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Phil Humor

Storys zu berühmten Gemälden





BookRix GmbH & Co. KG
81675 München

Elizabeth I. im Jahr 2011

 Portrait of Elizabeth I as a Princess - Eventuell von William Scrots - 1546
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Elizabeth_I_when_a_Princess.jpg

Guillem Scrotes, englisch William Stretes war ein flämischer Maler
http://de.wikipedia.org/wiki/Guillem_Scrotes
http://commons.wikimedia.org/wiki/Category:William_Scrots

 

Ich wurde herausgerissen aus dem Jahr 1546: Der neue Hofmaler hatte mein Gemälde fast beendet und ich war vom Modell-Stehen ermüdet – als sich das Szenario völlig veränderte. Der Schauplatz – dort wo ich bedeutend bin, wo ich als Prinzessin die Möglichkeit habe, wider jede Wahrscheinlichkeit Königin zu werden – das alles war fort. Was mir blieb, das war immerhin als stattlich zu bezeichnen: mein wunderschönes rotes Kleid – als Anspielung zu meinem roten Haar, welches ich meinem Vater verdanke, beides verdanke ich ihm, auch das Kleid, meinen hohen Status verdanke ich ihm, mein Eingesperrt-Sein im Hofzeremoniell – eine schwierige Beziehung, über die ich nachzudenken nicht imstande bin – zumindest nicht für längere Zeit und mit einem vorzeigbaren Ergebnis. Mag sein, dass diese Wut vermengt mit Zuneigung – dass durch dieses seltsame Gebräu mein Geist sich genötigt sah, mir einen Ausweg zu suchen, zu bieten – dass ich gehörigen Abstand benötigte zu meinem Vater Heinrich dem Achten. Mit dreizehn Jahren muss man sich entscheiden, muss eigene Pläne machen, sich entfernen vom Althergebrachten. Doch dass mich dieser Moment so traf wie ein Blitz – ist es himmlische Energie oder ist es zu viel für mich? Das Aufschreiben könnte mich retten. Bloß das, was mir widerfuhr, das kann ich nicht reihen in ein Nacheinander; überwältigend war das Neue. Ich schildere es nun bewusst vereinfacht; konzentriere mich auf das Markanteste. Später mag Zeit sein für die am Rande wahrgenommenen unzähligen Wunder. Ich hörte eine glückliche Stimme: „Unglaublich, du siehst aus wie Elizabeth die Erste. Dieses prächtige Kleid. Goldbrokat! - Ach was, ich wusste, dass es funktionieren würde. Willkommen im Jahr 2011!“

Der Hofmaler war weg - mitsamt des Palastes. Der Raum, in dem ich mich nun befand, ist beschreibungswürdig – aber mir fehlen die entsprechenden Worte. Mehrere Stühle standen in einem Oval angeordnet. Die Frau, die mich angesprochen hatte, sah mir ein bisschen ähnlich – sogar mein rotes Haar – und auch einen Mittelscheitel. Ahmte sie mich nach? Wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann kam mir kurzzeitig der Gedanke, dass ich es selber sei, die sich da gegenübersteht. „Dein Kleid passt zu den Stühlen, derselbe Rot-Ton. Ist kein Zufall. Am Besten, ich stelle mich vor, dann wird ganz schnell ersichtlich, um was es hier geht: Corinna Tudor – Familientherapeutin. Ich bin überzeugt davon, dass du zu meinen Ahnen gehörst – und ich werde dich therapieren – dich und deinen Vater.“

Mir wurde immer unheimlicher, aber dank meiner exzellenten Erziehung blieb ich würdevoll auf dem Stuhl sitzen, der tatsächlich exzellent zu meinem Kleid passte. Ihr merkt, ich habe Lieblings-Worte – aber eigentlich sind es Worte, die mir eingeprägt wurden durch beständige Wiederholung. Alles ist exzellent bei Hofe und es wimmelt von Exzellenzen. Ich fasste vorsichtig die Armlehne des Stuhles an – immer fester – kein Zweifel, das fühlte sich sehr real an. „Wo ist der Palast?“

„Du kehrst dahin zurück. Das hier wird dir sehr nützlich sein – passe gut auf – du hast ein seelisches Defizit – das hängt alles mit deinem Vater zusammen. Das ist eine Binsenweisheit bei uns Therapeuten: Ein vernünftiges Gespräch mit den Eltern wirkt stabilisierend.“

„Mit meinem Vater kann man nicht vernünftig reden – und er destabilisiert ganz England.“

„Mach dich vertraut mit dem Setting, akkommodiere dich – es trennen dich immerhin 465 Jahre von deiner vertrauten Zeit.“

Das war der Moment, wo mir schwindelig wurde. Geradeso, als blicke ich tief hinab von einer Steilküste in die Gischt; und noch tiefer: als öffne sich langsam die Hölle unter mir – oder das Himmlische. „Schau, das habe ich dir besorgt: ein Nürnberger Ei. Etwas aus deiner Zeit.“

Sie legte mir in meine Hände eine uralte, ovale Taschenuhr. Aus meiner Zeit? War ich in ebensolchem desolaten Zustand? Ich beugte mich vor, um in den ovalen Wandspiegel zu schauen. Ich sah hinreißend aus – unverändert. Nur der Raum und die Zeit – das hatte sich geändert – es galt nun herauszufinden, wieso. Meine tropfenförmigen großen Perlen betrachtete ich mit plötzlichem Interesse: Sie waren annähernd oval. Hatte diese Form Symbolcharakter – war ich in die Anderswelt gelangt, wo Symbole einen leiten – und man muss achtsam sein, dass man die Zeichenhaftigkeit und die Zusammenhänge sinnvoll deutet? Corinnas Blick galt fast immer mir; nenne ich den Blick liebevoll? Es lag etwas Amüsiertes darin – und ich spürte Zuwendung. Von einer Art, die mir bisher fremd war. Die Höflinge sind keine mir Gleichgestellten. Und mein Vater thront weit über mir. „Wie habe ich dich aus deiner Zeit hierher geholt? Ganz einfach: Kontemplation. Ich beherrsche die Kunst des materiellen Meditierens. Will sagen: Ich vergeistige Dinge und ich verdingliche Geistiges.“

Schade, da war die Frau, die ich als wertvolle Gesprächspartnerin nötig hätte, und sie driftete in den riesigen Ozean des Wahnsinns. Oder ich war diejenige, die driftete. Schnell ausloten, wie tief meine Verrücktheit war. Welche Bereiche waren schon betroffen davon? Ich rezitierte wahllos einige Verse aus Ovids Metamorphosen. Das schien mir passend – hier metamorphosierte Einiges: Der Raum um mich herum mitsamt der Zeit und ich würde mich – womöglich sprungweise – in immer neuen Inkarnationen wiederfinden – jeweils begrüßt von Varianten dieser Corinna Tudor. Ich hielt mich an meinem Stuhl fest. Der nächste Sprung könnte mich ins alte Griechenland versetzen mitten in die Olympischen Spiele und ich als einzige junge Frau inmitten all der nackten Athleten. Warum eigentlich nicht? Ich ließ den Stuhl wieder los. Corinna entnahm dem Buchregal ein Buch. „Ovids Metamorphosen. Habe ich gleich erkannt. Es wird in deinem Leben eine wichtige Rolle spielen. Die kindliche Prinzessin verwandelt sich in die kinderlose Königin.“

Das Ovale – ovum – das Ei – diese Bedeutung steckte also für mich darin – die Bedeutung war geschlüpft – ich sah Jahre der Einsamkeit vor mir – inmitten prallen Hoflebens. Mir war, als bewegte sich mein Geist ruckartig. „Ist das so etwas wie Geisterbeschwörung hier – ich bin doch kein Geist?“

„Deinen Geist frei machen von jedem Groll – als Königin bist du souveräner, wenn du erst einmal grollfrei bist.“