Über das Buch:
Ist Liebe wirklich nur ein Wort aus fünf Buchstaben? Oder ist sie vielleicht doch mehr?

Bestsellerautor Gary Chapman zeigt in dieser Sammlung von vierzig bewegenden, zu Herzen gehenden Geschichten, wie Liebe ganz konkret und praktisch werden kann – auch unter schwierigsten Bedingungen.

• Ein Kartoffelfiasko verändert Eileens Ehe nachhaltig – nicht nur wegen eines zerstörten Kochtopfs …

• Betty erlebt nach tiefem Leid das Wunder einer zweiten großen Liebe

• Libby beschließt, sich eine Patentante zu suchen – die nur widerwillig beginnt, das kleine Mädchen zu lieben

• Lorettas Familie droht zu zerbrechen, doch Gott hilft ihr, sie wieder „zusammenzulieben“

Die praktischen Kommentare von Gary Chapman am Ende einer jeden Geschichte helfen, das Gelesene im eigenen Leben umzusetzen. Sie können auch als Grundlage für Gesprächskreise dienen. Ein Buch für alle, die ihre Beziehungen zum Partner, zu Eltern, Geschwistern oder Nachbarn durch Gottes Liebe verändern lassen wollen.

Über den Autoren:
Gary Chapman ist ein bekannter Eheberater und Autor. Von den Fünf Sprachen der Liebe wurden weltweit 10 Mio. Exemplare, in Deutschland allein 500.000 verkauft! Er hat zwei erwachsene Kinder, zwei Enkel und lebt mit seiner Frau Karolyn in North Carolina.

Zwischen Bergsee und Badestrand

Ich versuchte zu lesen, verlor aber immer wieder den Faden und musste den Satz von vorn anfangen. Es gelang mir einfach nicht, mich auf die Worte zu konzentrieren, denn ein einziger Gedanke kreiste in meinem Kopf: Wie kann ers nur wagen!

Ich beobachtete Marvin, meinen Mann, durch die Frontscheibe unseres Autos. Es stand am Seeufer, während er draußen in aller Seelenruhe seine Angelrute auswarf.

Es war leicht dunstig an jenem Morgen, und durch das offene Fenster hörte ich die Stimmen der Natur – Krähen, Enten, Frösche und Grillen –, die zwar zufällig, aber dennoch harmonisch ihr Morgenlied anstimmten, und selbst das Platschen springender Fischchen schien sich rhythmisch einzufügen.

Marvin, der mit seiner Angelrute am Ufer stand, fügte sich problemlos ein in diesen äußerlichen Frieden. Während ich schmollend in unserem Auto ausharrte, besaß er die Dreistigkeit, den Augenblick zu genießen, ohne sich darum zu kümmern, wie schlecht es mir ging.

So ging es bei uns zu am Anfang unserer Ehe. Und dass wir inzwischen ein harmonisches Paar geworden sind, war damals nicht abzusehen. Es ist auch eher das glückliche Ende eines Märchens als der zu erwartende Ausgang einer wahren Geschichte.

Wie romantisch war dieser Augenblick damals! Die Stimmung draußen war Quelle der Inspiration für die schönste Liebesgeschichte – und wir beide hätten die Hauptfiguren darin sein können. Ich sah uns Händchen halten, lange Spaziergänge machen und kuscheln. Wir hätten die Welt Welt sein lassen können! Und ich sehnte mich nach der Leidenschaft junger Paare, die derart verliebt ineinander sind, dass ihnen die Berührung von Haut zu Haut immer noch nicht nahe genug ist.

Doch unglücklicherweise schien mein Mann andere Vorstellungen von unserer Reise zu haben. Es war unser Hochzeitstag, und ich hatte noch immer keine Idee, wie man die Freiheit des einzelnen Partners und das gemeinsame Erleben als Paar zusammenbringen sollte.

Erst im Laufe der Jahre lernte ich, mit Kompromissen zu leben, im wechselseitigen Geben und Nehmen, das eine Beziehung erst fruchtbar macht.

Zum Beispiel geschah das in unserem Urlaub am Meer.

Wenn die Sonne aufging, war ich schon am Strand und spazierte am Wasser entlang. Ich genoss den Rausch der Klänge, das Klatschen der Wellen, das Brausen des Windes und dazwischen das Kreischen der Möwen. Und dann erlebte ich mit, wie die Strahlen der Sonne alles ringsumher in ein lebendiges Morgenrot tauchten. Das weckte wohl auch die Delfine, die weiter draußen ihre Bahnen zogen und mich zu begleiten schienen, während ein Küstenschiff an der Horizontlinie gemächlich das Ende meiner sichtbaren Welt markierte.

Nach dem Frühstück kehrte ich mit den Kindern an den inzwischen belebten Strand zurück. Sie konnten es kaum abwarten, rannten mir voraus, während ich ihnen etwas gemächlicher folgte, darauf bedacht, durch weite Schritte jede Berührung mit dem heißen Sand zu vermeiden.

„Komm mit rein, Mom“, riefen die Kinder, während sie sich ins Wasser stürzten.

„Ist es nicht viel zu kalt?“, rief ich zurück.

„Überhaupt nicht. Es ist toll. Komm schon.“

Als ich ihnen folgte, stockte mir der Atem, bei jeder Welle von Kälteschauern überrollt. Hatte ich dann meinen Mutterpflichten genügt, setzte ich mich an den Strand, atmete die salzige Luft ein, ließ mich von der Sonne verwöhnen oder von den Kindern einbuddeln.

Nach einem langen Tag draußen an der frischen Luft – inzwischen hatte sich auch Marvin zu uns gesellt – duschten wir uns ab, zogen uns an und verließen mit Hunderten von anderen Feriengästen über einen Bohlenweg den Strand. Auf dem Heimweg begleitete uns der Duft nach Karamell und Popcorn von den Kiosken. Es herrschte eine so heitere, gelöste Stimmung, und ich genoss es, die warme Hand meiner großen Liebe in meiner zu spüren, was die Sehnsucht nach noch mehr Nähe nur verstärkte.

Ich sah zu ihm auf und erwartete, dass sich meine Heiterkeit auf seinem Gesicht widerspiegelte. Doch er blickte grimmig, die Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen.

„Alles klar?“, fragte ich irritiert.

„Ja, alles klar.“

Die Kinder waren überglücklich. Schließlich gab es alles, was ihr Herz begehrte: Hamburger, Pommes, Eis und Meer. Shawn und Shannon tobten und alberten wie sonst das ganze Jahr nicht. Mein Mann aber litt still und stumm – kompromissbereit für das Glück seiner Familie.

Ich wusste, dass Marvin im Urlaub lieber lange im Bett blieb und las oder still seine Angelrute auswarf, statt im Getümmel am Strand zu liegen und auch noch abends das bunte Treiben der Touristenschwärme über sich ergehen zu lassen. Aber ich hatte in dem Augenblick keine Ahnung, wie sehr Marvin das Strandleben hasste.

Erst spät am Abend, als wir uns unterhielten, erfuhr ich, wie sehr er das Gefühl von Sand auf der Haut verabscheute und sich, mit ein paar Körnern kontaminiert, nach einer Dusche sehnte. Und das Gedränge auf dem Heimweg war für ihn auch nur schwer zu ertragen.

Marvin liebt die Stille beim Angeln – für Stunden. Und endlose Wanderungen. Ihn kostete also der Heimweg im Gedränge genauso viel Überwindung wie mich ein ganzer Vormittag mit der Angel in der Hand.

Als er es mir an jenem Abend gestand, war ich ziemlich überrascht. Gewiss, er hatte am Strand nicht gerade ausgelassen gewirkt, aber er hatte auch nicht so geschmollt wie ich vor Jahren am See.

Auf dieser Reise wurde mir durch Marvins Geständnis bewusst, dass man aus Liebe auch mal auf das eine oder andere Vergnügen verzichten kann, wenn es dem anderen eine Last ist. Das System von Geben und Nehmen funktioniert aber nur dann gut, wenn beide sich daran halten.

Ich begann über uns nachzudenken und nach einem Ausgleich zwischen uns zu suchen. Mit meiner zunehmenden Bereitschaft, ihm auf halbem Weg entgegenzukommen, habe ich Bereiche in Marvins Welt kennengelernt, die mir sonst verschlossen geblieben wären. Ich besitze inzwischen auch einen Angelschein, und es macht mir sogar Spaß, Marvin ab und zu auf seinen Angeltouren zu begleiten. Ich setze mich außerdem mit ihm hin, um gemeinsam entsprechende Fernsehsendungen zu gucken. Irgendwann habe ich sogar den Jagdschein gemacht, sodass ich ihn auch auf der Pirsch begleiten kann.

Und das nutzten wir in der letzten Saison aus. Wir gingen auf Fasanenjagd. Es war ausgesprochen gewöhnungsbedürftig für mich, bereits um drei Uhr in der Nacht aufzustehen. Aber als ich im grünen Tarnanzug hinter meinem Mann durch den Wald pirschte, fand ich das Ganze doch ziemlich aufregend, und ich spürte ein Glücksgefühl dabei.

Marvin führte mich an eine Stelle, die er zuvor ausgewählt hatte und die er selbst in der Dunkelheit fand. Während die Natur ringsumher erwachte, saßen wir auf zwei mitgebrachten Hockern unter einem Tarnzelt für Jäger.

Mit einem Holzkistchen und einem Stock ahmte er Vogellaute nach, indem er über eine raue Stelle strich, pausierte und wieder strich.

Es war laut und unangenehm für die Ohren, aber so schallte es in den Wald hinaus. Und plötzlich kam die Antwort! Ganz leise erst. Marvin lauschte, steckte eine Vogelstimmenpfeife in den Mund und blies hinein. Der Antwortlaut kam näher. Es war wie ein Gespräch zwischen Tier und Mensch. Ich saß nur noch auf der Kante des Hockers und hielt den Atem an, während ich das Gefühl hatte, einem Zwiegespräch in einer unbekannten Sprache zuzuhören.

Wir sahen uns an, und ich bemerkte, wie Marvins Augen vor Vergnügen funkelten. Er war ganz in seinem Element und überglücklich, mich an seiner Seite zu haben – so wie ich seine Gegenwart am Strand genoss.

Die meisten, die mich kennen, wollten hinterher nicht glauben, dass ausgerechnet ich mit meiner panischen Angst vor Spinnen auf die Jagd gegangen war. Aber das macht eben die Bereitschaft, sich auf halbem Weg entgegenzukommen – aus Liebe. Aufeinander zugehen heißt, Dinge zu tun, die man nicht für möglich gehalten hat – und sie vielleicht auch noch zu genießen.

Sheila Farmer

* * *

In unseren idealisierten Vorstellungen von Paarbeziehungen gehen wir viel zu schnell davon aus, dass unser Gegenüber ganz ähnlich gestrickt ist wie wir und alle unsere Vorlieben teilt. Und wie überrascht sind wir dann, wenn uns klar wird, dass eine unserer Lieblingsbeschäftigungen – wie ein Spaziergang am Strand – der reinste Horror für die Person ist, die uns etwas bedeutet.

Sobald wir davon erfahren, müssen wir uns entscheiden. Manche Paare kommen überein, dass trotzdem jeder immer das tut, was ihm gefällt. Dann gehen die beiden zwar die meiste Zeit getrennte Wege, aber es herrscht auch ein Höchstmaß an persönlicher Freiheit. Für eine gewisse Zeit mag das eine Lösung sein. Aber zu oft getrennte Wege – das bedeutet auch Gefahr für die Beziehung!

Sheila und Marvin haben sich jedoch dafür entschieden, aufeinander zuzugehen und Kompromisse zu suchen. Immer wieder verzichtet der eine zugunsten des anderen auf das, was ihm wichtig ist – um dem Partner eine Freude zu machen. Sie bemühen sich, die Interessen und Vorlieben des anderen im Auge zu behalten, und sie machen hin und wieder mit, um ein Gefühl dafür zu bekommen, warum der andere so viel Vergnügen an der Sache findet. Es geht dabei nicht darum, sich dem anderen zuliebe durchs Leben zu quälen, sondern mit der Bereitschaft, auf den anderen zuzugehen, ein Signal zu setzen: Ich bin bereit nachzugeben, mich auf dich einzustellen und dir mein Interesse zu schenken.

Kompromissbereitschaft ist in einer Beziehung geradezu Voraussetzung für ihr Gelingen.

Das aufdringliche kleine Mädchen

Als nebenan neue Nachbarn einzogen, interessierte mich das kaum, denn wir leben auf dem Land und die Grenze zwischen unseren Grundstücken ist dicht bewachsen. Nur dass sie Kinder hatten, bekam ich bald mit – und eins davon sollte bald eine Rolle in meinem Leben spielen.

Wir selber hatten keine Kinder und deshalb lebten mein Mann und ich all die Jahre nur für uns selber. Ich war früh in Rente gegangen, und so konnte ich schon seit einigen Jahren tun und lassen, was ich wollte. Zeit spielte eigentlich keine Rolle mehr für mich.

Als ich eines Nachmittags im Garten Unkraut jätete, hörte ich ein piepsiges Kinderstimmchen hinter mir.

„Spielst du mit mir?“

Ich sah mich um und erblickte ein süßes kleines Mädchen, das vielleicht vier Jahre alt sein mochte. Die Kleine trug ein geblümtes Kleid, aber keine Schuhe. Das braune Haar war wirr und ungekämmt.

„Ich bin beschäftigt.“

„Ich bin Libby.“

„Ich bin Mrs Perkins.“

„Spielst du mit mir?“

„Wie bist du rübergekommen?“

Die Kleine deutete auf meine Fliederbüsche. Und tatsächlich, wenn man unbedingt wollte, konnte man sich zwischen den Ästen hindurchzwängen und in Nachbars Vorgarten gelangen.

„Weiß deine Mutter, dass du hier bist?“

„Mom hat gesagt: Geh raus und spiel. Also, spielst du mit mir?“

Sie ging mir auf die Nerven. Ich hatte noch so viel zu tun.

„Was willst du denn spielen?“

„Mutter und Kind.“

Sie deutete auf die Fichten auf unserem Grundstück.

Ich zog widerwillig meine Handschuhe aus und folgte ihr zu dem Wäldchen. Das sei das Haus, sagte das Mädchen und deutete auf eine Stelle unter den Bäumen. Sie erklärte, wo das Wohnzimmer und wo die Küche sei. Sie selber wolle die Mutter spielen und ich sei die Tochter.

Ich ließ mich eine Weile darauf ein, bis es mir zu viel wurde. „Ich muss jetzt wieder an meine Arbeit gehen“, sagte ich, während ich unter den Zweigen hervorkroch. Ich war verschwitzt, und lauter braune Fichtennadeln steckten in meinem Haar. „Du solltest jetzt auch nach Hause gehen“, sagte ich.

Ich glaubte, Libbys Neugier sei mit dem einen Besuch gestillt. Aber da hatte ich mich getäuscht. Es war nur der Beginn einer langen Reihe unangekündigter Besuche zu jeder Tageszeit.

Ich kochte gerade, als wieder einmal die kleine Faust gegen die Küchentür pochte. Mit einem Seufzer drehte ich mich um und öffnete die Tür.

„Was machst du gerade?“

„Ich koche.“

„Kann ich was helfen?“

„Nein.“

„Bitte, kann ich was umrühren?“

„Warum hilfst du denn nicht deiner Mutter beim Kochen?“

„Die arbeitet.“

„Und wer passt auf dich auf?“

„Der Babysitter.“

„Na schön“, sagte ich kopfschüttelnd. „Da kannst du rühren.“ Ich stellte ihr eine Schüssel hin, aus der sie nichts verschütten konnte.

Mittlerweile fuhr ich schon jedes Mal zusammen, wenn ich tagsüber irgendein Geräusch hörte. Dann lauschte ich. Würde ich weiterarbeiten können oder unterbrechen müssen? Wollte ich in den Garten, sah ich zunächst aus dem Fenster, ob die Kleine irgendwo spielte. Wenn die Luft rein war, schlich ich hinaus und arbeitete so leise, dass sie mich nicht gleich beim ersten Handschlag bemerken würde.

Und wenn es doch wieder hieß: „Was machst du da?“, dann unterbrach ich mit Leidensmiene, was ich nun nicht mehr zu Ende führen konnte. Zudem peinigten mich Gewissensbisse. Immer wieder bat ich Gott um Vergebung für meine Einstellung, und ich sagte mir, dass dieses kleine Mädchen doch wichtiger sei als meine Pflichten in Haus und Garten. Warum war ich nicht bereit, ein wenig meiner Zeit für sie zu opfern?

Eines Tages bekam Libby mit, dass ich gerne Geschichten erzählte.

„Was macht du?“

„Lesen.“

„Liest du mir was vor?“

„Das ist noch nichts für dich.“

„Erzählst du mir eine Geschichte?“

Ich ließ das Buch sinken und legte es beiseite.

„Was für eine Geschichte?“

„Eine Geschichte, wo ich drin bin.“ Sie zögerte. „Und du auch.“

So begann ich: „Es war einmal ein kleines Mädchen, das hatte eine gute Freundin. Sie reisten zusammen um die Welt mit ihren Tierfreunden Affe und Adler.“

Und während ich erzählte, die Kleine gespannt lauschte und mich mit großen Augen ansah, spürte ich plötzlich, wie sie mir ans Herz zu wachsen begann.

Es wurde schließlich eine endlose Fortsetzungsgeschichte von Libby, Mrs Perkins und den Tieren. Sie überstanden immer neue Abenteuer in Höhlen, auf geheimnisvollen Inseln und am Fuß von mächtigen Vulkanen. Wir setzten uns auf die Schaukel auf der Veranda, und ich fragte jedes Mal: „Wo waren wir stehen geblieben?“

Sie wusste immer ganz genau, was zum Schluss passiert war, und nach einer Weile bedeutete mir diese gemeinsame Stunde des Tages unendlich viel.

Dann ging Libby zur Schule und besuchte mich nur noch nachmittags.

Eines Tages kam ihre Schwester Katie durch den Schleichweg zwischen den Büschen und wollte wissen, ob ich Libby gesehen hätte.

„Nein, wieso?“

„Sie ist wütend geworden und schließlich weggelaufen. Können Sie mir helfen, sie zu suchen?“

„Ist eure Mutter nicht zu Hause?“

„Nein. Ich sollte auf Libby aufpassen, und da haben wir uns gezankt.“

„In welche Richtung ist sie denn gerannt?“

Libby war zuerst aufs Nachbargrundstück auf der anderen Seite gelaufen. Und so begannen wir dort unsere Suche.

„Da ist sie!“, rief Katie kurz darauf und deutete auf eine kleine Gestalt zwischen zwei Häusern.

„Libby!“, rief ich, aber da lief sie schon weiter.

Ich rief noch einmal und folgte ihr. Schließlich holte ich sie ein und schloss das bitterlich weinende Mädchen in die Arme.

„Libby, Kind, wir haben uns große Sorgen gemacht! Komm, ich bringe dich nach Hause.“

„Will nicht nach Hause.“

„Tut mir leid, aber das muss sein.“

Katie kam und nahm ihre Schwester in Empfang.

Ich ging in die Hocke, um mit der Untröstlichen auf Augenhöhe reden zu können. „Weißt du, Libby, wenn dir wieder mal nach Weglaufen ist, dann läufst du zu mir weg.“

Und das tat sie auch immer wieder im Laufe der Jahre – so manches Mal in Tränen aufgelöst. Dann setzten wir uns ins Wohnzimmer, und sie schüttete mir ihr Herz aus.

„Meine Freundin hat übrigens eine Patentante“, erzählte sie eines Tages. „Möchtest du meine sein?“

Ich war gerührt. „O ja, natürlich.“

Wir beide wussten nicht so recht, was das praktisch bedeutete, weil in unseren Familien keiner einen Paten hatte. Ich wusste nur, dass es darum ging, für das Patenkind Verantwortung zu übernehmen.

Von nun an fiel es mir nicht mehr schwer, alles stehen und liegen zu lassen, wenn mein „Patenkind“ kam. Und jedes Mal, wenn wir uns verabschiedeten, umarmten wir uns.

„Meine Güte, du bist ja fast schon so groß wie ich“, sagte ich eines Tages zu ihr.

„Na ja, bis zur Schulter, aber bald werde ich dir bis zum Kinn gehen.“

Dazu musste sie sich allerdings nicht allzu sehr anstrengen, denn ich selber bin doch nur 1,52 m.

Es dauerte nicht lange, da waren wir auf Augenhöhe, und dann blickte sie eines Tages auf mich herab. Die Zeit schien wie im Flug zu vergehen. Libby hatte ihr Ziel erreicht, mich an Größe zu überragen.

Wenn sie mich besuchte, machten wir es uns immer schön. Ich lud sie zum Eis ein oder wir spielten Halma, immer schneller und perfekter.

Jedes Weihnachten und Ostern besuchte sie mich, nachdem sie zu Hause gefeiert hatte. Zu Ostern füllte ich ihr einen bunten Osterkorb und versteckte ihn im Wohnzimmer zum Suchen. Und vor Weihnachten machten wir einen gemeinsamen Einkaufsbummel, um Geschenke einzukaufen.

Im Laufe der Jahre nahmen Schule, Freunde und Familie immer mehr von Libbys Zeit in Anspruch. Bald sah ich sie nicht mehr täglich, sondern höchstens noch einmal in der Woche. Wir verabredeten feste Zeiten, um uns nicht aus den Augen zu verlieren. Manchmal gingen wir schwimmen, selbst wenn das Wasser schon richtig kalt war. Aber wir genossen jede Minute, und wenn sie länger durchhielt, saß ich frierend am Strand und wartete auf sie.

Oder wir hatten verrückte Ideen für Aktivitäten zu Hause.

„Laurie, was hältst du davon, wenn wir etwas Leckeres kochen und uns dann ganz schick anziehen, als wären wir vornehme Leute?“

Was für tolle Ideen sie doch hatte! Wir machten uns über meine Kochbücher her, banden uns Schürzen um und gingen an die Arbeit.

„Ich kümmere mich um den Nachtisch“, sagte Libby, und ich kochte die Hauptspeise. Sie deckte den Tisch, stellte Kerzenleuchter an beide Enden und arrangierte einen bunten Blumenstrauß.

„Jetzt müssen wir uns nur noch hübsch machen“, sagte ich schließlich.

„Ich beeile mich!“, rief sie und verschwand aus der Küche. Ich zog mein elfenbeinfarbenes Spitzenkleid an, dazu meine lange Perlenkette. Und zum Spaß nahm ich meinen Fächer mit. Libby trug ein schlichtes eng anliegendes Cocktailkleid mit einer rosafarbenen Korallenkette.

Ich hielt mir den Fächer vors Gesicht, sodass ich gerade noch darüber hinwegsehen konnte, fächelte kultiviert damit, klappte ihn zusammen und sagte: „Aber nehmen Sie doch Platz, meine Liebe.“

Libby machte eine angedeutete Verbeugung. „Mit Vergnügen, Madame.“

So vornehm hatte ich noch nie gespeist.

Als Libby ihr Studium begann, zog ihre Familie ebenfalls fort. Nun würde ich mein Mädchen nie wieder durch die Fliederbüsche kriechen sehen! Nur noch sehr unregelmäßig kam sie mich besuchen, und wenn sie sich während der langen Semesterferien nicht ein einziges Mal blicken ließ, war ich sehr enttäuscht. Oft war ich dann versucht, bei ihr anzurufen und sie zu fragen: „Spielst du mit mir?“

Vor einiger Zeit räumte ich auf, und da fiel mir das alte Halmaspiel in die Hände. Das Bild auf dem Kartondeckel war verblichen und abgegriffen. Die Ecken der Schachtel hielten nur noch mit Klebstreifen zusammen. Aber die Spielfiguren waren noch vollzählig geblieben. Ich legte das Brett auf den Tisch und stellte die Figuren auf. Ach ja, ein ganzes Jahr hatte ich meine Libby schon nicht mehr gesehen.

Aber dann hatte sie sich wieder einmal angemeldet. Ich wartete ungeduldig, sprang auf, als es läutete, und riss die Tür auf. Wie wunderschön sie geworden war! Groß und schlank mit kastanienbraunem Haar. Und sie war mir über den Kopf gewachsen.

„Hi, Libby!“

„Hey, Laurie!“

Wir fielen uns in die Arme, und dann führte ich mein Patenkind, das inzwischen schon 21 war, ins Wohnzimmer, wo wir lange redeten ... und schließlich wie in alten Zeiten eine Partie Halma spielten.

Laurie A. Perkins

* * *

Die Liebe tritt manchmal ganz unverhofft in unser Leben, dort, wo wir es am wenigsten erwarten – und sie kommt womöglich auch noch ungelegen. Dann sind wir versucht, unwillig und ablehnend zu reagieren, vielleicht sogar taktlos. Aber das ist nicht die Art eines liebevollen Herzens.

Laurie hat eine wichtige Erfahrung gemacht: Wer in allen Lebenslagen ein Herz für seine Mitmenschen haben will, der muss es sich nur vornehmen; der muss bereit sein, sich in seiner Alltagsroutine stören zu lassen. Dann werden wir so manches Mal in einem Maß beschenkt und gesegnet, wie wir es uns nicht haben träumen lassen. Und wer weiß? Vielleicht entdecken wir erst viel später, wie sehr unser Leben bereichert und zum Guten verändert worden ist.

Gegensätze ziehen sich an – und was das im Ehealltag bedeutet ...

Mein Mann gibt zu, dass er bereits auf der Fahrt von der Trauung zum Hochzeitsfest an unserer Ehe zu zweifeln begann. Unser Fahrer hatte sich entschlossen, den landschaftlich schöneren, aber viel längeren Weg zu nehmen. Darüber ärgerte ich mich maßlos, weil ich es als besonders taktlos empfand, unsere Gäste an der gedeckten Tafel warten zu lassen.

Was ein unvergesslicher Augenblick meines Lebens werden sollte, wurde für mich zu einer Achterbahnfahrt der Gefühle – und mein frischgebackener Ehemann versuchte verzweifelt, mich zu beruhigen. Clay, der stets die Ruhe in Person ist, mahnte mich, die Nerven zu behalten, aber mein ungestümes Temperament widerstand seinen Überredungsversuchen.

Clay und ich verbrachten im ersten Ehejahr viel Zeit damit, uns gegenseitig zu Verhaltensweisen zu bringen, die wir beim anderen vermissten. Clay wollte mich deutlich vernunftgesteuerter haben, und ich wünschte ihn mir spontaner und unbeschwerter. Dass Gegensätze sich anziehen, mag eine Binsenweisheit sein. Aber wie geht man damit um, wenn es tatsächlich der Fall ist? Was passiert, wenn die Gegensätze heiraten?

Ich bin von Haus aus eher der ungestüme Typ, erzogen von einer durchsetzungsfähigen Mutter und einem Vater, der seine Frau bis fast zur Hörigkeit liebte. Bei unseren Familienzusammenkünften ging es immer hoch her. Es wurde oft bis spät in die Nacht debattiert, gestritten, gelacht und zum Abschluss gesungen, wobei sich alle ums Klavier scharten.

Clays Familie ist da ganz anders geartet – geregelter und vorhersehbarer. Man geht ausgesprochen höflich und gesittet miteinander um, und Clay lernte, sich jederzeit respektvoll zu benehmen. Er ist mit der eisernen Lebensregel aufgewachsen: Früh ins Bett und früh aus den Federn – dann bleibt man gesund, wird wohlhabend und weise.

In der Kennenlernphase war Clay besonders von meiner ungebändigten Kreativität angetan. Ihn beeindruckte meine stets positive Einstellung zum Leben, und er wusste es natürlich zu schätzen, dass ich fast nur seine guten Seiten bemerkte. Ich auf der anderen Seite war beeindruckt von Clays scharfem Verstand und seiner besonnenen Art. Er war der Mensch, für den ich meine Hand ins Feuer gelegt hätte. Außerdem fühlte ich mich unglaublich geborgen in seiner Gegenwart. Er schien die im Himmel bereitete Entsprechung für mich zu sein.

Diese Unterschiede, die wir anfangs so nett und anziehend fanden, begannen aber bereits kurz nach unserer Hochzeit zu einer Stressquelle zu werden. Ich erinnere mich noch, wie wir uns wegen einer blöden Fernbedienung völlig zerstritten. In Clays Familie war der Patriarch auch Herr über dieses Kästchen. Alle anderen in der Familie fügten sich, verhielten sich ruhig und sahen artig mit an, was Daddy einstellte.

In meiner Familie entbrannte an Fernsehabenden zunächst eine heftige Debatte, und wer sich am lautesten durchsetzte, gewann meistens. Mom wollte Filmschnulzen, Dad Sportsendungen und mein Bruder und ich wünschten uns Realityshows. Aber es wechselte auch tageweise ab, wer sich mit dem Abendprogramm durchsetzte.

Ich bemerkte schon bald nach der Hochzeit, dass Clay wie selbstverständlich das Fernsehprogramm bestimmte. Das fand ich ungerecht. Also begann ich zu argumentieren: „Das ist meine Lieblingssendung, und die kommt nur einmal in der Woche, und seit wir verheiratet sind, habe ich sie noch nicht einmal gesehen!“

Clay wandte unbeirrt ein, es würde aber gerade seine Lieblingsmannschaft spielen, und so schaltete er zurück zum Match, ohne zu ahnen, was ihn erwartete. Ich hatte gelernt, mich lautstark durchzusetzen, und was ich ihm bot, war nicht von schlechten Eltern. Ich gab alles und hielt eine flammende Rede, die einem Kandidaten vor der Wahl alle Ehre gemacht hätte.

Clay saß da mit offenem Mund und verstand die Welt nicht mehr. Diese Art der Kommunikation war ihm vollkommen fremd. Und ein solcher Gefühlsausbruch war für ihn so überflüssig wie ein Kropf. Ich entgegnete mit einem Zitat von Jerry Maguire aus dem Film Spiel des Lebens: „Du meinst, wir streiten – ich meine, wir unterhalten uns.“

Unsere Art der Kommunikation unterschied sich derart, dass wir nicht wussten, wie wir unsere Ehe gestalten sollten.

Zum Glück hatten Clay und ich aber auch einige entscheidende Gemeinsamkeiten. Wir beide waren zum Beispiel wild entschlossen, eine glückliche Ehe zu führen und wirklich alles dafür zu tun. Wir lasen jeden Eheratgeber, den wir in die Finger bekamen. Wir verabredeten, niemals den Versuch zu unternehmen, den anderen verbiegen zu wollen, sondern ihn zuerst einmal in seiner Andersartigkeit zu ertragen. Das funktionierte natürlich nicht über Nacht. Aber wir fingen an, die Eigenarten des anderen zu respektieren, indem wir uns bewusst machten, dass Gott ihn genau so geschaffen hatte.

Es stimmt, was C.G. Jung einmal geschrieben hat: „Alles, was uns am andern stört, hilft, uns selber besser zu verstehen.“ Indem Clay und ich trotz unserer Unterschiede aneinander festhielten und uns bemühten, einander zu verstehen, wuchs auch die Einsicht in unser eigenes Fühlen und Handeln. Wir wurden uns noch deutlicher unserer Stärken bewusst und wie gut wir sie in unsere Ehe einbringen konnten.

Indem wir die Bedeutung unserer Unterschiede erkannten, begriffen wir, welchen Beitrag jeder für das große Ganze leisten konnte. Wir entdeckten auch viele vorher nicht bekannte Gemeinsamkeiten als Fundament für unsere Beziehung: Wir haben beide Spaß am Lehren und Lernen. Und wir gehen beide gern auf Menschen zu. Unsere geistlichen Gaben sind zwar etwas unterschiedlich verteilt, aber wir nehmen mit viel Engagement und Begeisterung an Missionsreisen teil. So sind wir bereits dreimal im Ausland gewesen, haben geholfen, Häuser zu bauen, und Englischunterricht gegeben.

Ich denke, wir haben unseren Erfolg maßgeblich der Beschäftigung mit einschlägiger Literatur, lehrreichen Vorträgen und der Teilnahme an Seminaren zum Thema Ehe zu verdanken. Wie oft habe ich mit Clay in einer großen Buchhandlung in der Leseecke gesessen, um in Eheratgebern zu schmökern. Und dann las einer dem anderen interessante Zitate vor, woraufhin sich für uns wichtige Gespräche entwickelten. Das waren schöne gemeinsame Erlebnisse für uns, bei denen wir auch noch etwas fürs Leben lernen konnten.

Die Beispielgeschichten, die die Autoren uns vorstellten, brachten uns eine mutmachende Erkenntnis: Wir waren nicht allein mit unserem Problem! Wir waren nicht das erste Paar, das aus ganz unterschiedlichen Familien kam. Es war ein gutes Gefühl, zu wissen, dass unsere Erfahrungen ganz normal waren und dass andere vor uns Wege aus der Krise gefunden hatten. Es wäre ein Fehler gewesen, weiter im Dunkeln zu tappen und es auf eigene Faust zu versuchen. Man muss nicht das Rad neu erfinden, wenn es da draußen schon so viele gibt!

Ich bin ganz sicher, dass Paare trotz vieler Unterschiede lernen können, einander zu lieben, zu schätzen und auf allen Ebenen zu kommunizieren. Allerdings müssen sie sich die Zeit nehmen, mehr über sich selbst und den anderen in Erfahrung zu bringen. Die Unterschiede zwischen den Partnern mögen Anlass zu täglichen Diskussionen ums Fernsehprogramm geben, aber gleichzeitig bieten sie die große Chance, sich persönlich weiterzuentwickeln und sich selber besser kennenzulernen.

Emily Osburne

* * *

Haben Sie Eheprobleme? Dann trösten Sie sich. Der weiseste Mann vor Jesu Geburt war König Salomo, und der hat gesagt: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne!“ (Prediger 1,9)

Und das gilt natürlich auch für die zwischenmenschlichen Beziehungen.

Wenn wir manchmal mitten in großen Konflikten stecken und die Wellen hochschlagen, dann werden wir das Gefühl nicht los, die einzigen Betroffenen zu sein.

Als Emily und Clay anfingen, über den eigenen Horizont hinauszublicken und nach Hilfe zu suchen, erkannten sie schnell, dass sie mit ihren eigenen Erfahrungen, von denen sie dachten, sie seien völlig unnormal, gar nicht so allein dastanden.

Wer nach Beistand sucht, muss aber auch lernwillig sein und sich eingestehen, dass der bisherige Weg nicht der Weisheit letzter Schluss war. Wer sich nach Hilfe umsieht, muss Rat annehmen können – ob er zur Seelsorge geht, sich in Bücher vertieft oder an Seminaren teilnimmt.

Erst wenn wir über den eigenen Tellerrand blicken, erfahren wir von denen, die es geschafft haben, und das macht Mut, es selber zu probieren – mit guten Erfolgsaussichten!

Kein Zimmer (mehr) frei

Freitagabend. Ausgehabend. Sich verabreden. Kino. Hinterher noch was essen. Zärtlichkeiten.

„Wie anders ist alles geworden“, murmelte ich, während ich das Leihbuch aus der Bücherei in den Rückgabeschlitz schob, bevor ich mich wieder auf den Weg zum Auto machte.

Ich öffnete die Tür und ließ mich in den Fahrersitz fallen. Schnell die Tür wieder zu. Nicht auch noch den eisigen Novemberwind hereinlassen. Ich beugte mich zu meinem Weggefährten auf dem Beifahrersitz und gab ihm einen Kuss auf die Wange – mein vom Krebs gezeichneter Mann, der gerade wieder eine Chemotherapie beendet hatte.

Während ich den Zündschlüssel drehte, räusperte er sich und sagte mit leiser Stimme: „Weißt du, Schatz, ich habe nachgedacht. Wenn ich das hier nicht überstehe, dann möchte ich, dass du noch ein gutes Leben hast. Such dir einen netten Mann und heirate wieder ... einen netten Kerl wie Bob.“

„Bitte sag nicht so was“, erwiderte ich ungehalten. „Ich liebe dich von ganzem Herzen, und es wird nie einen anderen für mich geben.“

„Aber du bist viel zu jung, um den Rest deines Lebens ...“

Ich schnitt ihm das Wort ab: „Kein Aber! Ich liebe dich seit unserer Schulzeit. Wie sollte ich da je einen anderen lieben können! Kein Wort mehr davon! Bitte.“ Ich schluckte und verbarg meine Tränen.

Mir war klar, weshalb Richard in so düstere Gedanken abgeirrt war. Ein paar Stunden zuvor waren wir bei unseren engsten Freunden Betty und Bob gewesen. Betty litt an Eierstockkrebs und würde nicht mehr viel Zeit haben. Drei Jahre hatte bereits diese dunkle Wolke über unserem Leben gehangen, und nun war auch noch bei meinem Mann ein fortgeschrittener Darmkrebs festgestellt worden.

Nur die freundschaftliche Liebe, die wir vier teilten, blieb uns als Lichtblick in dieser Finsternis – wie ein paar Sonnenstrahlen, die durch eine dunkle Wolkendecke scheinen, sobald sich ein kleines Loch darin auftut. Trotzdem hatte ich in diesem Moment keine Lust, über irgendeine Zukunft nachzudenken, in der die Liebe meines Lebens nicht mehr vorkam – mein bester Freund und Ehemann seit 46 Jahren.

Aber zwei Monate später musste ich mich mit einer solchen Zukunft auseinandersetzen. Richard war gestorben. Mir war, als wäre der größere Teil von mir ohne jede Narkose amputiert worden. Übrig geblieben war ein verwundetes Herz, das immer noch für denselben schlug wie all die Jahre.

Ich suchte mir eine Gesprächsgruppe für trauernde Hinterbliebene, zu der auch Bob regelmäßig kam. Wir sprachen offen über unser Leid, wir weinten viel und leisteten gemeinsam die nötige Trauerarbeit. Nach einigen Monaten tasteten wir uns behutsam zurück ins Leben. Wir konnten bereits wieder hin und wieder lachen und unternahmen etwas, was uns Freude machte. Uns verband eine ganz besondere Freundschaft, in der wir so viel Trost fanden, dass wir wieder daran denken konnten, ins volle Leben mit all seinen Möglichkeiten zurückzukehren.

„Mir fehlt meine vertraute Golfpartnerin“, meinte Bob eines Tages. „Habe ich die Chance, dich zu überreden?“

„Warum eigentlich nicht“, antwortete ich. „Ich kann es ja mal probieren.“

Bobs überschwängliches Lob für mein Spiel spornte mich an, und so kam es, dass wir regelmäßig gemeinsam auf dem Golfplatz zu finden waren.

Einige Zeit später holte mich Bob nach einer Reise vom Flughafen ab, und als ich die Wagentür öffnete, lag eine gelbe Rose auf dem Beifahrersitz.

„Was ist denn das?“, fragte ich überrascht.

„Ich habe dich vermisst und wollte dich einfach wieder zu Hause willkommen heißen“, antwortete er. „Darf ich dich zum Essen einladen? Du hast ja sicher nichts im Haus.“

Was für ein aufmerksamer Kavalier, dachte ich. Und unser Gespräch am selben Abend öffnete mir den Blick in eine ganz neue Richtung. Wir verbrachten immer mehr Zeit miteinander und lernten uns immer besser kennen. Es war auf einmal nicht mehr nur die gemeinsame Trauer, die uns verband, sondern auch das Interesse am anderen. Und eines Abends, es waren wieder Monate vergangen, sagte Bob fast beiläufig: „Übrigens solltest du wissen, dass ich mich in dich verliebt habe.“

Ich erschrak. Liebe? Was bedeutet das überhaupt? Sowohl er als auch ich hatten in der Vergangenheit immer wieder von der Liebe unseres Lebens gesprochen und unsere verstorbenen Ehepartner damit gemeint.

Ohne den Hauch eines Zweifels wusste ich, dass ich Richard noch immer liebte. Was würde es also bedeuten, zu einem anderen zu sagen: „Ich liebe dich“? Vor meinem Herzen hing noch ein Schild: „Kein Zimmer frei!“, und so wusste ich nicht, was ich Bob antworten sollte. Dennoch ließ mich der Gedanke nicht mehr los, und ich grübelte Tage, Wochen und Monate, was es für mich bedeuten würde, einem anderen meine Liebe zu bekennen.

Als Bob wieder einmal das Thema Liebe zur Sprache brachte, bekannte ich ihm meine Verunsicherung, und er antwortete: „In unserem Alter ist Liebe etwas anderes als damals, als wir zwanzig waren. Da bedeutete Liebe noch Heimlichkeiten, verstohlenes Gekicher, Herzklopfen und die Überzeugung, ohne den anderen in der Nähe zu sterben.“

Ja, ich erinnerte mich.

„Es gibt aber auch die reife Liebe für reife Menschen“, fuhr er mit einem liebevollen Lächeln fort. „Die schmälert die Liebe keineswegs, die wir für Betty und Richard empfunden haben. Im Gegenteil, sie vertieft sie noch. Wir beide haben jetzt Zeit füreinander, und da dürfen wir auch Sehnsucht nach Nähe empfinden und uns eine gemeinsame Zukunft erhoffen.“

Ich sprach mit einer guten Freundin darüber.

„Dein Herz ist weit genug, dass neben Richard auch Platz für Bob darin ist“, erklärte sie. „Denk einmal daran, wie sehr du deine Kinder, Enkel und Freunde liebst. Es ist, als würde Gott für jede neue Liebe einen neuen Raum in deinem Herzen anbauen. Solange Richard bei dir war, war das Ehezimmer zwar belegt, nun aber ist er umgezogen – aber nicht weggezogen!“

Ich verstand, was sie meinte. Ich konnte mit dieser Antwort leben und spürte einen inneren Frieden.

Als Bob mir wieder sagte, dass er mich liebte, da flüsterte ich zurück: „Ich dich auch.“

Das ist inzwischen vier Jahre her. Wie die gelbe Rose auf dem Beifahrersitz an jenem denkwürdigen Tag ist auch unsere Liebe zur vollen Blüte gelangt. Wir gelobten uns vor unserer Hochzeit, dass unser Glaube und unsere Familien immer erstrangig für uns sein würden.

„Es tut so gut, euch beide wieder lachen zu sehen“, bekundeten unsere Kinder einstimmig und segneten damit unsere Beziehung.

Zum Fundament unserer Ehe gehören eine reife Liebe, eine Kameradschaft in Geborgenheit, gegenseitiges Vertrauen, die gemeinsam durchlittene Trauer und die Überzeugung, dem göttlichen Willen gemäß zu handeln. Wir errichteten sozusagen ein neues Stockwerk auf dem verlassenen Erdgeschoss, das unser beider Leben bislang darstellte.

Es geht nicht darum, die Vergangenheit mit ihren Erfahrungen vergessen zu wollen. Im Gegenteil. Wir bewahren das Andenken an unsere glücklichen Ehen dankbar im Herzen, wir freuen uns über Kinder und Kindeskinder und schätzen die Weisheit, erworben in guten und in schwierigen Jahren.

Das angebaute Zimmer für die neue Liebe in meinem Herzen ist inzwischen wohnlich für mich geworden. Und ich habe daraus Kraft geschöpft, um zu neuen Ufern aufbrechen zu können.

Betty J. Johnson Dalrymple

* * *

Da die Liebe einerseits zu den wunderbarsten und tiefsten Gefühlen gehört, zu denen ein Mensch fähig ist, bedeutet ihr Verlust meist, in unendliche Trauer zu fallen. Und wenn wir einen solchen Verlust erleben, hängen wir wie Betty ein Schild vor unser Herz: „Kein Zimmer (mehr) frei!“ Wir fürchten uns viel zu sehr vor einem erneuten Verlust. Der dumpfe Schmerz unseres Kummers scheint auf jeden Fall erträglicher als das Trauma eines weiteren Verlusts, sollten wir je wieder einen Menschen in unser Herz einlassen.

Aber sollten wir uns nicht darüber freuen, dass unsere Liebe immer und immer wieder erweiterungsfähig ist? Warum begnügen wir uns mit einer engen Einzimmerwohnung, wo wir doch in einer Villa wohnen könnten? Solange wir es wollen, können wir mit unserem Wohnraum der Liebe expandieren.

Solche Erweiterungen gehen nicht ohne Mühe vonstatten. Wir müssen uns an neue Lebensumstände gewöhnen, wir müssen lernen, anderen zu vertrauen und das Risiko eines Verlustes einzukalkulieren. Aber was dabei herauskommt, lohnt die Mühe für den Anbau auf jedem Fall.