Umschlag

Frank Schätzing, Jahrgang 57, Studium der Kommunikationswissenschaften, beschäftigt sich mit Werbung, Chaostheorie und Zukunftsforschung. 1995 erschien im Emons Verlag sein Roman »Tod und Teufel«, der vom Start weg ein Bestseller wurde. Weitere Publikationen: »Lautlos« (2001), »Mordshunger« (1996), »Keine Angst« (Kurzkrimis, 1997), »Die dunkle Seite« (1997), »Tod und Teufel« (Das Hörbuch, 1999), »Keine Angst« (Das Hörbuch, 2001). Frank Schätzing lebt in Köln.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 1996 Hermann-Josef Emons Verlag
überarbeitete Ausgabe
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch, Berlin
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-053-7
Köln Krimi
Originalausgabe

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Liz,
für alles,
in Liebe

Ich bin in Köln geboren. Ich weiß alles
über die Stadt. Auch, daß die Domtürme
unterschiedlich hoch sind. Aber ich
kann mir nicht merken, welcher höher ist.
Seltsam. In meinen Augen sind sie völlig gleich.

Romanus Cüpper

Löwen und Tiger greifen selten von vorne an.
Sie entwickeln eine unglaubliche Geduld,
ihre Beute aus dem Hinterhalt zu belauern.
Wenn sie zuschlagen, ist es immer der passendste
aller Momente. Das Opfer hat kaum eine Chance,
ich bin versucht zu sagen, nicht die geringste!

Charles Darwin

NACHT

ENDE

Sie hatte ihm eine Gurke geschenkt mit dem Ratschlag, sie sich sonst wohin zu stecken, und war ausgezogen.

»Ein guter Kriminalist«, pflegte er zu sagen, »wird verlassen. Er muss verlassen werden. Würde er der Idee verfallen, hinter Wahnsinnigen und Mördern herzulaufen, wenn man ihn nicht verlassen hätte? Fähige Polizisten neigen zum Verlust der Freundin, die Genies sind allesamt geschieden. Schön, ich hab nur eine Freundin. Aber ich bin ein guter Polizist! Folglich wird sie mich verlassen, irgendwann, das ist die Tragik meiner Profession. Ich frage mich eigentlich nur, ob ich sie vorher schnell heiraten sollte, um hinterher ein ganz besonders genialer Polizist zu sein. Verzwickt, das Ganze! Geht mir im Kopf rum, immer wieder. Im Allgemeinen gehe ich dann was essen und sage mir, langsam Cüpper. Sechsunddreißigmal kauen, jeden Bissen. Hat alles noch Zeit.«

Es hatte keine Zeit.

Sie hatte ihm eine Gurke geschenkt, weil sie wusste, dass er keine Gurken mochte, dass es nur drei Dinge gab, die er von Herzen verabscheute: Gurken, Kümmel, Kokos.

Er war um die Gurke herumspaziert, als könne sie den Lauf der Dinge biegen, während im Nebenzimmer Blusen, Röcke, Jeans, Dessous flupp flupp in den Koffer flogen. Dann kamen die Packer, und man trug die Couch und den Glastisch und die zwei CD-Regale und die komplette Stereoanlage und noch bedenklich viel mehr an ihm vorbei nach draußen und fütterte einen schier unersättlichen Möbelwagen. Währenddessen lag die Gurke lang und dunkelgrün vor ihm und begann ihn auf merkwürdige Weise zu faszinieren, bis einer der Männer sie kurzerhand auf die Fensterbank legte, um das Schränkchen wegzutragen, das ihm, wie er sich mit einem Mal entsann, auch nicht gehörte. Nichts gehörte ihm.

Bis auf die Küche.

Er unterbrach seinen Spaziergang entlang der Promenade und blinzelte durch den stärker werdenden Regen hinaus auf den Rhein. Das Wasser lief ihm in den Nacken.

Gut zwei Stunden waren vergangen, seit er losgezogen war, immer den Fluss entlang, vom Dom hoch Richtung Rodenkirchen, kehrt und wieder zur Bastei, den Wind als Gegner und als Freund, nass wie ein Lurch. Lastkähne zogen durchs kräuselige Schwarz. Wie urzeitliche Krokodile, dachte er, was ihn prompt daran erinnerte, dass sie auch die Dias von der Amazonasfahrt mitgenommen hatte, alle fünf Kästen, und den Projektor und die Leinwand obendrein.

Aber er brauchte keine Bilder, um der Wirklichkeit zu vertrauen. Er hatte immer noch die Gurke. Mitgenommen auf diese nächtliche Streife. Nur, dass er diesmal einer Flüchtigen auf der Spur war, die er nicht würde verhaften können. Musste sie laufen lassen.

Hm.

Warum die Gurke eigentlich nicht essen?

Aber ja, mach aus der Niederlage einen Sieg! Streiche die Gurke von der Liste deiner Animositäten, widme sie der Ausbrecherin, die sich nicht geschämt hat, dein Herz noch obendrauf zu packen auf den Berg gestohlener Erinnerungen. Sollst sie dir sonst wohin stecken, was? Allerdings, mein Schatz! Ab heute sei die Gurke rehabilitiert, oft und gern verschlungen, liebevoll verdaut, eine hochgeschätzte Kostbarkeit im Fundus all der Rezepturen, die drei Meter Ikea-Regal gefüllt hatten, bis dem großen Raub auch das Regal zum Opfer gefallen war.

Marodeurin!

Er beschnupperte die Gurke, zögerte und biss hinein.

Ein Genuss!

Wie hatte er nur jemals glauben können – mhhmmmm!

Diese hier, das war kein Treibhausklon. Sicher vom Gemüsemann auf der Neusser Straße, dessen Rasierwasser der Duft frischen, feuchten Basilikums war, konspirativ herübergereicht wie eine Flasche guten Weines. Hätte sie ihm eine solch phänomenale Gurke geschenkt, wenn sie ihn nicht immer noch liebte?

Knack, spritzender Saft im Mund. Mit jedem Stück fühlte er die Lebensgeister in sich zurückfließen, atmete tief durch, biss ab, verfiel in einen Fressrausch, ließ den Regen Beifall prasseln, bis ein ungeheurer Blitz die Schwärze jäh zerriss und krachend niederging, direkt über dem Dom.

Für die Dauer eines Augenblicks war Köln in weiße Gischt getaucht.

Weltuntergang.

Dann wieder gleichmäßig niederströmender Frieden.

Romanus Cüpper grinste den Rest seiner Gurke an, schüttelte das Wasser aus den Haaren und ging heim.

Es war der 23. Juni.

Mitternacht.

BAZAAR

Der Regen wurde dichter.

Schritte schürften über Treppenmarmor, unregelmäßig, aber beharrlich dem fünften Stock zustrebend. Der Urheber passierte idyllische Szenen hinter verschlossenen Türen. Blaubeleuchtete Familien vor Fernsehapparaten. Kinder, brav zu Bett gegangen, Licht aus, Küsschen, Decke übern Kopf, Nintendo. Alte Paare, einander in den Wahnsinn schnarchend. Unparteiisch nur das Treppenhaus, ein Niemandsland. – Und nun ein Jemand, der sich anschlich in der Anonymität der Nacht.

Der Jemand blieb stehen und keuchte. Vor ihm eine Wohnungstür, einen Spaltbreit geöffnet.

Regungslos verharrte die Gestalt, streckte dann zögernd eine Hand aus, bis die Fingerspitzen das lackierte Holz berührten, um den Kontakt gleich wieder zu verlieren. Mit kaum wahrnehmbarem Rauschen schwang die Türe weiter auf und gab den Blick frei in einen anderen Zustand der Dunkelheit, wie er nur bewohnten Räumen zu eigen ist, ein Schwarz voller Andeutungen, Körperlichkeiten und wechselnder Standorte, eine vertraute, fremde Welt.

Wieder erstarrte die Gestalt. Sie schien zu überlegen. Ihr Keuchen wurde heftiger.

Dann setzte sie sich langsam in Bewegung, stieß die Tür ganz auf, drang ein und verlor sich in der Lichtlosigkeit des dahinterliegenden Raumes, als hätte es sie nie gegeben.

CÜPPER

Fast zu Hause.

Tausend Gedanken führten in Cüppers Schädel ein chaotisches Dasein, während sich der Magen unbeeindruckt an die Arbeit machte, Säure produzierte, Enzyme freisetzte, Moleküle spaltete, Nährstoffe weiterleitete und den Gurkenrest im Darmsystem diskret beseitigte.

Wie immer der perfekte Mord.

Cüppers Kopf versuchte unterdessen, die Frau verschwinden zu lassen, mit der er die letzten sechs Jahre verbracht hatte, was sich als wesentlich schwieriger erwies.

Ich sollte mich betrinken, dachte er schließlich, weil ihm partout nichts Besseres einfiel. Zählen darf nur der Alkoholgehalt. Kein Genuss! Jeder, der fernsieht oder Bücher liest, weiß, dass verlassene Männer betrunken durch die Straßen irren, was in den seltensten Fällen auf einen Brunello di Montalcino oder einen Mouton Rothschild zurückzuführen ist.

Aber er wollte sich nicht betrinken.

Halt die Spielregeln ein, schalt er sich. Die Sache wird dir doch wohl einen ordentlichen Suff wert sein.

Also gut, betrinken. Die Tankstelle in der Riehler Straße, nah genug, um den Gedanken ernsthaft in Erwägung zu ziehen, bot für wenig Geld einen so sündhaft schlechten Weißen, dass jeder Trennungsschmerz im anschließenden Sodbrennen rückstandslos zersetzt würde.

Trennungsschmerz? Pah!

Nein, er hatte Wut, und die verdiente etwas anderes. Beispielsweise könnte man sich in ein Taxi setzen, die Kyffhäuserstraße ansteuern und einen Besuch im La Société abstatten, das über den Vorzug eines respektablen Weinkellers gebot. Es mochte gelingen, dem Patron die eine oder andere Flasche Bordeaux abzuschwatzen. Wozu hatte man Freunde?

Dann fiel ihm ein, dass er noch einen 89er Pio Cesare im Keller hatte. Aber der würde bis morgen warten müssen. Pio Cesare schmeckte Cüpper am besten zu Geschnäbeltem. Also früh in die Stadt, auf der Apostelnstraße eine Ente kaufen, eine schöne französische Flugente mit Hals und Arsch und Innereien. Dann die ganze Ente ganz alleine fressen, ohne die Frau, um derentwegen er sich fast mit Blanc de Blanc vergiftet hätte.

Doch nicht Cüpper.

Bei dem Gedanken an die Ente lief ihm mehr Wasser im Mund zusammen als durch die Haare.

Eine Ente, ja! Und vorher ein Salat. Mit Gurke.

BAZAAR

Schramm konnte nicht schlafen.

Am Nachmittag hatte ihn der Fabrikant aus München angerufen und Konkurs vermeldet. Die siebzehn Seidenhemden könne er nun leider nicht mehr liefern. Die zehn Mäntel auch nicht, von den bestellten vierzehn Sakkos immerhin sechs, zwei davon mit kleinen Fehlern, wer sei schon perfekt?

Schramm hatte sich unter Einhaltung der gängigen Höflichkeitsfloskeln nach seinem Geld erkundigt, als gäbe es auch nur den Hauch einer Chance, es wiederzusehen.

Das Geld? Ja, das sei weg.

Wo es denn sei?

Na, weg. Der Fabrikant war sehr gelassen. Schließlich war er pleite.

Schramm war in seinem Laden hin- und hergelaufen und hatte sich verflucht. Das war mittlerweile an der Tagesordnung. Er verfluchte sich, wenn er die Preise auf ein Level runtersetzen musste, das Leute in sein Geschäft lockte, die er dort nicht sehen wollte. Er wechselte viermal täglich die Krawatte und verwickelte seine Kunden in Gespräche über den Vormarsch der spanischen Avantgarde, bis er sich selber nicht mehr hören mochte. Er tat verständnisvoll, wenn sich die Leute mit plötzlichem Blick auf die Uhr zum Bäcker empfahlen und versicherten, in zehn Minuten wieder da zu sein und zu kaufen, was sie nicht mal hatten anprobieren wollen. Allmählich wurde sein Gesicht so grau wie sein Haar, das er einmal wöchentlich nachschneiden ließ. Er stellte fest, dass man in Maßanzügen nicht die Schultern hängen lassen sollte, weil das blöde aussieht. Durch die Scheiben seines großen, straßenwärts gewandten Schaufensters studierte er mit eingefrorenem Lächeln die Vorbeieilenden und suchte nach Herren, die es auszustatten gäbe, egal, mit was, Hauptsache, sie zahlten.

Und er verfluchte sich selbst.

Herrenausstatter! Warum war er nicht Friseur geworden? Haare wuchsen immer.

Wütend rieb er sich die Augen, legte sein Kopfkissen von rechts nach links, machte einen Kniff rein, drückte ihn wieder raus, strampelte die Decke weg, drehte sich auf den Rücken, auf die Seite, auf den Bauch, stand auf und aß ein Käsebrot, wozu er Wodka trank. Danach rebellierte sein Magen, und er musste raus auf die Terrasse. Es war kurz nach Mitternacht.

Heftiger Regen schlug ihm ins Gesicht und klatschte auf das Glasdach des Bazaar gleich unter ihm.

Wie passend, dachte er. Wie nett!

Im Stakkato begann er, seine Wohnung zu durchmessen, auf und ab. Immer wieder rechnete er nach, was ihn die Katastrophe kosten würde. Immer wieder waren es mindestens zwei Nullen zu viel. Ermattet ließ er sich gegen die Wohnungstür fallen. Es war alles so anstrengend. Die Welt war ungerecht. Er stand bis zu den Knöcheln im Verderben, und die Barneck über ihm ersoff im Geld. Inka von Barneck, reich und schön! – Schramm knirschte mit den Zähnen. Er hätte gute Lust gehabt, jetzt zu ihr hochzugehen! Es ihr auf einem Bett aus Kontoauszügen zu besorgen, von denen jeder seine Zukunft dreimal abgesichert hätte, einen Ring an ihre Hand zu stecken und von ihr zu leben, bis ihm vor Überfluss die Knöpfe von der Weste sprangen.

Aber sie war verheiratet. Und er hatte nie ein Wort mit ihr gewechselt. Denn Schramm war leider nicht der Mutigste.

Und das machte ihn noch fertiger als die Finanzen.

Die Gestalt verharrte und sah sich in der dunklen Wohnung um. Ihre Hände tasteten hin und her wie Ameisenfühler und sanken dann herab.

Einiges war nicht so, wie sie es erwartet hatte.

Unentschlossen wandte sie den Kopf zurück zu der weit geöffneten Wohnungstür, erahnte im Dunkel den Lichtschalter, streckte einen Arm aus und hielt wieder inne.

Leises, zischendes Keuchen kam über ihre Lippen.

Nein, kein Licht. Das Feuerzeug!

Trübe, kleine Flamme.

Aber sie würde reichen.

CÜPPER

Dann eben nicht.

Durch den Regen taumeln, sich betrinken und erkälten, allzu theatralisch, dämlich. Lieber schlafen gehen in der besten aller Wohnungen, hundertzwanzig Quadratmeter Altbau, Theodor-Heuss-Ring, Blick auf den Ententeich.

Seine Wohnung.

Im Grunde war er frei. Auch wenn neuerdings jemand fehlte, von den Möbeln ganz zu schweigen. Hätte sie ihn auch verlassen, wenn er in einer Bücherei gearbeitet hätte? Oder als Metzger? Oder als Museumsdiener oder hinter einer Bar? War es überhaupt der Job gewesen?

Ein guter Polizist ist einsam. Guter Bulle. Braver Bulle.

Er schüttelte das Wasser aus den Haaren und ging durch das fast leere Wohnzimmer in die Küche. Na und? Das hier war sein Reich. Sollte sie ruhig alles haben, was sie wollte. Nur nicht den Kühlschrank, nicht den Herd, den Grill, die Tiefkühltruhe, nicht die Marmorarbeitsfläche und die teuren Messer und die Töpfe, die ganze Pracht und Herrlichkeit. Ansonsten alles!

Ach nein. Den Esstisch hätte er schon gern behalten. Aber es war ihrer. Sie hatte ihn damals mitgebracht. Das Pfand dafür war Liebe gewesen, und die Liebe war erloschen, ausbezahlt, zurückgegeben.

Cüpper ließ sich gegen den Herd sinken. Sein Blick schweifte über die stattliche Kompanie der Gewürzgläser in ihren Halterungen an der Wand.

Wie gerne hatte er für sie gekocht.

Und wie hatte sie genießen können! Ganze Abende hatten sie damit verbracht, sich gegenseitig Köstlichkeiten in den Mund zu schieben, hatten sich am bloßen Anblick der Zutaten berauscht, den Staub von alten Flaschenhälsen geblasen, einander Etiketten vorgelesen, und mit jedem Teller, jedem Glas war in ihren Augen ein Abbild dessen erschienen, was das Paradies sein musste, wie er es sich schon damals in der Schule vorgestellt hatte, als etwas primär Essbares, rundum Köstliches. Er hätte ihr stundenlang zusehen können, und irgendwann ertappte er sich bei dem Gedanken, selber gar nichts mehr zu brauchen, einfach der Chronist ihrer Ekstase sein und glücklich neben ihr verhungern zu dürfen. Vielleicht war das der Punkt gewesen, an dem er sich die Augen gerieben hatte und plötzlich zu der Überzeugung gelangt war, sich wieder mehr um seinen eigenen Genuss kümmern zu müssen.

Das hatte er dann auch getan.

Und übertrieben.

Aber zog man deshalb gleich aus?

Cüpper zuckte die Achseln. Müßig, das Ganze.

Todmüde ging er los, eine Zahnbürste zu suchen. Falls noch eine da war.

BAZAAR

Schramm hörte den Schrei, bevor er ihn begriff. Dann ein Heulen: »Gott! Oh Gott! Oh Gott!!!«

Sein Herzschlag setzte aus. Alles Blut wich aus seinem Hirn. Unfähig nachzudenken, festgefroren an der Tür, elektrisiert bis in die Fingerspitzen, stand er da und biss sich auf die Zunge.

Da, noch etwas! Schwach. Ein Poltern, oder eher … nein, jetzt war alles still. Nichts mehr.

Schramm schloss die Augen und kämpfte gegen die Übelkeit an.

Gleichmäßig prasselte der Regen an die Fenster.

Er lauschte in die plötzliche Stille hinein, während es in seinen Beinen zu kribbeln begann. Die Schreie waren von oben gekommen, aus dem fünften Stock, ebenso wie das Poltern – vorausgesetzt, seine aufgeschreckten Sinne hatten ihm keinen Streich gespielt. Alles war plötzlich unwichtig geworden, der Fabrikant, das Geld, nur die Angst war wirklich.

Im nächsten Augenblick hasteten Schritte durch den Hausflur, laut und polternd, runter aus dem Fünften, geradewegs auf seine Wohnung zu und …

Schramm wirbelte herum. Seine Finger verfehlten die Kette an der Tür, suchten danach in panischer Hast, griffen ins Leere.

… vorbei, weiter die Treppe hinunter, als sei der Teufel hinter ihnen her, wurden leiser, verklangen. Unten ging die Haustür.

Schramm legte das Gesicht gegen die kühle Oberfläche der Tür und atmete tief durch.

Etwas war passiert. Er fühlte es. Er hatte einen Sensor für alles Furchteinflößende, selbst wenn er durch Mauern davon getrennt war.

Inka von Barneck …

Sie bewohnte die komplette obere Etage. Allein, soviel er wusste. War sie so überstürzt die Treppe hinuntergelaufen? Hatte sie geschrien?

Seine Knie begannen zu zittern.

»Verdammt!«, presste er hervor. »Verdammt! Verdammt!« Das Fluchen wirkte, als schütte jemand Eiswasser über sein Hirn, so dass er wieder klarer denken konnte. Wenn ihr nun was passiert war?

Er musste nachsehen.

Einbrecher vielleicht –

Aber ja, es war einer eingebrochen! Sie hatte ihn entdeckt, geschrien, er war abgehauen. Hatte sie niedergeschlagen – dieses Poltern –, und dann raus, so schnell es ging. Der Kerl war also weg. Keine Gefahr.

Zögernd öffnete Schramm die Wohnungstür und blickte hinaus in den dunklen Hausflur.

Hatte sich da was bewegt?

Nein, nichts. Nur Hirngespinste.

Ohne einen Fuß über die Schwelle zu setzen, tastete er nach dem Lichtschalter draußen neben der Klingel. Die Leuchtstoffröhren sprangen summend an, der Hausflur lag in weißes Licht getaucht, Stufen, Geländer, alles an seinem Platz. Auf Zehenspitzen ging er bis zum Treppenabsatz, aber die Zehen weigerten sich plötzlich vehement, ihn weiterzutragen. Vorsichtig beugte er den Oberkörper über das Geländer, um nach oben schauen zu können. Nichts war da, was er nicht schon kannte.

»Frau von Barneck?«, flüsterte er.

Keine Antwort. Klar, er war zu leise. Aber lauter traute er sich nicht.

»Frau von Barneck?«

Er würde raufgehen müssen. Wie er den Gedanken hasste. Irgendwas da oben war aus dem Ruder gelaufen. Etwas hatte Einzug gehalten von den Dingen, die sonst nur in den Nachrichten kamen, die immer nur den anderen passierten, bitte nur den anderen!

Da oben wohnte die Angst. Seine Angst.

Rauf mit dir, schalt er sich. Du willst sie doch haben! Nur Helden gewinnen.

Mit ein paar schnellen Schritten war er oben, fast oben, denn auf dem letzten Meter wäre er beinahe gestolpert. Die Wohnungstür stand weit offen.

Er hielt inne.

»Frau von Barneck?«

Aus der Dunkelheit wehte ihm ein kühler Lufthauch entgegen, die einzige Antwort.

Wildentschlossen nahm er die letzten Stufen und umklammerte mit beiden Händen den Türrahmen. Jetzt, als er fast in der Wohnung war, zeichneten sich schwach Konturen darin ab, erhellt vom Schein der Flurbeleuchtung. Er trat ein, sah sich im Halbdunkel um und suchte nach einem Lichtschalter. Sein Blick streifte über den Boden, fiel auf die Hand …

Die Hand.

Im selben Augenblick erlosch die Flurbeleuchtung.

»Oh Mist«, wimmerte Schramm.

Der Übergang war zu krass gewesen, jetzt sah er überhaupt nichts mehr. Jemand lag auf dem Fußboden, gleich neben der Wohnungstür, soviel wusste er. Aber wo war dieser gottverdammte Schalter?

Panik.

Er ballte die Fäuste und zwang sie in einen Winkel seiner Magengrube zurück, setzte einen Fuß vor den anderen wie ein Seiltänzer und tastete sich zum Türrahmen, wo er den Schalter vermutete. Irgendwie hatte er das Gefühl, zu weit links zu sein. Sein Fuß stieß gegen etwas Weiches, und er fuhr zurück.

Es war eine Frauenhand gewesen. Glaubte er zumindest.

Schramm begann, eine zittrige Melodie zu summen. Er ging in die Hocke und bekam ein Büschel Haare zu fassen. Langes Haar, wie es die Barneck trug.

Keine Regung. Er fuhr mit den Fingern durch die Strähnen, erreichte seltsam kaltes Fleisch, den Nacken. Glitt ab. Gewebe teilte sich, und seine Hand tauchte ein in etwas Feuchtes, Klebriges.

Tief. Zu tief.

Jetzt war es Schramm, der schrie.

NACHTSCHICHT

»Und dazu ein Dutzend fein gehackte Schalotten.«

»Ich denke, Zwiebeln?«

»Mann, Rabenhorst! Sie lernen’s nie. Zwiebeln vorher für die Füllung. Die Schalotten streut man drüber, wenn die Entenbrust im Bräter liegt.«

»Dann kommt der Rotwein?«

»Ja, und Blut. Früher hatten sie für so was eine Spezialpresse, wo das ganze Gerippe reinkam, um den letzten Tropfen rauszuquetschen. Man denkt, so eine Ente hat viel Blut, von wegen.«

»Kein Wunder. Läuft ja aus, wenn man den Kopf abhaut.«

»Nichts läuft aus, das ist nämlich der Trick. Die Ente muss all ihr Blut behalten. Also erstickt man sie.«

»Was, die Ente wird erstickt?«

»Richtig«, nickte Cüpper.

Rabenhorst starrte seinen Chef aus runden Augen an. Mit einem Schnabel, fand Cüpper, hätte er ausgesehen wie die Ente im Bewusstsein ihres letzten Lebewohls. Schweigen entstand, dann senkten beide den Blick. Rabenhorst artikulierte sich in einer Kaskade von Räuspern und fand endlich seine Sprache wieder.

»Kein schöner Tod.«

»Nein«, bestätigte Cüpper.

Vor ihnen lag der Körper einer Frau. Die Polizisten hatten sie herumgedreht, so dass die Augen einen Punkt im Irgendwo fixierten. Schwarzes Haar umfloss ein ebenso schönes wie kalkweißes Gesicht. Darunter hatte sich bis vor kurzem noch ein makelloser, schlanker Hals erstreckt. Cüpper dachte an Marie Antoinette. Der Mörder hatte ihr die Kehle durchgeschnitten, dass es einer versuchten Guillotinierung gleichkam.

Sie war leer bis auf den letzten Tropfen. Drumherum sah es aus wie in einem Schlachthaus.

»Ist die arme Seele inzwischen eigentlich vernehmungsfähig?«, fragte Cüpper.

»Wer, Schramm?«

»Wer sonst?«

»Ich geh mal schauen.«

Cüpper gähnte. Es war 1.12 Uhr. Er hatte kaum im Bett gelegen, als das Telefon schellte. Die frohe Botschaft lautete, dass ein hysterisch schreiender Mann im fünften Stock des Bazaar de Cologne über eine Leiche gestolpert war. Seltsam, dachte Cüpper. In Büchern und Filmen sind es immer die Frauen, denen angesichts irgendwelcher Ungeheuer, Übeltäter oder Leichen spitze Kreischer entfahren. Beim Weglaufen stolpern sie, kreischen wieder und müssen tollkühn gerettet werden, was der Held natürlich ungeachtet aller Bedrohung auf sich nimmt. Hievt man sie auf Pferde, speziell im Western, fallen sie wieder runter, selbstverständlich kreischend. Prügeln sich Polizist und Bösewicht im Krimi, stehen sie daneben und schaffen es, so lange zu kreischen, bis der blutüberströmte Gute den blutüberströmten Bösen endlich alle gemacht hat.

Cüpper schüttelte den Kopf. Bis heute hatte er viele beherzte Frauen kennen gelernt. Männer hingegen knatschten wie die Kinder.

»Schramm, Herr Cüpper.«

»Ah, Schramm.«

Schramm war nicht mal vierzig, sah aber mindestens so tot aus wie die Frau da auf dem Boden. Seine Augen waren rotgerändert.

»Es ist furchtbar«, flüsterte er.

»Sicher ist es furchtbar«, sagte Cüpper. »Wollen Sie eine Zigarette?«

»Nein«, jammerte Schramm.

»Alle nervösen Leute wollen eine Zigarette.«

»Ich rauche nicht.«

»Lobesam. Wie gut kannten Sie Inka von Barneck?«

Schramms Gesichtsausdruck verriet Cüpper auf Anhieb, dass er sie wohl gerne besser gekannt hätte. Man habe sich verschiedene Male im Treppenhaus gesehen. Auch im Fahrstuhl.

»Und Sie haben nie mit ihr gesprochen?«

»Ich habe … ich wollte …« Schramms Unterkiefer bebte.

»Haben Sie sie umgebracht?«

Der Unterkiefer kam zur Ruhe.

»Wie bitte?«

»Nein, haben Sie nicht«, konstatierte Cüpper. »Entschuldigen Sie, aber es gibt Reaktionen, die man nur durch wohlgezielte kleine Schocks erhält.«

»Mir reicht’s für heute mit den Schocks!«, schrie Schramm, um gleich darauf in sich zusammenzufallen. Cüpper musste wieder gähnen und gab Rabenhorst ein Zeichen, den Mann nach draußen zu bringen. Todmüde begann er, das Apartment zu inspizieren, in dem die Leute von der Spurensicherung schon emsig nach Godzillas Fußabdrücken suchten.

Inka von Barnecks Wohnung lag im obersten Stockwerk des Bazaar. Sie konnte von zwei Seiten begangen werden, vom Hausflur und über die Terrasse, was allerdings eine Kletterpartie erfordert hätte. Gleich darunter wohnte Schramm, und der war’s nicht gewesen. Nicht, dass er ein Alibi gehabt hätte oder keinen Grund. Er war es einfach nicht gewesen, dafür reichte es, ihm ins Gesicht zu sehen.

Cüpper warf einen Blick nach draußen. Die Terrasse war mit Holz geplankt. Seit einer halben Stunde regnete es nicht mehr, aber der Boden schimmerte noch feucht. Hin und wieder brach der Mond durch die Wolkendecke und spiegelte sich in kleinen Pfützen, wo die Planken ausgetreten waren oder schief zusammensteckten.

Wäre der Mörder über die Dächer gekommen, hätte die Terrassentür offen stehen müssen. Dass sie jetzt verriegelt war, besagte gar nichts. Er hätte sie zuziehen können, nachdem er einmal drin war. Trotzdem unwahrscheinlich. Nirgendwo fanden sich Spuren von Nässe oder Schmutz, und es hatte fast den ganzen Tag gegossen. Um sauber hier hereinzukommen, hätte der Mörder schweben müssen. Unübliche Methode.

Cüppers Gedanken strebten Richtung Tatort, also ging er zurück in die Diele. Annähernd quadratisch, gut vier mal fünf Meter, gleich zur Rechten eine Garderobe, wenn man reinkam. Sparsam und geschmackvoll eingerichtet wie überhaupt die ganze Wohnung.

Sie hatten die Leiche neben der Tür gefunden, gekrümmt, als hätte Inka von Barneck mit letzter Kraft versucht, nach draußen auf den Flur zu kriechen. Das war natürlich Unsinn, so wie sie zugerichtet war. Inka von Barnecks letzte unbewusste Handlung hatte offenbar darin bestanden, die Hände auszustrecken und dann in die Garderobe zu sinken. Ihre linke Hand hatte sich in einen Blazer gekrallt und ihn heruntergerissen. Sie war aufs Gesicht gefallen, vermutlich schon tot, bevor sie aufschlug. So, wie der Sturz erfolgt war, hatte der Mörder sie von hinten an den Haaren gepackt, ihren Kopf zurückgebogen, das Messer hochgerissen – und Schnitt.

Dann allerdings hatte er etwas getan, was nicht so recht zu einem talentierten Schurken passen wollte.

Er war gegangen, ohne die Waffe mitzunehmen. Sie lag neben dem Opfer, und das war Cüpper gar nicht recht. Derlei Ungereimtheiten bedeuteten im Allgemeinen, es entweder mit einem ausgemachten Dummkopf oder einem ganz besonders raffinierten Hund zu tun zu haben, und raffinierte Hunde machten nichts als Ärger.

Und noch etwas war seltsam an der Diele. Etwa vier Meter von der Leiche, fast im Durchgang zum Wohnzimmer, war ein antikes Dreibein umgefallen. Das Tischchen mit seinen hübschen Intarsien schien Cüpper eine ebenso teure wie wackelige Angelegenheit zu sein, trotzdem musste man schon heftig damit in Berührung kommen, um es umzukippen. Scherben lagen überall verstreut, wahrscheinlich Gläser, die auf dem Tisch gestanden hatten und beim Sturz zu Bruch gegangen waren. Leise fluchend kroch einer von der Spurensicherung durch den Schlamassel und versuchte, sich nicht die Finger zu zerschneiden. In seinem Plastikanzug mit der Haube und den weißen Handschuhen erinnerte er Cüpper an ein riesiges Insekt.

Er ging neben dem Insekt in die Hocke.

»Irgendwas Spezielles?«

»Blut an den Scherben«, sagte das Insekt und balancierte Glas in ein transparentes Plastiktütchen, um es sogleich mit einer Aufschrift zu versehen. »Manchmal komme ich mir vor wie irgend so’n Archäologe. Warum können wir nicht Freudenschreie ausstoßen, alles zusammenkleben und es dem Römisch-Germanischen Museum als vorsintflutliche Vase verkaufen? Wir bekämen viel Geld und müssten nicht mehr diese Scheiße machen.«

»Wir würden andere Scheiße machen. Was ist mit dem Blut?«

»An drei Scherben, ziemlich wenig. Bisschen was auf dem Teppichboden. Meines Erachtens ist da jemand mit der Hand rein, als der ganze Mist ins Wanken kam.«

»Sonst irgendwelche Blutspuren zwischen dem Tisch und der Leiche?«

»Nichts. Oder doch! Krüger hat was gefunden.«

Cüpper kam auf die Beine, während das Insekt mit spitzen Fingern weiter in dem Scherbenhaufen wühlte. Die Muskeln seiner Kiefer traten hart hervor. Armer Kerl. Es gab keine Routine in dem Job, allenfalls konnte man versuchen, so weit wie möglich abzustumpfen. Letzten Endes blieb ein aufgeschlitzter Hals ein aufgeschlitzter Hals. Die meisten Mägen pflegten sich umzudrehen angesichts der phantasievoll zugerichteten Toten, deren Bekanntschaft man von Berufs wegen machte. Cüpper war zu seiner immerwährenden Verwunderung Herr eines Magens, der in drastischen Fällen Hunger signalisierte.

Krüger hatte sich in eine Stelle am Türrahmen verliebt, so dass er sich gar nicht erst zu Cüpper umdrehte.

»Blut«, sagte er.

»Viel?«

»Nein.« Krüger war bekannt für erschöpfende Auskünfte.

»Irgendwas Besonderes, außer, dass Blut am Türrahmen nichts verloren hat?«

»Verschmiert. Zwei Schmierer.«

»Könnte also von einer Hand stammen.«

»Ja.«

»Mensch, Krüger. Quasseln Sie mich nicht voll. Sie sind ja völlig außer Atem.«

»Ha.«

Krüger hatte gelacht. Die Nacht versprach in jeder Hinsicht außergewöhnlich zu werden.

Rabenhorst kam angelaufen und zog Schramm hinter sich her, der mittlerweile einen Anflug von Farbe aufwies und Beflissenheit im Blick trug.

»Ich würde jetzt gerne meine Aussage machen, wenn Sie gestatten.«

»Fein«, freute sich Cüpper. »Wollen Sie einen Schnaps?«

»Ah, nein … das heißt …«

»Sie müssen nicht.«

»Oh, ich … wissen Sie, ich dachte nur, das sei hier dienstlich, und ich brauche schließlich einen klaren Kopf, und Sie müssen meine Aussage zu Protokoll nehmen und …«

»Mein lieber Herr Schramm.« Cüpper legte ihm sanft die Hände auf die Schultern. »Sie müssen gar nichts. Aber wenn Sie sich entsprechend fühlen, gehen wir zu Ihnen runter. In Ihrer Wohnung sind Sie besser aufgehoben. Sie nehmen einen Cognac oder was Sie trinken wollen auf den Schreck, und dann erzählen Sie in aller Ruhe, was passiert ist. Mir geben Sie ein Wasser. Aber bitte einen ordentlichen Jahrgang.«

Schramms Mundwinkel zuckten leicht nach oben. Er entspannte sich.

Unten brauchte Schramm nicht einen Cognac, sondern drei. Dann war der Bann gebrochen, was ihn zu ausgedehnten Schilderungen seiner geschäftlichen Situation und persönlichen Verzweiflung trieb, gipfelnd in jener schlaflosen und verhängnisvollen Nacht.

»Sie schrie ›Gott!‹. Noch mal ›Oh Gott!‹. Und noch mal, glaube ich.« Schramm erschauderte. »Ja, dreimal nacheinander. Dann war alles still.«

»Und weiter?« Cüpper nippte an seinem Wasser. Zu salzig, zu viel Kohlensäure.

»Dann?« Schramm legte die Stirn in Falten. »Da war noch was anderes. Aber erst später. Ein Rumpeln, als ob da was verrückt wird oder …«

»Umfällt?«, setzte Rabenhorst nach.

»Rabenhorst, Sie sind geschwätzig», mäkelte Cüpper. «Kommen Sie, Schramm, was war das für ein Rumpeln?«

»Irgendeines halt. Ich weiß nicht recht. Es war zu leise.«

»Aber das Schreien nicht?«

Schramm erbleichte wieder und beugte sich verschwörerisch vor.

»Wie hier in meiner Wohnung, sag ich Ihnen. Wie direkt in meiner gottverdammten Wohnung! Als hätte sie neben mir gestanden.«

»Wer? Frau von Barneck?«

Schramm hob verwirrt die Brauen. »Ja. Natürlich. Wer denn sonst?«

»Hm. Okay, es hat gerumpelt. Wie viel Zeit war da vergangen seit dem Schrei?«

»Vier, fünf Sekunden. Mir kam alles vor wie eine Ewigkeit, aber bei näherer Betrachtung … «

»Was dann?«

»Naja. Es vergingen wieder einige Sekunden. – Und plötzlich stürmt da einer die Treppe runter, als sei der Teufel hinter ihm her, rennt raus auf die Straße und –«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Hab’s gehört. Die Haustür ging.«

»Ah, die Tür. Dann sind Sie raufgegangen, mutig und entschlossen, und es war offen.«

»Ja, und drinnen alles dunkel und –«

»Besten Dank. Ab da sind wir im Bilde. Ich schlage also vor, Sie gehen schlafen.«

»Schlafen?«

Cüpper stand auf. »Ich muss Sie bitten, sich zu unserer Verfügung zu halten, und das können Sie genauso gut im Bett. Was mich betrifft, ich kann nach Horrorfilmen immer ausgezeichnet schlafen.«

»Aber das war kein Film.«

Cüpper lächelte. »Doch, Herr Schramm. Es war ein Film. Nur ein bisschen Kino. Rabenhorst, bei Fuß!«

Mittlerweile war der Pathologe vom Dienst eingetroffen, legte sein Jackett ab, untersuchte die Leiche, beschied die Todeszeit auf irgendeinen Zeitpunkt zwischen neun und zwölf, schnäuzte sich geräuschvoll, zog die Jacke wieder an und fuhr nach Hause. Rabenhorst hängte sich ans Telefon, um über die Tote rauszukriegen, was um diese Zeit halt rauszukriegen war. Viel würde es nicht sein. Cüpper runzelte die Stirn und ging ins Wohnzimmer, wo er eine Schale ausnehmend schöner Äpfel gesehen hatte. Was sollte aus den Äpfeln werden? Im Grunde war es nicht erlaubt, aber er nahm trotzdem einen.

Der Apfel schmeckte köstlich. Nur seine Erinnerungen schmeckten nach Gurke.

Sie war ausgezogen. Einfach so.

»Rabenhorst!«, brüllte er und warf den angebissenen Apfel zurück in die Schale. Seine wohlverdiente Müdigkeit war restlos verflogen. Rabenhorst eilte herbei.

»Inka von Barneck …«, begann er.

»Weiß ich.«

»Eins neunundsechzig, schwarze Haare …«

»Weiß ich auch. Erzählen Sie was Neues. Wofür schickt man Sie ans Telefon?«

»… dreiundvierzig Jahre alt, keine besonderen Kennzeichen. Das heißt, bis vor kurzem nicht. So, jetzt kommt’s! Ehefrau des Millionärs und Maklers Fritz von Barneck.«

»Millionär und Makler?«

»In der Reihenfolge.«

Cüpper pfiff durch die Zähne. »Mensch! Ich habe dauernd überlegt, woher ich diesen Namen kenne. Von Barneck, aber natürlich! Macht der nicht gerade Furore mit irgendwelchen Sanierungsplänen für den Eigelstein?«

»Ja, stand in der Zeitung.«

»Allerhand. Was tut sie hier? Die von Barnecks werden kaum im Bazaar de Cologne leben.«

»Sie hat die Wohnung vor knapp zwei Jahren gekauft, auf ihren Namen. Keine Ahnung, ob sie immer hier gewohnt hat oder nur sporadisch kam. Das Haus der von Barnecks ist ein ziemlich großer Kasten in Marienburg.«

»Wo sonst«, bemerkte Krüger, der seine Ausgrabungen ins Wohnzimmer verlegt hatte, bewehrt mit seinem Köfferchen.

»Seien Sie nicht so fürchterlich beeindruckt«, sagte Cüpper. »Marienburg ist nichts weiter als ein exklusiver Schuldenberg. Wer richtig Geld hat, wohnt in Bonn.«

»Dann ist von Barneck die Ausnahme«, konstatierte Rabenhorst. »Er ist so reich, dass man’s bis nach Nippes riechen kann.«

»Sonst noch was?«

»Erst mal nicht.«

»Schön. Wollen Sie einen Apfel?«

»Chef! Sie sollen nicht immer anderer Leute Sachen aufessen.«

»Die Leute sind tot. Die Äpfel sind gut. Machen Sie kein Geschrei, sie wurde nicht von einem Granny Smith ermordet. Haben Sie bei von Barneck angerufen?«

»Nein. Übrigens sind die Äpfel runzlig.«

»Da sieht man, dass Sie keine Ahnung haben. Die besten Äpfel sind die kleinen und verschrumpelten. Also fahren wir in Gottes Namen nach Marienburg.«

»Hat das nicht bis morgen Zeit?«

»Nein. Das hat nicht bis morgen Zeit.«

Rabenhorst zuckte ergeben die Schultern. Schon fast im Hausflur hielt er inne, schaute unschlüssig drein und machte auf dem Absatz wieder kehrt. Als er zurückkam, kaute er mit vollen Backen.

Eines musste man Cüpper lassen. Er kannte sich aus.

DIE VILLA

Sie fuhren über den Ring zum Chlodwigplatz und bogen in die Bonner Straße ein. Hier fühlte man sich halbwegs noch als Städter. Über den Gürtel, dann in die Marienburger Straße, und die Welt sah völlig anders aus. Dunkel und verschwiegen säumten Herrenhäuser den Weg, scheu zurückgesetzt, als wollten sie Distanz halten zu Hinz und Kunz, die da vorüberfuhren. Hinz und Kunz wie Rabenhorst und Cüpper.

Sie bogen in die Goethestraße ein. Ihr Ziel verbarg sich hinter einer Wand aus mannshohen Hecken. Einen Moment lang glaubte Cüpper schon, vorbeigefahren zu sein, aber dann sah er die Dachgiebel gegen den fahlen Himmel aufragen und ahnte, dass Fritz von Barneck seinem Beruf in eigener Sache mehr als gerecht geworden war. Zwischen den Hecken zeichnete sich das gleichmäßige Rechteck einer großen Toreinfahrt ab.

Nirgendwo das kleinste Lichtlein. Marienburg war wohlanständig bis zur Geisterhaftigkeit.

Sie suchten fünf Minuten lang nach einer Klingel, bis Cüpper zu der Überzeugung kam, in dieser Welt geschehe jede Form der Kommunikation durch reitende Boten. Rabenhorst griff schließlich unter Flüchen in ein Dornendickicht und drückte auf einen Knopf.

Nichts passierte.

»Sind Sie sicher, dass das die Klingel war und nicht die Selbstschussanlage?«, frotzelte Cüpper.

»Sind Sie tot?«

»Nein.«

»Dann war’s die Klingel.« Rabenhorst stellte sich auf die Zehen, um besser über die Hecke sehen zu können.

Plötzlich knackte es vor ihnen.

»Was wünschen Sie?«, fragte eine Stimme aus der bis dahin gut getarnten Sprechanlage.

» Kriminalpolizei!«

»Darf ich Sie bitten, sich auszuweisen?«

Ausweisen? Hier draußen? Cüppers Blick wanderte nach oben. Ausdruckslos starrte das Auge einer Kamera auf ihn herunter. Er zog seine Marke und hielt sie in die Linse.

»Ich fürchte nur, Sie werden in der Dunkelheit nicht viel erkennen können«, rief er.

»Das ist kein Problem«, schnarrte es zurück. »Wir verfügen über Infrarot.«

Mit einem leisen Klick setzte sich ein Teil des Tores in Bewegung und schob sich fast geräuschlos in die Hecke. Dahinter wurde eine breite Auffahrt sichtbar, die nach wenigen Metern eine Kurve beschrieb und bei den Garagen endete, während ein Fußweg weiter geradeaus führte.

Und dort, im opalisierenden Dunst aufsteigender Feuchtigkeit, lag die Villa.

Sie war riesig.

Mächtige, gebogene Erker flankierten ein weites Portal, dessen Flügel sich geöffnet hatten und nun gelbes Licht ins Dunkel stäubten. Dem ersten Stock war eine wuchtige Terrasse vorgelagert, darüber wuchs das düstere Gebirge schroffer Giebel in den Himmel. Cüpper fühlte sich an Edgar Allan Poe erinnert.

Wie ein Pinselstrich erschien eine Gestalt im hellen Rechteck der Tür. Als sie näher kamen, trat Cüpper ein kleiner, alter Mann mit der Physiognomie einer tausendjährigen Eiche entgegen. Der weite Morgenmantel und sein pathetischer Gesichtsausdruck verliehen ihm die Aura Alberichs, des Zwergenkönigs. Er zog die linke Braue hoch und sah höflich interessiert von einem zum anderen.

»Guten Morgen, meine Herren. Ihr Erscheinen sprengt den Rahmen des Alltäglichen.«

»Herr … von Barneck?«, fragte Cüpper und wollte es kaum glauben.

In der Ferne rollte schwacher Donner.

»Nein, Herr Kommissar. Ich bin, wenn Sie so wollen, Herr von Barnecks Butler, wenngleich man sich dieser wünschenswerten Tradition in Deutschland nicht sehr oft erfreut. Hätten Sie die Güte, mir zu sagen, worum es geht?«

»Tut mir leid. Das kann ich Herrn von Barneck nur persönlich sagen.«

»Ganz ohne Zweifel. Er wird gleich unten sein. Treten Sie einstweilen näher.«

Cüpper erhaschte einen Blick in eine Bibliothek und etwas, das nach Esszimmer aussah, nur verdammt groß. Im Schacht des Atriums, an dessen Wänden sich die Balustraden des ersten und zweiten Stockwerks erstreckten, ruhte ein ungeheurer Kronleuchter. Der Alte führte sie direkt darunter. Wenn das Ding jetzt fällt, dachte Cüpper, würde man sich über nichts und niemanden mehr Gedanken machen müssen. Alles Böse dieser Welt würde in Kaskaden von Kristall zerstieben. Aber dann könnte er auch nie mehr auf dem Markt nach italienischen Tomaten schnüffeln, nie mehr der Verführung alten Ports erliegen, nie mehr im Rosebud Caipirinha schlürfen und mit wippender Begeisterung den Jazzern lauschen, und vor allem nie mehr einen zweiten Strohhalm zwischen die Limetten stecken für die hübschen Wesen, die Kölns Nacht bevölkerten.

Argwöhnisch äugte er nach oben.

Aus dem Dunkel der angrenzenden Räumlichkeiten kam eine Frau von gewaltigen Ausmaßen geeilt. Der Alte sah sie kommen und verdrehte hilfesuchend die Augen.

»Elli, geh wieder in die Küche. Das sind zwei Herren von der Kriminalpolizei. Sie wollen Herrn von Barneck sprechen, mit deinem Erscheinen dürfte ihnen kaum gedient sein.«

»Red nicht so geschwollen.«

»Elli, bitte.«

»Schmitz«, strahlte sie und schüttelte Cüpper und Rabenhorst die Hände, ehe man sich’s versah. »Der da heißt auch Schmitz. Hast du den Leuten wieder erzählt, du wärst der Butler?«, keifte sie den Alten an. »Hausdiener ist er, wissen Sie, und Chauffeur in einem. Das mit dem Butler hat er aus diesen englischen Romanen, ich sage immer, lies nicht dieses Zeug, wo permanent Leute erschossen werden, das ist nicht gut für dich, wo er doch auch eine Brille tragen müsste, da verdirbt er sich die Augen und beklagt sich.«

»Was tun Sie um diese Zeit noch in der Küche?«, fragte Rabenhorst erstaunt.

Frau Schmitz stemmte die Hände in die Hüften. »Das wüsste ich auch mal gerne. Ich bin ja keine junge Frau mehr. Aber Herr von Barneck hatte heute einen größeren Empfang, Sie wissen schon, jede Menge Töpfe, Pfannen und Geschirr und Gläser. Ich könnt’s ja morgen machen, wäre kein Problem, aber ist der Mensch nicht selbst sein schlimmster Feind? Ich kann einfach keinen Abwasch stehen lassen. Soll Herr von Barneck morgen in die Küche kommen, und alles steht da rum? Ich meine, er kommt selten in die Küche, ich könnte also eigentlich zu Bett gehen. Aber im Krieg, da sind wir alle anspruchslos geworden, da fragt einen keiner, ob man schlafen gehen will, das hat man einszweidrei im Blut, schnell alles wegzumachen, und alte Menschen brauchen eh nicht so viel Schlaf. Was mich betrifft …«

»Sie ist meine Frau«, fiel der Alte ihr ins Wort. »Sie kocht.«

»Und trägt auf!«, rief Frau Schmitz. »Und macht sauber!«

»Senta, ci scusi tanto.« Die Stimme kam von oben.

Cüppers Blick wanderte hinauf zum Balkon des ersten Stockwerks. Zwei Männer in Pyjamas lehnten an der Balustrade, einer gähnte ausgiebig.

»C’è qualche problema?«, fragte der andere nach unten.

»Nessun problema«, gab der Hausdiener geschliffen zurück. »Allora ci dispiace tanto di averla disturbata. I due signori sono della polizia.«

»Polizia!«, rief der zweite Mann. »Santo cielo, è successo qualche cosa?«

»Speriamo di no. Io penso che i signori ci racconteranno il fatto.«

»Dabei kann der eine von den beiden deutsch«, flüsterte die Köchin Cüpper missbilligend zu. Ihr Kinn war voller Haare, was sich auf den Zähnen fortzusetzen schien.

»Was Sie nicht sagen«, raunte Cüpper zurück. »Und wer sind die Gentlemen?«

»Geschäftsfreunde aus Italien. Herr von Barneck hatte heute Abend die schon angesprochene Gesellschaft.« Ihr Gesicht bekam etwas Triumphierendes. »Sie müssen wissen, dass wir sieben Gästezimmer haben!«

»Elli«, flehte Schmitz. »Es interessiert den Kommissar nicht, ob wir sieben Gästezimmer haben. Geh doch in die Küche oder geh ins Bett, aber geh. Ich glaube wirklich nicht, dass du den Herren eine Hilfe bist, und gleich wird auch …«

»Guten Morgen.«

Alle Köpfe ruckten gleichzeitig hoch. Auf der zweiten Balustrade zeichnete sich der Umriss eines hochgewachsenen Mannes ab. Wenige Sekunden stand er unbeweglich da und betrachtete die kleinen, lärmenden Menschen in der Halle. Dann kam er die Treppe herunter, die das Erdgeschoss mit den beiden Stockwerken verband. Dichtes weißes Haar fiel ihm in Stirn und Nacken und gab ihm etwas Löwenhaftes. Die grauen Augen musterten Cüpper und Rabenhorst mit einer Mischung aus Verärgerung und Neugierde.

»Ich bin Fritz von Barneck«, sagte er schließlich.

Cüpper schickte den Blick zurück. Einen Moment lang froren beide aneinander fest.

Er beschloss, es kurz zu machen.

»War er jetzt eigentlich erschüttert, oder war es ihm egal?«, sinnierte Cüpper, als sie wieder im Auto saßen.

Rabenhorst kratzte sich ausgiebig den Nasenrücken. Die Unterredung war kurz gewesen. Ihre Nachricht hatte bei von Barneck primär Schweigen ausgelöst. Was er gesagt hatte, war mehr als knapp gewesen. Nein, er hätte seine Frau seit ein paar Tagen nicht gesehen. Nein, er wüsste niemanden, der den Mord begangen haben könnte. Während sie noch fragten, machte er auf dem Absatz kehrt und ließ sie stehen. Schmitz war unterdessen hin- und hergewandert und hatte pflichtbewusst die Stirn gerunzelt. Ganz anders seine Frau, der es zuerst die Sprache verschlagen und dann Unmengen von Wasser in die Augen getrieben hatte. Die beiden Italiener hatten einen kurzen Blick gewechselt und sich dezent zurückgezogen.

»Was ist Ihre Meinung?«

Cüpper starrte hinaus auf das dunkle Band der Straße.

»Sagen wir mal so, von Barneck hat ein Alibi. Er war den ganzen Abend mit seinen Gästen zusammen. Vorausgesetzt, seine Frau wurde in dieser Zeit ermordet, woran es nach meinem Dafürhalten keinen Zweifel gibt, ist er aus dem Schneider.«

»Schade. Wär einfach gewesen.«

»Rabenhorst, Sie sind faul. Wenn jeder Blödmann Kriminalfälle lösen könnte, müssten Sie unter der Deutzer Brücke schlafen.«

»Trotzdem.«

»Trotzdem nicht. Ich verwette meinen Gasherd, dass die beiden sich nicht viel zu sagen hatten. Aber er war nun mal den ganzen Abend in der Villa.«

»Gibt ja auch reichlich Zeugen«, bekräftigte Rabenhorst im Tonfall eines Mannes, der den Schleier des Zweifels zerreißt. »Zurück zum Tatort?«

Cüpper nickte stumm.

SPUREN

Mittlerweile regnete es wieder. Es würde auch morgen regnen. Dieser ganze verdammte Sommer war ein einziges Elend.

Am Bazaar stieg Cüpper aus und schickte Rabenhorst nach Hause. Oben waren die Leute von der Spurensicherung noch fleißig, schossen Fotos und malträtierten die Wohnzimmerteppiche mit Klebebändern, um Haare oder Fusseln zu erbeuten. Cüpper streifte zwischen ihnen hindurch, ohne etwas Konkretes im Auge zu haben.

Es war wie beim Flirten. Legte man es krampfhaft darauf an, ging man allein nach Hause. Setzte man nichts voraus, passierten einem die tollsten Sachen. Cüpper wusste, dass viele Polizisten nichts am Tatort fanden, weil sie davon auszugehen schienen, der Täter habe sich an ein offizielles Procedere gehalten. Er musste an eine Geschichte von Poe denken, in der fieberhaft ein Brief gesucht wurde – ein Brief, der die ganze Zeit über in einem Kartenhalter vor den Nasen aller Beteiligten steckte, so offensichtlich, dass jedermann ihn übersah.

Cüpper zog die umgekehrte Arbeitsweise vor und ließ sich von den Spuren finden. Er bewegte sich in einer unbekannten Welt, nämlich der des Mörders. Er konnte die Hinweise nicht kennen, die Details nicht erahnen, die ihn weiterbringen würden.

Aber er konnte durch eine Wohnung gehen und sich überraschen lassen.

Als Erstes aß er die verbliebenen zwei Äpfel auf. Krügers Leute hätten ihn in den Arsch getreten, aber sie waren gerade sämtlich im Schlafzimmer verschwunden. Praktisch. Vorerst hatte man hier seine Ruhe.

Ohne Eile ging er wieder in die Diele und starrte den riesigen Fleck an, und der Fleck starrte zurück. Ein monumentales Auge aus geronnenem Blut, ein Geheimnis, das die Suggestion des Schreckens aus der Andeutung bezog. Was immer sich hier abgespielt hatte, wurde in dem schwarzen See lebendig, wenn man nur verstand hineinzublicken.

Cüpper ging näher heran. Nach und nach ergänzte er die Szenerie um die Tote, die Art, wie sie verkrümmt halb in der Garderobe, halb in der Tür gelegen hatte, den heruntergerissenen Blazer so fest umkrallt, dass man ihr die Finger hatte brechen müssen. Gleich daneben die verschmierte Klinge. Er sog den metallischen Geruch des Blutes in sich auf und konzentrierte sich auf die Waffe. Sah Inka von Barneck an seiner statt dastehen, das Gesicht zur Garderobe gewandt, hinter sich den schwarzen Schatten. Gab sich der Vorstellung hin, er sei Inka von Barneck. Wurde an den Haaren gezogen, zurückgerissen, während das Messer wie eine Schranke heruntersauste und seitlich wegzog. Riss die Arme hoch im Sturz.

Und fing sich, die Augen fest geschlossen.

Der Blutdunst wurde intensiver. Anklagend, faulig. Cüppers innerer Blick, nun aus der Perspektive des Mörders, betrachtete die Frau, die tot vor ihm lag, aufgeschlitzt von seiner Hand. Ruhig legte er das Messer neben sie.

Und entspannte sich.

Mit einem Mal wusste er, was ihn an der Waffe irritiert hatte.

Der Geruch war verflogen, hatte nur in seinem Kopf existiert. Was blieb, war ein großer Fleck, nichts weiter. Cüpper gönnte sich ein Lächeln der Zufriedenheit und ging ins Schlafzimmer.