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Band 131

 

Der Kontrakt

 

Rainer Schorm

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Vorspiel: Helle Schatten

1. Schlaglicht: Die Glut der Sonne

2. Dortmund/Ruhr-Arena: Hymne

3. Schlaglicht: Die Kälte des Mondes

4. Dortmund/Ruhr-Arena: Rhodans Rede

5. Schlaglicht: Der Atem der Erde

6. Dortmund/Ruhr-Arena: Ankunft

7. Schlaglicht: Die erste Verkündigung

8. Dortmund/Ruhr-Arena: Fluchthilfe

9. Dortmund/Ruhr-Arena: Wer zurückbleibt ...

10. Dortmund/Ruhr-Arena: Fluchtweg

11. Schlaglicht: Lakeside View

12. LESLY POUNDER: Flucht

13. Schlaglicht: Die Erste Verlautbarung

14. Erde: Flugzeit

15. LESLY POUNDER: Sitarakh-Reflex

16. LESLY POUNDER: Falle

17. Schlaglicht: Die Zweite Verlautbarung

18. LESLY POUNDER: Fluchtpunkt

19. Erde: Krisenstab

20. LESLY POUNDER: Geisterschiff

21. Terrania: Invasorentreff

22. LESLY POUNDER: Wasserspiele

23. Terrania: Invasorengespräch

24. Schlaglicht: Kollaps

25. Sonnensystem: Asteroidengestöber

26. LESLY POUNDER: Spuk

27. LESLY POUNDER: Unverhofft

28. Terrania: Exzess

29. Schlaglicht: Die Dritte Verlautbarung

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Nachdem der Astronaut Perry Rhodan im Jahr 2036 auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff entdeckt hat, einigt sich die Menschheit – es beginnt eine Zeit des Friedens. Auch im Weltall erringt Rhodan beeindruckende Erfolge.

Er beendet den verheerenden Krieg der fremdartigen Maahks gegen das Große Imperium der Arkoniden. Rhodan rettet sowohl Arkon als auch die Erde vor dem Untergang.

Dennoch sehen sich die Menschen im Jahr 2051 weiterhin großen Bedrohungen gegenüber. Ein gewaltiger Riss in der Sonne birgt unbekannte Gefahren.

Perry Rhodan und seine Gefährten versammeln sich in der Dortmunder Ruhr-Arena, um die Menschheit auf eine neue, verheißungsvolle Zukunft einzuschwören. Da fallen ohne Vorwarnung blutrote Schatten über Terra, und eine geheimnisvolle Stimme verkündet den Kontrakt ...

Vorspiel:

Helle Schatten

 

DAEDALOS SCU-XVIII näherte sich der Sonne. Die Kontrolleinheit mit der Aufgabe, die Datenströme der Ikaroiden zu sammeln, sofern diese in der Lage waren, Entsprechendes zu liefern, war ein kleines Einmannraumschiff. Es war derart dick gepanzert, dass sich Jeremy Haikännen unwillkürlich fühlte wie in einer Zwangsjacke. SCU stand für »Supervising Collector Unit«.

Der Finne fluchte leise. Die Einsätze an Bord der überwachenden DAEDALOS-Einheiten waren alles andere als beliebt.

»Gut bezahlt ... Ha!«, murmelte er. »Ich werde noch klaustrophobisch in dieser überkandidelten Sardinenbüchse. Und warum muss in so 'nem Ding überhaupt ein Pilot mitfliegen?«

Die Antwort kannte er selbstverständlich. Die Ikaroiden, die Sonden, welche die Sonne und speziell das absurde Sonnenchasma untersuchten, führten nur ein kurzes Leben. Die Daten, die sie in dieser Zeit sammelten, waren derart kostbar – und selten –, dass man die positronischen Leitsysteme durch die Intuition eines Menschen ergänzen wollte. Das rechtzeitige Eingreifen des menschlichen Instinkts mochte die eine Zehntelsekunde liefern, die den entscheidenden Ausschlag gab.

»Everybody needs somebody ... to burn!«, brummte Haikännen.

Er startete ein Simulationsprogramm. Die zehn Standard-Ikaroiden, die er zu überwachen hatte, bildeten eine Formation und nahmen ebenfalls Kurs auf die Sonne – nur sehr viel näher.

DAEDALOS SCU-XVIII umkreiste Sol auf einem weiteren Orbit, deutlich außerhalb der Chromosphäre, knapp innerhalb der Bahn des Kleinstplaneten Vulkan. Die Gegend, wohin die Ikaroiden vordrangen, war weitaus gefährlicher. Sie würden dort verglühen, wie Motten im Licht verbrannten. Doch in den ein, zwei Sekunden, die ihnen in dieser Hölle aus fusionierendem Wasserstoff blieben, beobachteten sie das Chasma, so gut das menschlicher Technik möglich war.

Angeblich arbeiten sie auf RA an einer neuen Keramikverbundlegierung, mit der die Lebensdauer verdoppelt werden soll!, dachte er. Na klasse. Statt zwei Sekunden lebt so ein Ding dann vier!

Die Simulation endete genau so, wie die Realität es später wiederholen würde: Die Ikaroiden verglühten. Zehn grelle Funken, die vor dem gleißenden Licht des Zentralgestirns beinahe dunkel wirkten. Sonnenflecken der anderen Art.

»Simulation abgeschlossen!«, meldete die Positronik. »Prioritätsmeldung: Die Sensoren zeigen Abweichungen!«

»Erklärung!«, forderte Haikännen. Er schwitzte. Zwar lief die Klimaanlage auf Hochtouren, aber die bloße Nähe der Sonne genügte; allein die Vorstellung davon, welche Hitze unter seinem DAEDALOS brodelte! Haikännen wischte sich die Stirn trocken. »Welche Einheit?«

»SCU. Kontrolleinheit!«, sagte die Positronik. Übergangslos wurde Haikännen kalt; ein absurdes Gefühl.

»Was für Abweichungen?«, fragte er rau. Das bin ich!, dachte er.

»Gravimetrische Messungen zeigen Interferenz-Musterbildung. Verifizierung durch potentere Sensorausstattung empfehlenswert; Defekt als Ursache nicht ausgeschlossen.«

Haikännen starrte auf die sehr spärliche Sammlung von Kontrollholos. Eine Verbindung mit RA war von dieser Position aus nicht möglich. Die Zentrale des Sonnenkorps befand sich momentan auf der anderen Seite der Sonne.

»Das kann uns gleichgültig sein!«, entschied er. »Ein gravimetrisches Muster hat keine Auswirkungen auf uns. Im Vergleich zur Sonne sind diese Abweichungen irrelevant.«

Warum diskutiere ich eigentlich mit einer Positronik?, fragte er sich. Sie weiß das besser als ich! Dabei war ihm klar, dass es sich um den kläglichen Versuch handelte, sich selbst zu beruhigen. Gravimetrische Anomalien mochten keine große Wirkung entfalten, doch die Alternative war deutlich unangenehmer: Ein Defekt der Instrumente in einer derart höllischen Umgebung war grundsätzlich ein schlechtes Zeichen. Die Vorstellung, was aus der DAEDALOS-Einheit bei einem Ausfall wichtiger Systeme werden würde, sorgte bei Haikännen für einen gepflegten Anfall prophylaktischer Panik.

Da bleibt nicht mal eine erhöhte Plasmadichte!, schoss es ihm durch den Kopf.

»Fehlerdiagnose! Analyseprogramme starten. Staffeln nach Priorität Alpha!«, ordnete er an. Priorität Alpha bedeutete, dass das Überleben von Boot und Pilot die alleinige Maßgabe war. »Kursänderung vorbereiten. Trajektorie Vektor RA. Ich will so schnell wie möglich weg von hier, wenn was Wichtiges ausfällt!«

Eine grüne Leuchtanzeige bestätigte seinen Befehl. Obwohl es keine Schadensmeldung gab, obwohl die Autoreparatursysteme keinen Fehler anzeigten, fühlte er sich miserabel.

Eine Ahnung! Was ist die schon wert?, dachte er. Das ist nicht mein Tag. Verdammt. Ich sollte mit Helena Bulgakowa in einer stillen Ecke von RA den Sex meines Lebens haben ... Stattdessen muss ich Trottel hier einspringen! Das ist nicht nur bescheuert, das ist ...

»Fremdmassenkontakt!«, warnte die Positronik. Im nächsten Moment schien eine unsichtbare Faust den DAEDALOS zu packen und gegen eine ebenso unsichtbare Mauer zu werfen.

Haikännen verlor beinahe das Bewusstsein. Die Alarmpfeifen waren derart laut und grell, dass er fürchtete, taub zu werden. Er wurde umhergeschleudert. Ohne die Gurte und Prallfeldstützen wäre er längst gegen die dick gepanzerten Wände geprallt.

Ihm war schwindlig und er übergab sich. »Hilfe ...!«, krächzte er nur.

»Kein Kontakt!«, sagte die Positronik, als sei nichts geschehen. »Möchten Sie ein Memo speichern?«

»Was?«, entfuhr es Haikännen.

Ein weiterer Schlag traf das Raumboot und trieb es wie einen Ball auf die lodernde Chromosphäre der Sonne zu. Die Außentemperatur stieg sprunghaft an. Die Schirmfelder waren stabil, aber erste Funkenbögen zeigten eine Zunahme der Teilchendichte. Der Fusionsreaktor arbeitete an der Leistungsgrenze. Haikännen wusste, dass er für kurze Zeit über das Standardmaximum hinausgehen konnte, aber das war keine taugliche Option.

Ein leises Singen, wie schwingendes Metall, machte ihm klar, wie entsetzlich seine Lage tatsächlich war.

»Kurs ... ändern! ... Sofort!«, schrie er, während ein weiterer Stoß das Raumfahrzeug erschütterte. Panisch sah er sich um. Unwillkürlich suchte er nach Glutflecken, mit denen sich die Hitze ins Innere des kleinen DAEDALOS brennen würde. Eine psychische Fehlleistung. Es würde so schnell gehen, dass er selbst nichts davon bemerken würde. Im Bruchteil einer Sekunde mussten ihn Glut, Hitze und Schwerkraft in eine verbackene Murmel verwandeln ... bevor er sich im Plasmameer auflöste.

»Kursänderung nicht möglich!«, erwiderte die Positronik. Die Stimme klang blechern.

»Warum nicht?«, brüllte Haikännen entsetzt.

»Fremdmassenkontakt!«

»Was soll das heißen? Sind das diese gravimetrischen Anomalitäten?« Haikännen erkannte seine eigene Stimme nicht wieder. Sie glich unangenehm jener der Positronik, die offenbar ebenfalls Schäden davongetragen hatte – wie das ganze Schiff.

»Nein. Die Ursache dafür!« Die Positronik gab ein metallisches Knarzen von sich.

»Und ... was ... ist ... es?«, schrie Haikännen, dessen Wut kurzfristig die Panik nach hinten drängte.

»Analyse nicht möglich. Sensorenpakete eins bis sieben außer Betrieb! Reparatur und Neukalibrierung empfohlen.« Dann schwieg die Positronik endgültig.

Der DAEDALOS vibrierte. Die Außenbeobachtungsholos funktionierten nur rudimentär. Für einen kurzen Augenblick glaubte Haikännen, etwas zu sehen. Einen Schatten, mehr nicht. Ihm war nicht mehr heiß.

Ein roter Schatten!, dachte er, sonderbar distanziert.

Das Rot nahm überhand, bis es den ganzen Himmel bedeckte. Dann wurde alles schwarz. Bevor DAEDALOS SCU-XVIII in einem jämmerlichen Feuerball explodierte, sandte die Kontrolleinheit eine finale Positionsmeldung. Sie erreichte RA exakt um 10.37 Uhr Terrania Standardzeit.

Es war der 2. Juni 2051.

1.

Schlaglicht:

Die Glut der Sonne

 

Eric Leyden konnte den Blick nicht abwenden.

Die Oberfläche der Sonne schien die gesamte Stirnseite des Raums einzunehmen: ein brodelndes Höllenfeuer, nur im Zaum gehalten von der Schwerkraft und den gewaltigen magnetischen Feldlinien. Was er da vor sich sah, waren etliche Tausend Grad Kelvin Hitze und Glut. Ein Fusionsofen im wahrsten Sinne des Wortes.

Obwohl seine Umgebung klimatisiert war, standen dicke Schweißtropfen auf der Stirn des Hyperphysikers. Das wirre, hellblonde Haar war verschwitzt. Es war ein rein psychosomatischer Effekt, und er hatte etwas Bizarres an sich. Der Körper versuchte, sich abzukühlen, weil der Organismus wegen der herrschenden Lichtfülle zum Ergebnis gelangte, es müsse heiß sein. Dass der Verstand sich des Gegenteils bewusst war, spielte kaum eine Rolle.

»Dabei käme man nicht mal mehr zum Schwitzen!«, murmelte Leyden. Nachdenklich beobachtete er in der Echtzeitwiedergabe eine Protuberanz, die in greller Gelbglut eine der wirr verdrehten Magnetfeldlinien entlangfloss. »Plasma zu Plasma!«

Ein absurder Gedanke drängte sich ihm auf: Als Norweger besaß er eine eher helle Haut. Wie würde ein Sonnenbrand wohl wirken? Verheerend! Da bekommt die Epidermis nicht mal mehr die Gelegenheit, sich zu schälen. Von einer Rötung ganz zu schweigen!

Grüne Linien zeichneten die Feldlinien des solaren Magnetfelds nach. Sie bildeten ein verschlungenes Knäuel, das chaotisch wirkte, es aber nicht war. Besonders eindrucksvoll waren die Farbadern, die sich wie herausgezogene Maschen eines Wollpullovers weit in den Raum hinausstreckten. Glühendes Plasma umspielte ihre Form. Eric Leyden kannte diese Abläufe – aber etwas hatte sich verändert.

Er trat ein paar Schritte zurück. Der Raum, in dem er sich aufhielt, befand sich im Auswertungsareal, das sich ringförmig durch das Zentrum der Sonnenforschungsstation RA zog. Die Station, ein aufwendig ausgebauter, kleiner Asteroid, umkreiste das Zentralgestirn in einer Entfernung von 500.000 Kilometern. Sie diente der Erforschung des Sonnenchasmas – dieses klaffenden Risses im Innern von Sol. Ein Abgrund, von dem niemand zu sagen vermochte, aus welchem Grund es ihn gab oder wie er entstanden war. Das von Eric Leyden ins Leben gerufene Sonnenkorps beschäftigte sich damit auf vielerlei Art und an vielen Orten. Hier indes lag – buchstäblich – der Brennpunkt.

Noch immer bekam Leyden Schluckbeschwerden, wenn er an die Schwierigkeiten der Finanzierung zurückdachte. Denn in der Nähe einer gewaltigen, ständig fusionierenden Kugel aus ultrahoch erhitztem Wasserstoff gab es die Option günstig nicht. Die Stationstechnik war auf dem neuesten und leistungsfähigsten Niveau. An diesem Ort war das Beste gerade gut genug – andernfalls war man tot. Die Sonne nahm keine Rücksicht. Bereits im normalen Zustand schleuderte sie Unmengen an Strahlung, Energie und Sonnenmasse von sich. Alles, was sich dieser Hölle stellte, war ohne Schutz verloren.

Leyden schaltete mit einem Blinzeln einen Filter vor. Das Holo verschob das abgebildete Spektrum in den Bereich der Röntgenstrahlung. Das Chasma an sich war bereits absurd genug; was die jüngsten Messungen allerdings angedeutet hatten, war derart abwegig, dass Eric Leyden sogar sein obligatorisches Frühstück verkürzt hatte. Der Hyperphysiker stand vor einem Rätsel, das ihn stärker beschäftigte, als ihm lieb war.

»Phase vier analysieren!«, befahl er leise. »Ich will eine komplette Darstellung aller Änderungen im Strahlungsprofil über einen Zeitraum von fünf Tagen. Mit G-Wellen-Profil korrelieren!«

Etliche Subholos bildeten sich, Tabellen, Grafiken, Kurven. Leyden ordnete sie mit einigen kurzen Bewegungen seiner Finger und starrte darauf wie auf ein grünes Schwarzes Loch.

»Was zum Teufel ist das nur?«, flüsterte er entgeistert. »Was kann das sein?«

Schritte hinter ihm verrieten, dass jemand den Raum betreten hatte, aber er drehte sich nicht um. Das ganze Sonnenkorps setzte sich aus etwa 80 Wissenschaftlern, Spezialisten und Technikern zusammen. Zu diesem Raum hatten momentan die wenigsten Zutritt. Eric Leyden brauchte Ruhe; keine Horde neugieriger Kollegen, die ihm ihre neuesten Geistesblitze vortragen wollten.

»Eine Idee?«, fragte Dr. Olaf Vennegutt und trat neben den Hyperphysiker. Der ältere Mann war einer von Leydens engsten Mitarbeitern und zusammen mit ihm und Pablo Ramirez die Führungsspitze des Korps. Vennegutt kannte Leydens Eigenheiten wie kaum ein Zweiter. Ihm entging die Nervosität nicht, die Leyden im Griff hielt.

Leyden wiegte den Kopf. »Nein. Eben nicht! Siehst du das?«

Er deutete auf eine Gravitationsanalyse. Ein sonderbares Muster bildete sich, verschwand und tauchte erneut auf. »Das sind eindeutig Interferenzmuster. Das ist unstrittig, denke ich. Die Positronik hatte nicht mal den Hauch einer Alternative zu bieten. Woher kommen sie?« Er unterbrach sich kurz, als zweifle er an dem, was er gerade gesagt hatte. »Ich meine: Was sollte es sonst sein?«

»Planetare Einflüsse können wir ausschließen?«, erkundigte sich Vennegutt und nippte an einem jovianischen Sunspot. Der Cocktail war auf RA außerordentlich beliebt und eine Art von ironischem Kommentar der Wissenschaftler darauf, dass man mit der Erforschung des Chasmas nicht weiterkam. Sogar die Einsätze der ILIOS, des liduurischen Sonnenkreuzers, der auf RA stationiert war, hatte keine verwertbaren Ergebnisse gebracht.

»Planetare Einflüsse ... Das war das Erste, was wir überprüft haben!«, stieß Leyden hervor. »Sogar ich hatte damit gerechnet, dass Vulkan etwas damit zu tun haben könnte. Weiß der Geier, was die durchgedrehte Halatonintelligenz dort an technischen Spielereien hochfährt, nur weil sie Lust darauf hat. Aber nein. Das ist es nicht. Und der Einfluss Merkurs ist derart minimal, dass man verzweifeln könnte. Er verursacht keine derartigen Interferenzen. Weißt du was, Olaf? Es klingt völlig verrückt, aber ich halte das mittlerweile für auftreffende Gravitationswellen, die von außen kommen! Es hat nichts mit der Sonne zu tun ... nicht primär! Das sind nur Symptome. Das Chasma hat uns bereits derart im Bann, dass der Begriff Scheuklappen die reinste Untertreibung ist. Wir sind blind für alles andere.«

Vennegutt stellte den Cocktail ab und kniff die Augen zusammen, während er die Kurven musterte. »Von außen ...«, echote er leise. »... von außen. Aber woher von außen?« Er drehte sich zu Leyden und starrte ihn kurz an. »Diese Muster – für den Fall, dass du recht hast – haben ständig andere Ausgangspunkte. Als werfe jemand mehrere Steine in einen Teich. Die Wellen interferieren nicht nur mit dem Gravitationsfeld der Sonne, sondern gleichfalls untereinander. Wie soll das denn gehen? Du weißt, wie Gravitationswellen entstehen. Wenn in der Nähe des Sonnensystems oder darin Schwarze Löcher kollidieren würden, wüssten wir das! Die arkonidischen Strukturtaster würden Zeter und Mordio schreien!«

»Ja«, sagte Eric Leyden abwesend. »Das täten sie ... Nicht? Es sei denn ...«

Vennegutt stutzte. »Es sei denn ... was?«

Leyden schwieg zunächst. Er dachte intensiv nach. Arkonidische Strukturtaster hatten eine sensorielle Reizschwelle. Unterschritt die Intensität eines Struktureffekts dieses Minimum, verhielt sich ein Standardtaster, als sei nichts gewesen. Dennoch waren diese Interferenzmuster so deutlich, dass sie niemand übersah.

»Das ist nur die letzte Auswirkung!«, murmelte Leyden. »Egal was diese Wellen verursacht, es bleibt im Wesentlichen unterhalb der sensortechnischen Schwelle. Ein Zeitfenster vielleicht? Warum also wird der Effekt hier sichtbar, in der Nähe der Sonne?«

»Könnte ganz simpel an dem liegen, was die Arkoniden unter Gravitonendichte zusammenfassen«, spekulierte Vennegutt. »Die Sonne als Quelle der Schwerkraft, der raumzeitlichen Krümmung, ist derart nahe, dass diese Interferenzen hier ein Medium finden, in dem sich alles abbildet. Immerhin: Befänden wir uns nicht auf RA, ich wette, wir hätten nicht das Mindeste bemerkt!«

»Könnte es so einfach sein?« Leyden fluchte leise. »Wenn man ein Schwarzes Loch gepulst abschirmen könnte ... In so einem Fall käme der Schwerkrafteinfluss rhythmisch zum Tragen. Aber wer zum Teufel kann eine Singularität abschirmen? Mikrosingularitäten vielleicht, aber die hätten nicht die gemessene Wirkung. Das macht alles verrückter, als es ohnehin ist!« Er war nach wie vor unschlüssig riss sich aber zusammen. »Was ist mit dem Ikaroiden?«

Vennegutt aktivierte eine Verbindung in die kleine Kommandozentrale des Asteroiden. Pablo Ramirez' Kopf erschien, neben das Haupt von Dr. Janina Lefcourt. Die Plasmaphysikerin ähnelte einem gerupften Huhn. Allerdings war sie, wie Leyden nur zu genau wusste, ein unglaublich fähiges Huhn. Der Spitzname wäre längst in Vergessenheit geraten, wenn ihre gackernde Stimme nicht für eine ständige Neuassoziation gesorgt hätte. Ramirez, ein klein gewachsener Mexikaner, war ehemaliges Mitglied von SPEC und überwachte das Ikaroiden-Programm.

»Ikarus 159 ist unterwegs, seit ...« Er unterbrach sich und schielte auf die Zeitangabe. »... genau zwei Minuten und ... achtundzwanzig Sekunden. Erreicht in weiteren dreißig Sekunden die untere Grenze der Chromosphäre. Die neue Praecello-Keramik-Verbundlegierung wird gleich zeigen, wie gut sie ist. Die Schirme halten sicher nicht länger als bei den bisherigen Versuchen. Aber vielleicht reicht die Widerstandsfähigkeit des Verbundstoffs, den Ikaroiden zurückzuholen. Und sei's nur als zusammengebackener Klumpen. Ein paar Nahdaten sind genau das, was wir brauchen. Ich schalte euch zu.«

Vor Leyden und Vennegutt baute sich ein weißgelbes, schaumig wirkendes Bild auf. Die Sonne.

»Verbindung steht!«, meldete Janina Lefcourt mit greller Stimme. »Daten kommen rein.«

Neben der brodelnden Plasmahölle formten sich Messwert-Anzeigefelder. Leyden und Vennegutt beobachteten gebannt die auflaufenden Zahlen sowie gleichzeitig die Belastungsdaten der schützenden Energiekokons, die den Ikaroiden mehrfach gestaffelt umgaben. Deren Stärke war durch die geringen Dimensionen der Ikarus-Sonden sehr begrenzt. Der aktuelle Versuch, durch einen neu konzipierten Rumpf eine ausreichende Überlebenszeit für die Instrumente herauszuschinden, war nicht mehr und nicht weniger als eine letzte Hoffnung.

»Abbau setzt ein ... setzt sich fort ...«, kommentierte Ramirez emotionslos. »Letzte Schale. Belastung einhundertundfünf Prozent. Einhundertzwanzig. Einhundertfünfunddreißig. Zusammenbruch! Rückrufbefehl ist draußen und wird bestätigt.«

»Die Panzerung hat gerade mal fünf Komma acht Sekunden gehalten. Die Triebwerke haben den Aktivierungsbefehl bestätigt, aber den Umkehrschub nicht mehr einleiten können. Ikarus 159 ist Toast.« Ramirez schaltete ab.

»Mist!«, schimpfte Leyden. »Aber ich habe nichts anderes erwartet. Die Idee, eine materialwissenschaftliche Lösung könne den Ausfall von Energieschirmen kompensieren, ist schon beinahe Verzweiflung.«

Vennegutt grinste schmal. »Das war deine Idee!«

»Weiß ich.« Leyden winkte ab. »Einen Versuch war's wert. Schwamm drüber. Aber diese andere Sache geht mir nicht aus dem Kopf.« Er reckte sich. »Ich gebe der Orterstation auf Pluto die Anweisung, sie sollen sich mal umsehen. Die haben vor ein, zwei Monaten aufgerüstet. Vielleicht war das gut so. Diese Gravitationswellen müssen ja irgendwo herkommen. Von außen hat Edwina vielleicht einen klareren Blick.«

»Edwina?«, fragte Vennegutt.

»Edwina Kerpen. Die neue wissenschaftliche Leiterin auf Pluto. Ich glaube, du hattest noch nie mit ihr zu tun.«

Vennegutt dachte nach. »Ich habe ein ziemlich gutes Namensgedächtnis ... Nein. Ich denke nicht. Aber ich halte das für einen guten Vorschlag. Wir können denen da draußen ja sagen, wonach genau sie suchen müssen. Und sonst?«

Leyden grunzte. »Ich habe Hunger. Mein Frühstück heute Morgen war ... unzulänglich!«

Vennegutt lachte leise. »Ach, tatsächlich? Wieso das?«

Leyden runzelte wütend die Stirn. »Ein Anruf von der Erde. Ich muss zu dieser Jubelveranstaltung. Als ob ich nicht was anderes zu tun hätte! Ich habe vorgeschlagen, stattdessen Belle, Abha und Luan einzuladen. Sie waren alle mit dabei auf unserem großen Weltraumausflug. Jeder Einzelne von ihnen fühlt sich auf Partys wohler als ich!«

»Ich schätze, sie waren bereits eingeladen?«, schmunzelte Vennegutt.

»Waren sie.« Eric Leyden starrte ihn an. »Woher weißt du das? Aber egal: Mich braucht dort keiner. Und ich brauch's auch nicht.«

»War nur so 'ne Ahnung. Eric, du bist ein Symbol, ob du das sein willst oder nicht.«

Leyden schnaufte. »Symbol. Blödsinn!«

Vennegutt griff nach seinem Cocktail und leerte ihn. »Du hast nicht nur das Sonnenkorps initiiert. Das ARC, das ›Ancient Recognition Center‹, ist ebenfalls deine Schöpfung. Innerhalb der Flotte bist du dadurch so etwas wie eine Legende. Eine wissenschaftlich orientierte Einheit aufzubauen, das hat sogar die Admiralität aufmerken lassen. Deine anderen Erfolge kommen dazu. Für viele Menschen ist das beeindruckend, weißt du?«

»Wichtig ist nur, dass wir mehr über die liduurische Hinterlassenschaft erfahren.« Leyden winkte ab. »Das geht nur mit Raumschiffen im Portfolio. Das ist keine Forschung, die man im heimeligen Labor – oder weitaus schlimmer: im Büro – erledigen könnte. Auf die Idee wäre jeder andere ebenfalls gekommen, wenn er länger als fünf Sekunden über das Thema nachgedacht hätte! Ich wette mit dir, dass die Kommissköppe nur deshalb beeindruckt waren, weil sie sich neue Spielzeuge aus dem Arsenal der Liduuri erhoffen.«

»Mag alles stimmen, Eric.« Vennegutt musterte intensiv die überaus real wirkende Sonnenoberfläche, als suche er dort nach Antworten. »Aber sieh's mal positiv: Du wirst viele Leute treffen, die wichtig sind; die dir helfen können und werden, wenn du ihnen nicht dauernd auf die Füße trittst. Geld können wir gar nicht zu viel auftreiben. Dasselbe gilt für neue Technologie. Wenn irgendeine Techno-Stelle etwas Interessantes entwickelt, müssen wir das wissen. Und danach müssen wir es erst einmal bekommen!«

»Ich soll also betteln!«, sagte Eric Leyden bitter.

Olaf Vennegutt winkte ab. »Eben nicht. Diese Leute wollen dir helfen. Du sollst ihnen das nur nicht durch dein unmögliches Verhalten erschweren. Wie sollen wir Phänomenen wie diesen Gravitationsinterferenzen auf die Spur kommen, wenn uns die Mittel fehlen?« Er leerte sein Glas. »Ich gebe zu, dass Mangel schwer zu vermitteln ist, wenn die Station sich definitiv auf dem neuesten Stand der Technik befindet. Versuchen müssen wir das trotzdem – immer wieder. Forschung ist kein Zustand, sie ist ein Prozess! Wer wüsste das besser als du. Sei einfach mal nett, auch wenn's schwerfällt.«

Eric Leyden schnaufte und gab keine Antwort. Aber als er eine gute halbe Stunde später an Bord einer Korvette zur Erde aufbrach, hatte er beschlossen, sich jedes Wort, das er sagen würde, zweimal zu überlegen.

Also auf ins Gefecht!, dachte er, als die SOLAR FIRE ihre Triebwerke hochfuhr. Mischen wir uns unters Volk ...

Es war der 4. Juni 2051.

2.

Dortmund/Ruhr-Arena:

Hymne

 

»Da ist Ngata!« Reginald Bulls Stimme ließ keinen Zweifel daran: Er mochte den neu in seinem Amt bestätigten Administrator nach wie vor nicht. Daran würde sich in naher Zukunft nichts ändern. Bull war nicht vorschnell mit seinen Urteilen; hatte er aber eines gefällt, blieb es lange Zeit stabil.

Perry Rhodan verkniff sich ein Grinsen. Sie alle standen unter medialer Beobachtung, jede Geste, jedes bisschen Mimik würde ausgiebig analysiert und kommentiert werden. Bull wusste das ebenso genau wie er selbst. Das Gesicht des Systemadmirals blieb freundlich, wenn auch recht ausdruckslos. Es war eine Maske, mehr nicht.

Wir wollten nie Schauspieler sein. Jetzt sind wir es, weil es nicht anders geht!, dachte Rhodan mit leiser Bitterkeit. Eine weitere Idealvorstellung, die an der Realität zerschellt! Ich glaube, ich verstehe Atlans Zynismus allmählich. Das ist wie Ärztehumor: Man erträgt es nur auf diese Weise!

»Er ist der erste Redner. Zweifellos genießt er das!«, fuhr Bull fort. »Ich hoffe, er und die anderen lassen das Geschwätz nicht zu sehr ausarten.«

»Wir haben uns bemüht, die Redebeiträge kurz zu halten«, sagte Rhodan. »Ich denke, dass die Holopräsentation viele ablenken wird. So sieht der Plan aus.« Genau wie Bull hatte er sich angewöhnt, bei Gesprächen, die er in der Öffentlichkeit führte und die medial begleitet wurden, beim Sprechen die Hand vor den Mund zu führen.

Die Lippenleser waren überall, und die positronischen Translations-Apps leisteten Enormes. Jede Äußerung wurde nicht nur protokolliert, sie wurde sofort interpretiert und kommentiert. Ansätze hierzu hatten sich bereits seit der digitalen Medienrevolution der Jahrtausendwende entwickelt. Aber die Nutzung der potenten Positroniken machte aus solchen Beobachtungen ein Kinderspiel. Rhodan hatte festgestellt, dass sich Menschen in offiziellen Positionen in der Öffentlichkeit kaum noch bewegten, weil Mimik und Körpersprache ebenfalls analysiert wurden.

Bald sind wir Puppen!, schoss es ihm durch den Kopf.

Cheng Chen Lu, die neue Vizeadministratorin und Koordinatorin für Außenbeziehungen, schob sich vor Rhodan und Bull durch die Reihen. Ihr Ziel waren einige Politiker und Prominente aus dem asiatischen Raum, darunter der Präsident von Neukorea. Sie blieb kurz stehen und verbeugte sich vor Rhodan. »Protektor!«

Rhodan erwiderte den Gruß. Cheng Chen Lu sah ihn intensiv an. Ihr Blick war berühmt, bisweilen berüchtigt. Die junge Chinesin mit dem langen, glatten, schwarzen Haar hatte Charisma, darin war man sich einig. Jede Menge davon!

»Sie haben mit der Wahl des Termins Gespür bewiesen, Protektor«, sagte die Chinesin. »Der vierte Juni. Die Zahl des Todes. Welcher Tag wäre besser geeignet, der Toten zu gedenken?«

Rhodan verbeugte sich erneut. »Ich habe das Privileg, über wirklich gute Berater zu verfügen. Vizeadministratorin. Ich möchte mir das ungern als persönliche Leistung anrechnen lassen.«

Cheng Chen Lu zögerte kurz, als wollte sie etwas hinzufügen. Dann jedoch wandte sie sich ab und ging zu den Repräsentanten hinüber, die ihr ursprüngliches Ziel gewesen waren.

»Zahl des Todes!«, knurrte Bull leise. »Ich war schon in der Gefahr, gute Laune zu bekommen! Aber in diesem Sammelsurium aus allen Schönen und Berühmten wäre das sicher nicht angebracht!« Er strich sich über das rote Stoppelhaar.

Und das wird ebenfalls interpretiert werden!, dachte Rhodan. Er bewegte sich zwischen all den anderen Prominenten, Politikern, VIPs und sonstigen Vertretern wichtiger Institutionen auf der Empore der Ruhr-Arena, die wie kein zweiter Ort für eine solche Gedenkfeier prädestiniert war. In dieser Arena hatte der Oberkommandierende des arkonidischen Protektorats Erde ein Exempel statuiert; ein mörderisches Exempel. Man glaubte, Chetzkels Gegenwart spüren zu können. Nach all den Jahren fühlte sich Rhodan in dieser Umgebung nicht wohl, obwohl er damals nicht persönlich hier gewesen war. Die Toten schwiegen nicht an diesem Ort. Sie flüsterten ihren Schmerz in jeden wachen Geist, der bereit war, zuzuhören.

Als Protektor trug er eine weinrote Galamontur, die dem Anlass angemessen war. Niemand konnte ihn übersehen. Diese Art der Zurschaustellung gefiel Rhodan kein bisschen, aber er hatte gelernt, dass man als Person des öffentlichen Interesses in vielerlei Hinsicht kein freier Mensch mehr war. Man erwartete ein bestimmtes Verhalten von ihm – auch bei diesem Anlass. Betroffenheit und Trauer zu zeigen würde ihm nicht schwer fallen: nicht hier!

Für Thora wird die Erinnerung sehr viel plastischer sein, dachte er. Ich kenne nur die Bilder, die Aufzeichnungen oder Erzählungen. Sie hat es erlebt, Fancan Teiks Eingreifen, die vielen Toten.

Auch der Tod des Haluters würde Erwähnung finden, obwohl Teik nicht hier gestorben, sondern von der Bestie Masmer Tronkh ermordet worden war. Rhodan hatte seinen gesamten Einfluss geltend gemacht, um selektionistische Untertöne auszuschließen. Fancan Teik war ebenso ein Opfer wie viele andere. Sein Andenken war nicht weniger wert als das der anderen.

Ngatas Rede war professionell, aber nicht mehr als Standard. Von den Zuhörern würde dies wahrscheinlich nicht einmal bemerkt werden, denn Ngata war ein engagierter Redner. Rhetorik hatte in der Antike zu Recht als Kunst gegolten; für Männer wie Ngata indes war es nur ein Handwerk. Eins, das der Administrator perfekt beherrschte.

Perry Rhodan betrachtete nachdenklich seine Frau. Thora war nicht mehr Botschafterin, und sie trug Nathalie auf dem Arm. Die Kleine war nun eineinhalb Jahre alt und schlief, völlig unbeeindruckt vom Rummel und all dem Lärm ringsum. Rhodan bemerkte, dass Tom seine kleine Schwester beobachtete. Gleich darauf begann der Blick des Jungen umherzuschweifen, als suche er nach etwas.

Einen derartigen Beschützerinstinkt hätte ich in diesem Alter niemals vermutet!, dachte Rhodan. Er macht sich beinahe größere Sorgen um Nat als seine Mutter ... oder ich! Mag sein, dass er zu viel erlebt hat. Das ist nicht normal für einen Zehnjährigen; und die Umgebung war häufig alles andere als ideal. Aber er hat sich trotzdem gut entwickelt ... oder vielleicht gerade deswegen?