Jung, Martl O Sohle mio

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Für meine fünf Jungs,
die alle barfuß das Licht der Welt erblickt haben

 

© Piper Verlag GmbH, München 2019
Fotos im Buch: Martl Jung; bis auf Bildteil S. 1, 2/3, 4 oben,
5, 6 Mitte und unten: Jens-Uwe Tiedtke; S. 4 unten und 17 oben:
unbekannte Wanderer; S. 13 oben und Mitte: Ralf Rüfner;
S. 16 oben, 18, 23 unten: Christian Penning
Karte: Marlise Kunkel, München
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas
Coverabbildung: Christian Penning (Autorenfoto); panthesja / Fotolia (Himmel)

 

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Als ich die Schuhe an den Nagel hängte

Alles fängt mit einem ersten Schritt an. Bei mir war es vor rund zwanzig Jahren einer auf nackten Sohlen. Es folgte ein zweiter und dritter, und irgendwann überquerte ich barfuß die Alpen. Wenn ich damals gewusst hätte, was ich in Gang setze, als ich, ohne mir groß Gedanken zu machen, auf einer Gratwanderung in den Hohen Tauern die Schuhe auszog … Eines Tages war die Idee geboren, und ich wusste, dass ich es versuchen wollte: barfuß hoch droben von München nach Verona. Das hatte meines Wissens vor mir noch niemand gemacht. Aber das hieß ja nicht, dass es nicht möglich war. Als ich diese Tour, die stellenweise zur Tortur wurde, gemeistert hatte, war ich ein anderer geworden. Ich wusste nun, wozu meine Füße imstande waren. Und dass das Gehen ohne Schuhe in eine andere Dimension führt, die ich nie mehr missen möchte. Barfuß gehen ist mehr als Schuhe ausziehen. Es ist eine Haltung, manchmal sogar eine Philosophie. Ich bewege mich nicht »gepanzert« durch meine Umwelt, sondern achtsam, und diese Grundeinstellung bereichert mein Leben. Letztlich sind Schuhe Bretter, und die Bretter an den Füßen können auch zu einem Brett vorm Kopf werden.

 

Für mich ist Barfußlaufen die natürlichste Fortbewegung der Welt – nicht nur im Sommer. Und ja, ich fahre auch barfuß Auto. Andere geben mit Stöckelschuhen Gas, was ich für riskant halte. Man könnte sagen, ich habe die Gewohnheit auf den Kopf gestellt – oder auf die Füße. So wie barfuß zu laufen für die meisten Leute die Ausnahme ist, sind für mich Schuhe die Ausnahme. Ich denke gar nicht mehr darüber nach; ich stehe morgens barfuß aus dem Bett auf und verlasse barfuß das Haus. Diese nackten Tatsachen gehen auf einen Frühling kurz vor der Jahrtausendwende zurück:

 

Jeder Wanderer kennt die Situation: an einem sonnigen Tag, gerade dann, wenn die Füße im durchgeschwitzten Bergschuh anfangen, im Hitzestau zu pulsieren. Wenn man eigentlich nur noch den Wunsch hat, seine Zehen an die frische Luft zu entlassen, genau dann ist es höchste Zeit für eine gemütliche Rast. Kaum hat man sich an einem schönen Fleckchen niedergelassen, stehen die Schuhe auch schon zum Auslüften neben einem, die Socken hängen zum Trocknen in der Sonne. Auch wenn die Frage berechtigt ist, stellt man sie sich wohl kaum: Gönne ich meinen Füßen eine Verschnaufpause, weil ich hier gerade Brotzeit machen möchte, oder ist es eigentlich umgekehrt? Jeder kennt auch das Gefühl, wenn man hinterher wieder hineinsteigen muss, seine Füße zurück in das ungeliebte feuchtwarme Milieu steckt, wo sie sich doch gerade erst an den frischen Hauch von Freiheit gewöhnt haben. Genau so erging es mir, als ich auf einer idyllischen Blumenwiese meine Schuhe ausgezogen hatte. Den Verlauf kannte ich: nach der Rast Schuhe an und weiter. Doch das kam mir in diesem Moment falsch vor. Meine Füße wollten nicht zurück in die Dunkelheit der noch immer feuchten Socken, in die Enge der Schuhe eingeschnürt werden. Wobei es jetzt nicht so ist, dass ich mich mit meinen Füßen unterhalte oder lang rumdiskutiere, nein, alles in mir sträubte sich dagegen. Denn Enge an den Füßen strahlt ab auf den gesamten Körper und Geist. Ich wollte dieses herrliche Wohlgefühl behalten, und irgendwie schienen meine nackten Füße auch viel besser zu dieser blühenden Almwiese voller lila Alpenastern, blauen Vergissmeinnicht, cremefarbenen Anemonen, blauen Bart-Glockenblumen, weißen Margeriten und natürlich königsblauem Enzian zu passen als die groben Bergstiefel. Warum also nicht? Bloß weil es nicht im herkömmlichen Wanderführer steht? Und war ich nicht sowieso einer, der gern abseits bekannter Routen lief? Kurz entschlossen hängte ich meine Bergschuhe an den Rucksack. Dass ich sie in diesem Moment in gewisser Weise an den Nagel hängte, konnte ich damals noch nicht wissen. Es war wunderbar, genau so, wie es sein musste. Sommer, Sonne, Wiese, barfuß. Mir fiel meine Kindheit ein, auch wenn ich aus dem Barfußlaufen ja nicht herausgewachsen bin wie aus Windeln, dem Dreirad oder Tretroller. Meine Fußsohlen waren, mit meinen knapp dreißig Jahren, noch immer nackt, da waren keine Haare dran wie auf den Wangen.

Nur bis zum Beginn der Felsen wollte ich laufen. Doch als meine Füße die glatten und von der Sonne erwärmten Granitplatten betraten, wollte ich mehr. Es fühlte sich richtig und gut an. Allerdings war meine Fußmuskulatur nicht darauf eingestellt, die stabile Sohle der Bergschuhe zu ersetzen, mein Blick noch nicht dafür trainiert, Neigung, Struktur und Feuchtigkeit des Bodens zu analysieren, um meinen Tritt auf die am besten geeigneten Stellen zu lenken. So stieg ich teils unbeholfen durch den Blockverhau über einen der Grate südlich des Großglockners. Jeder hätte schon von Weitem erkennen können, dass bei mir etwas nicht stimmte, dass ich wie der berüchtigte Storch im Salat unterwegs war. Aber der Eindruck, den ich hinterlassen mochte, war mir egal. Ich war verblüfft und auf eine neue Art beglückt. Ja, sicher, hier in den Bergen unterwegs zu sein war allein schon ein Glück. Aber dass so etwas Einfaches wie Schuhe ausziehen diese gigantische Wirkung haben konnte! Damit hätte ich nicht gerechnet. Es kam mir so vor, als hätten meine Füße nicht nur zehn Zehen. Sie hatten Augen und Ohren und Nase und Mund. Sie nahmen weich und hart und laut und leise und warm und kühler und wohlschmeckend und bitter wahr – ich lief durch ein Schlaraffenland. Breit grinsend blieb ich irgendwann stehen. Meine Füße fühlten sich wunderbar an. Lebendiger, kräftiger, wacher, und diese Freude erfüllte meinen ganzen Körper. Wenn es so einfach war, sich so zu fühlen, dann wollte ich bitte mehr davon! Am lustigsten an dieser Entdeckung fand ich, wie alt ich dafür hatte werden müssen. Dabei hatte ich doch schon einmal gewusst, wie schön Barfußlaufen ist. Ich erinnerte mich genau dran, wie gern ich als Kind barfuß gelaufen war, vor allem im Garten meiner Oma. Und dann? War ich groß geworden und hatte Schuhe getragen. Wer sagt, dass das so sein muss?

 

Als ich meine Füße in die Schuhe schieben wollte, um auf dem Schotterweg weiterzugehen, empfand ich es, als würde ich sie in Isolationshaft sperren. Doch den Schotterweg mochte ich mir nicht antun. Oder doch? Ich konnte es ja mal probieren. Und siehe da: So schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte, war es nicht. Aber angenehm auch nicht. Ich lief noch ein Stück barfuß, dann kehrte ich zurück zur Ordnung und sperrte die Füße in ihr Verlies. Der Unterschied war faszinierend. Ich spürte viel weniger, eigentlich gar nichts mehr. Ich war nicht mehr in Kontakt mit meiner Umwelt, hatte mich in gewisser Hinsicht taub und blind gemacht. Und warum? Aus Gewohnheit. Man denkt nicht drüber nach, tut etwas, was man immer macht oder weil es alle so machen. Alle liefen mit Schuhen; das war normal. Und wenn ich es hinterfragte? War das Barfußlaufen vielleicht nur eine Kopfsache? Die Füße da unten, der Kopf da oben – und wenn ich beides miteinander verband? Das Barfußlaufen hatte das Brett an meinen Füßen und vor meinem Kopf entfernt und meinen Geist geöffnet.

Warum hatte ich barfuß als Lebensqualität vergessen?

Warum tun Erwachsene das nicht mehr?

Und warum tun Sie es nicht mehr?

Ja, warum tat ich selbst es dann so lange nicht mehr, obwohl es doch so eine tolle Erfahrung war? Und so wohltuend, ganz im Sinne Friedrich Nietzsches: »Wir sind gerne in der freien Natur, weil diese keine Meinung über uns hat.«

 

Es dauerte noch einige Jahre, bis ich mich intensiv mit dem Barfußlaufen beschäftigte. Natürlich zog ich bei einer Rast am Berg weiterhin die Wanderschuhe aus, und ich lief auch in meiner Wohnung und im Garten barfuß. Doch ich ging nicht darüber hinaus. Ich blieb immer artig im scheinbar erlaubten Bereich – ohne mir Gedanken darüber zu machen, dass es eine Barfuß-Freiheit auch außerhalb der eigenen vier Wände gibt.

Mutprobe Briefmarken kaufen

Den Sommer 2007 verbrachte ich überwiegend zu Hause, weil ich an einem Vortrag arbeitete. Irgendwann während meines Physikstudiums war mir aufgefallen, dass ich lieber reiste als studierte, und so hatte ich mein Hobby zu meinem Beruf gemacht. Ich halte Vorträge über meine weltweiten Reisen und arbeite außerdem als Reisejournalist und Wanderführer. Ein Sommer zu Hause kommt bei mir höchst selten vor, da in der Urlaubszeit viele Touristen unterwegs sind und Touren buchen. Ich genoss diese Auszeit sehr und schlief nach arbeitsreichen Tagen oft auf dem Balkon mit Blick in die Sterne; bei uns am Alpenrand sind sie reich gesät, in dem Tausend-Sterne-Hotel, das einen mit der Natur verschmelzen lässt.

 

Irgendwann fiel mir auf, dass ich mehrere Tage keine Schuhe getragen hatte. Ich war von morgens bis abends auf nackten Sohlen unterwegs. Dann bemerkte ich, dass sich nicht nur meine Füße anders anfühlten. Das Barfußlaufen schien etwas bewirkt zu haben. Hatte sich vielleicht meine Statik verändert? Ich empfand mich geerdeter, sicherer im Stand, wobei der vorher nicht unsicher gewesen war. Was ich bestimmt wusste, war, dass ich barfuß achtsamer lief und viel mehr erlebte. Es war wie ein Umschalten von Schwarz-Weiß auf Farbe.

 

Dann kam der erste Moment der Wahrheit. Ich musste zur Post, Briefmarken kaufen. Automatisch bückte ich mich im Flur, um Schuhe anzuziehen, wenigstens Sandalen. Da spürte ich einen Widerwillen. Wieso sollte ich jetzt in die Schuhe schlüpfen, wenn ich seit Tagen barfuß lief und es genoss? Wieso konnte ich nicht barfuß zur Post? Ja, wieso eigentlich nicht?

 

Bis zum Gartentor war ich auf der sicheren Seite. Das kannte ich, das war sozusagen erlaubt. Dass es sanktioniertes Barfußgehen überhaupt gab, merkte ich, als ich das Gartentürchen öffnete. Es ging nicht nur darum, die Klinke hinunterzudrücken, oh nein. Ich war dabei, eine Grenze zu übertreten, was mich verblüffte. Damit hatte ich nicht gerechnet, denn was plante ich denn schon?

Hätte ich beschlossen, splitterfasernackt von Kopf bis Fuß zur Post zu gehen, wäre mir mein Zögern plausibel erschienen. Doch es waren bitteschön nur die Füße, und es war Sommer. Ich gab mir einen Ruck und betrat schmunzelnd den »verbotenen Bereich«, die Straße vor meinem Haus. Unwillkürlich linste ich zu den Fenstern meiner Nachbarn, ob jemand schaute. Es wurde ja immer schräger! Ich schob all diese Gedanken weg und konzentrierte mich auf meine Füße, dort gab es eine Menge zu spüren. Wie oft war ich diesen Weg wohl schon gegangen? Hundert, zweihundert Mal? In diesem Moment kam es mir vor, als wäre ich ihn noch nie gelaufen, denn barfuß betrat ich Neuland. Die Straße war nicht bloß eine Straße, sie bestand aus unzähligen Flecken unterschiedlichen Asphalts. Mal rauer, mal weicher, mal kalt, mal warm. Fasziniert erkundete ich die Zusammenhänge. Natürlich, im Schatten war es kühler, aber auch die Lage am Hang beeinflusste die Temperatur, und unter der Unterführung war es kühler als angenommen, vielleicht weil die Sonne den Weg dort nicht erreicht. Ich bog auf die größere Straße ab und merkte schnell, dass es bei der Hitze am angenehmsten war, auf den weißen Strichen zu laufen. Ein Nachbar auf dem Fahrrad kam mir entgegen.

»Was ist mit dir los?«, rief er mir zu.

»Wieso?« fragte ich. Ich hatte noch keine Antworten, wie ich sie heute meistens parat habe.

»Weilst auf’n Strich gehst!«, lachte der Nachbar.

»Auf’m, ned auf’n«, verbesserte ich ihn, und dann lachten wir beide.

 

In der Post sagte keiner was, aber ich merkte, dass ich registriert wurde. Wenn ich wegschaute, wurde hingeschaut. Das belustigte mich, und ich lächelte zurück. Grenzen haben mich schon immer interessiert, beziehungsweise sie auszudehnen. Und nun war ich zu meiner eigenen Überraschung auf eine Grenze gestoßen, die ich nie zuvor wahrgenommen hatte. Vor meiner eigenen Haustür, nein, in meinem Kopf. Wenn man die Wohnung verlässt, zieht man Schuhe an, das war tief in mir verankert wie: Gabel links, Messer rechts oder dass man nicht in Servietten schnäuzt, Danke sagt, wenn man etwas geschenkt bekommt, anderen die Tür aufhält, seine Nachbarn grüßt und sich die Hand beim Gähnen vor den Mund hält, mit dem man nur spricht, wenn er leer ist. Ich hatte in meinem Leben bereits einige Grenzen entdeckt, von deren Existenz ich nichts geahnt hatte. Ich weiß noch, wie ich das erste Mal im Leben ein One-Way-Ticket löste. Nach Kamerun, und das fühlte sich seltsam an. One-Way. Es fiel nicht nur mir auf. Eine nette Dame beim Check-in am Münchner Flughafen meinte, ich hätte beim Ticketkauf wohl einen Fehler gemacht. Aber da hatte ich die Grenze bereits übertreten und konnte antworten: »Des passt scho. Ich hab ja mei Radl dabei.« Denn ich wollte ja nicht dort bleiben, sondern durch Regenwald, Steppe und Wüste zurückradeln. Es ist nicht so, dass ich alle Grenzen infrage stellen will, ganz bestimmt nicht. Doch manche sind »überflüssig wie ein Kropf«, wie man es in Bayern treffend ausdrückt.

 

Am nächsten Tag ging ich barfuß zum Bäcker und in der darauffolgenden Woche barfuß zum Einkaufen. Die Sache begann mir Spaß zu machen, und so, wie meine Füße immer stabiler wurden, wuchs auch mein Selbstbewusstsein. Blicke prallten nun einfach ab von mir; wer mich freundlich anschaute, wurde freundlich zurück angeschaut, wer grimmig guckte, war mir wurscht. Ich hätte viel zu tun gehabt, wenn ich jeden Schuhträger herausfordernd gemustert hätte!

 

Straße ist nicht gleich Straße. Teer, Beton, Kopfsteinpflaster, Asphalt – und je nach Farbe des Asphalts fühlt er sich auch unterschiedlich an; ausgebesserte Stellen anders als alte. Asphalt bei Regen ist angenehmer als trockener, weil Asphalt im Allgemeinen sehr rau ist. Ich habe ihn natürlich in Augenschein genommen, weil es mich interessiert hat, und eine scharfkantige Oberflächenstruktur entdeckt, die mir früher nie aufgefallen war. Dadurch reibt man sich sein Leder ganz schön runter, wie ich später auf Laufveranstaltungen in der Stadt merkte. Wenn der Asphalt nass ist, wird die Haut geschmeidiger, und es kostet nicht so viel Substanz. Was jetzt nicht heißt, dass ich zum Regenanbeter geworden bin.

 

Barfuß zu laufen bedeutet, mit wachen Sinnen die Umwelt zu erfahren, und nicht nur in der Natur, auch in der Stadt gibt es sehr viel zu erspüren. Wie gut leitet ein Boden die Wärme weiter, und welche Auswirkungen hat das? Beton, ein guter Wärmeleiter, zieht einem die Energie aus dem Körper. Auf Beton gefriert es auch schneller als auf Asphalt. Eiskalt ist der Boden in Supermärkten vor den Kühlregalen. Was für eine Energieverschwendung, die mir in Schuhen niemals aufgefallen war! In Biomärkten wird immerhin die Konvektion durch geschlossene Kühlregale minimiert, die kalte Luft bleibt somit dort, wo sie hingehört, nämlich bei der Ware.

 

Innerhalb weniger Wochen wurde ich immer mutiger, ging auch barfuß zur Bank, und niemand behandelte mich wie einen Räuber. Manche merkten gar nichts, andere grinsten. Aber es war Sommer, alles im grünen Bereich, nun ja, im leicht grauen, denn bald haftete meinen Sohlen eine gewisse Patina an, die auch beim Waschen nicht ganz verschwand. Doch Schmutz, den man sieht, ist meistens ungefährlicher als unsichtbarer wie zum Beispiel chemischer.

Ohne doppelten Boden

Übermütig geworden, begann ich kleine Touren barfuß zu laufen. Zuerst eine, dann zwei Stunden. Ich blieb auf sicheren Wegen, also Strecken, die ich kannte und für barfußtauglich hielt, wie das Hörnle ab Unterammergau oder der Osterfeuerberg in Eschenlohe. Das Haus verließ ich nun immer barfuß, fuhr auch barfuß im Auto zu meinen Startpunkten. War das eigentlich erlaubt? Die Rechtslage in Deutschland ist eindeutig. Auch im Falle eines Unfalls springt die Haftpflichtversicherung ein. Die Kaskoversicherung könnte theoretisch die Zahlung verweigern, wenn einem barfuß fahrenden Unfallverursacher nachgewiesen werden könnte, dass sein Verzicht auf Schuhwerk für den Unfall verantwortlich war. Meines Wissens gab es diesen Fall noch nie. Ich kenne einige Autofahrer, die beim Fahren extra ihre Schuhe ausziehen, um ein besseres Gefühl für Gas und Bremse zu haben. Und natürlich auch Autofahrerinnen, ob mit oder ohne Stöckel.

 

Es erstaunte mich immer wieder aufs Neue, wie groß der Unterschied war, je nachdem, ob ich in Schuhen oder barfuß lief. Und wie schnell sich meine Füße an die belebende Herausforderung gewöhnten. Nicht nur die Haut an den Sohlen wurde dicker, auch die Fußhaltung veränderte sich. Ich arbeitete nun verstärkt mit dem Vorfuß und musste selbst für die Dämpfung sorgen, da sie mir von keinen Schuhen abgenommen wurde. Diese Dämpfung ist eigentlich kontraproduktiv, weil der Körper darauf ausgerichtet ist, barfuß zu laufen. Er möchte Informationen über die Bodenbeschaffenheit, um sicher zu sein, wo und wie er läuft. Wenn man ihm die Information vorenthält, indem man eine Dämpfung dazwischenschnallt, holt er sich diese dennoch, indem er fester auftritt, wie Studien der TU München zeigen, und das belastet alle Gelenke. So betrachtet sind Schuhe eine Energieverschwendung. Dennoch können sich gerade Läufer stundenlang über die optimale Dämpfung ihrer Schuhe unterhalten. Dass Laufschuhe gedämpft sein müssen, stellt kaum jemand infrage.

Manche Leute laufen barfuß am Strand, leiden danach an Fußproblemen und glauben, es liege daran, dass sie ohne Schuhe unterwegs waren. Das Problem beim Strandlauf ist der weiche Untergrund, der unglaublich viel Energie kostet, und das ist ungewohnt, vor allem wenn man eben nur im Urlaub am Strand läuft. Ich weiß schon, dass es ein tolles Gefühl ist, am Meer zu joggen. Man muss auch als ungeübter Barfußläufer nicht darauf verzichten, sollte jedoch mit kurzen Distanzen beginnen. Die Füße brauchen Zeit, um sich an diesen Untergrund zu gewöhnen. Der Körper weiß, wie er sich fortbewegen muss. Wir können darauf vertrauen, dass wir »richtig« barfuß laufen. Auch beim Joggen, wo man ja nicht mit gestreckten Beinen die Ferse in die Erde rammt, sondern mit dem Vorfuß abfedert. Wer von Jogging- auf Barfußschuhe umsteigt, muss seinen Laufstil ändern – hin zu barfuß.

Barfußschuhe

Immer mehr Menschen rennen in sogenannten Barfußschuhen, auch Minimalschuhe genannt, durch die Gegend. Trotz allem sind es Schuhe, denn der direkte Kontakt der Fußsohle mit dem Boden fehlt. Mich erinnert dieser Trend an die Anfänge des Nordic Walking. Auch hier bedurfte es der Erfindung von speziellen Stöcken, Schuhen und Handschuhen, um den Sport als Massentrend zu etablieren. Der signifikante Laufstil, bei dem mit ausgestrecktem Bein ein beträchtlicher Teil der Energie in den Boden und in die eigenen Gelenke gerammt wird, ist meiner Meinung nach alles andere als gesund und natürlich. Auch entsprechende Studienergebnisse, unter anderem der TU München, verweisen darauf. Wer weiß, vielleicht wird das in ein paar Jahren allgemein anerkannt – so wie beim Spinat, der heute auch nicht mehr so gesund ist wie in meiner Kindheit, als in der Nährwerttabelle, unter der ganze Kohorten von Kindern litten, das Komma verrutscht und der Eisengehalt zehnfach zu hoch angegeben war. Die ganze Welt ist ein Barfußpark! Jeder kann immer und überall nach Lust und Laune seine Schuhe ausziehen. Warum tun wir das dann nicht? Weil wir auf einen gewissen Schutz vor Schmutz, Kälte oder Nässe nicht verzichten wollen? Und weil die Sportartikelhersteller dann kein Geschäft machen? Sie lassen sich viel einfallen, um das, was wegfallen soll, zu ersetzen, die Lücke zu füllen, die durch den Verzicht entsteht, aber eigentlich keine ist, sondern ein Gewinn. Fast jeder Schuhhersteller hat inzwischen Barfußschuhe im Programm, ein Begriff, der an sich schon widersprüchlich ist. Mal wird eine etwas dünnere oder taillierte Sohle als Barfuß verkauft, mal wird eine gedämpfte Sohle mit Schnitten beweglich gemacht oder die Zehen werden einzeln verpackt, was für die Beweglichkeit unerheblich ist. Aber es soll ja gesund sein, und deshalb geben manche Leute viel Geld dafür aus. Dabei muss man für Gesundheit oft gar kein Geld ausgeben. Sie wär schon da, sozusagen vor unserer Haustür, an der frischen Luft. Alles da, alles dran. Barfuß sind wir komplett und lauftüchtig. Sonst hätte die Natur längst eine Rückrufaktion gestartet!

 

Wer geschützt, aber dennoch quasi wie barfuß unterwegs sein will, ist am besten beraten, wenn er sich eines der ganz wenigen Modelle auf dem Markt sucht, die lediglich eine sehr dünne, gleichmäßige Gummihaut aufweisen und auf den ersten Blick eher wie gummierte Hausschuhe aussehen. Es gibt auch schicke Lederschuhe, denen man ihre dünne Sohle gar nicht ansieht. Darin haben die Zehen maximale Bewegungsfreiheit, und der Fuß wird, abgesehen vom Abrieb, beansprucht wie beim echten Barfußlaufen.

Der aktuelle Barfußtrend hat allerdings schon einigen motivierten Läufern einen Besuch beim Orthopäden beschert. Das ist schade, denn die Ursache liegt nicht im Barfußlaufen, sondern in der Überbeanspruchung. Ein idealer Weg, nicht nur Spaß dabei zu haben, sondern auch Abwechslung und speziell geeignete Übungen auf einem kurzen Parcours zu vereinen, sind die vielen Barfußpfade, die wie Pilze aus dem Boden sprießen – völlig frei von Fußpilzen! Also bitte nicht gleich losjoggen wie gewohnt mit der neuen Errungenschaft! Gönnen Sie sich und Ihren Füßen Zeit. Sie müssen sich erst an die ungewohnte Belastung gewöhnen und ihre natürliche Muskulatur wieder zurückgewinnen. Auch das Gangbild muss sich mit kleineren Schritten und Vorfußlauf wieder an die von der Evolution entwickelten Bewegungsabläufe anpassen. Genau dafür ist unser Fuß gemacht und somit nicht überfordert. Das zeigen auch Beispiele von indigenen Völkern wie den Massai, den San, den Aborigines oder allen voran den Tarahumara in den Schluchten des mexikanischen Hochlands, die ihre Jagdtechnik auf stundenlange Hetzläufe abgestimmt haben. Wer aus unserer modernen Welt den Weg zurück finden will zur natürlichen Fortbewegung, sollte sich ein Jahr Zeit nehmen für die Umstellung. Es ist so ähnlich wie bei einer Ernährungsumstellung. Die geschieht auch nicht von heute auf morgen.

Frei von Schuhen

Zu Beginn meiner Barfußzeit hatte ich geglaubt, es würde lange dauern, bis ich barfuß so mobil wäre wie mit Schuhen. Erfreut stellte ich jedoch bald fest, dass mehr möglich war, als ich erwartet hatte. Es gab aber auch Grenzen, vor allem beim Bergablaufen. Bergauf setzt man den Fuß flach auf und drückt sich weg, bergab muss man sein Gewicht ohne den Einsatz der Ferse abfedern und aufpassen, nicht zu rutschen, weil das einen zu hohen Abrieb verursachen würde. Diese Technik will geübt sein, doch auch das klappte gut, und bald schon konnte ich mit meinen beschuhten Freunden mithalten. Zur Sicherheit nahm ich aber immer ein paar Schuhe mit. Eines Morgens traf ich mich mit zwei Freunden an einem Parkplatz in Eschenlohe zu einer kleinen Tour auf den Osterfeuerberg. Bevor ich das Auto abschloss, checkte ich kurz meine Siebensachen – Geld, Schlüssel, Handy –, und da schoss es mir siedend heiß durch den Kopf: Schuhe! Ich hatte keine Schuhe dabei! In diesem Moment wusste ich, dass ich die Schuhe in meinem Alltag nicht mehr brauchte. Sie waren nur noch ein Sicherheitsnetz, auch weil ich meine Freunde nicht aufhalten wollte. Es kam mir so vor, wie wenn man Tabletten nimmt und sie irgendwann vergisst und daran merkt, dass der Mangel jetzt ausgeglichen ist. Ich war frei von den Tabletten, den Schuhen, frei! Das war ein großartiges Gefühl, doch wenn mir in diesem Moment jemand gesagt hätte, dass ich im nächsten Jahr barfuß über die Alpen gehen würde, hätte ich wohl laut gelacht und das gesagt, was manche zu mir sagten: Spinner. Aber weil ich schon so oft in meinem Leben meine Grenzen verschoben habe und sicher auch ein Abenteurer bin, suchte ich nach weiteren Herausforderungen.

Rekorde

Dass man ohne Schuhe Leistungen vollbringen kann, die man gemeinhin für unmöglich hält, zumindest wenn man in unserer sogenannten zivilisierten Welt aufgewachsen ist, zeigt sich an folgendem Beispiel aus dem Jahr 1960. In jener Zeit, als sich das Nachkriegsdeutschland im größten Wirtschaftswundertaumel befand, als es für alle Bevölkerungsschichten normal geworden war, nicht nur sonntags Schuhe zu tragen, und der Besitz eines Fernsehapparats bald kaum mehr der Rede wert war, fanden die Olympischen Spiele in Rom statt. Hier zog ein in den Bergen aufgewachsener junger Äthiopier die Blicke der Weltöffentlichkeit auf sich. Als Ersatzläufer schickte man den achtundzwanzigjährigen Sportler aus der Leibgarde des äthiopischen Kaisers zu den Spielen nach Italien, ohne sich eine nennenswerte Platzierung beim Marathon zu erhoffen. Als dann auf den letzten einhundert Metern jedem klar war, dass die Verfolger keine Chance mehr gegen den unbekannten Sportler aus dem ostafrikanischen Hochland hatten, brandete tosender Applaus los. Abebe Bikila errang als erster Schwarzafrikaner einen Olympiasieg in der Königsdisziplin des Laufsports, die er als einziger Läufer komplett barfuß absolvierte – in zwei Stunden, fünfzehn Minuten und sechzehn Sekunden. Nicht diese Weltbestzeit, sondern die nackten Tatsachen machten ihn berühmt. Trotzdem wurde er nicht zum Vorbild anderer Läufer, behandelte ihn die Presse bei allem Respekt doch eher als einen Exoten, der seine afrikanische Lebensweise erfolgreich auf europäische Straßen übertragen hatte.

Weniger bekannt als Bikila, aber genauso bemerkenswert machte die erst 17-jährige Zola Budd auf sich aufmerksam. Die Südafrikanerin legte 1984 die Messlatte über 5000 Meter auf einen neuen Rekordwert. Mit 15:01,83 Minuten lief sie barfuß ihren Konkurrentinnen davon.

 

Diese beiden Sportler fand ich auf der Suche nach Vorbildern. Doch ich war nie auf der Jagd nach Rekorden, sondern an einem Erfahrungsaustausch mit anderen Barfußläufern interessiert, vor allem wollte ich Tipps für mehrtägige Barfuß-Touren, mein nächstes Ziel. Wie funktionierte das mit dem Abrieb, wie lange dauerte es bei welchem Untergrund, bis wieder genug Profil nachgewachsen wäre, was konnte man sich zutrauen, ohne die Füße zu sehr zu strapazieren? Konnte mir das überhaupt jemand sagen, oder war ich allein auf weiter Flur? So kam ich mir zumindest vor. Groß war meine Freude, als ich bei meiner Internetrecherche auf ein Barfuß-Forum stieß und auf einen Klick viele Gleichgesinnte entdeckte. In diesem Forum wollte ich mich anmelden … sobald ich etwas vorweisen konnte. Es wäre mir komisch vorgekommen, in der Vorstellungsrunde zu posten, dass ich barfuß zur Post und zum Supermarkt und aufs Hörnle lief, das erschien mir zu gering. Aber was wäre ein guter Einstieg? Die Zugspitze vielleicht? Barfuß auf die Zugspitze, war das möglich? Und ob! Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Der Johann Sanktjohanser! Aber natürlich! Es gab praktisch keinen Garmischer, der ihn nicht kannte. Über zweihundert Mal war der Sanktjohanser bereits barfuß auf die Zugspitze gerannt. Zu meiner Enttäuschung war er nicht aktiv im Barfuß-Forum, doch eigentlich war das kein Wunder, er war schließlich hochbetagt. Und deshalb schien mir die Barfußbesteigung der Zugspitze ein realistischer Plan zu sein. Was der alte Herr konnte, sollte ich wohl auch schaffen, zumal ich ein Bergler und bei guter Kondition war. Im Internet fand ich dann doch noch ein paar Informationen über den Sanktjohanser, auf den ich bei Wanderungen in der Folge oft angesprochen wurde: »Da gibt es doch einen, der rennt immer barfuß auf die Zugspitze.« Ja, und das nicht nur im Sommer. Um auch im Herbst auf dem ausgeaperten Höllentalferner nicht den Halt zu verlieren, hatte er sich aus umgedrehten Kronkorken barfußtaugliche Grödel gebastelt. Es war mir klar, dass ich diesen Gesinnungsgenossen kennenlernen musste, und es war mir eine große Ehre, als er meiner Einladung zu einem Vortrag folgte. Ich traf einen heimatverbundenen bescheidenen Mann, der als Berufskraftfahrer wegen seiner Rückenprobleme bereits in jungen Jahren Dauerpatient bei Orthopäden war. »Öfter barfuß laufen«, riet ihm einer, und das nahm er ernster, als es sich der Orthopäde wohl hätte vorstellen können. Ich erinnerte mich daran, was ich, als ich das erste Mal von ihm hörte, dachte: Bei dem müssen die Füße in Fetzen hängen; das kann doch keinen Spaß machen. Ich hatte ja noch keine Ahnung, ich war nicht grün hinter den Ohren, sondern hinter den Zehen!

Warum Barfußlaufen gesund ist

Unsere Füße tragen uns durchs Leben und werden dennoch degradiert und weggepackt, als müsste man sich ihrer schämen. Dann sind sie eher Schuhständer als äußerst bewegliche Wunderwerke. Außer beim Yoga. Da werden sie hervorgehoben als Verbindung zu Mutter Erde. Großzehenballen, Kleinzehenballen – Körperstellen, die Yoginis vertraut sind. Und nach der Stunde wieder wegpacken. Nix mehr Kleinzehenballen und Konsorten. Gilt denn die Verbindung zur Mutter Erde nur im Yogastudio? Nein, zum Glück nicht!

Barfußlaufen liegt im Trend. Gerade in Studentenstädten wird man kaum noch mit Blicken bedacht – weder mit erfreuten noch mit erstaunten oder entsetzten. Es ist einfach normal, den Füßen ihre Funktion zu lassen und seine Füße in ihrer Natürlichkeit zu zeigen. Auch in vielen Büros gehören Zehensandalen heute zum gewohnten Bild. Gesund ist das neue Erotisch. Ob Bier- oder Schuhwerbung. Von vielen Plakaten strecken sich dem Passanten blanke Sohlen entgegen. Auch die Presse greift das Thema immer mehr auf. Das passiert nicht in Freak-Shows oder narzisstischen Reality-Seelenstrips, sondern in Gesundheitsmagazinen und im Rahmen des aktuellen Trends »Earthing«. Näher an der Natur, näher bei sich und dabei vielleicht persönliche Grenzen überschreiten, zu neuen Erkenntnissen gelangen, die eigentlich ganz selbstverständlich sind. Es ist ein Prozess, der allmählich in Gang kommt.

Die zentrale Bedeutung der Füße wird in unserem Alltag jedoch immer noch viel zu wenig gewürdigt. Man versucht den Fuß zu schützen und raubt ihm die Funktion, im vorauseilenden Gehorsam und in der Sorge, sich zu verletzen. Um mehr Mobilität zu erreichen, wird die körpereigene Mobilität behindert – so die Logik unserer Vollkaskogesellschaft. Alles muss um jeden Preis funktionieren. Doch mit der Konzentration allein auf das Ziel statt auf den Weg übersieht man die Perlen der Achtsamkeit, weil man nicht mehr aufpassen muss. Und schon gar nicht auf den Boden schaut oder was mit seinen Füßen zu tun haben will. Und knickt gerade dann um, weil die Schuhe zu steif sind oder die Fußmuskulatur zu schwach und vor allem, weil man nicht auf das Naheliegende geachtet hat. Wozu auch, man trägt doch Schuhe. Doch ein Schuh kann immer nur kompensieren, er ist nicht natürlich, auch wenn wir das glauben wollen, wie es alle tun und deshalb ist es richtig? Da waren wir aber schon mal weiter, wie das folgende Zitat von Michelangelo nahelegt:

»Welcher Geist ist so leer und blind, der nicht die Tatsache erkennen kann, dass der Fuß vornehmer als der Schuh ist und die Haut schöner als das Gewand, mit dem sie bekleidet ist.«

Barfußlaufen ist gesund. Das ist eine fundamentale Lehrmeinung in der Orthopädie. »Man kann aber alles übertreiben«, ist dann jedoch auch eine häufige Reaktion der Mediziner, wenn sie von meinen alpinen Touren hören. Zumindest für gesunde Füße gilt, dass Barfußlaufen den natürlichen Ballengang fördert und viele Haltungs- und Gelenkprobleme lindern kann. In Deutschland hat man das beispielsweise in den Schön-Kliniken erkannt und motiviert die Patienten dazu. In den USA läuft man voraus: Es gibt umfangreiche Studien, die auch die großen Sportschuhhersteller zu eigenen Linien inspiriert haben. »Minimal footwear« gilt als trendy. Ein Besuch auf Barfußplattformen im Internet wie www.movnat.com lohnt sich und auch ein Blick auf wissenschaftliche Studien – allen voran die Harvard-Studie des Humanbiologen David Lieberman: https://www.barfuss-schuhe.net/ratgeber-barfussschuhe/lieberman-studie-barfusslaufen/. Auch in Deutschland beschäftigt man sich bei der Deutschen Gesellschaft für Haltungs- und Bewegungsforschung (www.ghbf.de) und dem Human Motion Institute (http://www.thehumanmotioninstitute.org/) intensiv und vorurteilsfrei mit den richtig eingesetzten natürlichen Ressourcen unseres Bewegungsapparats, den wir im Laufe der Evolution als Steppenläufer perfektioniert haben.

In der Literatur finden sich unter dem Stichwort »barfuß« unzählige Werke, die damit in erster Linie Freiheit und Lebensfreude transportieren. Neben der Biografie von Abebe Bikila (»Der Mann, der barfuß lief«) hat sich vor allem in den USA der Titel »Born to run« zum Bestseller entwickelt. In Deutschland widmet der kleine Fidibus-Verlag dem Barfuß-Thema mit drei Büchern eine eigene Sparte (www.fidibus-verlag.de).

Barfuß auf die Zugspitze

Allein kann man sich schlecht aus der Ferne fotografieren, und außerdem gab es einen idealen Begleiter für diese Premiere: meinen bewährten Kumpel Jens-Uwe Tiedke. Jens ist Elektrotechnik-Ingenieur und begeisterter Hobbyfotograf, wir kennen uns seit der siebten Schulklasse. Wir hatten viel gemeinsam erlebt, auch mehrere Afrika-Touren und Kletterabenteuer. Mit fünfzehn hatten wir Deutschlands höchsten Berg zum ersten Mal bezwungen, und das auf Anhieb über die anspruchsvollste Route: den Klettersteig durchs Höllental.

 

Ich rief Jens an »Gemma mal wieder auf’n Zugspitz«, fiel ich mit der Tür – sprich dem Berg – ins Haus.

Jens war gleich dabei. »Gute Idee. Da warma scho lang nimma.«

»Aber diesmal geh ich fei barfuß.«

»Ach, dann warst du des in echt!«

»Wie echt? Was soll an mir falsch sein?«

Er lachte »Neulich in Garmisch seh ich ausm Auto raus einen laufen und denk mir, des ist der Martl, aber der hatte keine Schuh an.«

»Oiso, wia schaug’s aus?«

»Auf den Spuren vom alten Sanktjohanser?«, fragte Jens. Natürlich kannte er den Zugspitzläufer auch.

»Sozusagen.«

»Der ist mir schon öfter in Garmisch begegnet mit seim Radl. Der ist doch bestimmt schon über siebzig, wenn des reicht.« Jens machte eine Pause und fragte dann: »Aber zweihundert Mal müssen von mir aus nicht sein.«

»Einmal reicht«, beruhigte ich ihn.

»Und ich soll mit zum Fotografieren?«

»Auch.«

»Neuer Vortrag?«

»Im Moment ist es eher eine Bewerbung für ein Barfuß-Forum.«

»Wann?«

»Nächste Woche? Dienstag?«

»Passt.«

Hölle und Himmel

Wir treffen uns am 29. Juli morgens gegen vier in Hammersbach. Es ist wie immer, wenn wir uns auf den Weg zur Zugspitze gemacht haben. Aber diesmal ist etwas Entscheidendes anders, denn ich bin barfuß. Werde ich es auf die Zugspitze schaffen? Das ist ein anspruchsvoller Test, ich will doch etwas Ordentliches abliefern bei meinem Einstieg ins Barfuß-Forum. Die Gischt des Hammersbachs hat einen nassen Film über den Weg gelegt. Die ersten Schritte sind eine Wohltat, angenehm geschmeidig laufe ich über den Wanderweg. Und eigentlich kann ja nichts passieren, ich habe zur Sicherheit meine Bergschuhe im Rucksack, auch wenn ich die auf keinen Fall anziehen möchte. Locker gehe ich im Schein der Stirnlampe den bekannten Weg. Viele Eindrücke sind neu, konnten bisher nicht durch die Schuhsohle an die unzähligen Nervenenden im Fuß vordringen und von dort direkt ins Gehirn, das sich ständig neue Bilder von jedem Fleckchen Erde macht, auf den ich meine Füße setze. Ich achte genauer auf den Weg, laufe auch nicht mehr Gefahr, einen der unzähligen in den kühlen Morgenstunden aktiven Alpensalamander zu übersehen, eines dieser urtümlichen kleinen Wesen, die als eine von wenigen Reptilienarten lebende Junge zur Welt bringen und wie in Zeitlupe unseren Weg kreuzen. Meine Schritte sind ungleichmäßiger als mit Schuhen, sucht doch das Auge bei jedem Tritt einen idealen Aufsatzpunkt. Erstaunlicherweise ist die kühle Bodentemperatur kein Problem, ich empfinde sie als sehr angenehm. Ohne Schuhsohle bewegt sich der Fuß mehr, wird die Fußmuskulatur stärker beansprucht und der Fuß besser durchblutet. Die temperaturbedingte Wohlfühlgrenze rutscht barfuß um einige Grad nach unten. Ich habe das Gefühl, den Fuß gezielt zur Wärmeabfuhr einsetzen zu können. Die Leistungsgrenze wird beim Bergsteigen an schönen Tagen oft durch die Körpertemperatur gesetzt. Hier kann ich mir durchs Barfußlaufen bestimmt etwas Luft nach oben verschaffen, und das unangenehme Gefühl der sprichwörtlich eingeschlafenen Füße gehört der Vergangenheit an.