Aus dem Amerikanischen von Manfred Sanders

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Adjustment Day

erschien 2018 im Verlag W. W. Norton & Company.

Copyright © 2018 by Chuck Palahniuk

Copyright © dieser Ausgabe 2018 by Festa Verlag, Leipzig

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-688-5

www.Festa-Verlag.de

Für Scott Allie

Wegen seiner Entschlossenheit

»Demokratie hält sich nie lange.

Schon bald verbraucht, erschöpft und ermordet sie sich selbst.«

– John Adams

Immer noch reden die Leute von diesem Weltverbesserer. Ein Musterpfadfinder, der eine unter vielen. So ein Chorknabe, der Lieblingsschüler irgendeines Lehrers, spaziert in die Polizeiwache Südost, schaut sich nach rechts und links um, flüstert hinter vorgehaltener Hand. Es ist längst dunkel, längst nach Mitternacht, als dieser Bursche hereinkommt, die Kapuze über dem Kopf, Schultern hochgezogen, Sonnenbrille auf der Nase, das ganze Programm. Er ist kein Stevie Wonder. Kein Blindenstock, kein Hund. Flüsternd fragt er, ob er mit einem Verantwortlichen sprechen kann. Spricht den diensthabenden Beamten an. Flüstert: »Ich möchte ein geplantes Verbrechen melden.«

Und der diensthabende Sergeant: »Können Sie sich ausweisen?«

Eine Baseballkappe, den Schirm tief ins Gesicht gezogen, die Kapuze über die Kappe geschlagen; nur seine Nase und seinen Mund sieht man, als diese Spaßbremse, dieser besorgte Bürger, mit dunklen Schweißflecken auf dem Rücken seines Sweatshirts, flüstert: »Das haben Sie nicht von mir, okay?« Er schüttelt den Kopf. »Und nicht hier in der Öffentlichkeit.«

Also sagt Mr. Sergeant jemandem Bescheid. Macht eine große Schau daraus, wie er auf einen Schalter drückt, den Telefonhörer abnimmt und piepend die Tasten drückt, ohne den Blick von diesem Burschen mit der Sonnenbrille abzuwenden, und fragt, ob ein Detective runter zum Empfang kommen und eine Aussage aufnehmen kann. Ja, ein möglicher Hinweis. Der Sergeant schaut auf die Hände des jungen Mannes, die er nicht sehen kann, weil sie in der Bauchtasche seines Hoodies stecken, kein gutes Zeichen. Und die ganze Zeit nickt der Sergeant. Zeigt mit dem Kinn auf den Burschen. »Können Sie bitte Ihre Hände so halten, dass ich sie sehen kann?«

Der Junge gehorcht, tritt aber von einem Fuß auf den anderen, als wäre er seit mindestens 100 Jahren nicht mehr pinkeln gewesen. Dreht den Kopf nach hinten, als würde er damit rechnen, dass ihn jemand von der Straße hier herein verfolgt. Sagt: »Ich kann hier nicht so offen herumstehen.«

Die Arme dieses Burschen hängen schnurgerade herunter, während er von der Hüfte abwärts hyperaktiv ist, als wäre er bei Riverdance oder als würde er einen Porno drehen; genau wie ein Pornostar lässt er den Arm auf der Kameraseite hängen, zieht ihn nach hinten, wie gelähmt, während seine Hüften pumpen, als würde der Arm in verständlicher Scham vom Drehort zu fliehen versuchen.

Diensthabender Sergeant: »Leeren Sie Ihre Taschen.« Und er winkt diesen braven Bürger in die Richtung so eines tunnelartigen Metalldetektors wie auf dem Flughafen.

Der Vorzeigepfadfinder holt seine Brieftasche und sein Handy aus der Tasche und legt sie in die Plastikschale. Nach langem Zögern auch seine Sonnenbrille. Die übliche Homeland-Security-Prozedur. Die Augen des Burschen zucken. Blaue Augen unter besorgt zusammengekniffenen Augenbrauen. Macht ein Gesicht, von dem er Falten kriegen wird, wenn er älter ist.

In der Polizeiwache ertönt ein Geräusch, wie ein Ploppen, wie ein Schuss, wie eine Waffe, die abgefeuert wird, nur gedämpft, vielleicht draußen. Der Junge schreckt zusammen. Ganz definitiv ein Schuss.

Und der Detective: »Sind Sie high, Sohn?«

Der Bursche macht ein Gesicht, als hätte er gerade die falsche Person nackt von hinten auf einem Fahrrad gesehen. Seine Stimme stürzt eine Klippe hinab, wird auf dem Weg nach unten immer schriller, und er sagt: »Kann ich meine Brieftasche zurückhaben?«

Der Detective: »Eins nach dem anderen.« Er fragt: »Sind Sie hier wegen der bevorstehenden Tötungen?«

Und der Junge so: »Sie wissen schon davon?«

Der Detective fragt, wem der Junge sonst noch davon erzählt hat.

Und dieses nützliche Mitglied der Gesellschaft, dieser junge Bursche, er sagt: »Nur meinen Eltern.«

Der Detective gibt dem Burschen seine Brieftasche zurück, seine Schlüssel, die Sonnenbrille und das Handy, und der Junge fragt, ob er seine Eltern anrufen oder ihnen eine Nachricht schicken kann, dass sie hierherkommen sollen, hier auf die Wache, jetzt sofort.

Der Detective lächelt. »Wenn Sie einen Moment Zeit haben, kann ich alle Ihre Fragen beantworten.« Er zeigt mit dem Kopf auf die Kamera an der Decke. »Nicht hier.« Der Detective, er führt diesen Jungen, Amerikas neuesten Helden, einen Betonkorridor entlang, eine Feuertreppe hinab, durch ein paar Stahltüren, auf denen Für Unbefugte verboten steht. Führt den Burschen zu einer weiteren Stahltür. Schließt sie auf. Öffnet die Tür.

Die Eltern des Jungen, sie simsen, dass sie kommen, um ihm zu helfen. Sie simsen, er soll keine Angst haben. Hinter der Stahltür ist es dunkel und es stinkt. Der Junge folgt dem Detective. Seine Eltern simsen, dass sie vorne am Empfang sind.

Und jetzt kommt der beste Teil. Der Detective schaltet das Licht ein. Der Informant, die Petze, sieht in der Mitte des Raumes aufgetürmt einen Berg blutiger Klamotten. Als Nächstes sieht er die Hände, die aus den Ärmeln ragen. Es sind nur Klamotten und Schuhe und Hände, denn die Köpfe und Gesichter wurden ausgelöscht. Eine ferne Stimme, gedämpft aus einem anderen Raum, sagt: »Das Einzige, was uns wahrhaft vereint, ist unser Wunsch, vereint zu sein …«

Und da dreht sich unser Chorknabe Hilfe suchend zum Detective um und sieht nichts mehr außer der Pistolenmündung, die direkt auf sein Gesicht zielt.

Sobald die Sondierungsgeräte ihre Suche nach Rohren und unterirdischen Stromkabeln abgeschlossen haben, gibt er das Okay für den Baubeginn. Der Baumaschinenverleih fährt den Bagger herüber, den mit der größten Schaufel.

Sie sind gerade mal halb mit dem Graben fertig, als jemand über den Trainingsplatz angeschlendert kommt, der zu alt ist, um ein Student zu sein. Irgendeine Lehrkraft. So ein Wichtigtuer in einer von diesen indisch bedruckten Baumwoll-Kordelhosen. Ledersandalen und Socken. Trägt ein Sweatshirt mit dem Aufdruck ›So sieht ein Feminist aus‹. Irgendwas Zusammengerolltes klemmt unter seinem Arm. Er hat den üblichen grauen Bart und eine Brille. Sobald er in Rufweite ist, hebt Graubart den Arm und winkt. Er ruft: »Schöner Tag für Freiluftarbeiten.«

Ja, und ein Pferdeschwanz. Schlendert über den Fußballplatz. Kahl bis auf den grauen Pferdeschwanz, der halb seinen Rücken hinunterhängt. Und funkelnd im Sonnenschein ein Ohrring. Ein grell blitzender Diamantohrring.

Die Vorgaben verlangen die Aushebung eines Rechtecks von zehn mal 100 Metern. Vier Meter tief, der Boden planiert und beschichtet mit einem halben Meter undurchlässiger Tonerde. Darüber eine nahtlose Abdeckung in Form einer Polyethylenfolie, um ein mögliches Durchsickern ins Grundwasser zu verhindern. Dieser Standort hier ist mindestens 500 Meter von jeder Trinkwasserquelle und jedem offenen Wasserlauf entfernt. Es sind die gleichen Vorgaben, die sie landesweit verwenden, die gleichen Vorgaben wie bei dem Staubecken einer Fabrik, nur ohne die komprimierte harte Tonschicht, die die Umweltbehörde normalerweise verlangen würde.

Das zusammengerollte Ding unter Graubarts Arm: eine Yogamatte. Er fragt: »Was bauen die Herren denn hier?« Ein Professor, der sich unter die Prolls mischt.

Rufus sagt: »Campusausbau.« Wie er es schafft, nicht dabei zu lachen, weiß man nicht, aber er sagt: »Unterirdische Dauerparkplätze für die Fakultät.«

Naylor lacht, hält sich aber sofort die Faust vor den Mund und tut so, als wäre es ein Husten. Ostermann wirft ihm einen bösen Blick zu.

Der Professor: »Nennen Sie mich Brolly. Dr. Brolly.« Er streckt seine Hand aus, die niemand ergreift, jedenfalls nicht sofort. Naylor sieht Weise an. Rufus hebt sein Klemmbrett und blättert durch den dicken Stapel Papier, der darauf klemmt. Die Hand des Professors schwebt in der Luft, bis Ostermann sie schüttelt.

Rufus blättert durch seine Papiere. »Brolly … Brolly …« Sein Finger wandert an einer Liste abwärts, und Rufus sagt: »Sie unterrichten etwas, das sich ›Das arrogante Vermächtnis des privilegierten eurokolonialistischen Kulturimperialismus‹ nennt?«

Der Prof nickt mit dem Kopf in Richtung Klemmbrett und meint: »Darf ich fragen, auf was Sie da Bezug nehmen?«

Ohne eine Sekunde zu zögern, schießt Rufus sofort zurück: »Eine Umweltverträglichkeitsstudie.«

Naylor und Weise prusten los. Vollidioten. Sie drehen allen den Rücken zu, bis es ihnen gelingt, eine halbwegs professionelle Fassung wiederzugewinnen. Sie kichern immer noch, bis Ostermann sie anfährt: »Jetzt reißt euch mal zusammen!«

Der Prof kriegt ein ganz rotes Gesicht unter seinem Bart. Er klemmt die Yogamatte von einem Arm unter den anderen und sagt: »Ich frage ja nur, weil ich dem Komitee gegen die Verwundung der Erde angehöre.«

Rufus konsultiert seine Liste. »Vizevorsitzender, heißt es hier.«

Naylor entschuldigt sich, um den Baggerfahrer zu informieren, dass die Westseite der Aushebung abgeschrägt werden muss, denn das ist die Seite, von der aus die Lastwagen sie füllen werden. Und keiner will, dass der Grubenrand unter dem Gewicht einstürzt. Weise stützt sich auf seine Schaufel, nickt, um die Aufmerksamkeit des Profs auf sich zu ziehen, und sagt: »Nettes Sweatshirt.«

Arm heben, Ärmel zurückschieben, um auf eine Armbanduhr zu schauen – der Prof macht eine große Show daraus, als er nach der Uhrzeit sieht. Und sagt: »Ich würde immer noch gerne wissen, was das hier werden soll.«

Die Nase weiter in seine Papiere vergraben, fragt Rufus: »Ihr Büro ist wie gehabt in der Prince Lucien Campbell Hall? Fünfter Stock?«

Der Prof sieht ein bisschen verunsichert aus.

Weise fragt: »Das ’n echter Diamant?« Steckt im linken Ohr des Profs, absolut perfekt.

Der Fußballrasen reicht bis zum Rand der Aushebung. Darunter sieht man eine kleine Schicht Mutterboden. Drunter ist ein ziemlich breiter Streifen Unterboden und unter dem dann die ganz alten Dinosaurierschichten. Der Glockenturm des Verwaltungsgebäudes fängt an, vier Uhr zu schlagen.

Der Prof lässt sich auf ein Knie hinab, direkt am Rand des Loches. Nichts als nackte Erde, tiefer als ein Swimmingpool. Tiefer als ein Keller. Erde und Würmer. Die steilen Kanten gefurcht von den Zähnen der Baggerschaufel. Kleine Klumpen lösen sich und rollen nach unten.

Dort an der Kante kniend beugt sich der Prof über den Abhang. Wie er da so über etwas nachdenkt, das er nicht verstehen kann, könnte man auch meinen, dass er nach Fossilien sucht. Dumm wie ein Schwein, das zum Schlachter geführt wird, erkennt er das Offensichtliche nicht, versucht aber, irgendwelche letzten Spuren einer versunkenen Zivilisation zu identifizieren. Aber auf jeden Fall bekommt er einen langen, ausgiebigen Blick auf alles abgrundtief Dunkle, dessen Existenz er sich sein ganzes Leben lang nicht eingestehen wollte.

Die Frühstückscerealien haften an seiner Haut wie Schorfkrusten mit Fruchtgeschmack. Er pellt eine mit rotem Geschmack ab und isst sie. Sie hinterlässt ein Nachbild auf seinem Arm wie ein winziges, rundes, rotes Tattoo. Als würde er sich in einen regenbogenfarbenen Leoparden verwandeln.

An diesem Morgen wacht Nick auf mit verschütteten Froot Loops, die an seinem Rücken kleben. Kleine runde Flecken in Regenbogenfarben, wie Rettungsringe, die auf seine Bettwäsche gemalt wurden. Er hebt das Handy vom Boden auf und versucht, den gestrigen Abend zu rekonstruieren.

»Belohnung für Informationen« steht da. Eine Textnachricht, die ein paar Minuten nach Mitternacht kam. Er versucht, den Text zu beantworten, aber es ist eine gesperrte Nummer.

Er hat noch nicht das Bett verlassen, als das Handy klingelt. Unterdrückte Rufnummer. Nick tippt aufs Display und sagt: »Ja, bitte?«

Eine Stimme fragt: »Nicholas?« Eine männliche Stimme, aber nicht Walters. Auch nicht die von seinem Dad. Krächzend und pfeifend, aber kultiviert. Niemand, den Nick kennt, nennt ihn Nicholas.

»Nein, hier ist Nicks Freund«, lügt er. Er muss dringend pinkeln. Ins Handy sagt er: »Nick ist unterwegs.«

Der Mann am Telefon: »Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle.« Krächzend: »Mein Name ist Talbott Reynolds. Wäre es zufällig möglich, dass Sie etwas über den Aufenthaltsort von Miss Shasta Sanchez wissen?« Pfeifend: »Dieses hinreißenden und bezaubernden Wesens.«

Wieder lügt Nick: »Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.«

Das Handy: »Sind Sie bekannt mit der zauberhaften Miss Sanchez?«

Und Nick so: »Nee.«

»Wurden Sie in letzter Zeit von der Polizei oder von einem gewissen Walter Baines kontaktiert?«, fragt dieser Talbott-Mensch.

Langsam begreift Nick. Walter. Walt, der Versager. Der lahmarschige, hilflose Loser. Jede Überdosis und jeder Verkehrsunfall stößt mit blinder Sicherheit ihm zu. Damals, als Walter Badesalz schnupfte und versuchte, seine Hand aufzuessen, da war es Nick, der ihn in die Notaufnahme brachte. Oder noch schlimmer, als er versuchte, diese heiße Satanistin anzubohren. Ohne sich die Mühe zu machen, die Verärgerung in seiner Stimme zu verbergen, sagt Nick: »Nie gehört.«

Die Stimme am Telefon klingt etwas hallend. Als würde er irgendwo aus einem großen Loch anrufen, sagt dieser Talbott: »Ich kann Ihnen versichern, dass ich eine extrem wohlhabende Person bin und bereit, Ihnen eine großzügige Anerkennung für jede Hilfe, die Sie mir leisten können, zu zahlen.«

Nicks Finger tasten zwischen den Laken herum, bis sie auf etwas Rundes stoßen. Eine Zehn-Milligramm-Flexeril, der Größe nach zu urteilen. Aus Reflex steckt er sie sich in den Mund, ohne hinzusehen, und kaut sie ohne Wasser. Vielleicht geht es bei diesem Anruf um einen Drogendeal; Nick ärgert sich, dass er in die Sache hineingezogen wird. Die Geschehnisse von letzter Nacht sind noch immer ein bisschen nebelhaft in seinem Kopf. Er hat zu lange gewartet, lange genug, dass jemand das Signal seines Handys orten könnte. Lange genug, dass jemand an seine Tür klopfen könnte. »Soll ich Nick was ausrichten?«

»Sagen Sie ihm«, sagt die Stimme, dieser Talbott, »er soll nicht zur Polizei gehen.« Nach einem winzigen Zögern: »Versichern Sie ihm, dass sich alles in ein paar Tagen klären wird.«

Nick, der schon spürt, wie sich seine Muskeln lockern und entspannen, fragt: »In was ist Shasta denn dieses Mal wieder reingeraten?«

Die Stimme, dieser gut betuchte alte Knacker, Talbott, er fragt: »Darf ich Ihren Namen erfahren?«

Aber Nick beendet das Gespräch.

Er steigt aus dem Bett und lugt durch die Schlafzimmervorhänge. Niemand steht vor seiner Tür, noch nicht. Er pflückt ein Froot Loop mit grünem Geschmack von seinem Arm und kaut darauf, während er nachdenkt. Bevor er irgendwas anderes macht, wischt und tippt er, um das GPS seines Handys auszuschalten. Als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme klappt er die Rückseite auf und nimmt den Akku heraus.

Reihen von Klappstühlen sind aufgestellt worden, trotzdem müssen einige Leute an den Seiten und hinten stehen. Es ist in diesem riesigen Sportwarenladen, dem mit den Wasserfällen und dem Forellenbach zum Indoor-Fliegenfischen, nur dass es nach Geschäftsschluss ist, deshalb ist der Wasserfall ausgeschaltet, und der Bach ist nur eine Reihe trockener Glasfaserbecken und die Forellen sind weggesperrt in Tanks hinter den Kulissen. Als wäre Mutter Natur nach Hause gegangen, hört man keinen Soundtrack von Vogelgesang oder das aufgezeichnete Röhren eines Elchbullen.

Bing und Esteban mustern die Zuschauer, überwiegend eine Ansammlung von Bubba-Typen. Dazu ein paar vereinzelte Jamals. Eine Armee einsamer Wölfe. Auf der anderen Seite des Publikums sitzt dieser Trottel aus dem Fitnesscenter, Colton Sowieso, daneben seine Alte, Peggy oder Polly. Den Zuschauern gegenüber sitzt ein Mann, der jetzt fragt: »Wer von Ihnen weiß, warum man die Ohren von Hunden kupiert?«

Bevor jemand antworten oder seine Hand heben kann, fängt er an zu erzählen, wie in alten Zeiten Schafhirten ihren Hunden die Ohren beschnitten haben. Um Infektionen zu verhindern. Um zu verhindern, dass Wölfe sich bei Kämpfen darin festbeißen konnten. Die Hirten benutzten dazu die gleichen Scheren, mit denen sie ihre Schafe schoren. Sie brieten die abgeschnittenen Stücke, kochten sie und verfütterten sie dann an die gleichen Hunde, um sie grimmiger zu machen, ungelogen.

Dieser Sportwarentyp, er fragt die Zuschauer: »Wie viele von Ihnen kennen sich mit altem assyrischen Recht aus?« Niemand meldet sich. Er setzt noch einen drauf: »Dem Babylonischen Kodex von Hammurabi, der Gesetzesbrecher mit dem Abschneiden der Ohren bestrafte?« Er berichtet davon, wie Heinrich VIII. im 16. Jahrhundert Landstreicher bestrafte, indem er ihre Ohren stutzte. Und das amerikanische Gesetz erlaubte es noch 1839, dass Ohren abgeschnitten wurden als Strafe für Volksverhetzung oder Moralverstöße.

Die Sache auf den Punkt bringend sagt er: »Es sollte Sie nicht überraschen, dass seit Anbeginn der Kriegsführung Söldner Ohren gesammelt haben als Beleg für ihre Bezahlung.«

Bing hebt die Hand und meint: »Klingt blutig.«

Der Sportwarentyp schüttelt den Kopf. »Nicht …« Er hält einen Zeigefinger hoch und lässt die Zuhörer einen Moment warten. »… wenn die Zielperson tot ist.«

Der Hauptvorteil dabei, wenn man Skalps nimmt, erklärt er, ist, dass sie wenig wiegen. Leicht zu entnehmen und zu transportieren. Der Nachteil ist, dass sie eine ziemliche Sauerei anrichten. Das Gleiche gilt für Herzen. Ein Herz zu entnehmen dauert eine Weile. Ohren hingegen, Ohren sind ideal. Das linke Ohr, um genau zu sein.

Ohren sind auch in großer Zahl gut zu transportieren. Leicht zu verbergen. 100 Ohren stellen für eine Einkaufstüte aus Papier keine große Belastung dar. Das entspricht 300.000 potenziellen Stimmen, damit ist man praktisch seine eigene politische Partei.

Der Sportwarentyp wendet dem Publikum die Seite seines Kopfes zu und sagt: »Packen Sie mal.«

Er meint sein Ohr. Esteban schaut sich um. Niemand packt zu, also tritt er vor und greift nach dem Ohr des Mannes. Es fühlt sich warm und gummiartig an. Der Mann sagt: »Ziehen Sie mal kräftig.« Er schärft ihnen die Regeln ein: Nur das linke Ohr zählt. Das linke. Nur Ohren auf der Liste. Es wird stichprobenartige DNA-Tests geben, und wenn festgestellt wird, dass man ein Ohr eingereicht hat, das nicht auf der Liste steht, wird man mit dem Tode bestraft. Ohren dürfen nicht getauscht oder verkauft werden, und nur die Person, die das Ohr abgetrennt hat, darf es für Stimmrechte einreichen.

Der Sportwarentyp quatscht weiter, über Stierkämpfer. Darüber, dass Ohren die Hitzeregulatoren des Körpers sind.

Esteban steht neben ihm und hält das Ohr von dem Kerl fest, als wäre es Bargeld.

Außerdem, sagt der Typ, sind Ohren strapazierfähig. »Selbst bei einem Kopfschuss bleibt das Ohr – möglicherweise müssen Sie danach suchen –, aber das Ohr bleibt intakt.« Zu Esteban, der immer noch an seinem Ohr zieht, sagt er: »Sie können sich jetzt wieder hinsetzen.«

So wie es der Sportwarentyp erklärt, besteht ein Ohr zum größten Teil, also der äußere Teil, die Ohrmuschel, aus Knorpel von der elastischen Sorte. Daraus und aus der äußeren Knorpelhaut, die es mit Blut und Lymphe versorgt. So leicht zu schneiden wie ein Reifen.

Die beste Methode, sagt er, besteht darin, abwärts vom Ansatz der Ohrkrempe bis zum Ohrläppchen zu schneiden.

Er sagt: »Wenn Sie einen Reifen aufschneiden können, können Sie auch ein Ohr abtrennen.«

Der Sportwarentyp lässt sich darüber aus, dass man dazu eine gerade Klinge braucht, ein feststehendes Zehn-Zentimeter-Messer mit vollem Erl, der Griff kein schicker Leder- oder Knochen- oder Holzgriff, sondern grifffestes Polymer. Das ist sein Job: Sachen verkaufen. »Was Sie brauchen, ist kohlenstoffhaltiger rostfreier Stahl.« Keine Messer mit kurzem Erl. Messer mit kurzem Erl neigen dazu abzubrechen. Auch Klappmesser brechen ab. »Ein Mann kann so viele Zielpersonen ernten, wie er will, aber wenn sein Messer abbricht, was nützt es ihm dann?«

Und der Sportwarentyp so: »Der Tag wird kommen, an dem die Leute ihre Küchenscheren verwenden werden – aber wie können sie hinterher nach Hause gehen und mit dem gleichen Werkzeug, mit dem sie Ohren abgetrennt haben, ein Huhn zerteilen?«

Laut, zu laut, sagt Esteban: »Amen!« Ein paar Leute lachen.

Das hier, das ist Estebans Vision davon, wie sie Kriegerkönige oder so etwas werden. Seine Überlegung ist, dass die meisten Männer sich nicht mit anderen zusammenschließen werden. Männer sind Einzelkämpfer, so wie in den alten Zeiten diese Ritter, die man anheuern konnte. Der typische Mann wird versuchen, eine Zielperson zu erledigen und das Ohr abzutrennen, und zwar ganz allein. Ständig wechselnde Aufgaben verlangen von ihm, immer wieder umzudenken. Das macht ihn langsamer. Die Lösung, hat Esteban sich überlegt, ist Arbeitsteilung. Bing ist ein verdammt guter Schütze, das ist Bing, also wird er das Ziel ausschalten, während Esteban das Abschneiden übernimmt. Zusammen bilden sie ein Schieß-und-Schneide-Duo. Gemeinsam können sie den Grundstein für eine glorreiche Dynastie legen, die für alle Zeiten Bestand haben wird. Ihre Kinder und ihrer Kinder Kinder werden von königlichem Geblüt sein.

Die Korrektur wird ihr letzter Versuch sein, etwas Sinnvolles mit ihrem Leben anzufangen.

Es ist wie Nat Turners Aufstand oder John Browns Überfall. Ein Vermächtnis. Sobald die neuen Kreuzzüge kommen, der Ein-Tages-Kreuzzug, werden sie sich etwas erkämpfen, vergleichbar mit den Rittern, die mit Ländereien belohnt wurden. Aber es wird eine Macht sein, die über Land und Geld hinausgeht. Sie werden zu königlichen Geschlechtern werden. Mit einer Einkaufstasche, vollgestopft mit Ohren, werden sie ihren Platz in der Geschichte einnehmen. Esteban und Bing und ihre Nachkommen werden in zukünftigen Jahrhunderten über eine mächtige Nation herrschen.

Als er wieder auf seinem Stuhl sitzt, holt Esteban ein Papiertaschentuch und eine Tube Kokosbutter aus seiner Jackentasche. Er ist jetzt ein Raubtier an der Spitze der Nahrungskette. Wenn er ein ganzes Leben voller abgetragener Kleidungsstücke und Essensreste hinter sich lassen will, muss er erst mal den Gestank von dem schmierigen Ohr des Typen von seinen Fingern kriegen.

Shasta drehte sich nicht um. Sie war es gewohnt, dass diese Collegebubis sie zwischen den Kursen durch die Korridore verfolgten, dass sie ihre vanilleeisfarbenen Kurven mit den Augen vergewaltigten, dass sie ihre Ohren vergewaltigten mit Rufen wie: »Besteigen wir den Mount Shasta!« Diese ungestümen Deppen, wie sie riefen: »Lasst uns mit Shasta zusammen den Gipfel erklimmen!«

Wie sie an ihren Dreadlocks zogen und riefen: »Shasta, lass mich unter deine Baumgrenze!«

Auf diesen Ruf hin drehte sie sich um. Sie hoffte, dass es Walt war. Es klang wie Walts Stimme. Aber als sie sich umschaute, war es so ein Hippietyp, dessen Atem wie eine abgefackelte Partyschüssel voll billigem Gras roch. Er stürzte auf sie zu, die Zunge halb heraushängend, die Lippen geschürzt, und versuchte, ihr einen Kuss zu rauben.

»Ich werde dich vermissen, Shasta«, rief der Kiffer.

Verwirrt gab sie zurück: »Aber ich gehe doch gar nicht weg!« Sie machte einen Schritt zur Seite, als er versuchte, ihr einen Klaps auf den Hintern zu geben.

Dann begriff sie, dass er gehen würde. Dieser traurige Hippietyp, er würde sterben.

Alle diese Collegebubis würden qualvolle, schreckliche, furchtbare Tode sterben.

Der arme Kerl. Sie alle waren zu bedauern.

Hier an der University of Oregon konnte Shasta die Anmacherei, welche Ausmaße sie auch annehmen mochte, nicht wirklich ernst nehmen. Diese Jungs, sogar die, die sie in ihr Yogatrikot zu kneifen versuchten, taten das alles nur, weil sie Angst hatten.

Dr. Brolly, der Wiederkehrende Muster in der Politik lehrte, hatte es erklärt.

Für die Erstsemester hielt er einen Kurs ab, in dem es um ein Buch von so einem deutschen Eierkopf ging. Dieser akademische Klugscheißer, Gunnar Heinsohn, vertrat die Theorie, dass alle größeren politischen Umwälzungen der Geschichte durch einen Überschuss an jungen Männern verursacht wurden. ›Jugendüberschuss‹ nannte der gescheite Sauerkrautfresser das. Atemlos vor Erregung dozierte Professor Brolly über dieses Konzept. Die Grundidee war, dass, wenn mindestens 30 Prozent einer Bevölkerung aus männlichen Einwohnern zwischen 15 und 29 bestand – dann Vorsicht!

Diese überschüssigen jungen Männer, wenn sie einigermaßen gebildet und gut versorgt waren, verlangten nach einem höheren sozialen Status und richteten im Streben danach Chaos und Verwüstung an. Laut Gunnar streben Hungernde nicht nach Anerkennung. Ebenso erkennen des Lesens unkundige junge Männer nicht, wie die Geschichte sie ignoriert. Aber wenn der Jugendüberschuss gut genährt und einigermaßen gebildet ist, wird daraus ein Rudel gieriger, nach Aufmerksamkeit lechzender Wölfe.

Als sein Lieblingsbeispiel führte Dr. Brolly Spanien im Jahre 1484 an. In jenem Jahr erklärte Papst Innozenz VIII., dass jede Form der Geburtenkontrolle mit dem Tod bestraft werden würde, und die Durchschnittsgröße einer gewöhnlichen spanischen Familie sprang von zwei Kindern auf sieben. Nur der männliche Erstgeborene konnte darauf hoffen, den Familienbesitz zu erben. Weibliche Kinder hatten zur damaligen Zeit keine großen Erwartungen. Aber zusätzliche männliche Kinder verlangten nach Ansehen, Macht, Anerkennung und sozialem Status. Es war diese Welle junger Männer, die sich selbst Secundones nannten oder ›Zweitrangige‹; es waren diese Männer, die mit Christoph Columbus’ zweiter Expedition in die Neue Welt strömten und zu den Legionen der Konquistadoren wurden, die die unschuldigen Mayas und Azteken versklavten und ausplünderten.

Wenn man Wikipedia Glauben schenken durfte, war Gunnar Heinsohn 1943 in Polen geboren worden, was ihn offiziell megaalt machte.

Shasta fand ihn selbst mit seinen struppigen blonden Haaren und dem coolen europäischen Namen nur mäßig scharf.

Während der gesamten Geschichte, so lehrte Dr. Brolly, hatten ähnliche Überschüsse ungestümer junger Männer Regierungen gestürzt und Kriege ausgelöst. Das Frankreich des 18. Jahrhunderts erlebte einen Bevölkerungsanstieg, der die Nachfrage nach Nahrungsmitteln dramatisch erhöhte. Preise stiegen, Bürger rebellierten, und die frustrierten jungen Menschen stürzten die Aristokratie Ludwigs XVI. und schlugen Marie Antoinette ihr juwelengeschmücktes Haupt ab.

Das Gleiche bei der bolschewistischen Revolution. Sie wurde ausgelöst von einer Welle nachgeborener Söhne vom Lande, für die es kein Ackerland zu erben gab. In den 1930er-Jahren erlebte Japan einen Jugendüberschuss, der zur Invasion in Nanking führte. Gleichermaßen wäre Maos Revolution ohne einen Überschuss junger Männer in China kaum möglich gewesen.

Shasta hatte alle Details in sich aufgesogen. Ganz offensichtlich war jedes schlimme Ereignis der menschlichen Geschichte von einem Überschuss süßer, junger potenzieller Boyfriends verursacht worden.

Laut dem Council on Foreign Relations ereigneten sich zwischen 1970 und 1999 etwa 80 Prozent aller innerstaatlichen Konflikte in Nationen, in denen 60 Prozent der Bevölkerung jünger als 30 waren! Gegenwärtig gab es 67 Länder mit diesem sogenannten Jugendüberschuss, und 60 davon litten unter sozialen Unruhen und innerstaatlicher Gewalt.

Wie in Ergänzung zu Brolly erklärte Miss Pettigrove, die Grundlagen der Genderforschung lehrte, dass jeder Konflikt, der die männliche Bevölkerung reduziert, den gesellschaftlichen Wert von Männern erhöht. Das wiederum führt zu einer Neugeburt des Patriarchats. Wenn weniger Männer zur Auswahl stehen, werden die Frauen anfälliger für Torschlusspanik und ordnen sich bereitwillig allem unter, was Hosen trägt.

Man brauchte nicht viel Grips, um zu begreifen, warum die männliche Studentenschaft an der University of Oregon herumpolterte, forsch und laut, aber insgeheim voller Angst. Die Vereinigten Staaten waren nur wenige Tage von der Unterzeichnung einer Kriegserklärung gegen den Nahen Osten entfernt. Die Region litt unter ihrem eigenen wachsenden Überschuss an jungen Männern, während die USA Probleme mit der Hyperaktivität und den Statuswünschen der Generation der Millennials hatten – allem Anschein nach der größte Jungenüberschuss der gesamten Weltgeschichte.

In Miss Lanahans Kurs Biologie der Tierdynamik hatten sie ein Video über Tierrechte gesehen, das von PETA oder irgendjemandem gedreht worden war. Es zeigte eine Geflügelfarm, auf der supersüße, frisch geschlüpfte Küken auf ihr Geschlecht hin untersucht wurden. Die Babyhennen kamen unter Wärmelampen und erhielten Futter und Wasser. Die Babyhähne wurden in einen dunklen Schacht geworfen. Sie türmten sich in einem Container auf, so viele, dass sie eine flauschige, wimmelnde Masse bildeten, in der jedes Küken um sein Überleben kämpfte. Ein Gabelstapler beförderte den Container auf ein unbestelltes Feld und kippte ihn aus. Dort wurden dann die männlichen Küken, lebende und tote gleichermaßen, als organischer Dünger untergepflügt.

Die jungen Männer im Kurs hatten gebrüllt vor Lachen, als die wimmelnde, piepende Masse der niedlichen Osterküken aus dem Container gekippt wurde. Winzige gelbe Flauschbälle taumelten, frierend und voller Panik, über die nackte Erde. Im Handumdrehen pulverisierten riesige Traktorreifen und hackende und wühlende Landmaschinen jedes bezaubernde neue Leben.

Die Jungen lachten, das war Shasta klar, nicht weil es lustig war, sondern weil sie selber die Küken waren.

Wie konnten diese Teenager sich darauf konzentrieren, im Kunstunterricht Collagen anzufertigen oder im Sportunterricht Gesellschaftstänze zu lernen, wenn ein einziger Strich eines Regierungsfüllers ihr Leben mehr oder weniger beenden konnte?

Jeder wusste es: Ihr 18. Geburtstag war ihr Todesurteil gewesen.

So hatten sich Politiker schon immer der Bürde überschüssiger Männer entledigt. Es machte Shasta traurig. Wirklich traurig. Diese großmäuligen Sportskanonen und Kiffer und Nerds, sie waren wandelnde Tote. Sobald die Kriegserklärung unterzeichnet war, hieß es: Goodbye männliche Millennials! Hallo neu zementiertes Patriarchat!

Die jungen Männer, die Shasta in den Korridoren nachstellten, die versuchten, nach ihren BH-Trägern zu greifen, und ihr Anzüglichkeiten und sexuelle Anspielungen hinterherriefen, sie alle waren für den Militärdienst registriert. Die meisten von ihnen würden ins Ausland verfrachtet werden, um von den Kugeln feindlicher Kämpfer durchsiebt zu werden.

Deshalb, wann immer Shasta Anstoß an ihren Belästigungen nahm, dachte sie daran, dass schon bald die meisten von ihnen unter Wüstendünen liegen würden, zusammen mit einer ähnlichen Zahl an ungestümen, fremdländischen Nahostjünglingen. Shasta würde einen Collegekurs nach dem anderen abschließen, während ihre männlichen Kommilitonen eingezogen wurden. Deren Muskeln und Aknepickel würden von Panzerketten zermalmt und von Landminen in schreiende Stücke gerissen werden, genau wie die lebendig begrabenen, frisch geschlüpften Babyhähne, deren einziges Verbrechen es war, mit dem falschen Geschlecht auf die Welt gekommen zu sein.

Shasta würde ihren Abschluss in Sozialarbeit machen, der Anfang eines erfüllten, langen Lebens.

Und sie würde daran denken, sich an jedem Gedenktag eine Mohnblume an ihr Revers zu heften.

Hinter ihr zischte eine Stimme: »Shasta …«

Sie drehte sich um, bereit, einem weiteren Belästiger eine Abfuhr zu erteilen, aber sie hatte sich geirrt. Es war Nick. Ein Ex-Freund von ihr. Nick, der nach dem ersten Semester alles hingeschmissen hatte, weil er sich sagte, dass er keine Kenntnisse in Physik und Analysis II für eine erfolgreiche Karriere als zerfetztes, blutiges Kanonenfutter brauchte. Sie freute sich, ihn zu sehen.

Dem fahlen Halblächeln auf seinem Gesicht nach zu urteilen, freute er sich ebenfalls. Bevor der Augenblick zu etwas Klebrigem und Romantischem werden konnte, fragte er sie: »Hast du Walter in letzter Zeit gesehen?«

Walt war ihr aktueller Freund. Er hatte ebenfalls die Schule geschmissen. Er arbeitete bei Starbucks, um sich ein paar Dollar zu verdienen und zu versuchen, das kostbare bisschen an Leben, das ihm noch blieb, zu genießen. Nein, sie hatte ihn nicht gesehen. Nicht seit gestern, als er irgendwas von einer basisdemokratischen Massenmordverschwörung gefaselt hatte.

»Zuerst einmal«, sagte Nick, »wenn die Polizei fragt: Du hast mich nicht gesehen.« Er nahm ihre Hand und zog sie zu einem leeren Lagerraum unter der südlichen Treppe der Schule. »Shasta, Süße, wir müssen reden.« Er strich ihr die Dreadlocks aus dem Gesicht. »Keine Sorge, ich habe nicht vor, dich zu vergewaltigen.«

Shasta ließ es zu, dass er sie in den Lagerraum zog.

Gregory Piper hatte einen zweiten Rückruf erhalten. Sein Agent war ganz aus dem Häuschen. Die Rolle, die er übernehmen sollte, war eine Figur namens Talbott Reynolds. Ein fiktiver Monarch, der über ein in naher Zukunft spielendes Utopia von Kriegern und Jungfrauen herrschte und dem jede Korruption fremd war. Die Figur war ein Unsterblicher, eine Art politischer Heiliger. Eine wichtige Rolle in einer Fernsehpilotfolge, die in der Vorproduktion war.

Natürlich klang das Projekt nach absolutem Müll. Wieder so ein flacher Pappcharakter. Piper seufzte in sich hinein. Aber egal, für ihn war es ein Schaufenster. Werbung in eigener Sache. Er hatte nicht gearbeitet – kein einziger Werbespot, keine Zeichentrickvertonung – seit fast einem Jahr, und bei den Raten für seine Eigentumswohnung stand ihm das Wasser bis zum Hals.

Notfalls würde er seine Karriere auch für traurige Independent-Produktionen opfern. Pilotfilme, die nie von einem Sender aufgegriffen wurden. Er würde vor frisch von der Filmhochschule kommenden Autorenfilmern katzbuckeln, die von legalisiertem Marihuanageld finanziert wurden und ein Führungslicht nicht von einem Objektivfilter unterscheiden konnten. Es würde damit enden, dass er jede Szene neu umpositionierte und dem Kameramann Ratschläge gab und dem Regisseur beibrachte, wie man durch die Platzierung der Schauspieler eine Gegenerzählung einbaute.

Zugegeben, die heutige Truppe sah aus, als stünde sie noch eine Stufe unter den üblichen Hollywood-Außenseitertypen. Die Männer, die ihm die Hand schüttelten, hobelten seine Handfläche mit ihren Schwielen ab. Sie rochen nach Schweiß. Sie tranken Dosenbier an einem Klapptisch, während sie sich über die Vorzüge jedes Schauspielers unterhielten. Ihre Fingernägel hatten Schmutzränder, und kein Chirurg hatte ihre Haut unterspritzt oder gestrafft, um die Falten in ihren niemals lächelnden, sonnenverbrannten Gesichtern zu glätten.

Der Castingchef hieß Clem. Einfach nur »Clem«. Seine Fingerknöchel waren braun von verkrustetem Blut, und er sah eigentlich mehr wie ein Gewerkschaftsvertreter aus. Clem schüttelte Pipers manikürte Hand und gab ihm den Vorsprechtext. Ihm hatte Pipers Auftritt als Ronald Reagan gefallen, den Piper in einer Dokumentation eines Kabelsenders über den Anschlag auf den Präsidenten gespielt hatte. Clem drückte Pipers Hand und sprudelte heraus: »Sie waren echt gut, wie Sie die Hände in Ihren Bauch gekrallt haben und zwei Stunden lang nicht gestorben sind.«

Ein Mann mit gebrochener Nase und verstümmelten Blumenkohlohren, die aussahen, als hätte jemand zwei Kohlköpfe an seinen Kopf geklebt, tauchte auf und stellte sich als der Kameramann vor. Sein Name war LaManly. Niemand hier nannte einen Nachnamen. LaManly hatte einen breiten Südstaatenakzent und ein Hakenkreuz-Tattoo an der Seite seines dicken Halses. Er musterte Piper von oben bis unten und murmelte: »Netter Fummel.«

Das Casting verlangte von den Bewerbern, Anzug und Schlips zu tragen, wie es sich für den Anführer der freien Welt geziemte. Gekämmtes Haar, glänzende Schuhe. Piper hatte sich das zu Herzen genommen und seinen besten Saville-Row-Einreiher angezogen. Ein rasches Abschätzen der Konkurrenz verriet ihm, dass er die Rolle vielleicht schon allein aufgrund seines Anzugs bekommen würde. Die anderen, die zum Vorsprechen hier waren, waren romantische Hauptdarsteller, die ihre beste Zeit hinter sich hatten. Attraktive Männer, die von ihrem kantigen Kinn und ihrer markanten Stirn gelebt hatten. Es waren hölzerne Schauspieler, spezialisiert auf hölzerne Rollen: Richter, Anwälte, Hausärzte.

Als jemand seinen Namen aufrief, stellte Piper sich an die markierte Stelle vor der Kamera. Daneben stand eine Texttafel auf einem Dreibeingestell. Unter der Überschrift ›Bitte vorlesen‹ stand eine handgeschriebene Liste. Ein Regieassistent legte sein Auge an den Sucher der Kamera, um die Einstellung zu kontrollieren. Mit einer Handbewegung wies er Piper an, einen halben Schritt zur Seite zu gehen. Der Mann trug ein kariertes Flanellhemd, das nicht zugeknöpft war, und als er sich über den Sucher beugte, konnte man unter dem Hemd ein fleckiges Muskelshirt und ein Schulterholster mit einer Pistole sehen.

Der Regieassistent streckte einen wurstigen Zeigefinger aus, formte seine Hand zu einer fleischigen Pistole und gab das Zeichen zu beginnen. Das vierschrötige Filmteam setzte sich an einen nahe gelegenen Tisch und sah auf Monitoren zu.

»Mitbürger«, begann Piper und beschwor seinen besten Ronald Reagan herauf, »ich spreche zu Ihnen als das Oberhaupt Ihrer neuen Regierung.« Das Geheimnis für einen guten Reagan war, ein leichtes Surren in seine Stimme zu legen. »Während der gesamten Geschichte musste man sich Macht verdienen.« Eine weitere Reagan-Regel lautete, dass die Pausen zwischen den Wörtern wichtig waren, vielleicht sogar wichtiger als die Wörter selbst.

»In der Vergangenheit«, fuhr Piper fort, »wurden jene mit Macht belohnt, die sich ihrer würdig erwiesen. Nur die besten Krieger wurden gekrönt.«

Piper senkte sein Kinn kaum merklich. »Heutzutage hat die Politik die Macht zu einem Popularitätswettstreit degradiert.« Indem er aufblickte, seine Pupillen halb unter seinen zusammengezogenen Brauen versteckt, deutete er Geringschätzung an. Die bedrohliche Missbilligung eines Höhlenmenschen, dessen Augen so tief in den Höhlen lagen, dass sie fast verschwanden.

Die kleine Gruppe von Schauspielern, die darauf warteten, an die Reihe zu kommen, konnte noch einiges von ihm lernen. Piper hatte Lear gespielt. Er hatte Moses gespielt.

»Bis heute«, dozierte er, »haben moderne Staatsführer sich für ihren Posten angebiedert, statt ihn sich im Kampf zu verdienen.« Er machte eine Pause, um die Worte sacken zu lassen.

»Seit Beginn der industriellen Revolution«, sagte Piper. Es war eine knifflige Überleitung. Ein besserer Autor hätte einen geschmeidigeren Übergang verfasst, aber ein Schauspieler, der sein Handwerk beherrschte, konnte immer die Mängel eines schlechten Textes überspielen. Oft indem er einfach die einleitenden Worte wiederholte, deshalb: »Seit Beginn der industriellen Revolution haben globale Kräfte der Menschheit eine umfassende Standardisierung aufgezwungen.«

Ohne den Blickkontakt mit der Kamera zu unterbrechen, konnte Piper spüren, dass diese Wiederholung gut ankam. Der Castingchef nickte und machte sich eine kurze Notiz in seinen Text. Zwei andere Männer, ein Produzent und ein Drehbuchautor, tauschten ein Lächeln aus und zogen die Augenbrauen hoch. Niemand tappte ungeduldig mit einem Fuß. Niemand trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. Sogar der Regisseur hörte auf, den Donut zu kauen, den er sich in den Mund gestopft hatte.

Piper fuhr fort: »Während unseres ganzen Lebens haben wir unter der Tyrannei standardisierter Zeitzonen, standardisierter Einheiten für Temperatur und Entfernungen, vorgeschriebener Verhaltensregeln und gebilligter Ausdrucksformen gelitten …« An dieser Stelle war keine Ellipse vorgesehen, aber Piper fügte sie hinzu, um der folgenden Passage eine größere Wirkung zu verleihen. »… diese allgemeingültigen Konventionen haben uns unser Leben geraubt.«

Hier lächelte er, um eine neue Überleitung anzukündigen.

Piper behielt die digitale Zeitanzeige der Kamera im Auge. Sie wollten das Ganze in einem Zeitrahmen von vier Minuten, und er würde die Spanne exakt ausschöpfen.

»Die heldenhaften Taten des heutigen Tages haben uns von der Tyrannei langjähriger Konventionen befreit.« Er sprach jedes Wort breit aus, dehnte es, ließ es auf der Zunge zergehen, um der Botschaft die Jovialität einer Roosevelt-Kaminplauderei zu verleihen. »Vom heutigen Tage an sind die Menschen, die unsere Nation anführen, ausgewiesene Helden.«

Pipers Tonfall wurde gönnerhaft, eine lupenreine Hyde-Park-Selbstgefälligkeit, abschätzig gegenüber allen Ängsten, die sein Publikum hegen mochte. Um die Rede über die Zielgerade zu bringen, bauschte er sie mit etwas JFK-Bombast auf.

»Diese neuen Anführer sind die Kämpfer, die uns alle erlöst haben«, verkündete er, halb rufend. »Viele Generationen lang werden diese Befreier unsere Nation auf ihrem neuen Kurs der Freiheit anführen.«

Piper wusste, dass die Worte nicht unbedingt Sinn ergeben mussten. Sie mussten nur eine positive emotionale Reaktion hervorrufen.

»Von diesem glorreichen Tag an«, proklamierte er. Seine Stimme klang, als käme sie aus einem granitenen Mund auf dem Mount Rushmore. Ihr Echo schien durch die Zeiten zu hallen wie die Gettysburg-Rede.

»Von diesem glorreichen Tag an weisen wir die Gleichmacherei und Verdummung durch die globalen Normen zurück, und wir widmen unser Leben …« Piper machte eine Pause, als würde er von Gefühlen übermannt werden. »… der Wiederherstellung unserer Identität und unserer Souveränität.«

Ein guter Schauspieler hält sich an seinen Text.

Ein großer Schauspieler weiß, wann er improvisieren und einen Punkt unterstreichen muss, den der Drehbuchautor übersehen hat. Eine Abweichung vom Manuskript würde Piper diesen Job entweder vermasseln oder sichern.

Indem er der Kamera einen finsteren LBJ-Blick zuwarf, improvisierte Piper: »Bevor wir etwas von bleibendem Wert erschaffen können, müssen wir zunächst uns selbst erschaffen.«

Immer noch direkt in die Kamera schauend, fügte er hinzu: »Ich danke Ihnen.«

Exakt vier Minuten.

Der ganze Raum brach in Applaus aus. Die raubeinigen Filmleute standen auf, pfeifend und mit den Stiefeln stampfend. Sogar Pipers Konkurrenten, seine Schauspielerkollegen, die an der Seite saßen und darauf warteten, an die Reihe zu kommen, selbst sie beklatschten widerwillig seinen Triumph.

Der grobschlächtige Castingchef, Clem, schlurfte vor, sein fleischiges Gesicht zu einem Lächeln gekräuselt. Er schlug Piper auf den Rücken und sagte: »Die Stelle mit dem ›uns selbst erschaffen‹ – absolut brillant.« Er hielt ihm ein Stück bedrucktes Papier vor die Nase. »Bevor Sie Ihren Platz verlassen …« Er zeigte auf die mit Klebeband markierte Stelle auf dem Boden. »… würden Sie das wohl noch in die Kamera lesen?«

Mit rauen, vernarbten Fingern reichte Clem ihm eine Karteikarte. Ein einzelner Satz stand darauf. Piper las die Worte und gab die Karte zurück. Er fixierte die Kamera mit strengem Blick und sagte den Satz auf.

»Suchen Sie nicht danach«, ließ Piper verlauten. »Die Liste existiert nicht.«

Aus dem Off sagte der Regisseur: »Nächste Zeile.«

Piper las: »Ein Lächeln ist die beste kugelsichere Weste!« Ein Standfotograf erschien am Rand seines Sichtfeldes und machte ein paar Aufnahmen.

Der Regisseur: »Weiter. Nächste Zeile.«

Piper kniff die Augen zusammen und schenkte der Kamera einen weisen Blick, bevor er las: »Das Göttliche kämpft einen ständigen Kampf, um sich uns zu beweisen.«

Ohne auf einen Kontext zurückgreifen zu können, tat er sein Bestes. Er las: »Diejenigen, die den Frieden fordern, sind die Leute, die bereits die Macht besitzen.«

Sie ließen ihn die Liste der hurrapatriotischen Slogans wiederholen, bis er sie auswendig kannte und nicht länger ablesen musste. Er rezitierte. Ohne eine Pause reichte ihm ein Laufbursche ein großes blau-schwarzes Buch. Es hatte ungefähr die Größe eines Bildbandes, diese Dinger, die normalerweise voll sind mit Hochglanzfotos. Das Cover war leer bis auf den Titel in vergoldeten Buchstaben. Adjustment Day – Tag der Abrechnung von Talbott Reynolds. Die Figur, die Piper verkörperte. Der Fotograf machte Aufnahmen von ihm, wie er das offene Buch hielt, aus allen Richtungen und Entfernungen.

Niemand applaudierte, aber eine Aura tiefer, zufriedener Zustimmung erfüllte den Raum. Bevor Piper seinen Platz verlassen konnte, bat der Regisseur ihn, die erste Seite vorzulesen.

Piper überflog den Text. Oben auf der Seite stand in großer Schrift: »Gegenseitige Abhängigkeitserklärung«.

Es gab keine Protestmärsche. Die National Mall, die sich vom Kapitol bis zum Washington Monument erstreckt, sie hätte voll sein müssen mit Demonstranten. Wimmelnden, skandierenden, Transparente schwenkenden Hippiehorden. Millionen Antikriegsdemonstranten. Die Telefone in seinem Büro, in Senator Holbrook Daniels’ Büro im vierten Stock des Hart Senate Office Building, die Telefone hätten nicht stillstehen dürfen. Aber die Telefone schwiegen. Keine einzige der Millionen wütender E-Mails, die sein Stab erwartet hatte, schlug in seinem senatorischen Posteingang auf.

Nein, das einzige Anzeichen von Aktivität war ein kleiner Trupp Bauarbeiter. Von seinem hohen Fenster aus sah Senator Daniels ihnen zu, wie sie eine breite Grube aushoben. Sie hatte ungefähr die Ausmaße von zwei hintereinandergelegten olympischen Schwimmbecken. Die Arbeit fand statt auf dem Rasen zwischen der First Avenue und den Treppen des Kapitols.

Diese dummen, dreckigen Malocher, die da unten buddelten – fast taten sie dem Senator leid. Er setzte sich in seinen ledernen Schreibtischsessel in seinem klimatisierten, von öffentlichen Geldern finanzierten Allerheiligsten. Wenn sie nicht bald starben, würden es ihre Söhne tun. Ihre Söhne und Enkel und Neffen. Ihre Lehrlinge und Gesellen. Die überschüssigen Männer einer ganzen Generation.

Jetzt, da die Abstimmung über die Nationale Kriegsresolution nur noch wenige Tage entfernt war, hätten eigentlich wütende und verängstigte Amerikaner seine Tür einrennen müssen. Aber keiner tat es. Und nicht nur in seinem Büro herrschte Ruhe, auch jedes andere Büro im ganzen Gebäude war so still wie eine Kirche. Seine Assistenten und Helfer hatten in der Telefonzentrale und bei den IT-Typen nachgefragt: Die Telefone und Server funktionierten einwandfrei.

Er konnte sich das nur so erklären, dass die Amerikaner zu sehr entlang der Bruchlinien persönlicher Gruppenzugehörigkeitspolitik aufgespalten waren. Anscheinend kümmerte es niemanden, wenn andere gezwungen wurden, ihre Lenden zu gürten und sich niedermetzeln zu lassen. Die jüngste Politik hatte erfolgreich die Bevölkerungsgruppe der jungen Männer als innenpolitischen Feind gebrandmarkt – als Brutstätte der Vergewaltigungskultur, der schulischen Amokläufer und Neonazis –, und die von den Medien in Angst und Schrecken versetzten Amerikaner waren nur zu froh, dass diese faulen Äpfel aussortiert wurden.

Die Massenmedien hatten ihren vom Staat verordneten Auftrag, die jungen Männer im diensttauglichen Alter zu verteufeln, ausgezeichnet erledigt und den Weg für ihre Einberufung geebnet.

Noch vor Ende der Woche würden gewählte Volksvertreter einstimmig dafür stimmen, den Wehrdienst wieder einzuführen und zwei Millionen junge Männer in einen Krieg in Nordafrika zu schicken. In gleicher Weise würden die Oberhäupter einer Handvoll Länder in Westafrika und im Nahen Osten eine entsprechende Anzahl junger Männer gegen die Amerikaner ins Feld schicken.