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Unmittelbar nach der Diagnose findet er keine Worte. Erst später, bei der täglichen Fahrt quer durch die Stadt, versucht er, die Dinge zu benennen, aufzuschreiben, was ihm geschieht: die Unterwelt der Onkologie, die Müdigkeit nach der Bestrahlung, die Erinnerung an Kindheit und Herkunft, an Straßenbahnfahrten mit dem Vater und Kino mit der Jugendfreundin Mile, an Verlassenwerden in Paris und den Abschied von seiner Geliebten. Den möglichen Tod vor Augen, stellt er sich die Frage nach dem Gelebten und dem Versäumten, nach dem, was Antrieb war, was Begehren und was Liebe.

Halt auf Verlangen ist Urs Faes’ bislang intimstes Buch, gewachsen aus der autobiographischen Erfahrung der Krankheit, geschrieben, um sich festzuhalten am Stift, an Worten, Bildern und der Erinnerung. Schreiben als Notwehr, gegen die eigene Hinfälligkeit – und darin ganz dem Leben zugewandt.

Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis. Sein Roman Paarbildung stand auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis.

Urs Faes

Halt auf Verlangen

Ein Fahrtenbuch

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2018

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4890

© Suhrkamp Verlag Berlin 2017

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Umschlagillustration: Nanne Meyer, Berlin

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-75089-6

www.suhrkamp.de

Halt auf Verlangen

Ein Fahrtenbuch

Er fürchtete nicht das Leiden, den Tod, er war nicht einmal verliebt in das Leben, aber er hatte ein tiefes Begehren verspürt.

Henry James

Seeing more and feeling less;
saying no but meaning yes,
this is all I ever meant,
that’s the message that I sent.

David Bowie

Vorfahrt: Ein Abschied

Er lehnte sich mit der Schulter an den Türrahmen, überblickte das Zimmer im Halbdunkel; draußen dämmerte der Tag heran, das Licht fiel streifig in den Raum, wo noch immer ihre eilig ausgezogenen Kleidungsstücke verstreut lagen, die Schuhe, die Bluse, die Strümpfe.

Sie war vergnügt gewesen, übermütig, hatte sich um die eigene Achse gedreht und sich das Zeug vom Leib gezupft, mit kleinen Pausen, in denen ihr verschmitzt wirkendes Gesicht ihn schalkhaft maß, belustigt über sein Staunen, sein atemloses Schweigen.

Er war verwundert gewesen, dass sie ihn diesmal wieder aufgefordert hatte, mitzukommen nach oben, wo das war, was sie ihr kleines Paradies und Refugium nannte. Die oberste Wohnung mit Aufgang zur Dachterrasse, mit Blick über die Stadt bis zum See und, an klaren Tagen, in die Berge, deren ewiger Schnee sie mit kindlicher Freude erfüllte.

Sie hatte ihn schon das eine oder andre Mal mitgenommen, aber sie tat es nicht oft, und für eine ganze Nacht schon gar nicht. Gerade an diesem Abend hatte er darauf nicht hoffen können, und er hatte auch nicht damit gerechnet. Schließlich war er einer geworden, dem das nicht mehr zustand. So sagte es Silaski, nicht ohne Mitgefühl, aber mit der kalten Sachlichkeit und unverblümten Offenheit, die zu ihm gehörten. »Das steht dir nicht mehr zu.«

Mit diesem Satz im Ohr war er zum Treffen mit Simone gefahren, war frühzeitig in der Storchenbar gewesen, fast allein unter dem leichten Regen des Vorabendpianos, dessen Töne warm und weich in den Raum plätscherten. Er ließ keine Erinnerungen aufkommen.

Er schlug den Mantelkragen hoch, entdeckte die Laufmasche in den Strümpfen, die fast ordentlich nebeneinanderlagen, als hätte Simone sie nachträglich über den Schuhen ausgerichtet, ein Schleier über dem Leder, netzverspielt. Unbeschwert war sie gewesen an diesem Abend, wie seit Wochen nicht mehr, wie vielleicht nie zuvor. Sie hatte diese Fähigkeit, sich zu verlieren und den anderen dahinein mitzunehmen, in die Zeitlosigkeit des gelebten Augenblicks. Und er musste nicht reden von dem, was ihn bedrängte, wovor ihm bangte.

Im tiefen Schlaf, in dem sie jetzt lag, war von ihrer übermütigen Stimmung nichts mehr zu spüren; ihr Gesicht ruhte wieder im Schein ihrer Ernsthaftigkeit, die sie im Alltag selten verlor und die den Eindruck von abweisender Kühle oder gar Kälte hervorrief; eine Frau, die sich ganz ihrer selbst bewusst war. Sie hatte das Leintuch hochgezogen bis zum Kinn, nur das Knie schoss aus dem Weiß hervor, bleiche Haut, leicht gerötet um die Kniescheibe, und am Bettende ihre nackten Füße, die bemalten Nägel, ein dunkler Nagellack, ein Bordeaux.

Es wurde heller, er sah die Dächer der Häuser zum See hin, noch immer leicht benommen vom Schauder der Nacht, in den langsam die Melancholie des anbrechenden Tages sickerte, ein unnachsichtig wachsendes Licht, das ihn schmerzte.

Ihr Mund war halb geöffnet, das Lippenrot verwischt. Er las im Laken den gleichmäßigen Gang ihres Atems; ihre ungestümen Küsse waren nur noch eine Erinnerung, nichts mehr von der leidenschaftlichen Heftigkeit ihrer Gesten, vom Druck ihrer Hände, den in seiner Haut sich vergrabenden Fingern. Nackt war sie auf ihn, den verwundert starrenden Angekleideten, zugeschritten, den einen Finger leicht erhoben. Damit tippte sie ihn an, erst auf die Brust, dann auf das Kinn.

Mit dem einbrechenden Licht zogen die Bilder an ihm vorüber, ihre Gesten, die Bewegungen ihres Körpers, ihr schelmenhaft lächelndes, dann wieder stilles, ernstes Gesicht, das im Kissen gelegen hatte, während ihr Finger über seine Haut gestrichen war, sein Ohr liebkost hatte. Er freute sich an ihrem Anblick in diesem Morgenlicht und zuckte gleichzeitig unter der Wehmut, die ihn überkam.

Sie hatten wenig geschlafen, als wären sie in ein Spiel vertieft, das zu immer neuen Partien einlud, um nie ein Ende zu finden, die Nacht zu dehnen, den Tag auszusperren und hinzuhalten. Sie hatten viel getrunken. Er durchlebte selten solche Nächte, sein Alltag war zu streng geregelt, Ausschweifungen gab es darin kaum. Simone war eine Meisterin im Inszenieren dieses währenden Spiels, das er auch als Rebellion, als Aufruhr gegen die ablaufende Zeit empfand, ein Bleibenwollen, ein Verweilen in einem Raum, der Zuflucht war und Schonung. Wenn der eine von ihnen einzuschlafen drohte, weckte der andere ihn auf. Sie redeten nicht viel, flüsterten, stammelten, lachten öfter mal laut auf.

Nur einmal fragte sie, ob es ihm gutgehe.

Er schaute irritiert auf, antwortete rasch.

Besser, als einer wie er es sich wünschen könne.

Sie hatte energisch den Kopf geschüttelt, ihr Gesicht hatte für einen Augenblick einen nachdenklich kühlen Ausdruck bekommen.

Wir bekommen weniger, als uns zusteht, an Zuneigung und Aufmerksamkeit, weniger, als wir uns wünschen an Nähe und Aufgehobensein. Simone hatte mit den Fingern geschnippt, als wollte sie ihre eigenen Worte verscheuchen.

Diese Nacht nicht, hatte er mit Bestimmtheit eingeworfen, das ist doch viel.

Wart’s ab, Simone lachte jetzt wieder, die Nacht ist noch nicht vorbei.

Das Licht, das in seine Augen fiel, tat weh, die Nacht war zu Ende, der Tag eingetreten, das Spiel, das späte, vorbei. Keiner gab mehr Karten aus, keiner wagte mehr einen Einsatz, neckte, reizte, schlug eine Finte, wich aus und öffnete dann zärtlich die Arme. Das gehörte dazu, wenn sie miteinander waren, ein Sichnähern, ein Sichentfernen, ein Vertraut- und Fremdsein zugleich. Sie wurden zu Tänzern, zu Pantomimen, die sich stumm aufeinander bezogen, bis sie lachend und taumelnd zueinander fanden.

Sie bewegte sich jetzt heftig unter ihrem Tuch, fuhr sich hastig mit der Hand durchs Haar, flüsterte etwas, er lauschte, beugte sich vor, ins Zimmer, trat aber nicht ein. Er vernahm kehlige Laute, aber nicht Worte. Unvermittelt musste er lächeln, als hätte sie im Traum mit ihm gescherzt.

Sie schniefte.

Unbekümmert war sie gewesen in dieser Nacht, mal laut, mal leise, zärtlich und stürmisch.

Er hatte nicht an den Morgen gedacht, an die Gänge, die bevorstanden, an das Bangen, die Angst.

Das Licht scheuchte das letzte Dunkel aus dem Raum, draußen wuchs das kräftige Grün der Zweige, das letzte scheue Lila der Glyzinien, das Blau des Himmels, an dem die Wolken zogen.

Er blickte auf die Uhr, in zwei Stunden würde er da sein, durch die langen Korridore streben mit den verschlossenen Türen, den grauen Fliesen und dem unablässigen Sirren, das von irgendwoher zu kommen schien, aus den Wänden, aus den Türen, in diesem übergrellen Licht. Simone würde fern sein, ein verblassendes Bild, und er allein in diesem Korridor, in der anderen Welt, der er fortan bestimmt war, für lange, vielleicht für immer.

Wer weiß das schon?

Bei diesem Satz hatte er in der Stimme des Arztes einen Unterton von Mitleid zu hören geglaubt, den er indes rasch wieder verlor und statistisch erfasste Überlebensraten deklamierte.

Wieder vernahm er Laute, ihre Lippen bewegten sich, als spräche sie. Ihr Gesicht kam ihm nun vergnügt vor. Im Schlaf zuckten ihre Finger, als wollte sie nach dem Laken greifen.

Sie hatte ihn gar nicht erst staunen lassen, als sie da nackt neben ihm lag, ihre Finger auf seiner Haut tänzeln ließ, sich anschmiegte, ihre Brust an seinem Oberarm.

Es war leicht gewesen, sich dem Geben und Nehmen und Sichverlieren zu überlassen und es zu erwidern. Das war ihm in den letzten Monaten nie mehr gelungen, in den vergangenen Jahren selten. Mit ihr schon. Wenn sie da war. Wie in dieser Nacht.

Wieder hob er den Kopf, schniefte leicht, als müsste er es ihr nachtun. Jetzt nahm er ihn wahr, diesen Duft, der schwer im Raum hing, von Haut und Schweiß und Körper, von ihm, von ihr, von ihnen beiden.

Sie drehte sich in einer schnellen Bewegung, kehrte ihm den nackten Rücken zu, über den ein Striemen geröteter Haut verlief. Auf Zehenspitzen trat er nun doch an sie heran, legte die Fingerkuppe auf einen Wirbel, schloss die Augen und war noch einmal bei ihr in der Ausgelassenheit dieser Nacht, in der der eine den anderen auf Gebirge getrieben und in Täler hatte fliegen lassen, in Lust und Angst und Lachen.

Das war vorbei.

Er trat in den Korridor zurück.

Er sah sich noch einmal um: Ihr Gesicht lag reglos im Kissen; das Leintuch zeichnete die Kontur ihres Körpers nach. Ihr Fuß grüßte den Morgen, fing das Licht, das nun üppig fiel; der schwankende Schatten von Zweigen hüpfte über den Boden, über die Schuhe, die Strümpfe, die achtlos hingeworfenen Kleidungsstücke.

Simone, er machte eine Pause, Simone, leb wohl.

Er winkte der Schlafenden zu, wendete rasch sich ab, flog durch den Flur, das Treppenhaus und die Eingangstür in einen Morgen, der schon frühherbstlich kühl war.

Stadtfahrt: Kronenstraße

Kurz nach halb sieben schlüpfte er aus dem Haus, nahm nicht den üblichen Weg zur Tramstation, sondern den etwas längeren um den Häuserblock. Das erlaubte ihm, unbemerkt von den Nachbarn, gleichsam hintenherum, direkt die Tür des letzten Tramwagens anzupeilen und aufzuspringen, ohne mit jemandem reden zu müssen.

Der späte Septembertag war kühl, neblig feucht; er hatte schon Tage zuvor den Wintermantel vom Dachboden geholt. Den Mantelkragen hochgeschlagen, schritt er die abschüssige Straße hinan auf die Traminsel zu. Er hatte vor dem Weggehen noch eine Weile am Fenster gestanden, um auszuspähen, ob ja kein Bekannter zu entdecken war.

Im Halbdunkel vor der Traminsel blieb er stehen, musterte die Wartenden, folgte der im Wind schwankenden Lampe.

Bald sieben. Er würde in die Morgendämmerung hineinfahren. Er hörte das Tram, drehte den Kopf nach rechts und nach links, eilte über die Straße und zwängte sich in die Menge; Fahrgäste, die dicht an dicht standen, Morgengesichter auf dem Weg zur Arbeit. Meist fuhr er im Elfer nur bis Hauptbahnhof, eine Fahrt von wenigen Minuten, und nahm dann einen der Intercityzüge, die ihn in die Ferne trugen, nach Basel, Berlin oder Wien. An diesem Morgen war keine Fernreise vorgesehen; heute würde er sitzen bleiben und fast bis zur Endstation fahren auf den Hügel am Stadtrand, wo sich die Spezialkliniken angesiedelt hatten. Hirslanden, Balgrist, Rehalp. Siebzehn Stationen von Kronenstraße bis Balgrist, laut Fahrplan siebenundzwanzig Minuten Fahrt, Streckenblockierungen wegen hohen Verkehrsaufkommens oder Unfällen waren nicht auszuschließen, besonders im Morgenverkehr.

Bahnhofquai.

Das übliche Gewusel. Einige zwängten sich hinaus, andere drängten herein. Er eroberte einen Sitzplatz, versuchte zu lesen, es war unmöglich, die Zeitung auseinanderzufalten.

Er hörte die Lautsprecherdurchsage vom Bahnhof, sah die hohen Kräne, die sich über der Kuppel drehten. Tauben verharrten auf dem Geländer zum Fluss hin.

Langsam glitt das Tram in die Bahnhofstraße, eine Endlosbaustelle. Bäume wurden in Eisen gelegt, um Rammfahrer abzuhalten. Ein Rucksack streifte seine Wange. Die meisten mit dem Blick ins Tablet oder ins Tabloid der Gratiszeitung, streng, konzentriert.

Ein alter Vers fiel ihm ein, ein Kalenderblatt, das er aufgepinnt hatte: »Sind wir das? – Grau, transparent / und besinnungslos – Kreuzigung, / barock, im Halbschlaf – / Wir? Im Autobus, hochseefahrend / Titanic, vor sieben …«

Er war die Strecke zweimal gefahren, einmal für die gründlichen Untersuchungen, ein zweites Mal zur Planung und Tätowierung. Er hatte sich die Namen der Stationen gemerkt, oben am See war die Mitte der Fahrt, Bellevue, mit Blick auf das Wasser und in die Berge. Balgrist das Ziel, die drittletzte Station des Elfer-Trams. Nach Balgrist, den Kliniken, folgten nur noch zwei Haltestellen: zuerst Friedhof Enzenbühl und dann Rehalp, auch ein Friedhof, der mit seinem Flurnamen auf äsende Rehe verwies und das Alpenglühen am Ende der Fahrt. »Rehalp« war dem Elfer, grüne Zahl, blaues Tram, als Ziel an der Frontscheibe eingeschrieben, die Endstation, der jede Fahrt zustrebte.

Ein schönes Wort, hatte er zu Simone gesagt, findest du nicht? Sie hatte ihn in die Wange gekniffen und ihm einen Klaps gegeben.

Beide Friedhöfe galten als authentisches Stück der städtischen Friedhofsgeschichte, so meldete die Broschüre, die er sich schon mal beschafft hatte. Ihre einmalige Lage wurde gepriesen, die Waldkulisse mit Blick auf den See; gelobt wurde die reiche Bepflanzung mit Raritäten, hervorgehoben die kegelförmig geschnittene Rotbuchenallee, die in Fachkreisen bekannt und zur Schulung von botanischen Kenntnissen beliebt sei. Welch schöne Aussicht für Tote, hatte er gedacht und bei dem Gedanken etwas Tröstliches empfunden.

Börsenstraße. Kaum Menschen draußen. Nasses Altlaub vor dem Eingang einer Bank, eine Glastür, eine Aufschrift. Er hörte jetzt wieder das Rauschen in seinem Ohr, das alle Außengeräusche übertraf, ein Lärmpegel zwischen ihm und der Welt, der die Stimmen, auch sein eigenes Räuspern, übermalte. Grauer Glast über dem See, feucht, die Ufer verwischt in der Morgendämmerung.

Er hörte wieder die Stimme des Chefarztes, der ihm die Planung erläutert hatte, von der Höchstdosis sprach, 79 Gray; zu verabreichen in vierzig Sitzungen, die eigentlich Liegungen waren, weil ihm die Dosis auf dem Liegetisch verabreicht würde, zielgenau, treffsicher. Er hätte achtzig Fahrten mit der Linie elf vor sich, allenfalls eine zusätzliche bis Enzenbühl oder Rehalp. Seine Überlebenschance bezeichnete der Chefarzt als 70 zu 30, im besten Fall. Eine Begleittherapie mit Goserelin erhöhe von 70 auf 85, bedeute allerdings eine völlige Ausschaltung des Hormonsystems und wirke persönlichkeitsverändernd. Insgesamt 41 Nebenwirkungen von Goserelin waren vermerkt, darunter Blutdruckerhöhung bis zum Kollaps, aber auch Depression, Verstopfung, Atembeschwerden und Muskelzuckungen.

Der Chefarzt hatte die Wörter in gleichmäßigem Tonfall aneinandergereiht, eine medizinische Serialpoesie, manchmal kurz das Kinn gehoben, ihm in die Augen geschaut, gewartet.

Doch er hatte nichts gefragt und über den Chefarzt hinweg auf die Wand geblickt, auf das Bild: Wapitis in einer Schneelandschaft.

Sie lieben Wapitis?

Die Frage irritierte den Arzt. Er stockte kurz, drehte sich um, schaute auf das Bild.

Eine Aufnahme aus Jackson Hole, Wyoming, erklärte er, die Tiere hungerten, tauchten in der Nacht vor dem Hotel auf, erbärmlich blökend vor Hunger.

Der Arzt erwähnte den Kongress in Jackson, den er damals besucht habe, über neue Methoden der Interaktion von Photonen während einer Bestrahlung. Er machte eine Pause, zeigte nochmals auf die Wapitis. Wunderbare Tiere, schwärmte er und wandte sich wieder seinem Blatt zu, nannte weitere mögliche Nebenwirkungen von Goserelin, Gemütsschwankungen, Wallungen und Brennen im Unterleib.

Nicht angenehm, gestand er, wieder mit diesem mitfühlenden Unterton, aber nicht alles trifft zu, es sind Möglichkeiten.

Er nickte dem Arzt zu, sah wieder hoch zu den Wapitis, glaubte jetzt, deren verzweifeltes Blöken zu hören. Er hob leicht die Hand, als winke er den Tieren zu, als wolle er sie beschwichtigen, sie vertrösten auf den Morgen, da sie gefüttert würden und vielleicht die Sonne über die Schneefelder käme.

Als der Arzt schwieg, warf er ein, das Mögliche sei oft auch das Wirkliche; alles Mögliche auch für wirklich zu halten sei eine Eigenschaft, ja eine Krankheit, unter der er schon als Kind gelitten habe, mit dem Resultat, dass das Mögliche dann auch als Wirkliches in seinem Leben eingetroffen sei. Das könne sich auch hier ereignen, und all die möglichen Nebenwirkungen würden in seinem Fall tatsächlich eintreten.

Das Gesicht des Arztes verriet Unwillen; er empfahl trotz der vorsorglich genannten Nebenwirkungen die Goserelinspritze. Nur so sei die Behandlung auch sicher wirksam und würde die Überlebenschance um fünfzehn Prozent erhöhen; angesichts dessen seien die erwähnten Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen, auch wenn sie bloß eine verschwommene Wahrnehmung, eine getrübte Sicht vielleicht bewirkten, was ja auch helfen könne, mit den neuen Tatsachen zu leben.

Getrübte Aussicht, dachte er mit Blick auf die hungernden Wapitis, Endstation Rehalp, Einzelgrab in der Buchenallee. Er nahm sich vor, öfter mal wieder Friedhöfe zu besuchen, sich die Bepflanzung genau anzusehen und sich allfällige botanische Besonderheiten und Raritäten zu merken, auch den Schattenformen, die auf die Gräber fielen, zu folgen und die Aussicht auf Sonne festzuhalten, dem Gesang der Vögel zu lauschen, durchaus mit dem Gedanken, wie tröstlich es sein könnte, um das Singen der Vögel über dem Grab zu wissen.

Er hatte dem Chefarzt die Hand gereicht, war in den Korridor hinausgetreten.

Wetlistraße.

Die Türen sprangen klackend auf.

Er nickte zur Buchhandlung hinüber, die er lange schon kannte. Eine Schlange von Lesenden stand bereits am frühen Morgen vor dem Eingang, um vor der Arbeit noch schnell ein Buch zu erstehen. Das freute ihn.

Eine Frau, fast zwei Meter groß, mit einem winzig kleinen Hund setzte sich ihm gegenüber. Er sah an ihren Knien, an ihren Waden vorbei auf den Hund. Dieser trug um den Hals einen nach vorne offenen mächtigen Plastiktrichter, der seinen Kopf vom Körper trennte. Als der Hund sich hinlegte, zog die Frau den Trichter an ihre Unterschenkel, hielt Trichterkontakt. Er erinnerte an ein altes Grammophon; wie der Hund so lag, machte es den Eindruck, als sei der Kopf abgetrennt vom Leib, das Tier in seine Einzelteile zerlegt.

Es schien einfach, ihn zu verpacken, erst den Kopf, dann den Trichter, schließlich den kleinen Leib, die Beine und den Schwanz abzuschrauben und alles in eine holzwollegepolsterte Schachtel zu legen wie den Hamster im Winterschlaf. So könnte er leicht per Post spediert werden. Er wäre beim Eintreffen der Reisenden schon am Ziel, könnte in seiner Schachtel am Empfang abgeholt, ausgepackt und bräuchte nur noch zusammengeschraubt zu werden.

Burgwies stieg die Frau aus.

Ach so, rief einer, hab ich mir schon gedacht, direkt ins Tram-Museum.

Der Hund oder die Frau? Alle lachten.

Balgrist.

Er sprang auf.

Fünf Minuten zu Fuß bis zum Eingang.

Er kannte den Weg.

Als sich die Lifttür öffnete, strebte er gleich auf einen der Stühle zu, grüßte knapp, sah an den bereits Wartenden vorbei, zwei Männer, eine Frau.

Er hielt den Blick gesenkt, ein grauer Teppich, weich, zottelig, dachte er, malte sich aus, barfuß darüber zu gehen, Schritt für Schritt, langsam durch den Raum, auf die Tür zu. Er hatte das Barfußgehen immer als eine Form von Nacktsein empfunden; nur nicht die Schuhe, schon gar nicht die Socken ausziehen müssen. Er hatte das Gefühl, die Füße würden viel von ihm verraten, mehr als er wollte. Ihn schreckte die Vorstellung, sich jetzt jeden Tag barfuß zeigen, sich hinlegen zu müssen.

Er schüttelte leicht den Kopf, schloss wieder die Augen.

Simone, die auf dem Rücken liegt, die Knie angezogen; ihr Blick war ihm zugewandt, als er einmal kurz aufgestanden war in der Nacht, nicht fragend, nicht fordernd, nicht tadelnd, sondern einfach still. Sie schaute liebevoll zu ihm hin, als wollte sie ihn mit ihren Blicken umarmen, ihm bedeuten, er möge ganz ruhig sein. Mit offenen Augen hatte sie sich aufs Bett gelegt, sich gedreht, gerollt, hatte sich leicht aufgerichtet, die Hand gehoben und dann dieses »Komm« geflüstert, Ermutigung und Bitte zugleich.

Er hörte einen Namen, hob fragend den Kopf; die Stimme klang hell, es war sein Name, er nickte, eine Frau stand in der Tür, im weißen Spitalanzug, eine Hose, ein Hemd, eine dickumrandete Brille in einem Gesicht mit flachen Wangen, das Haar hochgesteckt, streng geknotet. Er schaute zu ihr hin, ihr Gesicht blieb auf ihn gerichtet. Für einen Moment war er irritiert. Diese Augen. Seltsam. Er entdeckte die Leberflecke, am Hals, am Oberarm.

Erst als ihre Stimme seinen Namen wiederholte, erhob er sich, ging auf sie zu.

Sie streckte ihm die Hand entgegen, auf Brusthöhe, schon fast unter dem Kinn, das verwunderte ihn und erinnerte ihn für Sekunden an ein Plakat, das in einem Schulzimmer gehangen hatte: Uncle Sams ausgestreckte Hand, begleitet von dem Satz »I want you for U. S.-Army«. Wollte sie ihn auch für einen Kampf, einen Krieg?

Sie nannte ihren Namen, Anacher, unterstrich sie, Annet, und deutete auf das Namensschild an ihrem Hemd, oder einfach Frau Ana, ist gängiger.

Triple A, scherzte er. Sie lachte nicht.

Sie schloss die Tür, stand mit ihm in der engen Kabine, ein Haken, eine Bank, ein mannshoher Spiegel, eine zweite Tür nach innen.

Sie können sich gleich hier freimachen, bis, sie zögerte kurz, bis auf den Slip, ich hole Sie dann ab.

Er beeilte sich, bemerkte flüchtig seine verwischte Gestalt im Spiegel, schloss rasch die Augen. Simone hatte ihre Arme weit nach ihm ausgestreckt, ihn zu sich gewinkt.

Kommen Sie.

Sie ging voraus, er folgte.

Den Geräteraum, er hielt an diesem Wort fest, kannte er, den Liegetisch auch. Da wartete noch eine Schwester, musterte ihn eingehend, ohne ihren Namen zu nennen, Frau Ana blieb hinter ihm zurück.

Den Slip!

Sie deutete auf das Tischende.

Immer hier.

Ach so.

Und nun hinlegen.

Beide Frauen blickten auf die eingestanzten Linien auf seiner Haut, die ein Feld markierten, das nun blau ausgeleuchtet und ins Fadenkreuz geschoben wurde: das Zielgelände.

Tatort

Wir beginnen gleich, versicherte die Frau, und nannte jetzt auch ihren Namen, Kerstin, flüsterte sie, Kerstin Zurlauben. Er nannte sie Frau Zett.

Hektik lag in ihrer Stimme, denn die Lampe leuchtete bereits.

Er schaute auf den Bildschirm über sich: ziehende Wolken an einem blauen Himmel.

Alles bereit. Locker bleiben, entspannt.

Die Frauen warfen einen letzten Blick auf ihn und verließen mit raschen Schritten den Raum.

Er hörte noch das Summen, sah, wie sich die Maschine auf ihn niedersenkte, und schloss die Augen.

Simone hatte ihn aufgenommen wie nie zuvor, als wollte sie ihm noch einmal das Gefühl geben, aufgehoben zu sein, so vollkommen, dass er es nie vergessen würde. Keine Frau konnte so ganz im Moment sein wie Simone, so ganz hingegeben. Er würde diese Erinnerung mit sich tragen als Bild aus einer anderen Zeit.

Das war vorbei. Für lange. Vielleicht für immer. Der Chefarzt hatte Enthaltsamkeit angemahnt, vor dem Schmerz gewarnt, der sich einstellen könnte.

Vorbei, rief sie ihm zu, als sie den Raum betrat, vor ihm stand, eine weiße Gestalt, und das Tuch auf seinem Bauch in Empfang nahm.

Wieder ging sie voran, wies ihm die Tür.

Bis morgen.

Er nickte.

Er schritt jetzt eilig durch die Korridore, die Eingangstür sprang auf, er streckte die Hände aus, als müsste er den Nebel zerteilen wie ein Schwimmer das Wasser.

Noch bevor er die Traminsel erreicht hatte, fuhr der Elfer heran. Er rannte.

Kaum hatte er sich gesetzt, tasteten seine Hände den Oberkörper ab, hielten inne, blieben auf dem Bauch liegen. Nichts, bröselte er vor sich hin, nichts. Erst jetzt entdeckte er den Mann gegenüber, der ihn verwundert beobachtete.

Nichts wiederholte er, fixierte den Mann, der sich rasch dem Fenster zu drehte.

Vor der Quaibrücke blieb das Tram stehen, links der See, frühmorgendlich grau, der Herbstwind fegte scharrend über den Kies am Ufer, zu seiner Rechten die Altstadt, die Türme des Fraumünsters und von Sankt Peter, ein Streifen Gold in den feuchten Schwaden, darunter eine Zeile schmaler Altstadthäuser.

Er hörte den Stundenschlag von Sankt Peter. Das Tram rollte voran, am Bürkliplatz vorbei, hinein in die Bahnhofstraße, in den dichten Nebel.

Paradeplatz.

Zwei Radfahrer in kurzen Hosen und Sportleibchen mit Schweizerkreuz standen Arm in Arm auf der Traminsel und schauten hinauf zu den hohen Gebäuden. Der Lautsprecher meldete eine Streckenblockierung am Escher-Wyss-Platz, unregelmäßigen Tramverkehr für alle Linien ab Bahnhofsquai. Wieder glitt seine Hand zum Bauch.

Das Schlagzeilenplakat einer Wochenzeitung warb mit einem Frauengesicht, das er kannte: Lady Shiva. Er staunte. Da war sie wieder, diese vorlaute Schönheit aus vergangener Zeit, Mutter, Muse und Edelnutte von der Schoffelgasse, damals, Ende der siebziger Jahre, Inbegriff von ungezügelter Lust und Begierde, Lackdomina in Stöckelschuhen, mit lasziven Gesten, grellrotem Mund, so wurde sie fotografiert, portraitiert, auch von Polke. Jetzt war sie zurück als Zeitikone, auf der Bühne, im Film, im Buch.

Er neigte den Kopf zur Seite.

Da war es wieder, dies Gefühl von Ausgesetztsein, von Taumel, als entschwinde der Boden, als käme er sich abhanden. Er suchte nach Worten, seine Hände tasteten nach dem Stift in der Tasche.