduldig auf die Publikation warteten, als sich das Projekt verzögerte, und die, die spontan aufsprangen und mit wichtigen Beiträgen Lücken schlossen – doch glücklicherweise ist Dank nicht zu quantifizieren.

Freiburg i.Br., Pesach/Ostern 2018 Carolin Neuber

1Vgl. hierzu grundlegend Böhme, H., Einladung zur Transformation, in: ders. u.a. (Hg.), Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, München 2011, 7–37.

2Böhme, Einladung 8.

3Vgl. Böhme, Einladung 9.

4Böhme, Einladung 15, Hervorhebung i. Orig.

5Vgl. Böhme, Einladung 8.

6Dass sich das Exodusmotiv im Fokus der Wissenschaft befindet, zeigen die beiden kürzlich erschienenen Sammelbände zur Erforschung seiner Rezeption: J. Gärtner/B. Schmitz (Hg.), Exodus. Rezeptionen in deuterokanonischer und frühjüdischer Literatur (DCLS 32), Berlin/Boston 2016; M. Ederer/B. Schmitz (Hg.), Exodus. Interpretation durch Rezeption (SBB 74), Stuttgart 2017. Von ihnen unterscheidet sich der hier vorliegende Band durch den mit der Berücksichtigung des Transformationskonzepts veränderten Blickwinkel.

7H. Utzschneider/S. A. Nitsche, Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung. Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments, Gütersloh 32008, 194. In der 4. Aufl. (2014) wird stärker die „Plastizität“ (242) von Traditionen hervorgehoben.

8Zur Unterscheidung von story und history vgl. C. Frevel, Geschichte Israels (Kohlhammer Studienbücher Theologie 2), Stuttgart 2016, 19f.

9Das kommt der Konzeption nahe, die B. W. Breed für die Rezeptionsgeschichte der Bibel nahelegt (vgl. B. W. Breed, Nomadic Text. A Theory of Biblical Reception History, Bloomington/Indianapolis 2014, hier bes. 202–206): „Originaler“ Text und Kontext sind demnach nicht zu erfassen, vielmehr verändert sich ein Text (dies ist in seinem Sinne übertragbar auf ein Motiv oder eine Tradition) beständig im Laufe der Weitergabe. Breed schlägt daher vor, den Text (das Motiv, die Tradition) als „nomadisch“ zu betrachten: nirgendwo zu Hause, immer unterwegs von Kontext zu Kontext (oder, im hier verwendeten Modell: von Transformation zu Transformation). Demnach ist der einzige Blickwinkel, von dem aus ein Text betrachtet werden kann, der aus einem jeweiligen Kontext. Ein „originaler“ Blickwinkel ist jedoch nicht mehr zu erheben. Auch wenn den Schlussfolgerungen Breeds nicht in aller Konsequenz gefolgt werden kann (es muss, wie er selbst implizit zugibt [ebd. 206], ein „erstes Mal“ gegeben haben, ein erstes Ereignis oder eine erste Erzählung, auch wenn diese sich im Dunkel der Geschichte verliert und Breed zugestimmt werden muss, dass das „Original“ nicht bestimmt werden kann), geben sie doch einen entscheidenden Wink für die Betrachtung biblischer Texte, der auch für das hier vorgestellte Modell interessant ist: Texte sollten nicht nach äußeren Kriterien („Wo kommt der Text her?“; Nationalität, religiöser oder zeitgeschichtlicher Kontext des „Autors“) eingeordnet werden, sondern nach internen Kriterien, die aus dem Text selbst erhoben werden, so dass sich die Frage einstellt: „Was kann dieser Text tun?“

10Vgl. dazu den Beitrag von A. Michel.

11Böhme, Einladung 15, Hervorhebungen i. Orig.

12Dabei wäre allerdings erst zu erheben, wie hoch diese Kontinuität objektiv tatsächlich ist, vgl. zu stark abweichenden Transformationen des Exodusmotivs u.a. die Beiträge von C. Neuber, H.-U. Weidemann und J. Heger.

Exodus – historisch, mythisch, theologisch

Andreas Michel

Die folgende Untersuchung fragt nach der Möglichkeit und den Bedingungen des antiken „Ereignisses“ Exodus, dem für unterschiedliche Gegenwarten, speziell jüdische, sinnstiftende Funktion, insofern „Geltung“ zukommt.1 Es geht hier um die „Robustheit“2 dessen, wovon die Exoduserzählung ausgeht, also um die Frage: Hat die Exoduserzählung, historisch gesehen, ein robustes Mandat, das sich gegen die Behauptung reiner Fiktionalität des Exodus zur Wehr setzen kann und die Basis eines nachmaligen Gedächtnisses darstellt?3 Oder ist die einzige Auskunft, die man über die Historizität des Exodus treffen kann, diejenige von William Dever von 1997: „As a Syro-Palestinian archaeologist, I regard the historicity of the Exodus as a dead issue …“?4 Ist die Historizität des Exodus auch für den gläubigen, speziell auch den jüdischen Bibelleser „a dead issue“, darf sie das sein? Ist das für eine seit dem II. Vatikanischen Konzil auch heilsgeschichtlich ausgerichtete christliche Theologie eine nachrangige, belanglose Frage? Lässt sich in der für das Alte Testament zentralen Formulierung: „JHWH hat Israel aus Ägypten herausgeführt“ ein historischer Kern ausmachen? War Israel überhaupt je in Ägypten? Ist der Exodus „mythische Gründungsgeschichte“, die sich dem historischen Zugriff entzieht, geradezu entziehen will, oder ist die Rede vom Mythos gar doch nur eine allzu moderne Immunisierungsstrategie gegen die schwierige historische Frage? Dem kundigen Leser des Neuen Testaments und der christlichen, gar katholischen Debatte um den historischen Jesus drängt sich da schon die eine oder andere Frage auf.5 Der Exodus – ein Mythos?

Wenn es gelingt, den Exodus doch ein Stück weit vom Geruch des Todes zu befreien, soll in einem zweiten Zug nach frühen Transformationen dieses dann für historisch fundiert gehaltenen Motivs gesucht werden, nach mythischen Tiefendimensionen der Exoduserzählung speziell im Exodusbuch und der theologischen Funktion dieser Texte. Einer Erzählung wie in Ex 1–14 oder einem Gedicht wie in Ex 15 inhärieren natürlich ipso genere fiktive, mythische Elemente. Ohne sie funktioniert Erzählung, klingt Poesie nicht. Aber „nur“ Mythos? Gehen wir an die Bedingungen der Möglichkeit eines Exodus, auch wenn er ggf. sehr anders ausgesehen haben mag als im biblischen Exodusbuch gezeichnet.

1.Was der Exodus nicht ist bzw. nicht gewesen sein kann

Fangen wir mit dem an, was historisch einfach nicht geht.

1.1Die Anzahl der Flüchtenden

Nach Ex 1,5 sind einst in der Generation nach Jakob/Israel 70 menschliche Lebewesen nach Ägypten ausgewandert, wenige Generationen später allein 600.000 erwachsene Männer – in der Mehrheit Israeliten – aus Ägypten ausgezogen (Ex 12,37f.).6 Solche Zahlen entspringen offenkundig der Großmannssucht. Das ist auch besser so, denn wenn wirklich vielleicht insgesamt 2.000.000 Menschen/Israeliten aus Ägypten ausgezogen wären, dann bekämen wir mit der Güte und Fürsorglichkeit des sie herausführenden Gottes ein großes Problem: Nach allem, was wir halbwegs sicher sagen können, wohnen selbst im entwickelteren nachmaligen Israel/Juda des 8. Jh. nur noch ein Bruchteil davon, 10 oder 20%.7 Ein göttlich veranstalteter Genozid größten Ausmaßes? Es ist ohnehin klar, dass wir nicht über ein Zwölf-Stämme-Volk Israel reden, wie es Ex 1,1–5 insinuiert. Das ist allzu offenkundig eine spätere Konstruktion.

1.2Die Datierung der Flucht

Die einzige ausdrückliche innerbiblische Datierung des Exodus bietet 1 Kön 6,1: „Im vierhundertachtzigsten Jahr nach dem Auszug der Israeliten aus Ägypten, im vierten Jahr der Regierung Salomos über Israel, im Monat Siw, das ist der zweite Monat, begann er das Haus des Herrn zu bauen.“ Demnach fand der Exodus 480 Jahre vor dem salomonischen Tempelbau statt. 480 ist mit 12 mal 40 natürlich eine mehrfach verdächtig runde Zahl. Sie führt uns just in die Zeit der 18. Dynastie unter Thutmosis III. (1479–1426), der wie kein anderer vor und nach ihm über Kanaan und sogar Syrien geherrscht hat. Er mag in vielem den lokalen städtischen Potentaten freie Hand gelassen haben, solange sie ihren Vasallenpflichten Ägypten gegenüber nachkamen. Gleichwohl: Die ägyptische Herrschaft in Kanaan war gefestigt. Wer um 1440 v.Chr. von Ägypten nach Kanaan vor Ägypten geflohen wäre, wäre in Ägypten gelandet, selbst wenn er sich ins periphere efraimitisch-manassitische Bergland zurückgezogen hätte.

1.3Die Umstände von Ägyptenaufenthalt und Flucht

Es gibt eindeutig legendarische Züge der Erzählung, für die die Behauptung eines fundamentum in re unsinnig wäre. Dazu gehört die Bedrohung des Mosekindes und die Binsenkorberzählung, die wohl doch der späten Legitimation dient und in die neuassyrische Zeit verweist.8 Dazu gehört die hebräische Ableitung des Namens Mose (Ex 2,10), die vor allem eins verrät: ein ganz unverkrampftes, von Problembewusstsein unbekümmertes Verhältnis zur hebräischen Grammatik bzw. Morphologie, denn die in Ex 2 gegebene Form funktioniert sprachlich einfach nicht. Etwaige Geschwister des Mose, in der Bibel heißen sie Mirjam und Aaron, sind historisch nicht greifbar. Die Tötung der israelitischen Erstgeborenen (Ex 2) verdichtet und übersteigert ebenso wie die konkrete Ausgestaltung der Plagenerzählung (Ex 7–11) Erfahrungen, die man damals im soziopolitischen, religiösen wie auch naturalen Umfeld machen konnte, aber unspezifisch über viele Jahrhunderte, ja Jahrtausende.9 Zum Legendarischen gehört sicher das Ausplündern der Ägypter (Ex 12,35– 36). Auch dass die Einführung von Pessach und Erstgeborenenbestimmungen10 in den historischen Kontext einer möglichen Flucht aus Ägypten hineingehören, ist nicht wirklich plausibilisierbar, wenn auch nicht völlig unmöglich. Auszugsrouten über die alte Militärstraße am Mittelmeer oder – wie ausdrücklich erst in der Septuaginta – über das Rote Meer sind deutlich Konstruktionen der jeweiligen Gegenwart in ihrer Kenntnis über die aktuelle ägyptische politisch-ökonomische Geographie. Wenn außerdem ein großes ägyptisches Heer, sogar inklusive des Pharao, eine solche Niederlage erlitten hätte und untergegangen wäre (Ex 14), hätten wir mit einiger Wahrscheinlichkeit darüber irgendwelche indirekten, ägyptischen Dokumente, wenngleich Niederlagen nie gern berichtet werden.

1.4Verkettung mit anderen Traditionen

Die Verkettung der engeren Exodustradition mit anderen großen Traditionen, namentlich der vierzigjährigen Wüstenwanderungszeit, den Sinaierlebnissen und der ostjordanischen Landnahme ist kaum ursprünglich, das hat die traditionsgeschichtliche Forschung des letzten Jahrhunderts eigentlich zweifelsfrei erbracht.11 Die Wüstenwanderungstradition ist eindeutig von späteren theologischen wie literarischen Konzepten her entwickelt, verdächtig ist allein schon wieder die Angabe der Dauer mit 40 Jahren. Es fehlen dafür ja außerdem im Sinai jegliche relevanten archäologischen Spuren aus der Spätbronze- bzw. frühen Eisenzeit insbesondere an den Orten, die am Rand der Wüste und im Übergang zum Kulturland berührt worden sein sollen.12 Die Sinaitradition enthält zwar durchaus z.B. ältere Theophanieelemente, das heißt aber nicht, dass diese automatisch oder von vornherein mit der Exodustradition verbunden waren. Das anerkanntermaßen älteste Rechtsbuch der Bibel, das Bundesbuch, das sich grob in Ex 21–23 findet, ist selbst wohl erst im Laufe der Zeit in den jetzigen Kontext eingebettet worden. Auch die ostjordanische Landnahme nimmt wohl kaum historische Erinnerungen auf, die mit dem Exodus zusammenhängen.

Wenn man diese Grenzen historischer Plausibilitäten beachtet und insofern die Vorstellung vom Exodus „abrüstet“ bzw. redimensioniert, dann kann man m.E. durchaus ernsthaft über plausible Züge eines möglichen Exodusereignisses oder – eher im Plural – möglicher Exodusereignisse diskutieren.

2.Plausible Züge des Exodus

Gab es bekanntermaßen überhaupt Semiten aus dem Großraum Kanaan, Syrien, Sinai, Ostjordanland, die festgehalten und unterdrückt wurden und insofern ihr Heil in der Flucht gerade nach Kanaan hätten suchen können? Ist Kanaan überhaupt ein Raum, in den man jemals vor der ägyptischen Macht hätte fliehen können, ohne wieder wie im 15. Jh. in Ägypten zu landen? Wann wäre also eine solche Flucht aus Ägypten nach Kanaan möglich und zielführend gewesen? Wann bzw. ab wann gibt es eine ethnische Größe „Israel“ bzw. einen Gott JHWH in Verbindung mit einer Größe „Israel“, ggf. auch aus ägyptischer Wahrnehmung? Gibt es also doch irgendwelche plausiblen Detailzüge in der Exoduserzählung des Exodusbuches, die an historisch-archäologische Kenntnisse anschlussfähig wären? Und schließlich: Wo kommt eigentlich das biblische Grundzeugnis vom Exodus her, wie alt ist es und warum ist es entstanden?

2.1Zur möglichen Datierung der Exodusereignisse

Da die ausdrückliche biblische Datierung, die ohnehin offenkundig zahlensymbolischer Art ist, nicht funktioniert, ist ein anderer Haftpunkt zu suchen. Den entscheidenden Anlass dafür gibt die in Ex 1,11 und 12,37 genannte „Vorratsstadt“ Ramses. Die Nennung einer solchen Stadt verbietet ohnehin eine kurzschlüssige Lektüre der Bibel in Bezug auf die vermeintlich historischen Angaben, denn eine Stadt „Ramses“ kann es schlicht vor der Ramessiden-Zeit nicht gegeben haben, und die regieren in Ägypten erst ab dem beginnenden 13. Jh. (19. Dynastie mit Ramses I. und Ramses II.) und dann bis ins 11. Jh. hinein (20. Dynastie mit Ramses III. bis Ramses XI.). Wer also, reichlich biblizistisch, den Exodus ins 15. Jh. datieren wollte, müsste wenigstens, unter Hintanstellung eines solchen Biblizismus, annehmen, dass die Angabe der Stadt Ramses doch erst eine literarische Korrektur frühestens aus dem 13. Jh. darstellt. Einfacher ist es, das Ereignis „Exodus“ ab dem 13. Jh. und eigentlich spätestens ins 12. Jh. zu datieren, weil es mit der im Text genannten Stadt Ramses eine besondere Bewandtnis hat, freilich nicht als einer beliebigen Vorratsstadt, sondern als hervorgehobener Residenz- bzw. Hauptstadt:13 14So könnte der Grundzug der Exoduserzählung mit dem erzwungenen Bau einer Stadt Ramses durchaus historisch sein.