Über den Inhalt:
In einem Haus in Brooklyn überschlagen sich Anfang der 1940er Jahre die Ereignisse. Die zwölfjährige Esther Shaffer muss nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter verkraften, dass ihr Vater freiwillig in den Krieg zieht, Penny Goodrich, die heimlich in Esthers Vater verliebt ist, eröffnet sich dadurch die Chance ihres Lebens und Jakob Mendel, der um seinen Sohn in Ungarn bangt, wird beschuldigt, die Synagoge seiner Gemeinde angezündet zu haben. Alle Bewohner des Hauses fiebern dem Frieden entgegen, doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Werden sie erkennen, dass Gott in ihrem Leben am Wirken ist – selbst wenn er schweigt?
Werden sie erkennen, dass er sie liebt und auch heute noch Wunder wirkt?
Ein mitreißender Roman über das Leben, die Liebe und das Festhalten an Gott auch in schwierigen Zeiten.

Über die Autorin:
Lynn Austin ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in Illinois. Ihre große Familie, die vier Generationen umfasst, ist Aufgabe und Inspiration für sie. Wenn ihr neben dem Tagesgeschäft Zeit bleibt, macht sie Vortragsreisen und schreibt Bücher. In Deutschland hat sie inzwischen eine riesige Fangemeinde und gilt als eine der meistgelesenen Autorinnen im christlichen Romanbereich. Ihre Bücher sind ausnahmslos Bestseller und haben dem Genre über die Grenzen des christlichen Buchmarkts hinaus zum Durchbruch verholfen.

Kapitel 7

Esther hörte kein Wort von dem, was die Sonntagsschullehrerin sagte. Sie hatte Mrs Nevins Fragen immer gerne beantwortet und meldete sich oft als Erste, aber jetzt schien all das nicht mehr wichtig zu sein. Wen interessierte es schon, was ein paar Leute, die vor langer Zeit in einem fernen Land lebten, getan oder gesagt hatten? Die Geschichten hatten nichts mit Esther zu tun. Sie konnten nicht erklären, warum alles in ihrem Leben außer Kontrolle geriet, so wie das Auto, das ihre Mutter getötet hatte. Und soweit Esther sehen konnte, gab es nichts in der Bibel, was ihr helfen könnte, ihr altes Leben wiederzubekommen.

Eine Woche war vergangen, seit Papa abgereist war. Es kam ihr vor wie ein ganzes Jahr. Am letzten Sonntag waren sie nicht in die Kirche gegangen, weil es der Tag nach seiner Abreise gewesen war. In der darauffolgenden Woche waren Esther und Peter jeden Abend nach der Schule in ihrem Zimmer geblieben, um Penny Goodrich aus dem Weg zu gehen. Diese Woche hatte Esther nicht mit in die Kirche gehen wollen, aber Penny hatte darauf bestanden.

„Ich habe eurem Papa versprochen, dass ich euch in die Kirche mitnehme … und ich weiß, dass ihr euren Papa nicht enttäuschen wollt, oder? Außerdem erwartet eure Großmutter euch anschließend zum Sonntagsessen.“

Also saßen sie jetzt in der Sonntagsschule. Esther warf Peter einen Blick zu und sah, dass er ins Leere starrte und ebenso wenig Interesse an dem Unterricht hatte wie sie selbst. Er sollte in einer Klasse mit gleichaltrigen Kindern sein, aber er hatte darauf bestanden, bei Esther zu bleiben, und ließ sich nicht von ihr trennen. Esther hatte zu der Leiterin gesagt: „Entweder er bleibt bei mir oder wir gehen beide nach Hause.“ Seitdem war Peter immer in ihrer Gruppe gewesen.

„Unsere Zeit ist beinahe um“, sagte Mrs Nevin jetzt. „Hat noch jemand eine Frage? Oder etwas zu erzählen?“

Esther hob zum ersten Mal die Hand. „Unser Vater ist letzte Woche gegangen, um im Krieg zu kämpfen.“

„Mein Dad kämpft auch“, sagte jemand.

„Ja, meiner auch.“

Esther hob wieder die Hand. „Warum muss es Kriege geben?“

Die Lehrerin nahm ihre Brille ab und putzte sie mit dem Saum ihres Pullovers. Die kleine, spröde Frau hatte dicht gewellte Haare, die so grau waren, dass sie blau wirkten. „Es tut mir leid, Esther, aber das liegt daran, dass es auf der Welt böse Menschen gibt, und die müssen aufgehalten werden.“

„Warum tötet Gott nicht einfach alle bösen Menschen selbst? Warum müssen unsere Väter es tun?“

Mrs Nevins freundliches Lächeln erstarb. Sie wischte so hektisch ihr Brillenglas, dass Esther dachte, es würde jeden Moment herausfallen. „Wir haben heute eigentlich keine Zeit, um –“

Die unbeantworteten Fragen eines ganzen Jahres stiegen plötzlich in Esther hoch wie überkochende Suppe. Esther war es leid, sie für sich zu behalten, und es war ihr inzwischen egal, was Mrs Nevin und alle anderen von ihr hielten. „Ich will wissen, warum Menschen, die nie etwas Böses getan haben, sterben müssen, während böse Leute weiterleben.“

Im Raum war es plötzlich ganz still. Selbst die rauflustigen Jungen, die sonst während des Unterrichts immer flüsterten oder kicherten, saßen still wie die Schaufensterpuppen da. „Ich glaube“, sagte Mrs Nevin schließlich, „wir sollten einen Augenblick für unsere Lieben beten, die im Krieg kämpfen.“

„Warum?“, fragte Esther. „Was nützt denn das Beten? Alle haben nach dem Autounfall gebetet, dass meine Mutter am Leben bleibt, aber sie ist im Krankenhaus gestorben.“ Mrs Nevin schien nichts erwidern zu können. „Auch wenn wir zu Gott beten“, fuhr Esther fort, „verhindert er nicht, dass Menschen sterben, also was soll es dann?“

„Jeder stirbt, Esther. Aber Gott hat denen von uns, die ihn kennen, versprochen, dass sie nach ihrem Tod in den Himmel kommen, um bei ihm weiterzuleben.“

„Warum braucht Gott noch mehr Leute im Himmel? Haben Sie uns nicht erzählt, dass Gott das ganze Universum gehört und alle Sterne und Planeten und so? Gibt es nicht schon genug Engel im Himmel, die bei ihm sind?“

Mrs Nevin trat neben Esther und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Ich kann deine Fragen nicht beantworten, Liebes. Es tut mir leid –“

„Aber wer kann es dann?“

„Soll ich Pastor McClure bitten, dich zu Hause zu besuchen?“

Doch Esthers Wut wurde schon wieder von der vertrauten Dunkelheit geschluckt und erstarb wie die letzten Lichter eines Feuerwerks. „Schon gut. Es ist nicht wichtig.“

„Doch, das ist es, Liebes. Ich werde gleich nach dem Gottesdienst mit dem Pastor sprechen.“

„Nicht nötig.“

Penny Goodrich wartete im Eingangsbereich der Kirche auf Esther und Peter und lächelte und plauderte ununterbrochen mit anderen, so als hätte sie ihr Leben lang Esthers Kirche besucht. Das hatte sie aber nicht. Penny war noch nie in dieser Kirche gewesen. Sie gehörte nicht hierhin. „Warum kannst du nicht in deine eigene Kirche gehen?“, hatte Esther sie heute Morgen gefragt, als sie in den Bus gestiegen waren.

Pennys Lächeln hatte einen Moment lang geflackert wie eine Geburtstagskerze im Wind. „Also … dein Vater möchte, dass ihr weiter zu eurer Kirche geht. Und ich bin jetzt für euch zuständig.“

Zu sehen, wie Penny sich hier in ihrer Gemeinde häuslich einrichtete, so wie sie es in ihrer Wohnung getan hatte, machte Esther wütend. Sie lief voraus in den Gottesdienstraum und ließ sich so auf die Bank fallen, dass Peter neben Penny sitzen musste. Esther senkte den Kopf und starrte auf ihre Schuhe. Der vertraute Raum schien aus irgendeinem Grund mit einem Mal anders zu sein.

Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie es gewesen war, als sie und Peter und Mama und Papa zusammen zum Gottesdienst gegangen waren. An den Sonntagen, wenn Mama Klavier spielte, saßen sie vorne in der allerersten Reihe, unmittelbar hinter Mama. Esther hatte für ihr Leben gern zugesehen, wie die starken Finger ihrer Mutter über die Tasten flogen. Mama hatte angefangen, Esther Klavierspielen beizubringen, aber jetzt war alle Musik verstummt.

Der Gottesdienst dauerte eine Ewigkeit. Anschließend gingen sie zu Fuß zum Mittagessen zu Oma Shaffers Haus. Penny verabschiedete sich und ging nach nebenan, um mit ihren eigenen Eltern zu essen. Oma begrüßte Esther und Peter in Hausmantel und Pantoffeln.

„Ich dachte, es hat keinen Sinn, eine Riesenmahlzeit zu kochen, wenn euer Vater nicht hier ist“, sagte sie. „Ich habe Bohnen und Würstchen gemacht, das mögt ihr doch, oder?“

Esther zuckte mit den Schultern. „Schon.“ Sie hatte keinen Hunger.

Es schien sehr still ohne Pennys endloses, fröhliches Geplauder. Oma stellte das Essen auf den Tisch und setzte sich zu Esther und Peter, aß aber selbst nichts. Sie hatte noch nicht einmal einen Teller oder Silberbesteck vor sich. Sie sah sehr traurig aus. „Was hast du?“, fragte Esther.

„Was glaubst du denn, was ich habe? Meine drei Jungen kämpfen alle in diesem schrecklichen Krieg, und ich weiß nicht, was ich tun soll, wenn ihnen etwas zustößt.“

Esther wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie stach mit der Gabel Löcher in ihr Wiener Würstchen, während Großmutters Sittich im Hintergrund lautstark zwitscherte. „Wir haben diese Woche einen Brief von Papa bekommen“, sagte sie schließlich. „Er hat uns erzählt, dass er mit vielen anderen Männern zusammen in einem großen Saal schlafen muss.“

„Ja, mir hat er auch einen Brief geschrieben. Er ist hier irgendwo, wenn du ihn lesen willst.“ Oma stützte die Hände auf den Tisch und erhob sich, um die unzähligen Papierstapel auf ihren Schränken zu durchsuchen.

„Ist schon gut“, sagte Esther. „Wahrscheinlich steht das Gleiche drin wie in unserem.“

Peter spielte nach dem Essen nicht Fangen mit Woofer, wie er es sonst immer tat, obwohl die Hundedame bettelte und bettelte und ihm ihren vollgesabberten Ball vor die Füße legte und mit einem glücklichen Hundelächeln und hängender Zunge zu ihm aufsah. Stattdessen saßen sie alle in dem vollgestopften Wohnzimmer und hörten eine evangelistische Sendung im Radio an. Omas Haus roch muffig und abgestanden, wie ein Schrank voller alter Kleider, die nie jemand trug.

„Klopf, klopf“, rief Penny irgendwann durch die Fliegengittertür zur Veranda. „Seid ihr mit dem Essen fertig?“

Esther schlängelte sich zwischen den Müllbergen hindurch bis zur Tür, erleichtert, Penny zu sehen. „Können wir jetzt nach Hause gehen?“, flüsterte sie.

Penny hatte zwei weitere Einkaufstaschen mit ihren Dingen gefüllt und schleppte sie zur Bushaltestelle. Als der Bus kam, stellte sie die Taschen kurz ab, um einer älteren Dame in den Bus zu helfen – und hätte beinahe ihr Gepäck vergessen. „Ich bin wirklich schusselig“, klagte sie, als alles sicher im Bus verstaut war.

Die Frau auf der anderen Seite des Ganges tätschelte Pennys Hand. „Danke, dass Sie so freundlich zu mir waren, meine Liebe. Es gibt heutzutage nicht mehr viele junge Leute, die freundlich sind, vor allem nicht so eine hübsche junge Frau wie Sie.“

Esther zog eine Grimasse. Brauchte die Frau eine Brille? Penny war überhaupt nicht hübsch!

Sobald Esther aus dem Bus gestiegen war, rannte sie los und lief vor Penny und Peter den ganzen Weg zum Haus und die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf. Sie hatte ihren eigenen Schlüssel. Papa hatte ihn ihr gegeben, damit sie und Peter nach der Schule in die Wohnung konnten.

An diesem Abend saß Esther mit einem Buch im Wohnzimmer, als sie Pennys laute Stimme in der Küche hörte. „Du bist nicht sehr nett, Peter. Wenn jemand dich etwas fragt, sollst du antworten!“

Esther hatte noch nie gehört, dass ihre verschüchterte Betreuerin die Stimme erhob. Sie hatte die ganze Woche in einer widerlich süßlichen Weise mit ihnen gesprochen, als wären sie Babys. Hatte Penny die ganze Zeit nur so getan, als wäre sie schüchtern und nett? Esther legte das Lesezeichen zwischen die Seiten und eilte ihrem Bruder zu Hilfe.

Penny hatte Peters Arm gepackt, und er versuchte sich ihrem Griff zu entwinden. „Nein, warte. Ich möchte wissen, warum du nicht mit mir redest. Du hast meine Fragen die ganze Woche lang ignoriert. Ich will deinem Vater nicht schreiben, aber –“

„Wag es nicht, meinen Bruder anzufassen!“ Esther packte Peters anderen Arm und gewann das Tauziehen, indem sie ihn mit einem Ruck von Penny fortzog. Er sah blass und verängstigt aus, aber er weinte nicht und gab auch sonst keinen Laut von sich. „Komm mit, Peter.“ Esther zog ihn hinter sich her in das Zimmer, das sie gemeinsam bewohnten, und knallte die Tür zu.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie. Er nickte.

„Worüber hat Penny sich so aufgeregt?“ Er starrte sie an, ohne zu blinzeln. „Komm schon, du kannst es mir sagen, ich bin auf deiner Seite.“ Sie wartete und versuchte geduldig zu sein, aber er sagte immer noch nichts. „Bist du sauer auf mich oder so was?“

Er schüttelte den Kopf, während Tränen in seine Augen traten. „Warum sagst du mir dann nicht, was du hast?“ Peters Gesicht wurde rot, als er sie weiter anstarrte, den Mund ein wenig geöffnet, als versuche er zu sprechen – aber nichts kam heraus.

„Was ist nur mit dir los?“, fragte sie und versetzte ihm einen Stoß. Esther würde ihrem Bruder nie im Leben wehtun, aber irgendetwas an der Art, wie er so stumm dort stand, war unnatürlich, so als könnte er nicht atmen oder würde ersticken. Ihr Herz schlug schneller. „Sag etwas! Wenn das ein Spiel ist, dann ist es nicht sehr lustig.“

Peter senkte den Blick und hob seine knochigen Schultern, als wollte er den Kopf in seinem Hemdkragen verschwinden lassen. Er war nie eine Plaudertasche gewesen, wie Esther es war, und wenn er sprach, dann war es immer ein leises Murmeln. Man musste ganz nahe sein, um zu hören, was er sagte, und Oma Shaffer, die schwerhörig war, konnte ihn überhaupt nicht verstehen. Alle sagten immer, dass Esther genug für sie beide redete.

„Jetzt hör mir mal zu, Peter. Ich bin auch wütend darüber, wie die Dinge hier laufen, aber es wird noch viel schlimmer, wenn wir Penny ärgern. Also komm, sprich mit mir. Sag mir, was los ist. Ich verspreche, ich werde es niemandem sagen.“ Sie wartete beinahe eine ganze Minute lang, aber Peter antwortete immer noch nicht. „Bist du sauer auf mich?“, fragte sie noch einmal.

Er schüttelte den Kopf und eine Träne lief über seine Wange. Er wischte sie mit dem Handballen fort. Esther seufzte, ließ sich auf ihr eigenes Bett fallen, das gegenüber von seinem stand, und hörte dem Verkehrslärm auf der Straße unter ihnen zu, während sie einander wortlos anstarrten.

In diesem Augenblick wurde Esther schlagartig bewusst, dass Peter kein einziges Wort gesagt hatte, seit Papa vor einer Woche gegangen war. Peter war wortlos zur Schule gegangen, hatte seine Mahlzeiten schweigend gegessen, hatte seine Hausaufgaben gemacht und Comics gelesen und war schlafen gegangen, ohne ein Wort zu sagen. Ihr Herz raste jetzt, als wäre sie gerade die beiden Treppen zu ihrem Zimmer hinaufgerannt. Voller Angst sprang sie auf und kramte in der Spielzeugkiste ihres Bruders nach seiner kleinen quadratischen Tafel und einem Stück Kreide. Als sie die Gegenstände gefunden hatte, drückte sie Peter beides in die Hand. „Wenn du schon nicht mit mir sprechen willst, dann erklär mir wenigstens, warum.“

Er hielt die Schiefertafel einen Augenblick lang an seine Brust gedrückt, bevor er sie auf seinen Schoß sinken ließ und schrieb: Ich kann nicht.

„Du kannst es mir sagen, Peter. Ich verspreche, dass ich es niemandem verrate.“

Er schüttelte heftig den Kopf, so als wolle er Wasser abschütteln, und klopfte mit dem Knöchel auf die Tafel. Als er sich ihrer Aufmerksamkeit vergewissert hatte, fügte er dem, was er geschrieben hatte, noch ein Wort hinzu.

Ich kann nicht sprechen.

„Sei nicht albern. Vor einer Woche hast du noch prima geredet – und die Woche davor auch. Hast du Halsschmerzen oder so was?“

Er schüttelte wieder den Kopf, wischte das Geschriebene mit der Faust weg und schrieb: Die Wörter kommen nicht raus.

Esther bekam es mit der Angst zu tun. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Peter wischte wieder und schrieb dann: Bitte zwing mich nicht.

„Ist ja gut“, sagte sie sanft. „Schon gut. Alles wird gut.“ Aber sie war sich gar nicht sicher, ob das stimmte. Was sollte sie tun, wenn Peter etwas passierte? Er war der einzige Mensch, der ihr noch geblieben war.

Sie hörte ein Klopfen an ihrer Zimmertür. Penny. „Bitte geh weg“, sagte Esther. Eine lange Pause folgte, aber sie spürte, dass Penny nicht gegangen war. Esther stellte sich vor, wie sie sich auf die Lippe biss und auf diese unangenehme Art ihre Hände knetete.

„Äh … Esther?“ Pennys Stimme klang unsicher. „Es tut mir leid, dass ich laut geworden bin. Was passiert ist … ich meine … ich habe Peter nur gefragt, ob er das Geschirr vom Abendessen abtrocknen kann, weil er an der Reihe ist, und … und er wollte mir nicht antworten. Deshalb wollte ich sehen, ob er in Ordnung ist, weil er die ganze Woche schon so still war, aber … er hat mir immer noch nicht geantwortet. Du weißt doch, dass ich keinem von euch jemals wehtun würde, oder?“

Esther verspürte ein gewisses Maß an Macht. Penny hatte wahrscheinlich Angst, dass sie Papa schreiben und schlecht über sie reden würde. „Ich komme gleich raus“, sagte sie. „Und ich trockne das Geschirr für ihn ab.“ Sie wandte sich wieder an ihren Bruder und zeigte auf die Tafel. „Wenn du nicht reden willst, dann erklär mir wenigstens, was los ist, ja?“ Peter nickte.

Penny stand direkt vor der Tür, als Esther sie öffnete. „Hör mal, ist Peter in Ordnung?“, fragte sie.

„Es geht ihm gut.“ Esther quetschte sich an ihr vorbei und ging in die Küche hinunter. Penny hatte das Geschirr bereits gespült und auf dem Abtropfgitter gestapelt, also nahm Esther ein Geschirrtuch vom Haken, um die Teller abzutrocknen. Bei Papa hatten sie nie Geschirr abtrocknen müssen. Manchmal hatten sie tagelang überhaupt nicht abgewaschen, und wenn sie endlich dazu kamen, ließen sie die Sachen einfach an der Luft trocknen. Aber Penny hatte jedem von ihnen Aufgaben im Haushalt gegeben, ließ sie putzen und beim Kochen helfen und Geschirr spülen. Esther gefiel das gar nicht, obwohl sie Mama auch im Haushalt hatten helfen müssen. Aber Penny war nicht ihre Mutter. Sie würde Mama nie ersetzen.

Esther hatte gerade den letzten Teller weggeräumt, als es an der Tür klingelte. Penny war zuerst an der Tür, aber Esther kam gerade rechtzeitig, um zu hören, wie der Mann sagte: „Guten Abend, Mrs Shaffer.“

„Sie ist nicht Mrs Shaffer“, rief Esther, bevor Penny antworten konnte. „Sie kümmert sich nur um uns.“

„Ich verstehe. Also, ich bin Inspektor Dalton von der Brandschutzbehörde.“ Er hielt seine silberne Marke hoch. „Ich mache eine Umfrage in der Nachbarschaft und suche Zeugen, die letzte Woche das Feuer in der Synagoge beobachtet haben. Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen, wenn es recht ist.“

„Tut mir leid“, sagte Penny, „aber ich war an dem Abend nicht hier. Ich bin erst am Tag nach dem Brand hierhergekommen.“

„Ist Mr Shaffer denn zu Hause?“

„Nein, tut mir leid“, fing Penny an. „Er –“

„Er ist gegangen, um in der Armee zu kämpfen“, beendete Esther den Satz.

„Und wie heißt du, junge Dame?“

„Esther Shaffer.“

„Warst du zu Hause, als es auf der anderen Straßenseite gebrannt hat?“

„Ja.“

„Erzählst du mir bitte, mit deinen eigenen Worten, woran du dich erinnerst?“ Er zog ein kleines Notizbuch und einen Stift aus der Tasche und schrieb alles auf, während Esther sprach.

„Wir waren oben, als wir die Sirenen hörten. Papa hat seine Sachen gepackt, weil er doch am nächsten Tag wegfahren musste. Er hat gesagt, wir sollen die Fenster zumachen wegen dem Rauch, und dann sind wir rausgegangen und haben zugeguckt. Da haben wir dann unseren Vermieter Mr Mendel gesehen, wie er aus dem brennenden Haus gekommen ist. Er muss sich verletzt haben, weil ein Krankenwagen gekommen ist und ihn weggebracht hat.“

„Woher wusstest du, dass es Mr Mendel war?“

„Weil er gestreifte Hosenträger anhatte. Wir hatten kurz vor dem Feuer mit ihm gesprochen, da hat er sie auch schon getragen.“

„Was für einen Eindruck hat er vorher auf dich gemacht?“

Esther zuckte mit den Schultern, weil sie die Frage nicht richtig verstand. „Grantig. Aber er war immer schlecht gelaunt. Seine Frau war nett, aber sie –“ Esther verstummte, als sie sich an das schreckliche Geräusch erinnerte, als das außer Kontrolle geratene Auto in den Obststand gerast war. „Seine Frau ist gestorben.“

„Aber du warst sicher, dass es Mr Mendel war, der aus der Synagoge kam?“

„Papa hat einen der anderen Männer gefragt, ob er es ist, und der hat Ja gesagt.“

„Erinnerst du dich noch an etwas anderes?“

Sie zuckte wieder mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Sie wollte sich nicht erinnern. Dem Feuer zuzusehen war eine schreckliche Art gewesen, den letzten gemeinsamen Abend mit ihrem Vater zu verbringen. Sie würde nie das Gefühl der Hitze in ihrem Gesicht vergessen, den Rauch und die Asche, die in ihren Augen gebrannt und in ihrem Hals gekratzt hatten. Oder das Gefühl, Papas Hand zu halten, während sie zusahen, wie das Gebäude brannte. Vor einem Jahr hatte Esther Mamas Hand losgelassen, weil sie darauf bestanden hatte, dass sie alt genug war, die Straße zu überqueren, ohne an die Hand genommen zu werden wie ein Baby. Sie hatte sich von Mama entfernt, um alleine in dem Gemüseladen herumzulaufen. Diesmal war es Papa gewesen, der ihre Hand zuerst losgelassen hatte.

Nachdem der Inspektor gegangen war, zog Penny Esther beiseite. „Hör mal, ich hoffe, du hörst nicht auch noch auf, mit mir zu sprechen. Wir müssen versuchen, miteinander auszukommen, deinem Vater zuliebe. Ich will ihm nicht schreiben müssen, dass wir uns zanken.“

„Erzähl ihm ruhig, was du willst – es ist mir egal. Vielleicht kommt er dann nach Hause zurück und kümmert sich wieder selbst um uns.“

Penny schüttelte den Kopf. „Er ist zur Armee gegangen, Esther. Er kann nicht einfach kündigen und nach Hause kommen. Er hat ihnen ein Versprechen gegeben.“

„Er muss kündigen! Sie müssen ihn nach Hause gehen lassen.“

„So funktioniert das beim Militär nicht. Wenn du mir nicht glaubst, frag deine Lehrerin in der Schule. Frag, wen du willst.“

Esther versuchte sich an ihr vorbeizuschieben, aber Penny hielt sie auf. „Hör zu. Wäre es euch lieber, wenn ihr bei eurer Großmutter wohnen würdet? Ich kann mit ihr reden, wenn du willst. Ich kann versuchen, sie umzustimmen, damit sie euch betreut.“

Esther schüttelte den Kopf. „Ich will nicht in Omas Haus wohnen.“

„Ich gebe mir wirklich Mühe, Esther. Ich möchte nur eurem Vater helfen. Ich bin sicher, er macht sich Sorgen um euch.“

„Papa macht sich gar keine Gedanken um uns, sonst hätte er uns nie verlassen!“ Wieder versuchte sie zu gehen, und wieder hielt Penny sie zurück.

„Ich will nur, dass du und Peter glücklich seid. Was würde euch glücklich machen?“

„Wenn alles wieder so wäre, wie es früher war!“

Endlich ließ Penny sie gehen, und Esther rannte hinauf in ihr Zimmer. Peter lag bäuchlings auf dem Bett, seine Lieblingscomics über Captain Marvel zur Seite geworfen, und seinen Kopf schluchzend ins Kissen gedrückt. Er hatte die Schiefertafel auf Esthers Bett liegen lassen, und sie hob sie auf, um zu sehen, was er geschrieben hatte.

Ich weiß nicht, was mit mir los ist.
Ich versuche etwas zu sagen, aber es kommt nichts raus.
Hilf mir!

Kapitel 8

Oktober 1943

Penny klappte die Brotdosen der Kinder zu und stellte sie auf die Arbeitsplatte aus Porzellan. „Euer Mittagessen ist fertig eingepackt“, sagte sie. „Und geht nicht zu spät in die Schule.“

„Wir gehen schon seit mehr als einem Jahr alleine in die Schule“, murmelte Esther in ihre Frühstücksflocken. „Papa ist immer vor uns zur Arbeit gegangen.“

„Oh, tut mir leid.“ Penny hätte sich ohrfeigen können. Warum sagte sie immer das Falsche? „Dann sehen wir uns nach der Schule. Bis später.“ Penny nahm ihr eigenes Mittagessen und winkte den Kindern zum Abschied, aber sie blickten nicht einmal auf.

Die Zuneigung der beiden zu gewinnen, erwies sich viel schwerer, als Penny gedacht hatte. Sie lebte jetzt seit beinahe drei Wochen mit ihnen zusammen, aber Esther blieb kühl und distanziert, und Peter hatte noch kein einziges Wort zu ihr gesagt, seit sie eingezogen war. Eddie schickte ihr jede Woche eine kurze Nachricht – zusammen mit viel längeren Briefen für seine Kinder – und fragte Penny, wie es lief. Wie konnte sie ihm sagen, dass alles schrecklich war? Stattdessen schrieb sie ihm lange Briefe zurück und tat so, als wäre alles in Ordnung. Vielleicht würde es das ja in einer oder zwei Wochen sein. Sie wollte nicht, dass Eddie sich Sorgen machte – oder eine andere Frau fand, die ihren Platz einnahm.

Penny eilte zur Haltestelle an der Ecke und wartete zusammen mit einer Gruppe schwarz gekleideter jüdischer Männer auf den Bus. Sie kam sich vor wie ein Spatz in einem Schwarm Krähen. Ihr Vater würde sofort verlangen, dass sie nach Hause käme, wenn er wüsste, dass sie jeden Tag mit so vielen Juden zu tun hatte. Deshalb erwähnte sie Eddies Viertel nie, wenn sie ihre Eltern sonntags besuchte. Im Moment verbrachten sie den ganzen Nachmittag damit, sie zu überreden, diese verrückte Idee aufzugeben und nach Hause zu kommen. Doch das würde sie niemals tun. Nach Hause zurückzukehren bedeutete, dass sie ihren Traum, Eddie zu heiraten, aufgeben müsste.

Als der Bus endlich kam, sah Penny keine freien Plätze. Schwankende Passagiere füllten den Mittelgang und hielten sich an Lederriemen über ihren Köpfen fest. Es gefiel ihr nicht, zwischen all den Fremden eingeklemmt zu sein, aber wenn sie auf den nächsten Bus wartete, würde sie zu spät zur Arbeit kommen. Während sie mit einem Fuß auf dem Trittbrett wartete, erhob sich ein Marinesoldat vor ihr.

„Hier, Miss. Nehmen Sie meinen Platz.“

„Sind … sind Sie sicher? Das ist sehr freundlich von Ihnen.“ Er lächelte, und Penny dachte, er könnte derselbe Soldat sein, der schon einmal seinen Platz für sie aufgegeben hatte. Wer wusste das schon, wo heutzutage so viele Männer in Uniform herumliefen?

„Sind Sie auf dem Weg zur Arbeit, Miss?“, fragte er, während sie sich aneinander vorbeiquetschten, um die Plätze zu tauschen. Penny nickte. Mutter hatte sie immer wieder davor gewarnt, mit Fremden zu sprechen. Das Lächeln des Fremden wurde breiter.

„Sagen Sie nichts“, sagte er, „und lassen Sie mich raten. Ich wette, Sie sind eine … wie nennt man sie heute, die Mädchen, die Schiffe für den Krieg bauen? … Rosie, die Schweißerin!“ Er hatte eine so freundliche Art, dass sie sein Lächeln einfach erwidern musste. Mit seinem runden, jugendlichen Gesicht und seiner Stupsnase erinnerte er sie an Mickey Rooney – und Penny liebte Mickey Rooneys Filme. Mickey war nicht groß und gut aussehend wie andere Filmstars, sondern unscheinbar und ganz normal – so wie sie selbst. Er ließ sie glauben, dass auch gewöhnliche Leute glücklich werden konnten.

„Nein, ich arbeite im Busbahnhof“, erwiderte sie. Der Marinesoldat war so galant gewesen, ihr seinen Sitz zu überlassen. Sie war es ihm zumindest schuldig, dass sie ihm höflich antwortete.

„Der Busbahnhof ist in der Nähe der Marinewerft, nicht wahr?“, fragte er. „Ich bin in der Werft stationiert – dorthin bin ich jetzt auch unterwegs.“

Pennys Neugier überwog einen Augenblick lang ihre Angst. Oder vielleicht war es Einsamkeit, die sie zu ihm aufblicken und die Unterhaltung weiterführen ließ. Nachdem ihre Eltern wütend auf sie waren und die Kinder kaum mit ihr sprachen, hatte sie seit Tagen kein freundliches Gespräch mehr geführt. „Was macht denn ein Soldat wie Sie bei der Marinewerft?“

„Sicherheitsaufgaben – ich achte darauf, dass sich niemand in die Werft schleicht, der dort nichts zu suchen hat. Es ist kein Geheimnis, dass sie dort Schiffe für den Krieg bauen, deshalb muss die Marine Spione und Saboteure fernhalten. Erinnern Sie sich noch an die deutschen Spione, die vor ein paar Jahren in Long Island an Land gingen?“

„Ja, ich erinnere mich! Seitdem hat es doch keine mehr gegeben, oder?“

„Nein, und es wird sie auch nicht geben, wenn ich meine Arbeit richtig mache“, sagte er lachend. Er ließ den Lederriemen einen Augenblick los, als der Bus an der nächsten Haltestelle hielt, und streckte die Hand aus. „Ich heiße Roy Fuller.“

Penny fiel es schwer, ihre jahrelange Angst abzulegen. Sie hatte sich schon davor gefürchtet, jeden Tag in den Bus steigen zu müssen, anstatt zu Fuß zur Arbeit zu gehen. Aber was konnte es schon schaden, nett zu sein? Sie reichte ihm die Hand. „Penny Goodrich.“

„Es ist mir ein Vergnügen, Miss Goodrich.“ Das Gespräch wurde beendet, als noch mehr Leute einstiegen und Roy im Gang weitergeschoben wurde. Penny war nicht sicher, ob sie erleichtert war oder eher enttäuscht. Es war ein gutes Gefühl gewesen, mit jemandem zu reden und ihm die Hand in Freundschaft zu reichen, und als sie am Bahnhof ausstieg und einen Bettler sah, der um Lebensmittel bat, öffnete Penny ihre Brotdose und gab ihm ihr Sandwich. Jeder Mensch brauchte hin und wieder ein bisschen Liebe.

Sie saß den ganzen Vormittag hinter ihrem Fahrkartenschalter, während ein Bus nach dem anderen einfuhr, seine Passagiere ausspuckte und sich dann mit neuen Fahrgästen füllte, wie in einer Szene aus einem Trickfilm. Als der morgendliche Strom schließlich einem ruhigen Tröpfeln wich, kehrten ihre Gedanken zu dem attraktiven Eddie Shaffer zurück. Sie dachte daran, dass er in ein paar Wochen zu einem Urlaub nach Hause kommen würde. Was würde er von dem halten, was sie tat? Ja, sein Haus war geputzt und seine Kinder waren sauber und satt, aber Peter weigerte sich mit ihr zu sprechen und Esther hasste sie von ganzem Herzen. Penny wusste nicht, wie sie die beiden für sich einnehmen konnte. Wenn sie Eddie schrieb und sich beklagte, würde er für seine Kinder Partei ergreifen. Im Moment liebte er sie offensichtlich mehr, als er Penny liebte … Liebte? Ha! Er nahm sie doch kaum wahr!

Denk nach, Penny, denk nach. Sie wünschte, sie wäre klüger und hätte ein besseres Gespür für Dinge. Sollte sie ihnen Eiskrem und andere Süßigkeiten kaufen? Oder am nächsten Samstag mit ihnen ins Kino gehen?

„Miss Goodrich … Entschuldigen Sie, Miss Goodrich?“ Sie drehte sich um und sah ihren Vorgesetzten hinter sich in der Tür der Kabine stehen. Wie lange hatte er schon dort gestanden?

„Ja, Mr Whitney?“

„Würden Sie bitte kurz in mein Büro kommen? Ich muss mit Ihnen sprechen.“

„Aber … mein Fahrkartenschalter?“

„Den können Sie zumachen. Miss Napoli schafft das auch alleine, jetzt, wo der größte Ansturm vorbei ist.“

„Ja, Sir.“ Penny zog die Jalousie vor ihrem Fenster herunter und verschloss die Geldschublade, dann rutschte sie von ihrem Hocker und folgte ihm in sein Büro. War sie in Schwierigkeiten? War irgendetwas Schlimmes geschehen? Ihre Kasse hatte gestern bis auf den letzten Penny gestimmt, das konnte es also nicht sein. Hatte sie versehentlich eine gefälschte Banknote akzeptiert?

„Bitte setzen Sie sich, Miss Goodrich.“ Er zeigte auf einen Stuhl, während er sich an seinen Schreibtisch setzte. Penny gehorchte, aber sie war so besorgt, dass sie ganz vorne auf der Stuhlkante sitzen blieb, so als müsse sie jeden Augenblick aufspringen und fliehen.

„Wenn ich das richtig sehe, arbeiten Sie jetzt seit fünf Jahren für uns, Miss Goodrich?“

„Ja, Sir. Seit ich die Highschool abgeschlossen habe.“

„Und Sie sind eine unserer besten Mitarbeiterinnen – klug, ehrlich und sehr zuverlässig. Was halten Sie von einer Beförderung?“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie sprechen konnte. „Ich? … Eine Beförderung?“

„Ja“, sagte er lächelnd. „Und damit wäre auch eine Lohnerhöhung verbunden. Sie kümmern sich um Ihre betagten Eltern, nicht wahr?“

Sie nickte, zu verblüfft, um etwas zu erwidern.

„Die Sache ist die: Ich brauche im Augenblick Busfahrer dringender, als ich Leute am Schalter brauche. Viele unserer Fahrer haben sich zur Armee gemeldet oder verlassen uns, weil sie in der Rüstungsindustrie mehr Geld verdienen. Und wir müssen zusätzliche Busse einsetzen, die zur Marinewerft und den Militärstützpunkten fahren, wo jetzt so viele Soldaten hier stationiert sind. Sie haben sicherlich bemerkt, wie überfüllt die Busse inzwischen sind.“

„I-ich kann noch nicht einmal Autofahren, Mr Whitney.“

„Das spielt keine Rolle. Wir führen eine Ausbildung für neue Fahrer durch. Die Gesellschaft bildet Sie kostenlos aus, hilft Ihnen, Ihren Führerschein zu bekommen, all diese Dinge. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie uns noch nicht wegen einer Arbeit in der Fabrik verlassen haben.“

„Das ist keine Arbeit für mich, Mr Whitney. Ich würde nicht den ganzen Tag in einer lauten Fabrikhalle arbeiten wollen. Außerdem habe ich gehört, dass man dort Schichten arbeiten muss, in der Marinewerft sogar sieben Tage die Woche, und das kann ich nicht, weil ich zwei Kinder eines Freundes betreue, der zum Militär gegangen ist.“

„Na, dann wäre die Arbeit ja perfekt für Sie. Wir können Ihnen eine Busroute hier in Brooklyn geben, mit Arbeitszeiten nur von Montag bis Freitag. Sie bekommen den Vorzug, weil Sie schon für uns arbeiten. Sie schaffen das, Miss Goodrich, davon bin ich überzeugt.“

Niemand hatte jemals Vertrauen in Penny gesetzt, und sie hätte so gerne bewiesen, dass Mr Whitney recht hatte. Aber einen Bus zu fahren? Das war keine Arbeit für jemanden wie sie, würde Mutter sagen. Außerdem, hatte Penny nicht ohnehin schon mehr Veränderungen durchgemacht, als sie verkraften konnte?

„Hatte ich erwähnt, dass Ihr Lohn sich um mehr als fünfzehn Dollar die Woche erhöhen würde?“

Penny konnte ihn nur anstarren. Es schien ihr eine unglaubliche Menge Geld.

„Wie sieht es aus, Miss Goodrich? Was sagen Sie?“

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte „Kann … kann ich darüber nachdenken?“

„Natürlich, aber ich müsste es in den nächsten Tagen wissen. Das Fahrschulprogramm beginnt bald. Oh, und wenn Sie beschließen, sich dafür zu melden, brauchen Sie einen Identitätsnachweis, um die Fahrerlaubnis zu beantragen. Eine Geburtsurkunde reicht aus.“

Als Penny zu ihrem Schalter zurückkehrte und ihr Fenster wieder öffnete, kam es ihr vor, als würde sie träumen. „Worum ging es denn?“, fragte die andere Kassiererin. Penny war nicht sicher, ob sie ihr davon erzählen sollte … aber dann beschloss sie, dass es keine Rolle spielte, weil sie die Stelle wahrscheinlich sowieso nicht annehmen würde.

„Mr Whitney hat mich gefragt, ob ich mich zur Busfahrerin ausbilden lassen will.“

„Wow! Und, machst du es?“

„Ich weiß nicht. Ich bin so dumm … und ich kann noch nicht einmal Auto fahren.“

„Du? Dumm? Du machst wohl Witze! Deine Kasse stimmt immer genau, jeden Tag. Meine stimmt nie. Mensch, wenn ich die Chance hätte, aus dieser engen Kabine rauszukommen, würde ich es sofort machen.“

„Aber ich glaube nicht … ich meine … ich kann doch keinen großen Bus fahren.“

„Du solltest es tun. Ich wette, du triffst dann eine Menge Soldaten. Die Busse sind voll davon. Mensch, hast du ein Glück!“

„Ich brauche keine Soldaten zu treffen“, sagte Penny und lachte leise. „Ich habe schon einen Freund.“

Am Ende des Arbeitstages hatte Penny sich immer noch nicht entschieden, was die Beförderung betraf. Sie schwankte hin und her zwischen dem Wunsch, es zu tun, und der Angst, die Stelle anzunehmen, wie ein Kind auf einer Wippe. Spontan beschloss sie, auf dem Weg zur Wohnung bei ihren Eltern vorbeizugehen und ihre Geburtsurkunde zu holen, nur für den Fall. Ihre Mutter hatte das Bügelbrett in der Küche aufgestellt und hörte Radio, während sie Vaters Hemden plättete. Der süßliche Geruch dampfender Baumwolle durchzog den Raum.

„Deine Geburtsurkunde!“, sagte sie, als Penny ihr erzählte, was sie wollte. „Wofür brauchst du die denn?“ So wie sie es sagte, klang es, als hätte Penny den Mond vom Himmel verlangt. Zu spät erkannte Penny, dass sie einen Fehler begangen hatte.

Erstens würde ihre Mutter einen hysterischen Anfall bekommen, wenn sie erfuhr, dass Penny lernen wollte, einen Bus zu lenken. Und nachdem sie sich davon erholt hatte, würde sie Penny Tag und Nacht auf die Nerven gehen, bis sie ihr die Sache ausgeredet hatte. Sie war der Meinung, dass Penny nicht einmal in der Lage war, Fahrrad zu fahren, geschweige denn einen riesigen Bus zu lenken, der voller Menschen war – und alles Fremde!

„Weißt du …“, begann Penny, während sie einen Schritt zurück aus der Küche und in Richtung Wohnzimmer tat. „Mein Boss bei der Arbeit sagt, ich könnte bald befördert werden, aber er muss meine Geburtsurkunde sehen. Wenn du mir sagst, wo ich suchen soll, kann ich selbst nachsehen. Mach dir keine Mühe. Ist sie hier im Schreibtisch bei Vaters wichtigen Unterlagen?“

Mutter stellte das Bügeleisen ab und eilte hinter Penny her, ohne den Stecker des Geräts zu ziehen, obwohl sie Penny immer eingeschärft hatte, so etwas nie zu tun. „Du brauchst gar nicht in dem Schreibtisch zu kramen. Da ist sie nicht.“

„Und wo ist sie dann?“

„Du hast keine.“

Penny starrte sie an. „Jeder hat eine Geburtsurkunde.“

„Du nicht. Sie ist vor Jahren verloren gegangen … als wir in dieses Haus gezogen sind. Ich habe nie eine neue ausstellen lassen.“

„Verloren? Aber … aber ich brauche sie. Ich werde nicht befördert, es sei denn –“

„Was für eine Beförderung ist das denn? Wer hat denn so was schon gehört? Du brauchtest doch auch keine Geburtsurkunde, als du bei der Busgesellschaft angefangen hast. Warum brauchst du jetzt eine?“

Penny traute sich nicht, ihr die Wahrheit zu sagen – aber lügen wollte sie auch nicht. Sie wusste, dass Mutter immer noch schmollte, weil sie in Eddies Wohnung gezogen war, und sie würde ihr bestimmt nicht helfen, egal, wie sehr Penny bettelte.

„Ach, lass gut sein. Ich muss zur Wohnung zurück. Ich will die Kinder nach der Schule nicht so lange allein lassen.“

„Diese Kinder sollten nebenan bei ihrer Großmutter wohnen und nicht bei dir. Wann wirst du die alberne Idee, Hausfrau und Mutter zu spielen, endlich aufgeben und nach Hause zurückkommen, wo du hingehörst? Und warum in aller Welt willst du eine Beförderung, wenn du sowieso schon zu viele Verpflichtungen hast?“

Penny schlurfte zur Tür. „Wir sehen uns am nächsten Sonntag. Bis dann.“

Den ganzen Weg durch die Stadt kochte Penny innerlich wegen Mutters Reaktion. Lange, bevor sie in der Wohnung ankam, hatte sie den Entschluss gefasst, dass sie nie wieder zu ihren Eltern ziehen würde, was auch immer geschah. Niemals. Wenn Eddie sie feuerte und jemand anderen einstellte, um auf seine Kinder aufzupassen, würde sie sich eine eigene kleine Wohnung suchen. Mit fünfzehn Dollar mehr die Woche könnte sie es sich leisten. Wenn Mr Whitney der Meinung war, dass sie einen Bus lenken konnte, dann konnte sie es ja vielleicht wirklich.

Penny hatte einen Platz ganz vorne im Bus gefunden, und sie beobachtete den Fahrer bei seiner Arbeit, während sie sich vorstellte, an seiner Stelle zu sitzen. Er musste auf vieles achten, weil so viele Autos und Fußgänger und Busse auf den Straßen unterwegs waren. Aber ansonsten musste er nur anhalten und fahren, die Fahrkarten der Einsteigenden kontrollieren, Umsteigescheine aushändigen und aufpassen, dass die Fahrgäste genügend Geld in die kleinen Metallschlitze steckten, um den Fahrpreis zu bezahlen. Penny hatte ihr ganzes Leben lang Tag für Tag die gleiche langweilige Routine über sich ergehen lassen – zu Hause wohnen, am Busbahnhof Fahrkarten verkaufen, sich die Vorwürfe ihrer Mutter anhören – und plötzlich konnte sie den Gedanken, den Rest ihres Lebens so zu verbringen, nicht mehr ertragen. Fünfzehn Dollar mehr die Woche. Sie wäre reich. Sie würde sich morgen für die Fahrschule anmelden.

Sie lächelte den Fahrer an, als sie ausstieg. Den Weg zu Eddies Wohnung ging sie wie auf Wolken. Ihr Selbstbewusstsein war wiederhergestellt, und sie freute sich immer mehr auf den neuen Job, als das klingelnde Telefon ihre Gedanken unterbrach.

„Bei Shaffers, Penny Goodrich am Apparat.“

„Hallo, hier ist Mrs Cole von der Waring-Grundschule. Ich bin Peters Lehrerin. Könnte ich vielleicht morgen Nachmittag nach der Schule mit Ihnen sprechen?“

„Also … ich bin keine Verwandte, Mrs Cole. Ich versorge Peter und Esther nur, während –“

„Ich weiß. Mr Shaffer war in der Schule und hat alles erklärt, bevor er zur Armee gegangen ist. Wäre morgen Nachmittag für Sie möglich, Miss Goodrich?“

„Ich denke schon. Ich könnte gleich nach der Arbeit vorbeikommen.“

„Danke. Ich bin in Zimmer 5. Bis morgen dann.“

Und jetzt? Brauchte Peter Hilfe bei den Hausaufgaben? Machte er Schwierigkeiten? Penny hoffte, dass das nicht der Fall war, denn sie hatte keine Ahnung, wie man disziplinarische Maßnahmen ergriff. Sie konnte Peter ja noch nicht einmal dazu bewegen, mit ihr zu sprechen. Die Situation wuchs ihr über den Kopf und sie war dumm wie Bohnenstroh, sonst hätte sie diese Aufgabe nie freiwillig übernommen. Sie wäre ein noch größerer Dummkopf, wenn sie glaubte, einen Bus fahren zu können.

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In dieser Nacht schlief Penny kaum, weil sie sich schreckliche Sorgen machte, und am nächsten Morgen, als Mr Whitney wieder in ihrer Schalterkabine erschien, hatte sie dunkle Ringe unter den Augen. „Ich will Sie ja nicht drängen, Miss Goodrich, aber ich muss bald wissen, wie Sie sich entschieden haben.“

„Es tut mir leid, Mr Whitney, aber ich habe keine Geburtsurkunde. Meine Mutter sagt, sie hat sie schon vor Jahren verloren und –“

„Wo sind Sie denn geboren?“

„Hier in Brooklyn, nehme ich an.“

„Das Einwohnermeldeamt kann Ihnen eine neue Urkunde ausstellen. Wahrscheinlich müssen Sie ein paar Dollar dafür bezahlen, aber es dürfte kein Problem sein.“

Sie wollte ihm gerade erklären, dass sie sich entschieden hatte, die Stelle nicht anzunehmen, als Mr Whitney hinzufügte: „Ich werde Ihnen eine zusätzliche halbe Stunde Mittagspause geben, damit Sie hingehen und das Papier beantragen können. Sie sehen, wie dringend wir Fahrer brauchen, Miss Goodrich.“

Penny tat, was ihr aufgetragen worden war. Das tat sie immer. Nachdem sie all die Formulare beim Einwohnermeldeamt ausgefüllt hatte, verdrängte sie die Entscheidung wegen ihrer Arbeit und machte sich stattdessen Sorgen über die Besprechung mit Peters Lehrerin. Sie hatte ganz weiche Knie, als sie am Nachmittag die Grundschule betrat.

„Ich komme gleich zur Sache“, sagte Mrs Cole nach der Begrüßung. „Peter spricht seit Wochen kein Wort mit mir oder irgendjemand anders in der Schule.“

Die Neuigkeit traf Penny wie ein Schlag. Sie wäre umgefallen, wenn sie nicht gesessen hätte. „Mit Ihnen auch nicht? Seit dem Tag, als ich dort angekommen bin und sein Papa zur Grundausbildung gegangen ist, hat er kein Wort mit mir gesprochen. Ich dachte, er wäre aus irgendeinem Grund böse auf mich. Ich hatte keine Ahnung, dass er auch mit anderen nicht spricht.“

„Seine Schwester Esther kam ein paar Tage, nachdem ihr Vater gegangen war, zu mir und sagte, Peter habe Halsentzündung und könne nicht sprechen. Ich habe ihn zu unserer Krankenschwester geschickt, aber er hatte kein Fieber und sein Hals schien auch nicht geschwollen. Ich beschloss zu warten, um zu sehen, ob es nur eine Phase ist, aber da sich die Sache nicht gebessert hat, war es mir wichtig, mich mit Ihnen zu unterhalten. Er kommt gut mit seinen Schulaufgaben zurecht und macht keine Schwierigkeiten. Er kommuniziert, indem er schreibt, anstatt zu sprechen.“

„Was soll ich denn machen? I-ich habe keine Ahnung, was zu tun ist. Ich habe keine Erfahrung mit Kindern, Mrs Cole. Ich wollte Eddie nur helfen.“

„Mir ist klar, dass Peters Mutter erst vor mehr als einem Jahr gestorben ist und dass nun auch sein Vater vor Kurzem die Kinder verlassen hat. Ich habe schon von solchen Fällen gehört, wo ein Kind so traumatisiert ist, dass es einfach verstummt. Bei einem sensiblen Jungen wie Peter könnte es sein, dass der Verlust beider Eltern so kurz hintereinander diese Wirkung hat.“

„Meinen Sie, ich sollte mit ihm zu einem Arzt gehen?“

„Noch nicht. Sie scheinen mir eine gütige, fähige Frau zu sein, Miss Goodrich, und ich habe das Gefühl, sobald Sie und die Kinder sich an die neue Routine gewöhnt haben, wird es Peter besser gehen.“

Es war das zweite Mal innerhalb von zwei Tagen, dass jemand zu Penny gesagt hatte, sie mache ihre Sache gut. Sie kam sich wie eine Betrügerin vor.

„Kommt Peters Vater bald nach Hause?“, fragte Mrs Cole.

„Er bekommt Urlaub, wenn er mit der Grundausbildung fertig ist.“

„Dann finde ich, dass wir einfach abwarten sollten. Setzen Sie Peter nicht unter Druck. Wenn das Problem sich nicht von alleine wieder legt, können wir uns alle zusammensetzen, wenn Mr Shaffer nach Hause kommt.“

Penny dankte Mrs Cole und ging zur Wohnung zurück. Aus irgendeinem Grund liefen ihr auf dem gesamten Heimweg die Tränen über die Wangen. Sie wollte nicht zwei schwierige Kinder erziehen. Sie wusste nicht, wie. Sie wollte nur Eddie Shaffer heiraten. War das zu viel verlangt?