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Gerbrand Bakker

Birnbäume blühen weiß

Roman

Aus dem Niederländischen von
Andrea Kluitmann

Suhrkamp

Die niederländische Originalausgabe erschien 1999

unter dem Titel Perenbomen bloeien wit bei

Uitgeverij Piramide, Amsterdam, und 2001 auf Deutsch

beim Patmos Verlag, Düsseldorf.

2007 erschien eine vom Autor durchgesehene Neuauflage

– Grundlage des vorliegenden Bandes –

bei Uitgeverij Cossee, Amsterdam.

© 1999 und 2007 Gerbrand Bakker

und Uitgeverij Cossee BV, Amsterdam



Umschlagfoto: © Angela Kraft









ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010

© der deutschen Ausgabe

Suhrkamp Verlag Berlin 2010

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme

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www.suhrkamp.de

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-73100-0

Schwarz

Früher haben wir es gespielt. Wir haben es jahrelang gespielt. Bis vor einem halben Jahr, das war das letzte Mal. Danach hatte es keinen Sinn mehr. Wir fingen immer draußen an, an der alten Buche, die vor dem Wohnzimmerfenster steht. Die Buche war der Startpunkt. Wir legten eine Hand auf die Rinde, und meistens war es Klaas, der abzählte. Klaas ist der Älteste von uns. Klaas ist zehn Minuten älter als Kees. Gerson ist drei Jahre jünger als wir und kam alleine, er hat keinen Zwillingsbruder. Er hat Zwillingsbrüder. Das sind wir, Klaas und Kees.

Bevor Klaas anfing abzuzählen, nannte einer von uns das Ziel. Küchentür. Kopfweiden. Hühnerstall. Manchmal auch ein Ziel weiter weg. Stacheldraht zwischen den beiden Grundstücken neben unserem Haus. Klofenster vom Nachbarn. Ab und zu auch ein lebendiges Ziel. Vater. Hund. Der Nachteil dieser Ziele war, dass sie sich bewegten. Vor allem das Ziel Hund konnte problematisch sein. Derjenige, der in seinen Ohren am schönsten pfiff, gewann. Nicht, weil er das Ziel erreicht hatte, sondern weil das Ziel ihn erreichte.

Gerson hatte immer die schwierigsten Ziele. Ziele, zu denen man ewig unterwegs war, mit Kurven und mit Hindernissen. Mit Balken über dem Graben und Elektrozäunen. Sträuchern. Grabsteinen. Ganz bestimmten Grabsteinen, deren Inschriften man schließlich mit den Fingern entziffern musste. Gerson war oft auf dem kleinen Friedhof, der schräg gegenüber von unserem Haus auf einem Hügel lag. Ein uralter Friedhof, auf dem nur selten ein neuer Grabstein hinzukam. Er kannte alle Grabsteine auswendig, von vorne bis hinten. Wir nicht. Wenn er sich einen Grabstein zum Ziel auserkoren hatte, mussten wir den Text mit unseren Fingern lesen, und das ist nicht einfach.

»Drei, zwei, eins, los«, sagte Klaas, wie immer sehr langsam. Bei drei schlossen wir die Augen. Bei zwei und eins versuchten wir, uns das Haus und die Umgebung wie ein Foto vorzustellen. Aber wie langsam Klaas auch abzählte, wir hatten nie genug Zeit, das Foto abzuziehen. Auf den Fotos in unseren Köpfen gab es immer graue, verschwommene Flecken. Diese Flecken waren die Orte, die wir blind nur mit viel Mühe fanden. Bei los nahmen wir die Hände vom Baumstamm. Während der ersten vorsichtigen Schritte stießen wir immer gegeneinander. Wir suchten ja alle drei dasselbe Ziel. Aber nach den ersten Schritten trennten sich unsere Wege. Wir hatten verschiedene Fotos in unseren Köpfen, wir gingen in unterschiedliche Richtungen. Wir versuchten, lautlos zu gehen. Nichts sollte uns ablenken, und nichts sollte den anderen verraten, wo wir waren.

Wenn es nicht windig war, herrschte eine enorme Stille. Gerade weil wir versuchten, die Schritte der anderen zu hören, sauste es in unseren Ohren. Wenn es windig war, raste der Wind immer mit Orkankraft durch die Bäume. Von welchem Baum kam welches Geräusch? Das prasselnde Säuseln, das stammte von der einsamen Pappel neben dem Schuppen. Das scharfe, kurze Rauschen mussten die gestutzten Weiden sein, die am Graben neben unserem Haus standen. Das dünne, fast knisternde Sausen gehörte zu der Zeder im Garten. Der Wind wies uns die Richtung, wir lernten die Geräusche der Bäume unterscheiden.



Keiner mogelte, da waren wir uns sicher, das hatten wir abgesprochen. Wenn einer von uns aus Versehen die Augen aufmachte – das kann ganz leicht passieren –, rief er: »Ich bin aus«, und die beiden anderen machten weiter.

»Ihr seid zu zweit«, sagte Gerson ab und zu, »ich muss alles alleine machen.«

Was er damit meinte, wollten wir wissen.

»Weiß nicht«, sagte er.

»Denkst du etwa, dass wir heimlich gucken?«, fragte Klaas.

»Nein. Aber ihr spürt einander. Ich glaube, dass ihr sogar mit geschlossenen Augen wisst, wo der andere ist.«

»Quatsch«, sagte Kees. »Ich weiß nicht, wo Klaas ist, und ich habe keine Ahnung, wo du bist.«

Gerson starrte dann brütend vor sich hin und sagte eine Weile nichts mehr. Wir sagten auch nichts. Wir wussten, dass er noch etwas sagen würde, wie lange es auch manchmal dauern mochte. Gerson beneidete uns. Er fühlte sich öfter alleine, besonders wenn wir zu dritt waren.

»Du weißt nicht, wo Klaas ist, aber du hast keine Ahnung, wo ich bin. Das ist nicht dasselbe.«

»Ich meinte aber wohl dasselbe«, sagte Kees.

»Ja, ja.«

»Ja.«

»Ich will noch mal neu anfangen«, sagte Gerson.

Und dann gingen wir zurück zur Buche. Wieder nannte einer das Ziel, wieder zählte Klaas sehr langsam ab, und wieder nahmen wir die Hände vom Baumstamm.



Wir spielten es oft, früher. Wir haben es unser Leben lang gespielt. Gerson konnte es gar nicht abwarten, endlich richtig laufen zu können. Als wir fünf waren und mit dem Spiel anfingen, sahen wir ihn manchmal, bevor wir die Augen schlossen, weinend auf der breiten Fensterbank stehen. Mit seinen Klebehändchen rieb er die beschlagenen Fenster wieder blank. Wenn es windstill war, konnten wir sogar sein Gebrüll hören. So gerne wollte er bei uns sein. Bei seinen großen Brüdern, die die Augen fest zukniffen und dann mit ausgebreiteten Armen in ungefähr dieselbe Richtung torkelten.

Es war kurz nach seinem vierten Geburtstag, als wir ihn zum ersten Mal mitspielen ließen. Damals und viele Male danach mogelten wir. Wenn wir die Augen zuhatten, sahen wir nämlich nicht, ob er in den Graben lief. Er konnte damals schon gut laufen und auch gut sprechen. Aber als er die Hände auf den Buchenstamm legte und die Augen schloss, sagte er nur ein einziges Wort. Wir verstanden ihn kaum.

»Was hast du gesagt, Gerson?«, fragte Klaas, der schon mit dem Abzählen angefangen hatte.

»Schwarz«, sagte Gerson. Sogar während wir redeten, machte er die Augen nicht auf. Er hatte sie so fest zugekniffen, dass seine Wangen fast seine Augenbrauen berührten und wir seine stumpfen Milchzähne deutlich sehen konnten. »Schwarz«, sagte er noch einmal. Er hatte dem Spiel einen Namen gegeben.

Wir wurden nicht besser. Wir nicht und Gerson nicht. Egal, wie oft wir Schwarz spielten, auch nicht, als wir ein paarmal hintereinander dasselbe Ziel finden mussten. Es blieb schwierig. Selbst nach dem zehnten Mal ging man immer noch nicht blind auf die Regentonne zu. Es war jedes Mal anders. Das hatte, glauben wir, mit den Geräuschen zu tun. Jedes Mal waren andere Geräusche da. Viel Wind oder eine leichte Brise, ein vorbeifahrendes Auto, Vögel, vor allem die Reiher, die so laut aus den hohen Bäumen am Friedhof kreischen konnten, Pferde auf der anderen Seite des Grabens, die anfingen zu traben, sobald sie uns sahen. Oder das Wetter. Sonne, Nieselregen, Platzregen, Schnee, Hagel. Es war jeden Tag anders. Immer wenn wir Schwarz spielten, fingen wir sozusagen von vorne an. Als wenn die Zeit, die wir mit offenen Augen verbrachten, das Spiel störte.

Ferien

Unser Vater hatte ein sehr altes, sehr kleines Auto. Früher hatten wir mal zwei Autos, das sehr alte, sehr kleine und ein großes glänzendes. Unsere Mutter war eines Tages in dem großen glänzenden weggefahren, und wir hatten beide nie wiedergesehen.

»Sie ist im Ausland«, sagte unser Vater, der Gerard heißt. »Bei einem anderen Mann. Einem ausländischen Mann.« Wir waren alt genug, unseren Mund zu halten, aber Gerson, der dafür noch nicht alt genug war, fragte: »Warum?«

Wir bekamen fünf Karten pro Jahr von ihr. Zu unseren Geburtstagen und zu Neujahr. Viel stand nicht darauf. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! oder Alles Gute im neuen Jahr! Wir schickten ihr nie eine Karte zurück, weil wir nicht wussten, wohin wir sie schicken sollten. »Warum wissen wir das nicht?«, wollte Gerson wissen. Gerard antwortete, dass sie uns ihre neue Adresse nie geschrieben hatte. Auf der ersten Karte und auf allen folgenden klebte eine italienische Briefmarke. Ausland war Italien, und ausländischer Mann war Italiener. Gerard hatte abendelang durch eine Lupe auf den Poststempel gestarrt, aber er konnte nicht lesen, was dort stand. Später hatte er es noch ein paarmal versucht, und letztendlich hatte er es aufgegeben. »Sie macht es absichtlich«, sagte er, »es ist wirklich jedes Mal unlesbar.«

Während Gerard so lange starrte, bis ihm die Tränen kamen, saßen wir zu dritt über die Italienkarte im Atlas gebeugt. Kees zeigte auf Städte und Dörfer, und wenn sie nicht zu schwierig waren, las Gerson ihre Namen laut vor. »Ist sie da?«, fragte er bei Mailand. »Wohnt sie vielleicht in Rom?«, fragte er bei Rom. »Ist sie denn hier?«, fragte er bei Neapel. Kees’ Zeigefinger bewegte sich immer weiter gen Süden, und Klaas sagte immer wieder: »Das wissen wir nicht, Gerson.«

»Aber sie muss doch irgendwo sein. Wo ist sie denn? Warum schreibt sie uns das nicht? Ist Italien ein schönes Land? Was sprechen die Leute da? Ist Mama zu Besuch bei jemandem? Wann kommt sie wieder?« Die Fragen hörten nur auf, wenn der Atlas zugeklappt wurde.



Unser Hund heißt Daan. Er ist ein rauhaariger Jack-Russel-Terrier. Gerard hatte ihn gekauft. »Der passt gut hierher, so ein kluger kleiner Hund auf dem Hof«, sagte er, »vielleicht kann er Maulwürfe fangen.« Daan mochte keine Maulwürfe, und Ratten und Mäuse schon gar nicht. Er hatte Angst vor ihnen. Er hatte auch Angst vor Gräben und der Straße, aber das war praktisch, er würde nicht ertrinken und nicht unters Auto kommen. Daan liebte Mutter und Gerson. Obwohl Gerard ihn ausgewählt und gekauft hatte, mochte Daan ihn nicht besonders, und uns benutzte er auch nur dazu, sich Stöcke und Tennisbälle durch den Garten werfen zu lassen. Es ist seltsam, warum so ein Hund aus unerklärlichen Gründen an bestimmten Menschen hängt. Meistens an einem einzigen Menschen, aber Daan hing an Mutter und an Gerson.

Er hat monatelang, vor allem gegen Abend, leise jaulend vor der Hintertür gesessen. Gerard und wir konnten nichts daran ändern, nur von Gerson ließ er sich trösten. Der setzte sich dann auf den Fußboden, den Rücken gegen die Waschmaschine gelehnt, und fing an, mit Daan zu reden. Ellenlange Geschichten erzählte er ihm, über alles Mögliche. Es war egal, was er sagte, es ging um den Ton seiner Stimme. Er streichelte Daan nicht und flüsterte ihm keine Koseworte ins Ohr, sondern redete so lange auf ihn ein, bis Daan ihm gegen die Brust sprang und ihm das Gesicht ableckte und wild mit seinem kurzen Schwanz wackelte, was lächerlich aussah, weil Jack-Russel-Terrier fast keinen Schwanz haben. Eines Tages ging Gerson nicht in die Waschküche, als wir Daan vom Wohnzimmer aus leise winseln hörten. »Gerson, tu endlich was an dem Hund«, sagte Gerard, den das Gewinsel so nervös machte, dass er sich nicht mehr auf das Fernsehprogramm konzentrieren konnte.

»Nein«, sagte Gerson. »Er muss etwas tun.«

Eine Weile später rannte Daan ins Zimmer. Er rutschte auf dem Parkett aus und schlitterte ein Stückchen weiter. Schließlich bekam er seine Pfoten auf dem Teppich wieder in den Griff, machte einen Riesensprung und landete auf Gersons Schoß. Dort drehte er sich ein paarmal um sich selbst, bellte einmal kräftig und legte sich danach ruhig hin. »So«, sagte Gerson, »jetzt ist er fertig mit dem Trauern. Er hat es vergessen. Jetzt weiß er, dass Mama nie mehr wiederkommt.«

Gerard schaute sehr seltsam drein, als Gerson das sagte.



»Vier Männer in einer alten Klapperkiste.« Das sagte Gerard immer, wenn wir zu viert im Auto irgendwohin fuhren. Wir mussten dann an spannende, altmodische Abenteuerbücher für Jungen denken. In Gerards Zimmer lagen stapelweise Abenteuerbücher. Er hatte sie von seinem Vater bekommen, unserem Opa. Wir durften sie zwar lesen, aber wenn wir ein Buch aushatten, mussten wir es sofort wieder in sein Zimmer legen. An Freunde ausleihen, danach durften wir nicht mal fragen. »Es sind Erbstücke«, sagte Gerard, »damit muss man sorgfältig umgehen.« Wir hatten ihn im Verdacht, dass er die Bücher selbst auch noch las, vor allem, nachdem Mutter verschwunden war.

Das Auto war alt und klein, aber gut in Schuss. Es war hellblau oder hellgrün, darüber gingen die Meinungen auseinander. Vielleicht sind alle Männer farbenblind. Gerard und Kees sagten, dass das Auto blau sei, Klaas und Gerson hielten es für grün. Weil wir nicht derselben Meinung waren, hatten wir uns auf einen Kompromiss geeinigt. Einen Kompromiss, den Gerson vor Jahren benannt hatte. In der Zeit, als er schon ziemlich gut sprechen konnte, kurz nachdem wir ihn zum ersten Mal bei unserem Spiel hatten mitmachen lassen, ging Gerard mit ihm über den Hof und durch den Garten.

»Welche Farbe haben die Blätter?«, fragte Gerard.

»Grün«, sagte Gerson, ohne zu zögern.

»Und die Regentonne?«

»Schwarz.«

»Nein.«

»Braun?«

»Das ist besser.«

»Schwarz ist, wenn wir bei der Buche sind«, sagte Gerson.

»Genau«, sagte Gerard. »Und der Himmel über dir?«

»Blau.« Gerson drehte den Kopf. »Und ein bisschen weiß«, fügte er hinzu.

Als sie vor dem Auto standen, erschien eine tiefe Falte über Gersons Nase.

»Ja, sag’s nur«, drängte Gerard.

Gerson dachte noch einen Moment nach und sagte dann: »Schnodder.«

»Schnodder?«

Das Auto war schnodderfarben und blieb schnodderfarben.



Oft waren wir übrigens zwei Männer in einer alten Klapperkiste. Oder drei Männer in einer alten Klapperkiste. Gerson und wir hatten unsere Räder. Wenn Gerard einkaufen ging oder Sträucher in der Gärtnerei besorgte, fuhren wir nie alle drei mit, weil die Einkäufe oder die Sträucher sonst nicht ins Auto gepasst hätten. So klein war es.

Gerard reparierte das Auto selbst und wusch und polierte es regelmäßig, wenn er freihatte jedenfalls. Gerard arbeitet bei so einem Betrieb mit drei schwierigen englischen Namen. Weil alles englisch ist, seine Arbeit und sein Chef, wissen wir nicht genau, was er macht. Wir wissen wohl, dass er viel arbeitet, manchmal auch abends oder am Wochenende. Vielleicht ist unsere Mutter darum mit einem anderen Mann weggegangen, weil Gerard so oft nicht zu Hause war.

Wir halfen ihm ab und zu, das Auto zu waschen, aber wir machten immer was falsch oder nicht gut genug. »Die Radkappen gehören auch dazu«, seufzte Gerard. »Und das Nummernschild.« Der Autowaschtag, meistens ein Samstag, war ein vertrauter Tag. Wir waren alle vier draußen, Daan rannte hin und her und drehte seine Runden, die ihn aber nie weiter wegführten als bis zur Straße oder zu den Gräben, die das Haus umgeben. Wir spielten Schwarz, was besonders schwierig war, weil das Auto und Gerard im Weg standen. Mittags aßen wir Pfannkuchen, die wir reihum backten.

Im Winter, wenn wir es draußen zu kalt fanden, saßen wir zu dritt im Wohnzimmer und lasen oder schauten durch das große Fenster nach draußen, wo man Gerard durch die Dampfwolken hindurch kaum erkennen konnte. Er sang immer, wenn er das Auto wusch. Sogar wenn er sich wärmte, indem er die Arme um sich schlug, hörte er nicht auf zu singen, was seltsam klang. Wir wissen nicht, ob es möglich ist, aber wenn es möglich ist, dann liebte Gerard sein schnodderfarbenes kleines Auto. Er wollte, dass auch wir das Auto liebten, darum hatte er immer was zu meckern, wenn wir mit dem Gartenschlauch und dem Staubsauger daran herumwerkelten. Aber wir, und auch Gerson, liebten lieber unsere Mutter. Unsere Mutter, die eines Tages in dem großen glänzenden Auto weggefahren und nie mehr zurückgekommen war.



Trotz seines hektischen Jobs nahm Gerard im Sommer immer zwei oder drei Wochen frei. Wenn wir in Urlaub fuhren, saßen wir zu viert im Auto. Taschen standen zwischen unseren Beinen, Schlafsäcke versperrten die Sicht durch die Rückscheibe. Der kleine Kofferraum war vollgestopft mit Campingsachen. Die Klappe ging nicht mehr zu und war mit einem Tau an der Anhängerkupplung festgebunden. Zum Glück ist Daan ein kleiner Hund, er passte immer noch irgendwie hinein.

Beim Beladen des Autos musste man planmäßig vorgehen, Schritt für Schritt, Tasche für Tasche. Wenn wir einmal saßen, waren wir völlig eingeklemmt und konnten uns nur noch in eine Richtung bewegen, nämlich samt Auto nach vorne, rauf auf die Autobahn.

Gerard fuhr immer auf der ganz rechten Fahrbahn. Nicht, weil er das so gerne wollte, sondern weil es nicht anders ging. Er konnte niemanden überholen, nicht mal die Lastwagen, die nur 80 fahren dürfen, aber immer schneller fahren. Außerdem wackelte das winzige Auto im Windschatten der großen Lastwagen dermaßen hin und her, dass es lebensgefährlich war.

Uns störte es nicht, dass wir immer auf der rechten Spur fuhren. So sahen wir wenigstens noch was von der Landschaft. Gerson fand es auch okay. Er hatte im Auto immer ein wenig Angst, vor allem auf der Autobahn, wo ihm von den vorbeiflitzenden Autos schwindlig wurde.

Als Gerard ein paarmal auf der linken Fahrbahn fuhr, weil es nicht anders ging, verursachten die Autos, die in rasendem Tempo auf ihn zufuhren, Gerson Schweißausbrüche.

»Wohin fahren all die Leute bloß?«, fragte er niemand Bestimmten, jedes Mal wenn wir eine weite Reise machten. »Können die nicht ganz normal zu Hause bleiben?«

Der Einzige, den es eher störte, dass wir nicht schneller fahren konnten, war Gerard. Je länger wir unterwegs waren, desto tiefer beugte er sich übers Steuer. Ohne dass er selbst es merkte, schaukelte er manchmal sogar hin und her, als wenn er das Auto mit seinem Körpergewicht vorantreiben wollte.

»Gerard«, sagte Gerson dann.

»Was?«

»Du schaukelst hin und her.«

»Ja, ja, ich bin ein wenig steif geworden vom langen Sitzen.«

»Ja, ja.«

Danach ging es wieder eine Weile gut.