9783869134703.jpg

 

 

 

 

 

 

 

 

Krimi-Logo_sr.jpg 

 

Markus Flexeder

 

Blutwinter

 

Kriminalroman

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage Oktober 2014)

 

© 2014 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.

Die im Buch enthaltene Erlösungsbitte und das Gebet am Sterbe- oder Begräbnistage stammen aus: Armenseelenbüchlein, Verlag Karl Jansen, Buttenwiesen/Bayern, 1952.

 

Lektorat: Andrea Kunstmann

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag unter Verwendung einer Fotografie von © plainpicture/BY

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-483-3

 

Für meine Mutter.

Ich vermisse dich!

 

Für meinen Vater und

für meinen Bruder.

 

Der Mensch bekommt von Gott, was er verdient;

entsprechend seinem Tun vergilt er ihm.

(Hiob 34,11)

 

I DUNKEL

 

Montag, 5. Dezember 1949

»Zefix«, schrie die Frau auf. Aus einem tiefen Schnitt in ihrem Zeigefinger spritzte Blut über die Arbeitsplatte und auf die Zwiebel, die sie zu schneiden versuchte. Voller Wut schleuderte sie sie in den Mülleimer.

Dann tönte aus dem alten Volksempfänger auch noch Bing Crosbys White Christmas. Als wolle sie darauf einschlagen, lief sie auf das Radio zu, zog dann aber nur voller Verzweiflung den Stecker heraus. Sie presste einen Spüllappen auf die Wunde und setzte sich auf das Kanapee neben dem Esstisch. Sie zitterte, Panik schnürte ihr den Atem ab. Was sollte sie tun?

Sie befolgte den Rat ihres Arztes: hinsetzen, sich sammeln und auf die Atmung achten, um dabei die Gedanken zu ordnen. Sie richtete ihren Oberkörper auf und schloss halb die Augen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich. Sie versuchte krampfhaft, an nichts zu denken – doch das gelang ihr nicht. Also konzentrierte sie sich auf die Geräusche der Kuckucksuhr neben der Tür: tick – tack, tick – tack, tick – tack … langsam wurde es besser.

Der klaffende Schnitt brannte, doch die Blutung hörte langsam auf und auch ihre zittrigen Hände wurden ruhiger. Sie pustete sich eine blonde Strähne aus der Stirn und atmete tief ein; da hörte sie ein Knarren. Lukas, ihr Sohn, stieg vorsichtig die enge Stiege vom oberen Stock herunter in den Flur. Noch bevor er überhaupt in der Küche war, fragte sie ihn bereits, ob er mit seinen Hausaufgaben fertig sei.

»Ja, Mama«, antwortete er brav und trat ein. Als er seine Mutter stocksteif und ganz blass auf dem Sofa sitzen sah, lief er schnell zu ihr hinüber und strich ihr mit seinen kleinen Händen über das Haar. »Mama, geht’s dir wieder nicht gut?«

Sie hob den Kopf, ihre Augen wirkten müde und erschöpft. Während sie ihren Sohn anstarrte, dachte sie: Ich hätt dich niemals auf die Welt bringen dürfen!

Sein blondes Haar stand in alle Richtungen, und sein fragendes Gesicht zeigte deutlich, dass er auf eine Reaktion seiner Mutter wartete. Doch nichts geschah. Sie starrte nur.

Zaghaft lehnte er seinen Kopf an ihre Schulter. Als er dann seine Arme um sie legen wollte, stand sie auf und schob ihn beiseite. »Geh weg, Lukas! Ich muss kochen.«

Lukas blieb vor dem Kanapee stehen und zog die Mundwinkel nach unten. Doch plötzlich erhellte ein Lächeln sein Gesicht, und er rannte erneut quer durch den Raum. Von hinten legte er die Arme um die Hüfte seiner Mutter und drückte sich an sie. »Du, Mama?«, fragte er.

»Ja, was denn?«

»Beim Martin kommt heut auf d’ Nacht der Nikolaus, darf ich da auch hin?« Er presste seinen Kopf fest an ihren Rücken. Sie blieb stumm. Ihr Körper wurde starr, und ihr Blick verlor sich irgendwo in einer anderen Zeit.

»Bitte«, fügte Lukas hinzu.

Seine Mutter atmete hörbar entschlossen ein und schüttelte kurz den Kopf, als wolle sie Bilder daraus vertreiben. Ein fast tonloses »Nein!« kam über ihre Lippen.

»Ach, Mama. Bitte lass mich doch da hin. Der Thomas kommt auch und hat gefragt, ob ich auch dabei bin.«

»Nein, Lukas! Du bleibst daheim.«

Der Junge ließ von seiner Mutter ab und trat einen Schritt zurück. »Wieso denn nicht? Der Papa kann mich doch hinbringen, wenn er wieder da ist.«

»Ich hab Nein gesagt und aus jetzt.«

Der Junge stampfte mit seinen Füßen auf den Boden: »Mama!«, schrie er wütend.

Diese warf die neue Zwiebel in die Spüle, drehte sich um und gab ihrem Sohn eine schallende Ohrfeige. Lukas’ Augen wurden feucht, und seine brennende Wange rötete sich. Erbost lief er nach oben in sein Zimmer.

Die Frau setzte sich indessen wieder auf das Sofa, vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und begann bitterlich zu weinen.

 

»Zwecks was möchten Sie denn unbedingt wissen, was vor fünfundachtzig Jahren war?«, fragte Maria Stadler. Sie blickte auf das Kruzifix, das gegenüber von ihrem Bett an der Wand hing. Bevor sie einschlief, betete sie jeden Abend ein Vaterunser und ein Ave Maria. Doch der wirkliche Austausch, eine Unterhaltung mit Gott, das wollte ihr seit fünfundachtzig Jahren nicht mehr recht gelingen. Dazu fehlten ihr die Worte. Und jedes Jahr, wenn die Tage im Wechsel von Sommer zu Winter kürzer wurden, wenn der erste Schnee fiel und sich das Jahr dem Ende neigte, kamen die Erinnerungen an das schier Unbeschreibliche zurück. Mehr als achtzig Jahre hatte sie mit keinem Menschen darüber gesprochen. Gefragt hatte man sie damals oft, doch sie hatte geschwiegen, so wie alle.

»Aber Frau Stadler, wieso denn diese Ablehnung? Wir sind extra aus München angereist, um uns mit Ihnen zu unterhalten. – Gefallen Ihnen denn wenigstens die Blumen?«

Am Bett der alten Dame standen Korbinian Lallinger und Norbert Aumüller. Die zwei Journalisten waren fest entschlossen, die Geschehnisse der sogenannten »Blutnacht« im oberbayerischen Wolfsham aufzuklären, die auch ein knappes Jahrhundert später noch immer Rätsel aufgaben.

»Glauben Sie wirklich, mich alte Schachtel kann man mit ein paar Blumen um den Finger wickeln? Das haut vielleicht bei den jungen Madln hin, aber nicht bei mir.«

Eine Pflegerin betrat das Zimmer. Jeden Nachmittag zur gleichen Zeit schüttelte sie die Daunenkissen auf und wechselte Marias Katheterbeutel. Meist sagte sie mit ihrem polnischen Akzent nur knapp »Hallo« oder nickte mit dem Kopf und verschwand wieder. Schließlich warteten den Gang entlang noch siebenundzwanzig andere Heimbewohner, denen das gleiche Interesse zuteilwerden musste.

An diesem Tag war es Maria egal, dass die Pflegerin nach zwei Minuten das Zimmer wieder verließ. Für gewöhnlich starrte sie danach erneut an die Decke oder auf den Kirschbaum vor ihrem Fenster. Doch nicht heute: Obwohl die fremden Männer über etwas sprechen wollten, das Maria widerstrebte, freute sie sich insgeheim über den Besuch.

Nachdem sie ins Seniorenheim gekommen war, hatte Maria gehofft, dass ihr Sohn Lukas sie öfter besuchen würde. Doch der ließ sich nur zweimal, höchstens dreimal im Monat bei ihr blicken. Öfter fanden er und seine Frau keine Zeit. Wahrscheinlich, so Marias Überlegung, übernahm er auch wegen seines schlechten Gewissens die Mehrkosten für ihr Einzelzimmer. Doch ihre luxuriöse Ungestörtheit führte gleichzeitig zu monotoner Einsamkeit. Selbst das beiläufige »Grüß Gott« eines Unbekannten zauberte inzwischen ein sehnsüchtiges Lächeln in ihr Gesicht.

Die Journalisten hatten ihren Besuch im Vorfeld telefonisch an der Heimpforte angekündigt, da Maria kein Telefon im Zimmer hatte. Als sie davon erfuhr, verspürte sie ein Kribbeln. »Extra aus München. Einen so weiten Weg, bloß zwecks meiner«, hatte sie nicht ohne einen gewissen Stolz zur Pflegerin gesagt. Sie ahnte allerdings, dass es für dieses seltene Interesse an ihrer Person nur einen Grund geben konnte.

»Frau Stadler …«, Korbinian Lallinger setzte sich neben sie an das Bett und legte seine Hand auf Marias zerbrechlich wirkenden Arm. »Sie sind die einzige Person, die noch am Leben ist und von den Geschehnissen weiß. Bis heute kennt niemand die Wahrheit. Nur Sie können uns noch helfen.«

Als hätte sie diesen Appell überhaupt nicht gehört, blickte Maria auf den kahlen Kirschbaum vor ihrem Fenster im ersten Stock. Der Winter kommt bald, dachte sie. Die Bauern werden bei der Arbeit frieren. Mich hat’s immer gefroren. Auch in jener Nacht hat’s mich gefroren. Bitte, lieber Gott! Mach, dass die Männer jetzt gehen.

Die Angst, sich bewusst zu erinnern und all die Albträume wieder zu durchleben, überwog Marias Hunger nach Zuwendung. Noch war sie nicht bereit, einen so hohen Preis dafür zu bezahlen. Der bloße Gedanke, jene schrecklichen Erlebnisse in Worte zu fassen, versetzte sie in Panik. Doch ihr Zaudern entmutigte die Journalisten keineswegs.

»Geben Sie sich einen Ruck. Bitte!« Mit dem Zeigefinger schob Lallinger seine Brille auf der Nase zurecht.

Maria schloss die Augen. Mehr an sich selbst als an die anwesenden Herren gerichtet, seufzte sie leise: »Was soll ich denn bloß tun?«

Der Journalist nahm die Hand von ihrem Arm und drehte sich mit einem Augenzwinkern zu seinem Kollegen, der am Ende des Bettes stand.

Maria fühlte sich so zerrissen wie lange nicht mehr. Obwohl sie mit zunehmendem Alter immer mehr den Drang verspürte, sich jemandem anzuvertrauen, wollte sie doch zugleich schweigen, um zu vergessen – wie sie es mehr als achtzig Jahre lang vergebens versucht hatte.

Zwischen den Fingern ihrer linken Hand rollte sie die schwarzen Perlen eines Rosenkranzes, und ihre Lippen formten lautlos Worte. Die beiden Männer in ihrem Zimmer schien sie ganz vergessen zu haben.

 

Lieber Gott, ich hab so lang versucht, alles zu vergessen. Hast mir du die Männer geschickt? Ich bin alt, warum lässt mich nicht einfach tot umfallen? Warum tust mir das an? Ist’s die letzte Prüfung, die ich zu bestehen hab? Wieso bist bloß so unbarmherzig zu mir?

Erlöse uns, oh Herr, wir bitten dich,

von allem Übel,

sei es vergangen, gegenwärtig oder zukünftig;

und auf die Fürsprache der seligen,

glorreichen, allzeit reinen Jungfrau und Gottesmutter Maria,

wie auch deiner heiligen Apostel

Petrus, Paulus und Andreas

und aller Heiligen,

gib barmherzig Frieden in unseren Tagen.

Komm uns zu Hilfe mit deinem Erbarmen,

dass wir von Sünde allzeit frei bleiben

und vor jeder Beunruhigung gesichert seien.

Durch unseren Herrn Jesus Christus,

deinen Sohn,

der mit dir lebt und herrscht

in der Einheit des Heiligen Geistes, Gott.

Von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Amen.

 

Maria öffnete die Augen, sah die beiden Journalisten nacheinander an und nickte. »In Gottes Namen, sei’s drum«, sagte sie laut und entschlossen. »Aber es kann sein, dass ich mich nimmer an alles erinnern kann.«

»Das ist überhaupt kein Problem, Frau Stadler. Wir haben Akten aus dem Polizeiarchiv. Wir helfen Ihnen schon, sich zu erinnern.«

Maria schaute Aumüller erstaunt an. »Das können Sie?« Dann zog sie misstrauisch die Brauen hoch. »Sie sind doch nicht etwa von der Polizei?« Sie sah immer noch zu Aumüller, und seine nach hinten gegelten Haare, die stocksteife Körperhaltung und die Art, wie er sie musterte, vermittelten ihr eine elitäre, nahezu arrogante Selbstzufriedenheit.

Korbinian Lallinger wusste um den Eindruck, den sein Kollege machte, weshalb er es war, der auf Marias Frage antwortete: »Nein, nein. Aber einfach war es nicht, an die Akten zu kommen.« Er legte dabei seine braune Ledertasche, die bisher auf dem Boden neben dem Bett gestanden hatte, auf das klapprige Besuchertischchen, das unter dem Kruzifix stand.

Maria konnte nicht verstehen, warum ein so feiner Herr eine so abgenutzte, alte Tasche hatte. Hätte sie gewusst, dass Lallinger die Tasche im »Vintage-Look« für viel Geld erst vor einer Woche gekauft hatte, wäre sie schier vom Glauben abgefallen: Man kauft sich doch nichts Neues, das gebraucht aussieht.

Was der Mann allerdings aus der Tasche zog, war tatsächlich so alt, wie es aussah. Es war ein zehn Zentimeter dicker Aktenordner aus grauschwarzem Karton. Auf dem Deckel war ein vergilbtes Blatt Papier aufgeklebt, das sich an den Rändern schon abzulösen begann. Da­rauf stand in fein säuberlichem Sütterlin:

»Wolfsham, 5. und 6. Dezember 1920«

Maria blinzelte. Ihre Augen waren feucht. »Darf ich mal schauen?«

»Vorsicht, schwer«, sagte Lallinger und reichte ihr die Unterlagen.

Sie senkte langsam den Kopf und fuhr mit ihren Fingern über den Ordner. »Ja … das ist fast so alt wie ich.« Dann riss sie ihre Hände in die Höhe, machte eine abwertende Geste und drehte den Kopf beiseite. »Es stinkt abgestanden und verpestet die Luft zum Schnaufen. – Ich versteh’s nicht, wieso man so was aufhebt.« Ihr Tonfall war schroff, fast schon schrill. »Sie haben doch schon alles. – Ich war zehn Jahre alt. Was kann ich schon wissen?« Sie legte ihre Hände in den Schoß, ballte sie zu Fäusten und blickte zu Jesus, der vom Kreuz gegenüber auf sie herabschaute.

»Lassen Sie es uns versuchen, Frau Stadler, bitte!«, sagte Aumüller.

»Holen Sie eine Schwester, die soll die Blumen in eine Vase stellen«, entgegnete Maria. Sie atmete schwer, doch ihre Stimme wechselte in eine freundlichere Tonlage. »Wissen Sie, ich hab schon lang keinen Blumenstrauß mehr gekriegt. Haben Sie den in München gekauft?«

Lallinger nickte und drehte den Kopf zu seinem Kollegen. Dieser verließ das Zimmer, um kurz darauf mit einer wassergefüllten Vase zurückzukommen. Maria wiegte den schwarzen Rosenkranz nachdenklich in ihren Händen. »Und jetzt?«, fragte sie.

»Um Ihnen das Erinnern zu erleichtern, ist es wohl am besten, ich lese Ihnen aus den Unterlagen vor. Hinterher schildern Sie uns Ihre Geschichte. Einverstanden?«

Maria blieb stumm, und Lallinger zog an der Schleife, die die Klappen des Ordners zusammenhielt. Einige Dokumente waren mit Schreibmaschine getippt, andere handschriftlich in Sütterlin niedergeschrieben. Als er vor drei Monaten mit dem Fall begonnen hatte, konnte er die alte Schreibschrift nur mühsam entziffern, doch inzwischen ging es sehr flüssig.

Die Blätter lagen lose, aber chronologisch geordnet zwischen den Kartonklappen. Das Papier schien dicker zu sein als das heute typische 80-Gramm-Papier. Vielleicht war es aber auch über die lange Zeit der Aufbewahrung starrer geworden. Der Journalist rieb seine Fingerkuppen aneinander. Obwohl die Unterlagen gut erhalten waren, haftete ihnen doch ein modriger Geruch an, da hatte die alte Dame schon recht.

Marias Gedanken bewegten sich zunächst nur zögerlich in Richtung Vergangenheit. Aus reiner Gewohnheit blickte sie auf das gerahmte Foto auf ihrem Nachttisch, das ihren Mann und sie an ihrem fünfzigsten Hochzeitstag zeigte. Joseph trug seinen schwarzen Sonntagsanzug und sie ein Kostüm mit blauen und roten Blumen. Achtundsechzig Jahre waren sie verheiratet gewesen.

Vor sechs Jahren, im Oktober 1999, war der Joseph dann an einem Herzinfarkt gestorben. Er wurde vierundneunzig Jahre alt.

Nicht einmal ihm hatte Maria ihre Version der Geschichte von damals erzählt. Ihr Mann kannte die Schauermärchen von Wolfsham nur aus den Erzählungen anderer. Er stammte aus einem vierzig Kilometer entfernten Dorf, in Richtung der österreichischen Grenze. Selbst dort erzählte man sich noch Jahre später Gruselgeschichten über jene »Blutnacht«.

Im Jahr nach dem Massaker verkaufte Marias Vater seinen Hof in Wolfsham, und die beiden zogen auf den Hof eines Großonkels, der zur selben Zeit seinen siebzigsten Geburtstag feierte. Er war kinderlos, und Maria und ihr Vater sollten alles erben.

Natürlich schrieben sie im Vorfeld einen detaillierten Übergabevertrag nieder, der festlegte, was Marias Uronkel bis an sein Lebensende zustand: die wöchentliche Menge Milch und Brot, das Taschengeld und vieles andere.

Vor ihnen hatte damals viel Arbeit gelegen: undichte Dächer im Stall und im Wohnhaus, brachliegende Wiesen und Felder. Die Milchkühe, Ochsen, Schweine und Hühner füllten nicht einmal mehr die Hälfte der Ställe. Doch gehörten über hundert Tagwerk an Ackerland und Wald dazu, mehr als dreimal so viel wie zu ihrem alten Hof in Wolfsham.

Im November 1921 lernte Maria dort in der neuen Schule den Joseph kennen. Anfangs hatte er sie noch gefoppt und an ihren blonden Zöpfen gezogen. Zehn Jahre später heirateten sie.

Wenn er noch auf der Welt wär, hätt er die zwei gewiss rausgeworfen, dachte Maria. Sie atmete tief durch.

Lallinger saß direkt neben dem Bett. Unter seinem grauen Kaschmirpullover schaute ein kariertes Hemd hervor, das er in der morgendlichen Eile ungebügelt angezogen hatte. Er räusperte sich kräftig, denn zu viele Zigaretten am Vorabend hatten seine Stimmbänder in Mitleidenschaft gezogen. Mit dem Ordner auf dem Schoß begann er zu lesen.

 

Stefanie Wagensonner, ledig, Bedienung und Magd, 42 Jahre

Ich glaub, ich kann Ihnen da gar nicht viel sagen. Bevor’s finster geworden ist, war ich aus Wolfsham heraußen.

Ich arbeit als Bedienung beim Kramer-Wirt, wissen Sie, direkt neben der Kirche. Aber ich hab an dem Abend vom Kramer frei gekriegt, weil’s doch Nikolaus war.

Meine freien Tage nutz ich immer aus, um meine Schwester zu besuchen. Die wohnt mit ihrem Mann, dem Schorsch, und ihren vier Kindern drüben in Leithausen.

Obwohl sie einen großen Hof haben, können sie mich aber leider nicht zum Arbeiten brauchen. Die Zeiten sind schlecht, sagt der Schorsch immer. Aber wenn ich mal nicht im Wirtshaus arbeiten muss, übernacht ich meistens bei denen.

Eigentlich wollt ich an dem Tag schon eher weg, aber der Kramer hat mich noch zum Abspülen gebraucht. Und weil’s ja schon seit ein paar Tagen geschneit hat, hab ich mich extra geschickt.

Wenn’s auf d’ Nacht wird, mag ich mich im Winter nicht allein auf den Feldern oder im Wald aufhalten. Da krieg ich Angst. Man weiß ja nie, was sich für Gesindel rumtreibt, und wenn’s dämmert, graut’s mir, draußen allein unterwegs zu sein. Bei dem vielen Schnee und wenn’s stockfinster ist.

Weil’s mir pressiert hat, bin ich dann abseits von der Straße, ein paar Meter vom Waldrand entfernt, pfeilgrad über die Felder durch den tiefen Schnee. Unter den Bäumen war’s schon fast finster, und auf den Feldern hat’s mir fette Schneeflocken ins Gesicht geweht. Mein Gewand war deswegen auch ganz schnell feucht und eiskalt, aber trotz der Kälte hab ich schwitzen müssen, so anstrengend war’s in dem tiefen Schnee.

Nach Leithausen sind’s sieben Kilometer. Es geht aber ganz schön bergauf, das macht einem den Weg nicht leicht, und geweint hab ich, weil ich keinen Mann hab, wie meine Schwester den Schorsch, und ich allein über die Felder muss.

Und dann … auf einmal ist mir einer begegnet. Ziemlich genau auf der Hälfte von der Strecke war’s. Ich weiß das noch so gewiss, weil ich da grad am Gedenkmarterl für den armen Huber Sepp vorbei bin.

Vor zwei Jahren hat den da oben ein Baum erschlagen. Er war damals für den Hofmeister-Bauern am Ausholzen, und der wollt dann zuerst nicht einmal die Beerdigung zahlen. Am Schluss hat der dann den schäbigsten Sarg ausgesucht, und eine Kremess hat’s auch nicht gegeben. Der Ruach hat der Witwe auch bloß einen halben Tageslohn ausgezahlt, weil’s den Sepp ja mittags um eins erwischt hat.

Der Herr Pfarrer hat später fürs Marterl gesammelt. Keinen Pfennig hat der Hofmeister dafür hergegeben und gesagt, dass es wohl langt, wenn wir das Marterl auf seinem Grund aufstellen dürfen.

Ja … und da oben ist mir einer übern Weg gelaufen. Der war höchstens fünfzig Meter weit weg von mir. Mehr waren’s aber nicht, glaub ich. Sonst hätt ich den bei den ganzen Schneeflocken ja auch gar nicht sehen können, und gedämmert hat’s da ja auch schon. Der ist über die Felder in Richtung Wolfsham gegangen. Seiner Haltung und seinem Gang nach war’s ein stattliches Mannsbild. Der war groß und kräftig und hat einen langen Stock dabeigehabt. Ich glaub nicht, dass der mich gesehen hat. Zuerst wollt ich ihm winken und hinüberschreien, aber dann hab ich’s auf einmal mit der Angst gekriegt.

Das muss ungefähr um halb fünf gewesen sein. Ich weiß es, weil ich kurz nach sechs bei meiner Schwester aufm Hof war und mein Marsch drei Stunden gedauert hat.

Mich hat’s überall gefroren, so kalt war’s. Meine Schwester hat dann gleich den Ofen angeschürt und mir eine Brotsuppe gemacht. Es ist mir dann auch gleich wieder besser gegangen.

Später, bevor die Kinder ins Bett sind, haben sie ihre Holzschuhe noch vor die Haustür gestellt. Die wissen ja noch nicht, dass meine Schwester die Nikolausgeschenke in denen ihre Schuhe steckt.

Die Stefanie, die Älteste, ist nach mir genannt, sie ist grad einmal sechs Jahre alt, und wenn ich dran denk, dass in der Nacht sogar Kinder … furchtbar … der Teufel war’s! Ein Mensch kann’s nicht gewesen sein.

Am nächsten Tag bin ich dann zum Kramer heimgegangen und hab erfahren, was passiert ist.

Furchtbar … einfach furchtbar … ich bin gleich in die Kirche, um zehn Vaterunser zu beten.

 

Glockenschläge tönten über das umliegende Ackerland. Durch das Schneegestöber klangen sie dumpf und fern, doch hinter der nächsten Anhöhe lag Wolfsham.

Es ist nimmer weit. Bloß noch ein paar Kilometer.

Der Mann stützte sich erschöpft auf seinen Stock. Bei jedem Schritt knirschte es unter seinen Füßen. Bäume bogen sich unter ihrer weißen Last, und die Sträucher sahen unter dem dicken Schneemantel wie kleine Hügel aus.

Wie Federn im Wind tanzten fette Flocken durch die Luft und legten sich auf seine Kleidung. Er kniff die Augen zu Schlitzen und blickte sich um. Das letzte Licht der Dämmerung drang kaum mehr durch das Schneetreiben und tauchte die Landschaft in ein bedrohliches Grau. Mit großen Schritten ging er über die Felder auf den Waldrand zu. Die dicht gewachsenen Tannen und Fichten würden ihm etwas Schutz bieten. Weit war er schon gegangen, und Speichel hing gefroren in seinem Vollbart. Er wischte sich über das Gesicht, und bevor er zwischen den dunklen Bäumen verschwand, sah er sich nochmals um. Niemand war ihm gefolgt, er war allein.

 

Georg Hofmeister, Witwer, Hofbesitzer, 57 Jahre

Eigentlich hab ich’s als Letzter vom Dorf mitgekriegt.

Wissen Sie, mein Hof liegt einen Kilometer außerhalb von Wolfsham, in Richtung Leithausen, und an dem Tag war ich bis nach Sonnenuntergang im Holz unterwegs. Wenn’s so viel schneit, geh ich regelmäßig in den Wald und schau nach abgedrückten Bäumen. Heuer hat’s uns ja schon früh erwischt, und der Schnee ist schon Anfang November gelegen. Der Schneebruch hat mir einen schönen Schaden angerichtet und jetzt haben wir’s erst Dezember. Die meisten Leute haben ja keine Ahnung, wie viel Arbeit einem ein Wald macht.

Ich war recht lang im Tannenwald draußen. Seit meine Frau gestorben ist, wartet ja keiner mehr daheim auf mich. Also hat’s mir auch nicht pressiert. Bis ich wieder da war, war’s stockfinster. Ich bin sogar über eine Wurzel gestolpert und mit dem Kopf voran in den Schnee gefallen, so finster war’s.

So um vier, ich hab da grad die Kirchenglocken vom Dorf her läuten hören, hab ich die Wagensonnerin laufen sehen. Die ist am Wald vorbei über die Felder durch den Schnee. Selber schuld, hab ich mir gedacht. Das ist ein fesches Weibsbild und hätt einen jeden vom Dorf haben können, aber gewollt hat sie keinen. Jetzt kann sie bei dem Wetter allein zu ihrer Schwester laufen.

Aber ein Luder ist sie ja schon. Ich hab sie mit dem Kramer einmal beim Poussieren hinterm Wirtshaus erwischt. Ob seine Frau was davon weiß? – Keine Ahnung. – Geht mich auch nix an. Die Weiber versteht sowieso keiner, und mir kommt auch keine mehr aufn Hof!

Wie’s dann schon ganz schön finster war, ist mir noch jemand begegnet. Das war mitten im Holz. Normalerweise ist da draußen alles stad, und erst hat’s mich gerissen, weil ich auf einmal was knacksen gehört hab. Aber da hab ich noch geglaubt, dass mir der Schnee schon wieder einen Baum abdrückt. Doch dann hab ich was gesehen, das sich bewegt.

Ein Wolf im Unterholz, war’s Nächste, was mir eingefallen ist. Weil, wissen Sie, ein Mensch begegnet mir da draußen im Winter so tief im Wald eigentlich nicht. Mir wär der wahrscheinlich auch gar nicht aufgefallen. Aber der muss wohl auf einen dicken Ast aufm Boden gestiegen sein. Im Holz liegt ja nicht so viel Schnee, das meiste bleibt in den Bäumen hängen.

Zuerst wollt ich zu ihm hinüberschreien und fragen, was er da treibt. Schließlich gehört mir der Wald. Aber dann hab ich’s mit der Angst gekriegt. Weil von Wolfsham, glaub ich, war’s keiner. Die wissen alle, wem der Wald gehört und dass ich da rigoros bin. In meinem Holz hat niemand was zu suchen! Aber ich hab nix gesagt und bin ihm auch nicht nach. Bloß ein Depperter geht bei dem Wetter raus ins Holz, wenn er nicht unbedingt muss. Mir war’s nicht geheuer, nicht einmal Scherenschleifer strawanzeln um die Jahreszeit umeinander. Ich glaub, dass ein Lump war, der sich da umeinandergetrieben hat, und denen kann man ja sowieso nicht trauen. Bei Tageslicht hätt ich den gepackt und zur Red gestellt. Auch wenn ich nicht im Krieg dabei war, kann ich einem schon zeigen, wo’s langgeht – und so einem Hallodri schon zweimal.