Den »Gelegenheitsgedichten« verdankt die Lyrik viele Evergreens. Bei Friedrich Ani ergeben solche Gedichte im bewussten Rückgriff auf Songs musikalisch-worthafte Kompositionen, wenn man die Gelegenheit als jeweils aktuelle politisch-individuelle Situation versteht, auf die es unmittelbar zu reagieren gilt, sich und das Gegenüber in seiner ganzen Verletzlichkeit zeigt. Unterschiedliche Formen finden diese realistisch-spontanen Klänge: vom gereimten Kurzgedicht über das Prosagedicht bis zum umfangreichen Zyklus.

Friedrich Ani, geb. 1959, lebt in München. Er schreibt Romane, Gedichte, Jugendbücher, Hörspiele und Drehbücher. Sein Werk wurde mehrfach übersetzt und vielfach prämiert, u. a. mit dem Deutschen Krimipreis, dem Adolf-Grimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis.

Friedrich Ani

IM ZIMMER MEINES VATERS

Gedichte

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4799

© Suhrkamp Verlag Berlin 2017

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Umschlaggestaltung: Brian Barth

eISBN 978-3-518-75118-3

www.suhrkamp.de

Inhalt

1 SO SCHWER IST DAS NICHT

Sein

Am Ufer im Gras

Heutig

Enttäuschter Schatten

Krumen

Einkehr

Tor

Sternenkuss

Spuren

Zeit

Im frühen Jahr

Versehrte Verse

Nachthaus

Stubenland

An der See

Lesendes Kind

Mein Zwirn

Unterm Dach

Im Dorf

Niemands Haus

Biografie

Vertan

Beim Friedl

Unterwegs

Sammler

Rantum

Vermissen

Namen

2 EIN BEINAH GEGLÜCKTES LEBEN

Alles nichts – oder

Aus dem Leben des Schriftstellers Ganymed

Tanz der Heimatlosen

Kleiner Wind

Speaking Words Of Wisdom (Let it be)

Abgebrochene Nummer

Heimliches Spiel

Tänzelnder Pfirsich

Verzweiflung

Buchstaben und Düfte

Taumeln

Winken

Freude des Hundes

Schön war’s

An Krüger

Ali Baba

Damals, jetzt

Zehn

Ja

Dieser Eine

Westend

Vom Getrenntsein

Vom Sehen

Vom Glück

Vom Freigeben

Vom Versäumen

3 IM ZIMMER MEINES VATERS

4 WAS EINMAL WAR

Weihnacht

In der Mission

Echo an den Selbstgenügsamen

Stadt der somnambulen Hunde, revisited

Zimmerling

… und ich war dem Zentrum des Schreibens und

Schweigens nahe, und die Liebe ging ein

und aus und ohnegleichen …

Friederike Mayröcker

1

So schwer ist das nicht

Sein

So schwer ist das nicht: ein Nachmittag,

unbewacht, ein Mittag liegt brach, ein

Abend, die Nacht, ein Haus aus Händen,

ein Zimmer, Zwischenräume, ein Schlaf,

Träume in Nischen, ein Erwachen, welkes

Licht, ein Menschengesicht, nah, ein

Körper, da, wie aus Wänden ein ewiger

Stein. So schwer ist das nicht: sein.

Am Ufer im Gras

Der Bach, an dem ich saß und

weinte, erkennt mich nicht

wieder, hält nicht einmal

inne, murmelt, wie einst,

sein Gebet und wäscht seine

steinernen Fäuste in Unschuld.

Am Ufer im Gras füttert ein

Kind die Fische mit Tränen.

Heutig

Jeden Morgen schickt meine Geliebte

mir eine Nachricht. Früher, schreibt

sie, sei ich es gewesen, der sie begrüßte

und wahrnahm, inzwischen versänke

ich schon nach dem Aufstehn in

Schweigen und verließe das Haus,

beinah mürrisch. Ich antworte

nicht, bleib heutig verschlossen für mich.

Enttäuschter Schatten

Sahst du meinen Schatten heut? Er

schlich, als ich schlief, aus der

Klause und kehrte am Mittag nicht

wieder. Ihn langweilt mein bleiernes

Tun, das ewige Murmeln und

Schlurfen. Er wär, denkt er,

lieber wem andern zugeteilt

worden, Nurejew vielleicht.

Krumen

Eines alten Mannes stille Spuren: rotes

Laub im Oktober, Schnee am Tag seiner

Geburt, ein listiger Sommer, Regen beim

ersten Rendezvous für die Haut unterm

Kleid, Winken und Sehnen und das schöne

Nahsein auch. Er geht durch die Stadt.

Krumen seines Glücks streut er nachts am

Bahnhof und in ausgestorbnen Straßen.

Einkehr

Bevor auch dieser Tag vergeht und

uns vergisst – bevor der Himmel

schließt – bevor dein Kleiner seinen

letzten Hunger stillt – bevor die Zimmer

schweigen und die Erde ihre

Sprache wechselt, kehre ich

in deine Nähe ein.

Tor

In der neunundzwanzigsten Minute flog

am Himmel eine Wolke wie ein Drache aus

der Zeit der großen Krieger. Janosh

schaute hoch und stand vor Staunen

stark im Strafraum. Er zog sein

Schwert und spürte kaum den Ball, den er

hätte halten sollen, wie sie alle brüllen.

Sternenkuss

In seinem kleinen Herzen trägt er

Spuren kleinen Glücks von

Perlach bis nach Mittersendling, wo

Anastasia sein Pausenbrot bekam und

er dafür den Sternenkuss. Manchmal

streckt er seine Hand zum Himmel. Da

oben wohnt sie heut und er mit

Tüten voller Tand im Kellerland.

Spuren

In meiner Kindheit fiel noch

Schnee. Die Spuren meines Schlittens,

trotz meines Bittens, blieben

nie. Und immer, wenn ich

stürzte, roch der Schnee genau wie

letztes Jahr. Das war, als trüg die

Zeit ein unsichtbares Kleid

für die scheue Menschenschar.

Zeit

Heute spurt die Zeit. Gehorcht

auf die Sekunde, wartet, wenn ich

huste oder mich im Hirn

verzettle beim Versuch,

Unsterbliches zu ahnen. Die

Zeit derweil, wie beinah

nie, tänzelt selbstvergessen

neben meinem Schatten.

Im frühen Jahr

Wir trugen die Ernte nachhaus, den

Sommer. Winkten heimlich

den Krähen, die unbeschwert das

Land behüten wintersüber. Sie werden,

Schnee im Gefieder, uns

erwarten, uns

Säleute im frühen

Jahr. Sie borgen uns

Schwingen gegen den Sturm unds

Verzagtsein daheim.

Versehrte Verse

Einmal, im Wald, begegnete ich Adelheid

Duvanel, sie ging sehr schnell, als

flitzte sie ihrem Schatten davon, ihrem

Gatten, ihrem Land. Und sie ritzte, während

sie zwischen Bäumen verschwand und an

Ästen Fetzen ihrer Träume wehten, versehrte

Verse in den Wind. Zum Beten vielleicht fürs

Kind, das ihren Schoß nie fand.

Nachthaus

Allein auf weiter Flur. Die Zeit kerbt

ihre Spur in mein Gesicht, ich schau der

Sonne zu: sie bleibt, sie scheibt die

Erde, treibt das Jahr, ein

zweites, tausend, vor sich