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Walter Gerten

Die Sternenbücher Band 14 Die Raumzeit





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Einführung

 

I M P R E S S U M

 

Die Raumzeit

Die Sternenbücher, Band 14

von Walter Gerten
© 2017 Walter Gerten.
Alle Rechte vorbehalten.
Autor: Walter Gerten
info@smg-gerten.de

Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne
Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden.
Text, Zeichnungen, Bilder und Fotos von Walter Gerten. © 2017 Walter Gerten

Der Autor:

Walter Gerten lebt seit vielen Jahren in der ländlichen Südeifel. Als Autor betätigt er sich seit dem Jahr 1999. In der Anfangsphase, ab 2000 bis 2003 nahm er an einer intensiven Schreibwerkstatt teil, es folgten Lesevorträge. Daneben betreibt er seit dem Studium Malerei und Grafik, die ebenfalls teilweise als Illustration Einzug in seine Schriftwerke findet.

 

Weitere Romane:

Manfred Wilt und der Tote am Fluss
Manfred Wilt und die Rocker
Der Bote des Zarathustra
Monte Nudo
Unterwegs mit Tom Kerouac
Ich bin ein Schiff
Die Sternenbücher 1 Professor Montagnola
Die Sternenbücher 2 Akba
Die Sternenbücher 3 Die dunkle Seite des Mondes
Die Sternenbücher 4 Der Sinn des Lebens
Die Sternenbücher 5 Planet der Phantome
Die Sternenbücher 6 Das Nichts
Die Sternenbücher 7 Tod eines Springers
Die Sternenbücher 8 Paradise2
Die Sternenbücher 9 Solitan
Die Sternenbücher 10 Das Symbol für Solitan
Die Sternenbücher 11 Das Ubewu
Die Sternenbücher 12 Ich und Es
Die Sternenbücher 13 Der dreizehnte Stern
Die Sternenbücher 15 Selbst Ich

 

 

 

Das Buch

Zwei Astronauten erforschen den Planeten „Clockwork“, auf dem sich eine einzigartige Strömungs-Konstellation findet. Man hofft, dem Geheimnis der Zeit und des Reisens in der Zeit auf die Spur zu kommen. Doch parallel zu den physikalischen Grundlagen eröffnet sich eine Erlebniswelt, die Schritt für Schritt Gespenster der Vergangenheit erweckt und in die Gegenwart holt.
Die Handlung und die Namen der Personen sind frei erfunden.
Dieses Buch erhebt keinerlei Anspruch auf Richtigkeit im physikalischen, biologischen, mathematischen, politischen, historischen, wissenschaftlichen, religiösen, philosophischen oder medizinischen Bereich.

 

Inhaltsverzeichnis

Einführung

Inhaltsverzeichnis

1 Strömungslehre

2 Clockwork

3 Gerald

4 Wellenmuster

5 Progression

6 Phase 3

7 Emotion oder Kälte

8 Der Agent

9 Freie Zeit

10 Kontrolle

11 Das Konzept

 

1 Strömungslehre

1 Strömungslehre

 

Es war eine Frage von Emotion oder Kälte. Ich war auf dem Weg quer über die Insel. Es gab kaum einen Ort, der mir hätte fremder sein können. Die Entfernungen waren enorm und ich entdeckte so gut wie keine wiedererkennbaren Lebewesen. Flora und Fauna waren fremdartig, auch wenn es optisch gewisse vergleichbare Merkmale gab.

Meine Gefühle spielten verrückt. Also zog ich die rationale Kühle vor, um mich in einen brauchbaren Zustand zu versetzen. Gerne hätte ich getrauert, oder mich an die Vergangenheit erinnert. Kindheitserlebnisse oder Jugendsünden. Aber die Heimat war unvorstellbar weit entfernt.

Hier gab es nur die Fremde, die unbekannte, feindliche, oder zumindest rätselhafte Umwelt, die sich nicht offenbarte. Wie hätte sie auch? Sie kannte mich so wenig, wie ich sie.

Es hätte genügt, an eine Frau zu denken; eine Frau, die mich liebte, mich begehrte, mich wollte.

Weiche Formen, zarte Haut, angenehme Kurven, erotische Reaktionen. Doch ich war alleine, unterwegs auf dieser verdammten Insel. Fernab jeder Zärtlichkeit und Emotion. Ich wusste sehr wohl, dass Emotionen nicht der Erfüllung körperlicher Erwartungen dienten. Emotionen waren ernst zu nehmende Regungen von undistanzierter Beteiligung, von ergreifender Direktheit ohne Kalkül.

Wieso berührte mich die Frage der Emotionen während dieser absurden Reise quer durch diese Insel, die groß war wie ein Kontinent? Ich wusste es nicht und ich versuchte mich auch nicht wirklich an einer Beantwortung. Die Wiedererkennung heimatlicher Signale hätte geholfen. Eine Landschaftsform, die Erinnerungen geweckt hätte; ein Geruch, der sich mit den Freuden der Kindheit, mit Orten oder Erlebnissen verbunden hätte, mit Ereignissen, die Beständigkeit und Wert hätten, wertvolle Erinnerungen.

Doch die Insel war neu, zu neu. Sie forderte die volle Aufmerksamkeit, denn es gab Gefahren. Es gab eine fordernde Präsenz, die Kühle und Emotionslosigkeit verlangte. Und ja, es kam mir entgegen. Denn das Agieren, das Reagieren, das Funktionieren war mindestens so befriedigend wie das Erleben von Emotionen. Schade war nur, dass es sich gegenseitig ausschloss, das Anhängen an Gefühlen und das Erfüllen von Erfordernissen. Emotionen benötigten Zeit, freie Zeit und die mentale Bereitschaft.

Reagieren dagegen war, wie das Agieren, eine Funktion fließender Bewegungen im Raum; Realität. So entstand unter günstigen Bedingungen das Fließen, der Fluss, das Ideal des Erlebens, die Freude. So die Theorie.

Der Wind schien mich voran zu schieben wie ein Segelboot. Vor mir, also vor dem Bug meines Tigers, beugten sich die Wipfel der Bäume, wogten vor und zurück im stetigen Spiel der Kräfte, während ich für den Tiger einen Weg suchte im Meer der Blätter. Höher zu steigen war nicht sinnvoll. Dort oben, über den Wipfeln und unter den Wolken, gab es nur die schiere Kraft, die mich ergriffen und voran geschleudert hätte in die Landschaft, in die Turbulenz rasender Elemente. Im Chaos entfesselter Dynamik war es nicht möglich, den Tiger vor dem vollständigen Verlust der Kontrolle zu bewahren. Auch der Autopilot weigerte sich, jenseits einer Höhenmarke von 55 Metern einen einzigen Steuerimpuls abzusondern, er errechnete bereits lange vorher entsprechend der Kräftezunahme die Folgen eines solchen Tuns und beschränkte sich auf den Raum unterhalb.

Ich selbst zog es vor, knapp unter dieser Höhenmarke über die Baumwipfel zu steuern, wo sich die Strömungen in einer körperlich fühlbaren Fahrtrinne entlang der Waldkonturen kanalisierten. Ich sah an den wogenden Wellen der luftigen Höhe die Richtung voraus und passte instinktiv den Tiger an die summierenden Mäander an, in denen ich weiter raste nach Norden, in der grob angepeilten Hauptrichtung.

Der Tiger sprang dabei im Spiel von Druck und Sog über die Bäume und tauchte ein in die Rinnen zwischen ihren Kronen, vermied die gefährlichen „Totwässer“, in denen plötzlicher Stillstand drohte und das unvermeidliche Absacken in die Gefahrenzone zwischen den gewaltigen Ästen und Stämmen. Es gab eine untere Dynamikschwelle, die sofort auf die Ruder wirkte, sobald sich der Flieger ihr näherte. Durch Ausweichkorrekturen angefacht schoss der Tiger dann in die Höhe und hinein in die rettende Strömungsgeschwindigkeit des „Flusses“.

Es war eine aufregende Art des Reisens. Sie erforderte volle Aufmerksamkeit und schnelle Reaktionen auf die Bewegungen des Tigers, um die nach und nach deutlicher werdenden Defizite der automatischen Korrekturen schon im Entstehen zu vermeiden. Emotionen hatten in diesem Spiel keinen Platz; allenfalls die Angst vor Fehlern blitze in Sekundenbruchteilen auf und erlosch sofort wieder. Für das Wahrnehmen der Schönheit gab es nur im engen Umfeld um den Tiger und seiner Bahn ein Betätigungsfeld. Alles, was weiter entfernt war, lenkte zu sehr ab während der erforderlich Zeit des Hinsehens. So blieb das halb-unbewusste Gefühl des Aufgehens im Fluss. Auch das volle Bewusstwerden hätte zu viel Energie gebunden und damit störend gewirkt.

Der Tiger tanzte unter meinen Händen durch Strömungsrinnen mit atemberaubenden Richtungswechseln, Kurven und Fliehkräften, hinab in riskante Interferenzen und hinauf in die flirrenden, lichtdurchfluteten Wipfel, die vibrierend und surrend im vielfach verzweigten Delta der sausenden Luft ihre Häupter beugten. Ich bewegte mich stets in einer Höhe zwischen 39 und 46 Metern über der unsichtbaren Kontinentalkruste, wagte hin und wieder eine aus Übermut und Risikobereitschaft geborene Aufwärtskurve in die freie Schicht über dem Wald, um vorausschauende Sicht zu gewinnen und ließ mich rechtzeitig zurück trudeln, bevor die schiere Gewalt der polaren Düse mich ergriff.

Es war ein Spiel, das mit bekannten Kräften gespielt wurde. Sie folgten einer strikt regelmäßigen Struktur, die an Lichteinstrahlung, Zeit und Geländekoordinaten gebunden war. Gegen Abend, also nach dem Untertauchen des Zentral-Gestirns unter den Horizont, ebbte das Spektakel etwas ab und ging in einen sanften, abklingenden Strom erschöpfter Luftmassen über, die hinab sanken in die Ebenen jenseits der Wälder, wo sie sich säuselnd in den langstieligen Gräsern der Ebenen und Auen verfingen und stumm niederfielen auf die ausgetrocknete Kruste neben den perlenden Gewässern aus der Gegenrichtung.

Ich gönnte dem Tiger einen zusätzlichen Schub, der ihn mit einem letzten Schwung voran beförderte in eine sanfte, dem Stillstand nahe Masse durchmischter und beruhigter Luftströmung. Eine lange, nicht enden wollende Gleitstrecke zog er in diesem noch mäßig tragfähigen Medium weiter, reizte seine konstruktive Leistung aus und schlich sich heran an die äußerste Grenze der Ebene, wo er sich nach einem kurzen Aufbäumen hinab senkte in das Ruhebett grüngefleckter Graslandschaft, die bereits den langsamen Atem des Abends hauchte; eine von Turbulenz und prickelnder Sensation satte Luft ruhte über ihrem Körper, verbreitete eine natürliche Spannung von selbstgenügsamer Lust.

Ich hätte mir eine Begleiterin gewünscht, mit der ich diese Eindrücke hätte teilen können. Das war der Moment, in dem die Emotionen ihr Recht forderten und, - mangels Gelegenheit, eine gewisse Wehmut erzeugten. Mir kam das wie eine Grundregel emotionaler Regung vor; diese gewisse Wehmut, die mit ihnen stets verbunden schien. Selbst die Freude des Fliegens im „Fluss“ fand so gut wie immer unter dem drohenden Ende statt, dem Ende der Freude, das zu befürchten war. Diese Befürchtung trübte die Freude so sehr, dass ich mich bemühen musste, sie halb unterbewusst zu erleben.

 

 

Der Tiger war ein merkwürdiges Gerät. Ich hatte mich lange Zeit nicht an ihn gewöhnen können, weil er so ganz anders war, als alles, was ich bis dato geflogen hatte. Man hatte ihn speziell für diese besondere Einsatzform konzipiert und ich wünschte mir, seit ich ihn verstanden hatte, den Konstrukteur kennen zu lernen und ihn zu beglückwünschen.

Es gab kaum etwas auszusetzen an diesem Gefährt. Vermutlich stammte seine Namensgebung aus einem zutreffenden Vergleich mit dem gleichnamigen Tier, dessen weiche und doch kraftvolle Bewegungen so eindrucksvoll waren. Der Tiger, also das Fluggerät, machte seinem Namensgeber alle Ehre. Völlig unauffällig driftete er in der Strömung und passte sich an seine Umgebung an. Er wurde ein Teil ihrer inneren Dynamik, verschwand in ihr wie ein unkörperlicher Bereich zusammenhängender Luftpartikel. Dann wieder wechselte er kraftvoll hinüber in andere Regionen, in Zonen höherer Anforderung, die aggressive und zielgerichtete Motivationen verlangten. Um Herr dieses chaotischen und wechselvollen Mediums zu werden, bedurfte es eines tiefen Verständnisses seiner inhärenten Gesetzmäßigkeiten. Und diese Fähigkeit war in der Struktur des Tigers implementiert.

Es gab nur ein einziges Exemplar und dieses war mir für diese Mission auf den Leib geschneidert, für die Bedingungen auf diesem Planeten optimiert und angepasst worden. Natürlich störte mich die hier und da zu bemerkende Automatik, die sicherlich hin und wieder ihre Begründung haben mochte, aber zumeist bei mir als Pilot eher den Wunsch nach einem Kill-Schalter weckte. Kein Mensch außer dem Entwickler-Team hatte ihn jemals geflogen und in seiner realisierten Version war er auch das Ergebnis meiner eigenen Eingaben.

Da ich wusste, wie sich die Bedingungen gestalteten, ich hatte einen Vorgängertyp bereits in diesem speziellen Medium getestet, war man auf meine Vorgaben eingegangen und hatte die besondere Anforderung zu erfüllen versucht. Es war insbesondere um die Nutzung der ausgeprägten Strömungen gegangen, die ihrerseits derart viel Energie enthielten, dass man auf den Einbau eines Vortriebs fast komplett verzichten konnte. Lediglich die Steuerung und der Start erforderten separate Kräfte, die aber in der reinen, motorisch umgesetzten Elektrik den Anforderungen genügten.

Der Tiger bezog nahezu seine gesamte Kraft aus der Strömungsenergie, die ihn trug. Dabei sah er aus wie ein etwas ungewöhnlich proportioniertes altes Gleiter-Modell; allerdings wegen des großen Geschwindigkeitsbereichs mit untypisch kurzen und seltsam profilierten Tragflächen ausgestattet. Man hatte die Pilotenposition liegend vorgesehen und dies war ein besonders gelungener Ansatz, denn dadurch hatte man (oder besser ich) das Gefühl, körperlich durch dieses Fluggerät erweitert zu sein; so, als ob man zusätzliche Flügel am Rücken hätte und ihre Reaktionen spüren könnte.

Die Sicht nach unten und vorne war wegen einer Verglasung im Kopfbereich exzellent; nach oben und hinten sah ich allerdings rein gar nichts und war deshalb auf die Unterstützung von spezieller Bildgebung angewiesen, die aber so geschickt gelöst war, dass ich mir neben meinen Flügeln auch noch extra große Libellen-Augen einbildete, wenn ich so richtig in den Fluss des Fliegens hinein gesogen wurde.

Natürlich war ich unter den örtlichen Bedingungen nicht das einzige Lebewesen in diesem Medium, ganz im Gegenteil. Meist bewegte ich mich in einer Horde wilder Flugkünstler, von denen ich lernte, an denen ich mich orientierte, mit denen ich der Strömung folgte.

Es war eine Freude, ein emotionales Glücksempfinden, ein drogenähnliches Hochgefühl rauschhaften Seins sowohl im Hauptstrom dahin zu gleiten, als auch in den ziselierten Verästlungen der Randzonen das unsichtbare Muster der Wirbel zu erkunden. Es war nicht vergleichbar mit einer beliebigen Aktivität auf der Erde.

Meine Begleiter in der Luft waren von vielfältiger Form und Größe. In diesem Medium hatte sich das Leben so richtig ausgetobt. Ich wusste, dass es auch am Boden und in den Bäumen Lebensformen gab, doch offensichtlich bot der Raum oberhalb und dazwischen derart viel Potential für ein vergnügliches Dasein, dass er mit Freude und Begeisterung auf unterschiedlichste Weise genutzt wurde.

Es gab insektenartige Schalentiere, die eine Größe erreichten, die man mit unseren Katzen auf der Erde vergleichen konnte. Sie hatten eine Entwicklung genossen, die es ihnen ermöglichte, mit frei rotierenden Flugscheiben Auftrieb für ihren Körper zu erzeugen und ihn in der Strömung zu halten. Sie manövrierten mit einer Art Schwerpunktverlagerung, die sich durch ziemliche Trägheit negativ hervortat, so dass sie nicht selten Opfer der schnellen und wendigen Schwirrschrauber wurden, die unvermittelt aus der Deckung der Baumkronen emporschossen und sich mit ihren langen, spitzen Schnäbeln auf die Jagd begaben.

Schwärme kleiner Hautflügler tanzten umeinander, wenn sie weit oben, jenseits der turbulenten Zone über den Wipfeln in großer, wolkenförmiger Formation dahin trieben, einem unbekannten Ziel entgegen, wo sie dann synchron, wie perlender Regen in trudelnden Fall übergingen und im grüngelben Blättermeer verschwanden. Die Wogen schlossen sich über ihnen und rollten weiter, weiter voran, immer dem Abend entgegen. Auf ihren unsichtbaren Rücken ritten, glitten, drifteten große Flug-Rochen mit gravitätischen, behäbigen Bewegungen. Ihre gewaltigen Flügel bewegten sich dabei kaum; nur die Spitzen bogen sich nach oben oder unten, wie Handflächen, die mit einfacher Geste die zwölf Meter spannenden Kolosse lenkten. Wuchtig zogen sie in lockerem Verbund über die Wälder, kümmerten sich wenig umeinander und tauchten einzeln und unvermittelt ab in die Tiefe, in die dunklen Ecken zwischen weit auseinander stehenden Baumriesen.

Noch größer waren die gestreiften Grünfedern, die niemals den Boden berührten, soviel man bisher über sie wusste. Ihr wilder Blick aus hellblauen Spaltaugen erschreckte mich jedes Mal, wenn ich ihnen zu nahe kam und sie sich nach mir umsahen. Akrobatisch rollten sie seitwärts, bogen in rasantem Schwung ab und setzen sich in mein Heck, um mich neugierig zu beäugen, meine Manöver zu beobachten und dann gelangweilt abzudrehen. Sie griffen mich niemals an und ich hatte keine Angst vor ihrer Nähe. Ich wusste, dass sie lange vor mir wussten, dass sich unsere Flugbahnen kreuzen würden. Es war ein Spiel, das sie mit mir trieben; ein Abschätzen, ein Vergleich der Kunst, eine Demonstration der Möglichkeit, mit denen sie ausgestattet waren. Sie verfügten trotz all meiner Technik über die bessere Taktik, das war signifikant.

Ihr Leben war ein Geheimnis. Sie mühten sich nicht ab mit der Jagd nach Futter. Selten sah man ein Exemplar hinab tauchen und einen Schnabelhieb ins Blattwerk setzen. Ihre eleganten, schmalen Flügel mit den dichten grünen Federn bewegten sich nie. Manchmal streckten sie ihre Krallen herab, ohne wirklich irgendwo niedergehen zu wollen. Immerhin besaßen sie Füße, also wären sie dazu in der Lage. Aber dann zogen sie sie wieder ein, lenkten mit dem breiten, prächtigen Schwanz in eine Kurve und schwenkten seitwärts davon oder aufwärts in einen Looping, aus dem sie in halbe Rollen oder taumelndes Trudeln übergingen. Figuren, die scheinbar ohne Zweck und nur aus Lust, aus Freude über das Leben ausgeführt wurden.

Die schiere Menge an unterschiedlichen Kleinlebewesen, die in der Strömung lebten, hatte spezielle Arten entstehen lassen, beispielsweise die große Schuppendiva, die einfach mit geöffneten Maul die Flugrichtung änderte, um genügend Nahrung zu erwischen. Ihre schillernde Haut funkelte dabei in einem Spektrum zwischen tiefem Blau und türkisgrünem Gelb, je nach Brechungswinkel der unzähligen Plättchen, die Rücken und Flügel bedeckten. Im Moment des Einbiegens gegen die Strömung schloss sie die Augen, um sie erst nach einer blind geflogenen S-Kurve wieder zu öffnen. Ich hatte bis dahin noch kein einziges Mal ihren Blick gesehen; erst später verstand ich, warum man sie “Diva“ genannt hatte. Tiefbraune Pupillen und mandelförmige Lider gaben ihr einen betont lässigen, aristokratischen Ausdruck, wenn sie ohne Flügelschlag dahin zog.

Schwärme millimeterkleiner Flugwesen bildeten ausgedehnte Wolkenstraßen, die am Rand der Hauptströmung Wirbelzonen und gegen den Fluss gerichtete dünne Seitenarme sichtbar machten. Sie wurden von Turbulenzen und alternierenden Strudeln durchzogen; Interferenzmuster und Wellenraster bildeten sich in ihnen ab. Es waren die gleichen oder ähnliche Muster, die man auch in den strömenden Medien auf der Erde beobachten konnte.

 

 

Die Karmansche Wirbelstraße bildete sich exakt und nach universeller Gesetzmäßigkeit ab. Wellen kreuzten und überlagerten sich und prägten ihre Regelmäßigkeit in die Wolken aus lebenden Wesen, die in dieser Atmosphäre als Treibgut ihre Heimat gefunden hatten. Die Ereignisse ihres umgebenden Mediums bestimmten den Verlauf ihres Tages, ihrer Sekunden, ihrer Zeit. Und diese Ereignisse entsprangen den universellen Regeln der Abfolge von Ursache und Wirkung, Bewegung und Gegenbewegung, Verstärkung durch Überlagerung, Schwingung und Abdämpfung. Alles in zeitlicher Abfolge.

 

Emotion oder Kälte? Ich liebte meine Illusionen; das waren meine Emotionen. Die Illusion von einem kuscheligen Beisammensein, einem Heimatgefühl, einer Zweisamkeit, obwohl ich einsam war. Dann halt ein Beisammensein mit mir selbst, mit meinen Erinnerungen. Das gewohnte Bauchkraulen, sich selbst als gut empfinden und wahrhaft beachtenswert, einzigartig.

Und das nicht ohne berechtigte Gültigkeit. Immerhin war ich ich; und das bedeutete mir sehr viel. War ich doch unverwechselbar. Nicht ohne Grund hatte man mich in diese Strömung geschickt; dessen war ich mir sehr wohl bewusst. Man hatte den Besten ausgewählt, zweifellos. Man hatte ihm ein Fluggerät auf den Leib zugeschnitten.

Ja, das war ich. Ich, der Pilot, der als Einziger für diese Aufgabe infrage kam. Weil er es aushielt. Weil er es aushalten musste. Die Aufgabe, die man ohne Hilfe erledigen musste; ganz allein. Nur mit den Illusionen bewaffnet, die für erträgliche Vorstellungen sorgten. Vorstellungen von einem Wert, den man für andere darstellte, für das Kollektiv, oder für die Familie, für den Partner, die Partnerin.

Illusionen, die es erlaubten, die Gegenwart zu ertragen, ja, sie als angenehm zu empfinden, statt kühl alles abzuwerten. In einer solchen Gegenwart waren wir gewohnt, den Ablauf des Lebens zu bewältigen, trafen auf Nachbarn und Kollegen, Freunde, die den Tag ebenfalls aufgrund des allgemeinen Verständnisses von Selbst und Wert und Kollektiv als real und gegenwärtig empfanden. Die Illusion einer gemeinsamen Vergangenheit.

Die Strömung war eine lange Abfolge von Ereignissen. Sie fegte durch die Blätter der Baumriesen, wogte über die Kuppen und Hügel, wich Felsklippen aus und verlor sich in engen Tälern. Über dieser oberflächennahen Schicht, die zwischen Baumkronen und in Einschnitten verwirbelte und viel von ihrer Energie verlor, strömte eine gleichförmigere laminare Luftmasse, die ihr Auf und Ab der tiefer gelegenen anglich, aber ohne Behinderung und mit höherer Geschwindigkeit voran kam. Noch über ihr gab es weitere Zonen, horizontal geschichtet und an den Trennflächen auf feinen Turbulenzwalzen gelagert, die sich wie Murmeln, wie Kugellager in ständiger Rotation befanden.

All die Bewegungen, die Richtungswechsel, die Wellenmuster und Überlagerungen beeinflussten alles, was sich in der Strömung befand. Es war ein Anschieben und ein Angleichen, ganz so wie der Strom der Zeit.

Zeit wurde als Vektor begriffen, als Pfeil, der aus der Vergangenheit kommend in die Zukunft strebte, ohne sie erreicht zu haben, ohne sie erreichen zu können. So wie die Bedingungen für die Strömungsausformungen sich als Phänomene, als stellenweise sichtbare Muster abzeichneten, so hoffte man, durch feineres Verständnis für die Zeitströme Muster wahrzunehmen, irgendwann einmal. Und so, wie man in der Natur Analogien entdeckt hatte, hoffte man auf Analogien in den strömenden Medien zur rätselhaften Tatsache der Zeitabläufe.

Kurz: die Erforschung und Verfeinerung der Strömungslehre sollte den Weg bereiten für eine Zeitlehre. Denn trotz aller wissenschaftlichen Analyse der Mathematik der Zeit war man noch immer nicht in der Lage, sich in dieser Dimension so zu bewegen, wie in den anderen Dimensionen.

Die Paradoxien, die man erkennen musste, wenn man am Zeitvektor voran oder zurück wollte, waren theoretisch bekannt; aber man wusste auch um die Abhängigkeiten von Zeit und Raum. Wieso war man in der Erforschung des Raumes so weit gekommen und hatte eine recht große Präzision erreicht, ohne auch nur einen einzigen Schritt in der Zeit gemacht zu haben?

Es hatte umwälzende technologische Sprünge gegeben, als man den “Lichtaspekt“ und das „Dimensionenziel“ umsetzen konnte; beides Methoden zum schnellen Reisen über extrem weite Strecken im All. Aber dennoch entsprachen beide nicht den Kriterien für eine Zeitreise. Es ging dabei weder voran, noch zurück auf dem Vektor.