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Impressum

Alle Rechte vorbehalten

© 2018 Friedrich Reinhardt Verlag

eISBN 978-3-7245-2307-9

www.reinhardt.ch

ISBN der Printausgabe 978-3-7245-2309-3

cooperation neue medien (cnm)

www.cnm.ch

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Inhalt

Vorwort

Wieso wir am Auftritt der Kirchen leiden

Sind wir von dieser Welt?

Wie sogar die Bibel Schlagzeilen macht

Inhalts- und Image-Analyse der Kirchen

Kommunizieren Christen in Deutschland besser?

Die Kirchen im gesellschaftlichen Abseits

Der Kampf um Aufmerksamkeit

Wenn Christen positive Schlagzeilen machen

An ihren Worten sollt ihr sie erkennen

Keine frommen Sprüche ohne tägliche Knochenarbeit

Social Media und die Kirche

Plötzlich in den Schlagzeilen!

Reden und Handeln wie Jesus

Checklisten

Vorwort

Danke, dass Sie dieses Buch in die Hände nehmen. Wir hoffen, Sie sind neugierig, wie Kirchen und Christen ihre Kommunikation konkret verbessern können. Das Buch fasst Erfahrungen von mehr als 30 Jahren zusammen und präsentiert exklusive Inhalte.

Als Herausgeber dieses Buches war mein persönlicher Weg in die Welt der Kommunikation nicht direkt vorgezeichnet. Quasi aus Verlegenheit absolvierte ich eine Banklehre und machte später am Hauptsitz in Zürich eine Weiterbildung zum Devisenhändler. Mit 23 Jahren wuchs in mir die Gewissheit, dass dies nicht der Rest meist meines Leben sein konnte. Ich klärte meine Berufung.

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Der Herausgeber 1993 beim Interview mit CEO Willy Kissling vom damaligen Schweizer Industriekonzern Landis & Gyr (heute Siemens). (Bild zVg)

«Christen und Kirchen dazu motivieren und unterstützen, wieder gesellschaftsrelevant zu werden.»

Als ich die Weltkarte betrachtete und sah, wie hoch der Anteil der Christen pro Land und Kontinent war, wurde mir bewusst: Europa ist zum säkularen Kontinent geworden: Gingen noch vor dem 2. Weltkrieg mehr als 90 Prozent der Menschen in Deutschland, Österreich oder der Schweiz regelmässig in den Gottesdienst, ist der Anteil auf unter zehn Prozent gesunken. Christliche Kirchen führen heute ein Nischendasein, gesellschaftlich an den Rand gedrängt, unfähig, Antworten zu geben auf die Fragen, welche die Öffentlichkeit beschäftigen.

Das führte mich zur Frage: Wo erfährt man, was die Menschen bewegt? Wo liest man, welche Fragen die Menschen stellen. Wo lernt man zu kommunizieren, wenn nicht bei den Medien? Meine Vision ist, dass Jesus wieder positive Schlagzeilen in den Medien macht und die Kernbotschaften von Jesus diskutiert werden. Via Medien kann auch eine in sich gekehrte Gruppe eine kulturelle Brücke zur Gesellschaft bauen, wenn sie die Bedürfnisse der Medien und ihre Spielregeln kennt. Diese Erkenntnis führte mich zum Journalismus. Meine entsprechende Mission: Christen und Kirchen dazu motivieren und unterstützen, wieder gesellschaftsrelevant zu werden. Das gab auch den Anstoss für die Herausgabe dieses Buches. Den Autorinnen und Autoren ist es ein Anliegen, eine vielleicht schmerzhafte, aber wichtige Diskussion anzustossen.

Dieses Buch ist eine Teamarbeit. Viele haben sich direkt oder indirekt daran beteiligt. Namentlich bedankt sich das Autorenteam bei Nina Frauenfelder, Lotti Gerber, Helene Karrer, Boas Ruh und Tabea Schnyder.

Wir bedanken uns an dieser Stelle auch ganz herzlich für die finanzielle Unterstützung der Schweizerischen Reformationsstiftung und einer weiteren Stiftung, die als stiller Geber nicht erwähnt werden möchte.

Ich hoffe, dass Sie viel Freude und Gewinn beim Lesen haben.

Markus Baumgartner, Herausgeber

4. September 2018

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Einleitung

Was haben Christen und die Kirchen in der Gesellschaft bewirkt? Wo sind sie relevant? Was für Themen besetzen sie? Als Kommunikationsexperten leiden wir seit Jahren daran, dass Kirchen in den Medien häufig fehlerhaft oder negativ dargestellt und sie als wichtige Organisation in der Gesellschaft kaum mehr wahrgenommen werden. Wir leiden, wenn wir sehen, wie die Kirchen immer wieder in dieselbe Falle tappen. Wir leiden, wenn wir sehen, wie es um die öffentliche Wahrnehmung der Kirchen in der Schweiz steht und sie sich mit den zunehmenden Medienkanälen eher verschlechtert als verbessert hat. Wir haben für unser Leiden endlich Zahlen und Fakten: Sie unterstreichen, wie die mediale Situation der Kirchen in der Schweiz aussieht. Dieses Buch enthält die unseres Wissens ersten wissenschaftlichen und repräsentativen Erhebungen zu diesem Thema.

«Wenn ein Investmentbanker oder eine Grafikdesignerin auf die Idee käme, in ihrem Leben fehlten Sinn, Tiefe und Fülle, also die spirituelle Dimension: Wo würden sie suchen? Was wäre ihre Anlaufstelle zu diesem Thema?», schrieb Johannes Hartl als Leiter des Gebetshauses Augsburg treffend in einem Blog und fand heraus: Die Suchmaschine Google liefert für Veranstaltungen zum Stichwort «Spiritualität» vor allem Chakren, Chi und Yoga. Hunderte von Seminaren, von Praxen und Zentren, Dutzende neuer Bücher. Die bittere Einsicht: Christliche Spiritualität kommt in dieser gesamten Szene praktisch nicht vor. Die Kirchen haben das Thema Spiritualität an andere Anbieter verloren.

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Prägen Christen die säkulare Gesellschaft?

«Ich bin überzeugt, so schwer wäre es eigentlich nicht, das Evangelium für die Menschen um uns herum attraktiv zu verkündigen – oder besser, das Evangelium für und mit den Menschen vor der Kirchentüre anziehend zu leben», sagt Pfarrer Markus Giger, Leiter der Streetchurch, die zur evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Zürich gehört. Seine Analyse: «Wir leben nicht, was wir verkündigen! In einer Welt voller gesellschaftlicher Divergenzen treten wir Christen an mit dem Anspruch, dass der Glaube an Jesus sowohl das geplagte Individuum als auch das gefährdete kollektive Miteinander zu heilen vermag. Aber wo vermögen wir diesen Anspruch gesellschaftlich relevant einzulösen?» Unser Reden und Sein entsprechen sich nicht, zumindest nicht in der Wahrnehmung vieler Zeitgenossen und nicht in der öffentlichen Wahrnehmung, so Markus Giger weiter: «Darum sind wir für die draussen vor der Kirchentür oft schmerzlich unglaubwürdig, unattraktiv und letztlich gesellschaftlich irrelevant.»

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«Sechs Tage siehst du sie nicht, am siebten Tage verstehst du sie nicht», wurde schon über die Pastoren und Pfarrer geschnödet. Wir leben in einer säkularisierten Welt. Reto U. Schneider, stellvertretender Chefredaktor beim Magazin «NZZ Folio», hat sich oft gefragt, wofür ein Marsmensch Kirchen heute hielte. Selbst im abgelegensten Dorf fände er diese langen, hohen Gebäude mit Turm, die den grössten Teil der Zeit leer stünden. Hin und wieder sähe er Menschen durch Türen strömen und auf unbequemen Bänken Platz nehmen. Vorne würde einer reden und schweigen, und die Leute auf den Bänken würden in unregelmässigen Abständen aufstehen und niederknien, singen und murmeln. In jedem dieser Gebäude gäbe es ein Kreuz mit einem gegen unten verlängerten vertikalen Arm. Und an einigen dieser Kreuze hinge ein Mann, dem es – das wäre selbst dem Marsmenschen sofort klar – nicht gut geht. Ohne sich mit dem Innenleben von Ausserirdischen auszukennen, darf man davon ausgehen, dass dieser Marsmensch das Treiben in den Gebäuden mit den Kreuzen für höchst merkwürdig hielte. Und was denkt die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer über die Kirchen und ihre praktizierenden Mitglieder? Obwohl die meisten einiges mehr als die Marsmenschen über die christlichen Wurzeln wissen, halten doch viele die Kirchen von heute für ähnlich «merkwürdig». Das ist fatal.

«Christen treten mit dem Anspruch an, dass der Glaube an Jesus sowohl das geplagte Individuum als auch das gefährdete kollektive Miteinander zu heilen vermag. Wo wird das eingelöst?»

«Freikirchen sind keine humorlosen Fundamentalisten und noch weniger bedrohliche Talibans.»

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Verhältnis zu den Freikirchen ist ambivalent

Bei Freikirchen sprach man einerseits immer von «Stündelern» und «Frömmlern», heute eher von «Evangelikalen», «Sektierern», «Fundamentalisten», hie und da sogar von «christlichen Talibans». Auf solche Formulierungen reagierte Georg Schmid 2015 in einem Gastbeitrag in der Zürcher Tageszeitung «Tages-Anzeiger». Der heute pensionierte Theologe war Titularprofessor an der Universität Zürich, leitete die Beratungsstelle für Religion der evangelischen Kirche und schrieb mehrere Sachbücher. «Freikirchen sind keine humorlosen Fundamentalisten und noch weniger bedrohliche Talibans. Darum frage ich mich: Wie kommt es zur leisen Freikirchenverachtung oder gar zur lauten Freikirchenschelte?». Er formulierte fünf mögliche Antworten:

1 Freikirchler wollen uns zu ihrem Glauben bekehren. Dieser missionarische Anspruch weckt in manchen eine spontane «Freikirchenaversion».

2 Freikirchen reagieren auf Kritik in den Medien oft seltsam ungeschickt. «Skandale» werden heruntergespielt oder ganz verschwiegen.

3 Dieses Gottvertrauen! Jesus als göttlicher Freund neben dir, der dich nie mehr verlässt! Nie mehr verzweifeln! Weil das nicht mehr möglich scheint, lästern wir.

4 Ex-Freikirchlicher gehören nicht selten zu den radikalsten Kritikern jeder Religion.

5 Durch den islamistischen Terror werden andere Religionen nach ähnlichen radikalen Fundamentalismen durchforscht. In der christlichen Vergangenheit wird man sofort fündig.

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Auf der anderen Seite machen Freikirchen auch positive Schlagzeilen: Der «Tages-Anzeiger» titelte 2014: «Die Freikirchen boomen». Im gleichen Jahr schrieb die grösste Schweizer Tageszeitung «20 Minuten»: «Jeder dritte Kirchgänger besucht eine Freikirche» und die «Schweiz am Sonntag» doppelte nach: «Spektakulärer Aufstieg der Freikirchen». Das Verhältnis der Öffentlichkeit zu den Freikirchen scheint ambivalent. Zwar sind gemäss einer Untersuchung des Nationalen Forschungsprogramms «Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft» der Universität Lausanne von 2011 nur drei Prozent der Schweizer Gesamtbevölkerung Mitglied einer evangelischen Freikirche. Diese rund 200 000 Personen sind in der Schweiz jedoch breit gestreut. Sie bilden gemäss dieser Untersuchung in der Schweiz die zweitgrösste Gruppe der aktiven Christen, gemessen an den wöchentlichen Gottesdienstbesuchern direkt hinter der katholischen Kirche (260 000) und noch vor den reformierten Kirchgemeinden (100 000).

Was dieses Buch möchte

Ein Buch zu schreiben ist natürlich frech: Haben wir als Autorinnen und Autoren etwas Spezielles zu sagen? Es gibt Erfahrungen und bestimmte Ideen, die werden nur durch die Buchform der Vergessenheit entrissen. Unsere Gedanken und Beobachtungen über die Kommunikation der Kirchen in unserer Gesellschaft verdienen unserer Meinung nach eine ernsthafte Diskussion. Unser Ziel ist, dass die zentralen Aussagen der Bibel in der Öffentlichkeit wieder zum Nennwert diskutiert werden. Das ist heute nicht der Fall. Trotzdem findet kaum eine selbstkritische Diskussion statt. Stattdessen zeigt man lieber mit dem Finger auf die «bösen» Medien, sieht sich selber als Märtyrer – und abgehakt ist das Thema.

Wer diese Diskussion nicht scheut, laden wir zu einer kritischen Auseinandersetzung ein. Und wir präsentieren neue Fakten. Für dieses Buch wurde eine repräsentative Studie zum Image der Freikirchen in Auftrag gegeben. Befragt wurde die Deutschschweizer Bevölkerung ab 18 Jahren vom Markt- und Sozialforschungsinstitut gfs-Zürich. Die Resultate werden hier erstmals publiziert. Zudem stellen wir eine brisante Studie zur Diskussion, die bisher in der Öffentlichkeit nicht bekannt war. Es ist eine wissenschaftliche Bachelorarbeit im Studiengang Kommunikation, vorgelegt am Institut für Angewandte Medienwissenschaften (IAM) der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Diese Arbeit untersuchte, wie Deutschschweizer Freikirchen in den Medien und damit in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Die Untersuchung wurde mittels einer quantitativen Inhaltsanalyse der grossen oder wichtigsten Schweizer Tages-, Sonntags- und Wochenzeitungen sowie den Fernseh- und Radiosendungen vom Schweizer Radio und Fernsehen SRF durchgeführt.

«Wir sind überzeugt, dass die Veränderung im Kopf und im Handeln und nicht beim Marketingkonzept beginnt.»

Gleichzeitig will dieses Buch den Beweis antreten: Auch heute ist es für Kirchen möglich, die öffentliche Diskussion mit ihren Kernbotschaften mitzuprägen. Ausgewertet haben wir dafür das Dienstagsmail (www.dienstagsmail.ch), das seit über zehn Jahren solche positiven Beispiele dokumentiert. Die Kernfrage lautete: Wie und wieso schaffen es gewisse Kirchen, was in unzähligen Predigten postuliert, aber kaum je umgesetzt wird – nämlich gesellschaftlich relevant zu sein? Das Erstaunliche dabei: Es müssen gar keine Medienprofis sein. Häufig sind es einzelne Menschen, die beherzt ihre christliche Weltanschauung in die Tat umsetzen und so in den Medien vorkommen. Das Dienstagsmail richtet sich ursprünglich an Pfarrpersonen, die am Sonntag ihren Dienst, am Montag ihren freien Tag haben und am Dienstag mit einem Mail zur gesellschaftliche Relevanz von Christen und Kirchen ermutigt werden. Für diese grosse Aufgabe braucht es alle Christen. Und herausragende Beispiele brauchen eine Plattform. Das Dienstagsmail hat deshalb in der Schweiz jährlich einen Award für herausragende Kirchenkommunikation vergeben. Als Ansporn zur Nachahmung.

Wir verspüren jedes Mal Hoffnung, wenn wir in Seminaren und Schulungen sehen, wie die Teilnehmenden verstehen, dass sich grundlegend etwas ändern müsste. Diese Gedanken wollen wir mit diesem Buch einem breiteren Publikum zugänglich machen. Unser Buch richtet sich an alle Interessierten, die bereit sind, sich kritisch mit der Frage auseinanderzusetzen, warum die Kernbotschaften der Bibel kaum je zum Nennwert diskutiert werden. Von der Gesellschaft längst abgehakt, weil die Kirchen als Botschafter zu oft unglaubwürdig sind. Die Erfahrungen und Beispiele beziehen sich in erster Linie auf die Schweiz. Die Prinzipien der Kommunikation sind aber für die ganze deutschsprachige Region gültig. Das zeigt auch unser Gastautor Andreas Malessa in seiner Betrachtung über Deutschland.

Was dieses Buch nicht will: Es bietet kein einfaches Kirchen-Marketing-Rezeptbuch à la «Wie verkaufe ich mich besser». Wir sind überzeugt, dass die Veränderung im Kopf und im Handeln und nicht beim Marketingkonzept beginnt.

Das eigene Verhalten ändern

«Wo der bisher erworbene Glaube nur noch seine dauernde Bestätigung sucht, wo man die Glaubensdoktrin einer Gruppe nur noch nachbetet, um dort seine Beheimatung nicht zu riskieren, da gibt es auch keine wirklich neuen Gotteserfahrungen und geistliche Entdeckungen mehr. Da wird der Glaube am Ende eher infantil und regressiv. (…) Was mich zum Stillstand bringt, ist die Angst vor dem Neuen und Unbekannten, vor Veränderungen, die ich nicht unter Kontrolle habe. Gott aber ist der ‹ewig Neue›; mit ihm gehen wir von Neubeginn zu Neubeginn, wird der Glaube zu einer Entdeckungsreise ohnegleichen.» Dieser Ausschnitt aus dem Buch «Sprung am Trapez» des deutschen Theologen Wolfgang Vorländer passt gut zum Anspruch in diesem Buch: Wir möchten verstaubte Haltungen und träge gewordenen Christen aufrütteln und ritualisiertes Handeln aufbrechen.

Wenn Christen gesellschaftlich relevant sein wollen, müssen sie bereit sein, sich ernsthaft auf die Fragen der heutigen Gesellschaft einzulassen. Doch wissen sie überhaupt, was die Menschen beschäftigt, wo sie sind und was sie bewegt? Nur so können Christen ihr Ghetto verlassen und auf die Mitmenschen zugehen. Medien sind sozusagen ein Spiegel der Wirklichkeit. Sie spiegeln, was Menschen beschäftigt. Oft sind das nicht die Themen, die Kirchen für wichtig halten. Aber wenn Kirchen bereit sind, sich auf diesen Prozess einzulassen, könnten sie in der Gesellschaft auf einmal auf positives Interesse stossen. Wie heisst es doch von der ersten Christen in der Apostelgeschichte: «Sie priesen Gott und wurden vom ganzen Volk geachtet.»

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«Diese Medienschaffenden konnten später ihre Erfahrungen zurück in Kirchen und Organisationen reflektieren.»

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Umdenken beginnt im Kopf

Dass Kirchen in Mainstreammedien über Gott reden, ist noch eine junge Disziplin. In der Schweiz besteht dabei ein enger Bezug zum Start der Lokalradios. Roger Schawinskis «Radio 24» hat im November 1979 nicht nur das SRG-Monopol gebrochen, sondern auch mentale Kirchenmauern einstürzen lassen. Der Zwang zur Direktheit und Unmittelbarkeit beim ersten Privatradio der Schweiz hat Jugendliche aus kirchlichen Gruppen zur Entscheidung herausgefordert, dem Ghetto zu entsagen und sich der öffentlichen Kommunikation zu stellen. Einige haben die Herausforderung angenommen.

Mord zum Gottesdienst

Auf dem Planeten Erde werden täglich theologische Vorstellungen kommuniziert, indem Menschen erschossen, gehenkt, enthauptet oder von Bomben zerfetzt werden. Die zeitgemässe Sprache verwendet dafür den Begriff «Terror», als wäre ein neuartiges Phänomen über uns hereingebrochen. So entsetzlich Terror ist, Terror ist nicht neu. Terror im Namen Gottes gehört zu den ältesten Traditionen der Kulturgeschichte. Begonnen hat die Geschichte des Terrors gleich nach dem ersten Opferritual, das in der Bibel beschrieben ist (1. Buch Mose 4,1–4).

Es sind Kain und Abel, die in ihrem Anbetungsgottesdienst mit Gott reden. Die Kommunikation im Beziehungsdreieck Kain vs. Abel – Gott bewirkte, dass Kain gegenüber seinem Bruder Abel weniger Ehre und Würde empfand. Nach dem Disput mit Worten wählte Kain die Sprache der Gewalt. Er tötete seinen jüngeren Bruder Abel durch Erschlagen.

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Kain erschlägt Abel. (Bild Blog annoyzview.files.wordpress.com)

«Die Bibel wurde das am häufigsten gedruckte und publizierte sowie das am meisten übersetzte Werk der Weltliteratur.»

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Ein Wandbild an einer Kirche der Pro-Ulster Volunteer Force (UVF) in Carrickfergus im Norden des Belfast Lough. (Quelle Miossec / CC BY 2.5)

Wer immer die Urheberschaft der Bibel war, sie leistet sich die kreditschädigende Idee, bereits mit der ersten Beschreibung eines Anbetungsgottesdienstes einen Brudermord geschehen zu lassen. Begangen durch den ersten Sohn der ersten Familie der Menschheit. Und dann war da noch die Idee, dass der Mensch die Krone der Schöpfung sei. Jede Kommunikationsagentur hätte bei diesem Plot das Mandat niedergelegt. Dennoch sollte die Bibel das am häufigsten gedruckte und publizierte sowie das am meisten übersetzte Werk der Weltliteratur werden.

Wer im Namen Gottes Menschen ermordet, legt ein Geständnis ab. Er gesteht die eigene Unfähigkeit, sein Gottesbild mit Worten offenlegen und plausibilisieren zu können. Menschen beziehen aus ihrem Gottesbild «Reichtümer, Würden und Rechte», wie Friedrich Schiller in «Geschichte des dreissigjährigen Kriegs» einprägsam beschreibt. Töten also Menschen, mit gefühltem Defizit an Würde und Sozialstatus, weil sie nicht gelernt haben, ihr Gottesbild mit Worten nachvollziehbar und plausibel zu formulieren? Mordmotiv Sprachdefizit.

Diskurs über Gott als Härtetest

So schwierig es ist, über Gott zu debattieren, die Qualität dieser Debatte ist ein Schlüsselkriterium für langfristigen Erfolg einer Kultur. Die Debatte über Gott bewirkt Ethik. Aus Ethik leitet sich Verteilung von Macht ab, ebenso Verteilung erwirtschafteter Gewinne sowie des Wissens. Dies wiederum beeinflusst die Innovationskraft einer Gesellschaft.

So hat das Konzil zu Basel von 1431 bis 1449 einen offenen Diskurs über Gott erzwungen. In der Folge wurde in Basel die Universität gegründet, welche – einhergehend mit Geisteswissenschaften – moderne Technologien katalysierte. Dazu gehörten auch Humanmedizin, Buchdruck und industrielle Färberei.

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Gesprächsrunde im Klostergarten der Benediktinerinnen in Rietberg-Varensell. (Bild Abtei Varensell www.abtei-varensell.de)

«Beide Systeme haben den freien theologischen Diskurs verhindert.»

Die industrielle Färberei war Avantgarde der späteren Chemie- und Pharmaindustrie, welche 500 Jahre später zu Hauptkomponenten der Schweizer Exportwirtschaft wurden. Bereits im 15. Jahrhundert zog dies Gelehrte, Industrielle, Innovatoren und Investoren nach Basel. Unter ihnen waren zahlreiche Glaubensflüchtlinge. Deshalb lernte Basel die Religionsfreiheit schon früh als Drillingsschwester wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Erfolgs zu begreifen.

Umgekehrte Beispiele der Beziehung von theologischem Diskurs und Prosperität sind Nationalsozialismus und Stalinismus. Beide Systeme haben den freien theologischen Diskurs verhindert. Dies ermöglichte beiden Regimes, sich mit Symbolen der Göttlichkeit auszustatten und die Opposition auszuschalten. Das NS-Regime sowie der Stalinismus haben gemeinsam, dass sie bis heute von allen Systemen den höchsten Blutzoll an unschuldigen Menschen eingefordert haben.

Etwas vertreten, das unsichtbar ist

Vergleichsweise einfach haben es Aktivisten, welche sichtbare Hauptsubjekte bewirtschaften. Zum Beispiel AKW-Gegner. Sie haben Kühltürme, die wie Mahnmale aus der Landschaft ragen. Erst mit dem Bau von Kühltürmen in den Siebzigerjahren liess sich der Widerstand gegen die Kernkraft mobilisieren. Erst recht geschah dies ab 1986 nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl mit Bildern genetisch entstellter Kinder. Dabei plante die ETH in Zürich 1956 einen unterirdischen Atomreaktor, gekühlt nicht durch einen sichtbaren Kühlturm, sondern unsichtbar durch Wasser aus der Limmat. Kaum jemand protestierte.

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Der unterirdische Reaktor der ETH. (Bild ETH, NZZ-Infografik)

«Auch der Fussball lebt von der Visibilität des Hauptobjekts: des Balls.»

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FIFA 16 Fussballsimulations-Game von EA Sports. (Bild YouTube)

Auch der Fussball lebt von der Visibilität seines Hauptobjekts. 22 Männer streiten mit Körpereinsatz um eine Kugel aus Leder. Sie versuchen, die Kugel dem Gegner gegen dessen Abwehr ins Netz zu schiessen. Die Mannschaften sind visuell deutlich unterscheidbar. Sieg und Niederlage sind einfach kommunizierbar. Zwei Zahlen mit zwei vertikal angeordneten Punkten dazwischen reichen, zum Beispiel 4:1. Der Spielstand steht immer auf je einer grossen Schrifttafel an den Enden des Spielfeldes geschrieben. Jede Mannschaft hat eine Art Priester, der hoffend, beschwörend, bangend, schreiend mit vielen Gesten seine Mannschaft dirigiert. Häufig wird eine Aktion auf dem Spielfeld durch einen humorlosen Mann mit schwarzen, kurzen Hosen und Pfeife gestoppt. Er bestraft Spieler mit gelben und roten Karten. Gelb bedeutet Schande. Rot bedeutet Ungnade, der Spieler muss sofort vom Platz. Mit derartig verteilter Würde und Schmach erzielte die UEFA laut sponsors.de allein während der Fussball-Europameisterschaft 2016 mehr als zwei Milliarden Euro Einnahmen.

Kindheit in zwei Welten

Geboren 1955, wuchs ich in einem kleinen Bauerndorf im Kanton Schaffhausen, dicht an der Grenze zu Deutschland auf. Mein Vater war Posthalter und Gemeinderat, meine Mutter (geb. 1933), Lehrerin, stammte aus dem Elsass. Traumatisiert durch den Nazi-Terror und die Zwangsrekrutierung ihres Vaters 1944 durch die deutsche Wehrmacht in den Volkssturm, während die Mutter meiner Mutter allein mit fünf Kindern den Bombenabwürfen der Alliierten sowie den Geschossen des deutschen Widerstandes ausgesetzt war, erlebte sie 1946 die Entgermanisierung. Über Nacht am Gymnasium kein Wort mehr in deutscher Sprache. Die Irritierung ihres Heimatverständnisses sublimierte sie in ein Gottesbild, welches Friede, Geborgenheit und Verbindlichkeit fokussierte. Zu meinen frühen Kindheitserlebnissen gehörten christliche Lieder am Klavier.

«Aber sie sahen sich unter dem Missionsbefehl des Matthäus-Evangeliums (Kapitel 28), Menschen für das Evangelium gewinnen zu müssen.»

Dann kam 1968. Rockmusik, lange Haare, Rebellion, freie Sexualität, LSD, Weltverbrüderung und Sozialromantik begannen, die Agenda der Jugendkultur zu beherrschen. Durch meinen Kopf zog sich eine Mauer, auf deren einen Seite das Bild des Jesus aus der Sonntagsschule stand. Auf der anderen Seite wurden Institutionen, welche das Lesen der Bibel kultivierten, von vielen Menschen reflexartig gemieden. Die Ablehnung geschah meistens, bevor eine sachliche Abwägung von Argumenten stattgefunden hatte. Die Mehrheit der Bevölkerung setzte kaum einen Schritt über die Schwelle einer evangelischen Freikirche. Solche Kirchen ausserhalb des Staatsmonopols standen nicht im Werbevorteil des Glockenturms und der vom Staat erhobenen Steuereinnahmen. Aber sie sahen sich unter dem Missionsbefehl des Matthäus-Evangeliums (Kapitel 28), Menschen für das Evangelium gewinnen zu müssen. Deswegen stellten Freikirchen regelmässig ein grosses Zelt auf eine Wiese. Sie engagierten einen wortgewaltigen Redner, der vom Jesus am Kreuz predigte und mit der Hölle drohte. Der Posaunenchor spielte Märsche und Heilslieder.

«Dieser Konflikt zweier Welten war wie zwei Langstrecken-Jets, welche auf gleicher Höhe, auf gleicher Route, aufeinander zufliegen.»

Dieser Konflikt zweier Welten, in denen ich lebte, war wie zwei Langstrecken-Jets, welche auf gleicher Höhe, auf gleicher Route, direkt aufeinander zufliegen. Beide Piloten sehen sich nicht veranlasst, mit der Gegenseite zu sprechen. Sie sind derart verhaftet in ihre Flugdaten, dass sie sich keine andere Flughöhe und Route vorstellen können. Diese Spannung war anstrengend. Aber sie wurde in mir Energiequelle für Wahrnehmung, Abstraktion und Kreativität.

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Evangelist Wilhelm Pahls während der Christus-Festwochen im Hallenstadion Zürich 1983. (Bild Schweizerisches Sozialarchiv / Gertrud Vogler / F 5107-Na-01-002-021)

«Radio 24» weckte Aufmerksamkeit für Medien

Nach einigen Jahren auf meinem erlernten Beruf als Maschinenmechaniker bot sich mir die Chance, Radiosendungen mit theologischen Inhalten zu gestalten. Die Sendungen wurden durch «Radio 24», dem damals einflussreichsten Trendmedium der Schweiz, täglich aus Italien in die Region Zürich ausgestrahlt. «Radio 24» war interessant, weil es eine klare Positionierung aufwies. Diese Positionierung bestand aus drei Komponenten. Erstens: Ablehnung der Monopole. Zweitens: Offenlegung elitärer Machtgebärden. Drittens: Reggae-Musik aus Jamaika. Der Sender wurde aus der Politik bekämpft, vor allem durch den Bundesrat sowie Exponenten von CVP und SP. Ebenso durch SRG, PTT, die Grossverlage Ringier, TA-Media und Jean Frey. Der Ringier-Chefredaktor Walter Bosch schlug öffentlich vor, dass man «Radio 24» eigentlich mit einem Störsender verhindern müsste. 1982 marschierten vor dem «Radio 24»-Studio in Italien sogar bewaffnete Polizeigrenadiere auf. In Kampfmonturen, schiessbereit mit Schlagstöcken und Schneidbrennern verschafften sie sich gewaltsam Zutritt zum Studio. Sie kappten das Sendesignal von «Radio 24». Derart viel Feindschaft bewirkte für «Radio 24» grösste Aufmerksamkeit – und Goodwill beim Publikum. Roger Schawinski hatte bereits 1979 binnen nur fünf Tagen 212 000 Unterschriften für die Zulassung von «Radio 24» in der Schweiz gesammelt. Eine Mobilisierungsleistung ohne Beispiel in der Schweizer Demokratiegeschichte.

Somit war ich in die heftigste Umwälzung der Massenkommunikation involviert, welche die Schweiz seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat. Roger Schawinskis «Radio 24» hat im Jahr 1983 die Legalisierung des privaten Rundfunks in der Schweiz erzwungen. Man kann sich heute den damaligen Alltag fast nicht vorstellen. Vor 1979 gab es in der deutschsprachigen Schweiz nebst der SRG, deren Generaldirektor durch den Bundesrat bestimmt wurde, kein Radio oder Fernsehen. Es gab kein Internet. Kein Handy. Keinen Personal Computer. Kein Fax-Gerät. Vor 1979 gab es in der Schweiz für elektronische Medien nur eine Opportunität, nur ein System, nur eine Karriereleiter und irgendwie auch nur eine Wahrheit. Zwar gab es 200 Zeitungen mit insgesamt wachsender Auflage. Aber Jugendliche unter 25 bezogen den Grossteil ihres Politikwissens ohnehin weniger aus Zeitungen, sondern vorwiegend aus Radio und Fernsehen. Dies verschaffte «Radio 24» zusätzliche Wichtigkeit.

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Roger Schawinski (Mitte), Gründer von «Radio 24». (Bild radio24.ch)

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Gruppenbild vor dem «Radio 24»-Tram in Zürich-Seebach aus dem Jahr 1984. (Bild radio24.ch)

Roger Schawinskis «Radio 24» spiegelte und katalysierte wie kein anderes Massenmedium den Paradigmawechsel. Vielfalt statt Monopole. Auflösung der geschlossenen Systeme. Blossstellung der Autoritätsgebärden. Entlarvung der Worthülsen. Alles ist machbar. Alles ist hinterfragbar. «Das System», wie es damals hiess, «der Filz hinter Beton und Panzerglas» von Grossaktionären, Bankern, Militärs, Investoren, FDP-Karrieristen, Rüstungsprofiteuren und AKW-Lobbyisten» ist keine anonyme Blackbox, sondern besteht aus Namen von Entscheidungspersonen – und diese haben alle eine Telefonnummer. Dort mussten jetzt Journalisten hintelefonieren, fragen und rückfragen. Sie mussten Worthülsen knacken. Sie mussten sichtbar machen, wer wer ist und wer was gemacht hat. Man musste Akteure in Politik, Kultur und Wirtschaft zur Aussage zwingen über das, was sie bis jetzt mit Wörtern vernebelten.«Organisation», «Regelung», «Anpassung», «Prozesse», «Verfahren», «politische Gründe», «Gesellschaft» oder «Kultur». Die Öffentlichkeit wollte wissen: Wer sind die Akteure? Wer kassiert? Wer hat mehr Macht? Auf wessen Kosten? Jetzt durften Meinungsmacher im Affekt erlebbar werden. Höhepunkt waren Schawinskis wöchentliche, ganzstündige «Doppelpunkt»-Interviews. Hier wurden Gesprächspartner während Minuten entlang der Tabugrenze mit Fragen attackiert. Schawinski handelte sich das Prädikat des «journalistisches Wrestlings» ein. Wer sich aus Angst vor Rogers Suggestivfragen nicht in die Sendung traute, galt als Weichei. Also musste die ganze Schickeria, von Ulrich Kündig, damals Programmdirektor des Schweizer Fernsehens, bis zum SVP-Tycoon Christoph Blocher oder Tagi-Chefredaktor Peter Studer antreten. Die SRG konnte sich diesen frechen Fragestil von «Radio 24» nicht leisten. Somit hatte das junge «Radio 24» mit seiner Nähe zum jungen Publikum eine hohe Bedeutung. Es sollte die Modalitäten der öffentlichen Kommunikation bis zur Jahrtausendwende prägen.

Ideenquelle Journalismus

Unbemerkt von der Öffentlichkeit übte «Radio 24» auf bibellesende Christen einen dreifachen Einfluss aus. Einmal durch sein reguläres Programm. Zum anderen durch die «Gospel Radio»-Sendungen mit theologischen Inhalten, welche «Radio 24» gegen Bezahlung täglich ausstrahlte. Und auf eine dritte Art. Das waren Medienseminare. Medien sind wie nie zuvor in kirchlichen Jugendgruppen durch «Radio 24» plötzlich ein Thema geworden. Für die Produktion der Gospel-Sendungen sowie für die Mitarbeit bei den in Aussicht stehenden Lokalradios, besuchten mehr als 200 Jugendliche aus der Kirchenszene Vorträge und Ausbildungskurse. Sie begannen, sich für die Mechanismen und Methoden der Publizistik zu interessieren. Sie lernten, Nachrichten zu schreiben. Unzählige von ihnen haben sich in der Folge für eine Laufbahn in einem Beruf in der Kommunikationsbranche entschieden.

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«Sie rangen eine halbe Stunde lang um die wichtigsten vier Wörter des Tages.»

Im Jahre 1984 unterwarf ich das Erlernte dem unternehmerischen Tauglichkeitsbeweis. Mit einem Partner gründete ich in der Region Basel ein Pressebüro. Wir organisierten Vorträge und Seminare zur Vermittlung von publizistischem Wissen sowie Medienkenntnissen und Wissen darüber, wie öffentliche Meinung entsteht. Auch coachten wir Jugendliche an der Schwelle zur Medienbranche.

Um praxisnah argumentieren zu können, lieferte ich als freier Journalist für Zeitungsverlage, Radiostationen und Nachrichtenagenturen bezahlte Berichterstattung zu aktuellen Ereignissen. Bald kam ich dort an, wo neben «Radio 24» ebenfalls die grösste Öffentlichkeit bewirtschaftet wurde. Das war die Tageszeitung «Blick». In den 1980er-Jahren war «Blick» in der Schweiz Nummer eins in Verkauf und Leserreichweite. Dort wurde täglich eine Telefonkonferenz abgehalten. Reporter aus der ganzen Schweiz mussten ihre Themen anbieten. Redaktoren waren damals Geschichtenerzähler mit Monatslöhnen ab 8000 Franken, wenn man Dienstwagen mit bezahltem Benzin einrechnet. Täglich um 18 Uhr sassen die vier bestbezahlten Redaktoren um einen kleinen Tisch in der Redaktion. Sie rangen eine halbe Stunde lang um die wichtigsten vier Wörter des Tages. Man formulierte die Schlagzeile, die am nächsten Tag auf dem gelben Aushang am Kiosk die Menschen zum Kauf der Zeitung animieren sollte. Es war die tägliche Liturgie für das Massenpublikum. Diese Arbeit entschied täglich über bis zu 40 000 zusätzlich oder weniger verkaufte Exemplare. Hier zählten nicht Ansichten oder Parteibuch, sondern einzig die zwei Fragen, ob die Menschen den «Blick» am Kiosk kaufen werden und ob das Strafgesetzbuch eingehalten wird. Daraus leiteten sich alle Prioritäten der Redaktion ab. Das bestimmte Sprache, Themen und wo man Ideen und Informationen bezog. Das bestimmte, mit welchen Menschen, Institutionen und Unternehmen man Kontakt haben musste. Und dann lernte man das Menschenbild, welches täglich mit den grossen Buchstaben und aufregenden Bildern bedient wurde. Es wurde täglich erprobt und durch den Verkaufserfolg bestätigt. Ausgesprochen wurde das selten – aber jeden Tag genutzt.

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Erfolgreiche Boulevardjournalisten kennen die menschliche Seele. Sie wissen, dass Angst und Narzissmus zentrale Kräfte der menschlichen Seele sind. Das Ego sitzt neben Angst. Die Angst neben dem Ego. Neid. Schadenfreude. Frust. Träume. Unverarbeitete Kindheit. Heimliche Träume. Neugier nach mystischem Geheimnis. Sehnsucht nach Sinn, Geborgenheit und Schönheit. Angst vor Schicksal, Ausschluss und Tod. Und alles verdrängt, dumpf und kaum ausgesprochen. All dieses kommt dem in der Bibel beschriebenen Menschenbild erstaunlich nahe. Mehrfach sprach ich Kollegen darauf an. Das Gespräch wurde nie langweilig.

Worte sind Vampire

Im Journalismus musste ich Begriffe finden, welche mir bis dahin gefehlt hatten. Begriffe, welche es erst ermöglichen, dass man richtige Gedanken fassen und diese aussprechen kann. Am Anfang ist immer der Begriff. Ohne Begriff keine Frage und kein benennbarer Gedanke. Ohne Gedanken kein Diskurs. Ohne Diskurs keine Konklusion. Ohne Konklusion keine klaren Ziele. Ohne Ziele keine messbaren Entscheide.

«Öffentlichkeit» war ein solcher Begriff, der mir fehlte. Er wurde in meiner Jugendzeit besetzt vom Begriff «Welt». Die «Welt» meinte in den Predigten zwar «Öffentlichkeit», umhüllte sie jedoch gleichzeitig zwingend mit der theologischen Bedeutung als abgefallener Teil der Schöpfung, beherrscht von der Finsternis. Das falsche Wort «Welt» hatte wie ein Vampir das Wort «Öffentlichkeit» leergesaugt und sich mit dessen Inhalt vollgesaugt. So suggerierte damals manche Predigt, ohne es auszusprechen, dass die Öffentlichkeit vom Bösen beherrscht sei.

Bewusst war mir das einige Jahre zuvor geworden, als ich am «Blick»-Inseratedesk im Ringier-Pressehaus ein Inserat für «Gospel Radio»-Sendungen aufgeben musste. Als die Verlagsmanagerin mich fragte, wofür und von wem das Inserat sei, stockte mir der Atem. Die Schlüsselbegriffe wären «Welt», «Evangelium» und «Christen» gewesen. Aber die Worte fehlten mir, um das zu sagen, was ich sagen wollte, ohne falsche Bilder zu wecken.

Was war nur passiert? Der Vertreter einer 3%-Randgruppe ohne öffentlichkeitstaugliche Sprache spürte plötzlich die Gewalt der repräsentativsten Zeitung der Schweiz und ihrer täglichen Leserschaft von mehr als einer Million Menschen. Diese hatten damals die Tageszeitung «Blick» nicht nur zum meistverkauften Markenartikel und zur meistgelesenen, sondern auch zur am schnellsten wachsenden Zeitung der Schweiz gemacht. «Blick» hatte in der Mitte der 1980er-Jahre den grössten Einfluss auf alle anderen Zeitungen, Werbeagenturen und auf die Rhetorik der Politik – und auf die inhaltliche Besetzung der Begriffe.

«So suggerierte damals manche Predigt, ohne es auszusprechen, dass die Öffentlichkeit vom Bösen beherrscht sei.»

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Heinrich Heine soll kurz vor seinem Tod gesagt haben, die semantischen Probleme (Bedeutungsprobleme) zur Übersetzung seiner deutschsprachigen Schriften in die französische Sprache hätten einige seiner Mythen entlarvt, weil der Dolmetscher nach dem assoziativen Inhalt seiner Sprachbilder zurückgefragt habe. Es ist offensichtlich: Wer die Assoziationen nicht kennt, die seine Sprache und seine Symbole in den Köpfen seiner Zuhörer hervorrufen, der scheitert kläglich bei der Kommunikation.

Jesus aus Galiläa muss solches gewusst haben. Jedenfalls enthält die Bibel kein einziges Zitat, in welchem Jesus den wichtigsten Begriff seiner Identität für sich verwendet hat. Nämlich «Messias». Der Begriff war vollgesaugt mit falschem Inhalt. So enthalten etliche Jesus-Zitate der Bibel Umschreibungen, welche den Messias-Anspruch indizieren, aber ohne das Wort «Messias» zu nennen. Erfahren habe ich das von einem Kollegen mit interessantem Karriereverlauf. Zuerst Theologe, dann Journalist.

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In mir kommt Analogieverdacht von kirchlicher Insidersprache zu Heinrich Heine auf. Was bleibt von einem Gottesbild übrig, wenn es in einer anderen Sprache, etwa in der Sprache der Öffentlichkeit, erklärt und plausibilisiert werden muss? Was bleibt, wenn die Klischees entlarvt sind? Ein Experiment könnte das klären: Man nimmt zehn Absolventen theologischer Ausbildungsstätten, welche sich auf die Bibel berufen, getrennt in Klausur. Sie werden insistierend befragt nach der Bedeutung ihrer Schlüsselbegriffe. Die befragten Begriffe wären «Seelsorge», «Heiligung», «Mission», «Gottes Willen», «Wort Gottes», «Bekehrung», «Seele», «Geist» und «geistliches Wachstum». Die Fragen stellen würde je ein forensischer Psychiater, der Chefredaktor der NZZ, eine Dozentin für Betriebswirtschaft an der HSG, ein erfolgreicher Fussballtrainer sowie ein ausgewiesener Werbetexter. Die Begriffe müssten von den Befragten samt den wichtigsten Kritierien für Qualität erklärt und begründet werden. Die Expertenrunde protokolliert nur, was sie im Konsens verstanden hat. Ich wette hier und jetzt sechs Flaschen Cabernet sauvignon, dass die übereinstimmenden Anteile der Antworten für die meisten Kirchen bei einem Anstellungsverfahren nicht ausreichen würden, wenn ein junger Theologe seine Überzeugungen auf diese Konsensantworten reduzieren würde. Das Resultat eines solchen Experimentes könnte für Betroffene ein Verlust an bisherigen Gewissheiten, aber Gewinn an Bewusstheit bewirken.

Offenbarende Distanz

Wer Taxifahrer, Gegner, Nachbarn, Kinder oder Trampassagiere über eine Institution reden hört, lernt viel über diese Institution. Man lernt, was die Umwelt nicht weiss, was die Umwelt sieht, hört und spürt. Auch erfährt man, was unbeteiligte Menschen verstehen und wie sie es einordnen. Kritische Distanz ist anstrengend, aber sie verschafft Wissen. Ohne dieses Wissen ist erfolgreiche Massenkommunikation nicht möglich. Der langjährige Zürcher Chefredaktor und vormalige «Blick»-Redaktor Karl Lüond half den Kioskverkäuferinnen einmal frühmorgens um 6 Uhr im Hauptbahnhof Zürich Magazine und Zeitungen auspacken, nur um die ZeitungsleserInnen am Tresen zu spüren.

Auch ich habe das mit meinem Gottesbild gemacht. In 30 Jahren Journalismus mit Tausenden von Begegnungen mit unterschiedlichsten Menschen in unterschiedlichsten Situationen. Dazu hörte ich in 2000 Sitzungen in mehreren Redaktionen, wie Meinungsmacherinnen und Meinungsmacher über bibelverbundene Menschen und deren Institutionen reden, schweigen und entscheiden.

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Eines der unzähligen Beispiele war der Veranstalter einer Pornomesse. Der Erotikprofi bat mich als Chefredaktor und Geschäftsführer des TV-Senders «Telebasel» um Berichterstattung. Er wollte Kosten für Inserate und TV-Spots einsparen. Allerdings brauchte er ein Argument, um meine Journalistenseele zu gewinnen. So versprach er mir Protestaufmärsche von «fanatisierten Organisationen aus dem Kirchenbereich», welche vor seinen Toren ein spektakuläres Sujet für TV-Berichterstattung abgeben würden.

Solche Erfahrungen helfen mir, mich von gewohnten Sprach-, Denk- und Reaktionsmustern zu lösen. Ich habe mich von Lieblingswörtern und Lieblingsgedanken verabschiedet. Die einstige «Weltwoche»-Autorin Margrit Sprecher verriet an einem internen Seminar den Merksatz des englischen Magazinjournalismus: «Kill your darlings».

Meine Konklusion nach über 35 Jahren an den Orten der Meinungsentstehung: Personen und Institutionen, welche sich mit jüdisch-christlicher Spiritualität und deren Kraft befassen, werden oftmals in die Zone Religion ausgelagert. Diese Zone ist eine Art philosophisches Tal der Aussätzigen. Dort hingehen und zuhören ist für Redaktorinnen und Redaktoren fakultativ. Dabei vergisst der redaktionelle Alltag sehr leicht, dass die Pressefreiheit eine Geschichte hat, an deren Anfang jüdische und frühchristliche Spiritualität mit einem emanzipatorischen Gottes- und Menschenbild stand. Dieses Gottes- und Menschenbild, getränkt vom Blut seiner Märtyrer, setzte sich bereits in den ersten Jahrhunderten der Vergöttlichung von Königen, Kaisern und Diktatoren entgegen. Es führte zu den Freiheitsrechten des Individuums. Es gründet auf dem Gebot der Gleichwertigkeit aller Menschen. Es förderte Chancengleichheit und Abschaffung der Klassengesellschaft. Dieses Gottes- und Menschenbild der Emanzipation wuchtete sich durch Weltgeschichte, von der Antike zur Postmoderne, selbst durch alle im Namen Gottes begangenen Verbrechen. Was im digitalen Lärm der Newsrooms etwas vergessen gegangen ist, hat die irische Popband U2 im Titelsong ihres Albums «War» (1983) in Erinnerung gerufen. «The real battle just began to claim the victory Jesus won». (Song: «Sunday Bloody Sunday»). Noch immer kann man es auf YouTube anhören.

Kirchliche Gruppen, welche herausfinden möchten, woran sie die Öffentlichkeit misst, stossen auf ein hilfreiches Zitat: «Kultur ist alles, was dem Individuum erlaubt, sich gegenüber der Welt, der Gesellschaft und auch gegenüber dem heimatlichen Erbgut zurechtzufinden, alles was dazu ruhrt, dass der Mensch seine Lage besser begreift, um sie unter Umständen verändern zu können.» Es kam 1975 durch Gaston Clottu, FDP-Nationalrat (NE) zur Sprache. Clottu musste im Auftrag des Schweizerischen Bundesrates «Perspektiven der künftigen Kulturpolitik in der Schweiz» vorschlagen. Er verwendete eine Definition aus dem Europarat, an welcher sich bis heute kantonale Kulturdirektionen sowie Einwohnergemeinden orientieren. Der vormalige Direktor von Radio DRS, Andreas Blum, nahm das Zitat gar auf die Titelseite seines einstigen Programmleitbildes.

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Fördert (frei)kirchliche Kommunikation wie Predigten, Bibelunterricht und Seelsorge bei Menschen Emanzipationsprozesse und eigenständiges Denken? Eröffnet sie Zugang zu geistigen Kraftfeldern zur Bewältigung von Leben und Sterben? Oder bewirkt sie nur mentale Abhängigkeit an eine Institution? Können sich kirchliche Institutionen an dieser Leitlinie messen lassen? Falls ja, wieso? Falls nein, wieso nicht? Die Diskussion darüber könnte Ideen bewirken für theologische Seminararbeiten, Predigten, neue geistliche Lieder, Zielfindungsprozesse von christlichen Kirchen und Sozialwerken. Und sie könnten Ansätze dafür liefern, wie Anbetungsgottesdienste zu kulturellen Brennpunkten von öffentlicher Bedeutung werden.

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So kommen kreative Aktionen in die Medien