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Vorwort des Herausgebers

»Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näher zu treten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte. Ich wollte nicht das leben, was nicht Leben war; das Leben ist so kostbar. Auch wollte ich keine Entsagung üben, außer es wurde unumgänglich notwendig. Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde.«

Diese Passage aus ›Walden‹ wird im Film ›Der Club der toten Dichter‹ als Eröffnungsspruch zu jeder »Sitzung« des Clubs von den Mitgliedern gemeinsam rezitiert.

 

Das erzkapitalistische Amerika liebt seinen Thoreau, weil es ohne ihn arm wäre. Reich an Gütern vielleicht, aber arm im Geiste. Die Denker, Philosophen und Schriftsteller, die den amerikanischen Traum der Kapital- und Güteranhäufung kritisch sahen und sehen, waren immer eine Minderheit – aber um so wichtiger sind sie für dieses Land. Als Warner, als Mahner, als Korrektiv.

Thoreaus Schriften beeinflussten Mahatma Gandhi genauso wie die Bürgerrechtsbewegung der Sechziger und die Hippie-, Friedens- und Umweltbewegung der Siebziger und Achtziger. Thoreau gilt er als einer einflussreichsten amerikanischen Autoren – und als einer der meistzitierten. Und die Zahl der Verweise, Links und Hinweise auf ihn erreicht in der neuen Krisenzeit des Kapitalismus, in der wir leben, einen Höhepunkt.

Nun gibt es Wirtschaftskrisen, seit es Wirtschaft gibt. Auch zu Thoreaus Zeiten wurde das Land von einer großen Krise geschüttelt. Die Banken hatten sich verspekuliert, das Vertrauen der Menschen in das Papiergeld schwand drastisch, die Konjunktur brach ein. Reiche wurden durch Kapitaleinkünfte immer reicher, Arme verarmten durch Arbeitslosigkeit. Ein Szenario, das uns sehr »modern« erscheint, aber in Wirklichkeit ein kapitalistischer Klassiker ist.

Thoreau, Sohn eines erfolgreichen Bleistiftfabrikanten, Literat und Philosoph, Freund des seit einigen Jahren am gleichen Ort wohnenden Großschriftstellers Ralph Waldo Emerson, besah sich die Sache nüchtern: Er stellte fest, dass eine überwiegende Mehrheit der Bürger sich mit ihren Häusern übernommen hatte, dass von den Kaufleuten »fast siebenundneunzig Prozent keinen Erfolg« und die Spekulanten sich in ihren Hochrechnungen verzettelt hatten.

Schon 1839 hatte er in sein Tagebuch notiert: »Ich möchte (nach) meinen Instinkten leben, einen ungetrübten Eindruck in die Natur bekommen und mit allen mir verwandten Elementen in freundlichem Einklang stehen.«

Nun ist es soweit. Er will ein Zeichen setzen und wendet sich vom »System« ab. Ende März 1845, er ist jetzt 28 Jahre alt, leiht er sich eine Axt, begibt sich auf das zwei Meilen von seiner Heimatstadt Concord (Massachusetts) entfernte, am Waldensee gelegene Grundstück seines Förderers und Freundes Ralph Waldo Emerson und beginnt mit der Rodung eines kleinen Areals als Bauplatz für seine Hütte. Er steckt die Maße ab, gräbt einen Keller, kauft die Balken einer gebrauchte Hütte, und stellt sie im Mai auf seinem Grundstück auf. Am 4. Juli, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, zieht er ein.

Es ist für ihn auch ein persönliches Symbol der Unabhängigkeit: Vom Kapital, vom Konsum, vom Staat, von Bürokraten und obrigkeitshörigen Steuereintreibern, die von den Bürgern Geld erpressen, um auf der anderen Seite die (immer noch) bestehende Sklaverei zu finanzieren.

So lebte er als amerikanischer Buddha in seinem eingeschossigen Blockhaus von drei mal viereinhalb Meter Grundfläche und drei Metern Höhe. Die Hütte hatte einen Speicher, einen Wandschrank, ein großes Fenster und später auch einen Kamin. An Hausrat gab es nur ein Bett, einen Tisch, drei Stühle, einen Spiegel (sieben Zentimeter im Durchmesser), einen Kessel, eine Bratpfanne, einen Schöpflöffel, einen Becher, zwei Messer und zwei Gabeln, drei Teller, ein Waschgeschirr, einen Krug für Öl und einen für Melasse, und eine Lampe.

Hier entsteht im Geiste das Buch ›Walden, oder Leben in den Wäldern‹, das sieben Jahre später erscheint, und in den darauffolgenden 150 Jahren zu einer großen Inspiration für alle Kapitalismuskritiker, Freidenker und Naturschützer werden wird, von Karl Marx, über Mahatma Gandhi bis hin zur Ökologiebewegung.

Wie in einem naturwissenschaftlichen Experiment sortiert Thoreau alles Unwichtige aus seinem Leben aus, um sich der Kernfrage nach den wahren Bedürfnissen des Menschen zu nähern. Er spürt, dass es erstaunlich wenig an materiellen Dingen ist, das er braucht: Nahrung, Wohnung, Kleidung und Brennmaterial. An geistigen Werten: Einfachheit, Unabhängigkeit, Großmut, Vertrauen.

Mit spielerischer Leichtigkeit und großer Freude sorgt er mit einigen Stunden täglicher Feldarbeit für seinen Unterhalt – und stellte fest, dass ihm reichlich Zeit, zum Denken, Philosophieren und – seine Lieblingsbeschäftigung – Erkunden der Natur bleibt.

So wächst durch Tagebuchnotizen in relativer Abgeschiedenheit – er ging durchaus ab und zu ins Nahe gelegene Dorf, um etwas zu besorgen – Thoreaus zeitloser Klassiker. Das Buch ist kein Roman, sondern eine geschickt redigierte Form der Tagebucheinträge – geordnet nach thematischen Schwerpunkten. Die Kapitel heißen u.a. ›Ökonomie‹, ›Art und Zweck meines Lebens‹, ›Lesen‹, ›Einsamkeit‹, ›Gäste‹, ›Das Bohnenfeld‹, ›Die Seen‹, ›Höhere Gesetze‹, ›Nachbar Tier‹, ›Frühling‹ und so weiter. Thoreau fasst die Themen in den symbolischen Zyklus eines Jahres und gibt damit seinen Reflexionen einen Rahmen und Spannungsbogen.

Thoreau-Kenner Wilhelm Nobbe fasst das Streben des Autors prägnant zusammen: »Er wollte dadurch reich sein, dass er seine Bedürfnisse herabsetzte, und das, was er gebrauchte, mit eigenen Händen sich schuf.« Es ist diese Bescheidenheit, die Thoreau bis heute hervorhebt, und durch die er als Inspiration und Kraftquelle für andere so viel erreicht hat – viel mehr, als ihm eigentlich vorschwebte.

Redaktion eClassica

 

Über den Autor:

Henry David Thoreau wurde am 12. Juli 1817 in Concord, Massachusetts, als Sohn eines Bleistiftfabrikanten geboren und studierte von 1833 bis 1837 an der Harvard University. Für kurze Zeit arbeitete er als Lehrer an der Public School in Concord, überwarf sich aber bald mit der Schulleitung – z.B. weil er die Prügelstrafe ablehnte. 1841 lernt er den Literaten Ralph Waldo Emerson kennen, der ein Freund und Förderer für ihn werden sollte. 1843 bis 1845 lebt Thoreau in der Blockhütte am Waldensee. 1849 erscheint der heute berühmte Essay ›Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat‹, 1854 erscheint ›Walden‹. In den folgenden acht Jahren setzt sich Thoreau mit all seinen Möglichkeiten für die Beendigung der Sklaverei ein und unterstützt den Bürgerrechtler John Brown. Thoreau stirbt bereits am 6. Mai 1862, im Alter von nur 44 Jahren, an einem Lungenleiden. – Im gleichen Jahr wird die Sklaverei in der Hauptstadt Washington aufgehoben. Drei Jahre später, nach dem Ende des Bürgerkriegs, ist die Sklaverei in allen US-Bundesstaaten abgeschafft.