DAVID SELTZER

 

Das Omen

 

 

 

 

Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DAS OMEN 

Prolog 

1. 

2. 

3. 

4. 

5. 

6. 

7. 

8. 

9. 

10. 

11.  

12. 

13. 

 

Das Buch

 

 

Zur 6. Stunde des 6. Tages im 6. Monat bringt Katherine Thorn, die Frau des US-amerikanischen Botschafters in Rom, ein Kind zur Welt, das jedoch direkt nach der Geburt stirbt. Ihr Mann, Jeremy Thorn, ist erschüttert. Pater Spilletto, der im Krankenhaus arbeitet, empfiehlt ihm, das tote Baby mit einem zur selben Zeit geborenen Jungen auszutauschen, dessen Mutter jedoch bei der Geburt gestorben ist, und das auch sonst keine Angehörigen hat. Thorn zögert zunächst, lässt sich danach aber schließlich doch dazu überreden, damit seine Frau nicht wegen der Fehlgeburt trauert. Katherine indes ist sehr glücklich über das neugeborene Kind, das sie für ihr eigenes hält; es bekommt den Vornamen Damien.

Doch weder Jeremy Thorn noch seine Frau können ahnen, dass dieses Kind die Wiedergeburt des Antichristen ist...

 

David Seltzer verfasste die düstere Roman-Adaption des Films Das Omen auf der Grundlage seines eigenen Original-Drehbuchs – ein Film, der unter der Regie von Richard Donner (Superman, Der Tag des Falken, Lethal Weapon) zum Klassiker des Okkult-Horror-Genres wurde und der mit Gregory Peck, Lee Remick und David Warner hochkarätig besetzt war.

DAS OMEN

 

 

 

 

 

»Hier ist die Weisheit. Wer Verständnis hat, berechne die Zahl des Tieres,  

denn es ist eines Menschen Zahl; und seine Zahl ist 666 

 

(Das Buch der Offenbarung 13,16–18). 

 

 

 

 

 

  

  Prolog

 

 

  Es geschah innerhalb einer Tausendstelsekunde.

  Das Aufbäumen in den Galaxien, welches eigentlich Äonen währen müsste, geschah in einem einzigen Wimpernschlag.

  Im Observatorium von Cape Hattie griff ein junger Astronom einen Augenblick zu spät nach dem Auslöser der Kamera, die dieses Aufbäumen registriert haben könnte; denn aus Bestandteilen dreier Sternbilder entstand in dieser Millisekunde der dunkle, glühende Stern. Aus Steinbock, Krebs und Löwe lösten sich plötzlich Stücke, die einander mit magnetischer Sicherheit fanden und zu einem pulsierenden galaktischen Funken verschmolzen. Er wurde jetzt heller, und die Sternbilder erbebten - oder waren es die zitternden Hände am Okular, als der Astronom versuchte, einen Aufschrei zu unterdrücken?

  Er glaubte, er allein habe dieses Phänomen beobachtet, doch das traf keineswegs zu. Denn aus der Tiefe der Erde drang ein Echo herauf. Es waren Stimmen... Noch nicht menschlich, doch mit dem Größerwerden des Sterns zu einem höllischen, dissonanten Aufschrei werdend: In Höhlen, Kellern und auf offenen Feldern versammelten sie sich - einige Zwanzigtausend satanische Geburtshelferinnen. Sie neigten die Köpfe und hielten sich an den Händen, während ihre Stimmen lauter und lauter wurden, bis die Erschütterung jeden erreichte. Es war das Signal der Hölle, das zu den Himmeln aufstieg und hinabdrang in die letzten Tiefen der Erde. Es geschah im sechsten Monat, am sechsten Tag, in der sechsten Stunde. Dass die Weltgeschichte sich ändern würde, war im Alten Testament prophezeit worden. Die Kriege und die Wirren der letzten Jahrhunderte waren nichts anderes als Anläufe gewesen, Versuche, herauszufinden, wann die Menschheit bereit sein würde, sich der satanischen Führung anzuvertrauen. In der Zeit von Kaiser Nero hatten sie gejubelt, wenn man die Christen den Löwen vorwarf, und in den Zeiten Hitlers hatte man die Juden vergast. Nun waren es Drogen, mit denen die Demokratien ausgelöscht werden sollten, und in den nichtdemokratischen Ländern, in denen die Freiheit des Gebetes gerade noch gestattet wurde, hieß es bereits, Gott sei tot. Von Laos bis zum Libanon wandten sich Brüder gegen Brüder, die Väter gegen die Söhne. Von Tag zu Tag äußerte sich der Terror schrecklicher. Schulbusse flogen in die Luft, Bomben explodierten mal hier, mal dort. Flughäfen wurden zerstört.

  Wer die Bibel las, hatte schon lange erkannt, dass man die biblischen Symbole anders deuten musste. In Form der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war das alte Römische Reich wiedererstanden, und mit der Errichtung des Staates Israel waren die Juden in das Gelobte Land zurückgekehrt. Dies, zusammen mit der weltweiten Ernährungskrise und den Auflösungserscheinungen der internationalen Wirtschaftsstruktur, war mehr als ein bloßer Zufall. Es war ein gewolltes Zusammentreffen der Ereignisse, denn bereits in der Offenbarung war es prophezeit worden.

  Der Stern am Himmel erglänzte nun heller. Der Gesang der Auserwählten wurde lauter, und der steinerne Mittelpunkt des Planeten erzitterte. In den Ruinen der alten Stadt Meggido spürte es der alte Mann Bugenhagen, und er weinte. Seine Schriftrollen und Aufzeichnungen waren nun wertlos geworden. Über ihm, in der einsamen Wüste, ließen die Archäologen die Geräte sinken. Schweigen verbreitete sich, als die Erde unter ihnen zu erzittern begann.

  Auf seinem Platz in der Ersten Klasse seines Flugzeugs, mit dem Jeremy Thorn von Washington nach Rom flog, spürte er es ebenfalls, und instinktiv befestigte er seinen Sitzgurt, während er sich fragte, was jetzt tief dort unten vor sich gehen mochte. Selbst wenn er den Grund dieses plötzlichen Aufruhrs gekannt hätte, wäre es für ihn bereits zu spät gewesen: Denn in diesem Augenblick zerschmetterte im Keller des Ospedale Generale zu Rom ein Stein den Körper seines neugeborenen Kindes...

 

 

 

  

  

  1.

 

 

  In jeder Sekunde, ob Tag oder Nacht, befinden sich weit über hunderttausend Menschen in Flugzeugen hoch über der Erde...

  Thorn ließ das Skyline-Magazin, in dem er gelesen hatte, sinken. Statistiken faszinierten ihn, und er begann sofort die menschliche Bevölkerung in diejenige auf der Erde und jene in der Luft einzuteilen. Normalerweise hätte er über andere Dinge nachgegrübelt, aber er griff nach jedem Strohhalm, um nicht an die Dinge denken zu müssen, die ihn erwarteten. Was die Statistik besagte, war: Falls die erdgebundene Bevölkerung mit einem Schlag ausgelöscht würde, gab es hoch über ihnen immer noch über hunderttausend Menschen, die ihre Martinis tranken oder sich irgendeinen Film im Bordkino ansahen, ohne zu ahnen, dass auch sie ohne ein Flugticket verloren gewesen wären.

  Das große Flugzeug raste durch die Wolken auf den Himmel über Rom zu. Thorn stellte sich die Frage, wie viele dieser Menschen, die sich jetzt in der Luft befanden, Männer oder Frauen waren, und ob sie, falls sie einen sicheren Landeplatz finden konnten, imstande wären, die menschliche Gesellschaft in jener alten Form wieder aufzubauen, die sie hervorgebracht hatte. Wahrscheinlich waren die meisten männlichen Geschlechts und stammten aus mittleren, vielleicht gehobenen kaufmännischen oder Wirtschaftsberufen, oder sie arbeiteten sonstwie ausschließlich mit dem Kopf - kurzum, dies würde bedeuten, dass sie Fähigkeiten besaßen, die relativ nutzlos Waren, wenn sie auf eine Erde zurückkehrten, die vorderhand Handwerker und Techniker brauchte. Wohin mit einem Manager, wo es nichts mehr zu managen gab? Was sollte ein Bilanzbuchhalter tun, wenn er keine Bilanzen erstellen konnte? Vielleicht wäre es gar nicht so abwegig, ständig ein paar Flugzeugladungen mit Konstrukteuren und Arbeitern droben am irdischen Himmel kreisen zu lassen, um genügend Muskelkraft vorrätig zu haben, wenn ein neuer Anfang gemacht werden musste. Nur das Land mit den besten Arbeitern würde eine totale Katastrophe überleben.

  Jeremy Thorn spürte das Vibrieren der Maschine unter seinen Füßen, als er seine Zigarette ausdrückte und durchs Fenster hinab auf die Lichter starrte, die schwach zu sehen waren. In den letzten Monaten war er so häufig geflogen, dass dieses Bild zu einem vertrauten Anblick geworden war. Heute allerdings konnte er die Sorge nicht abschütteln, wenn er daran dachte, welche Möglichkeiten es gab. Er hatte das Telegramm in Washington nach zwölf Stunden erhalten, und das, was in der Zwischenzeit geschehen war, war endgültig vorbei. Vielleicht fand er eine strahlende Katherine im Hospitalbett vor, wenn sie gerade ihr neugeborenes Baby stillte - oder aber eine Katherine voll hoffnungsloser Verzweiflung, weil sie es wieder einmal verloren hatte. Aber dieses Mal war es nicht wie bei den früheren Schwangerschaften gewesen, die nach ein paar Monaten geendet hatten. Dieses Mal hatte sie acht Monate lang durchgehalten. Und wenn jetzt irgendetwas schiefging, dann - er wusste es bestimmt -, dann war Katherine verloren.

  Seit ihrer frühen Kindheit waren sie immer zusammen gewesen. Es verband sie sozusagen eine unzertrennliche Jugendliebe. Doch plötzlich - Katherine war gerade siebzehn geworden - zeigte sich bei ihr eine ungewöhnliche Labilität. Katherine war unstet, sie machte den Eindruck, als sei sie ununterbrochen auf der Flucht - und dazu diese Angst in ihrem Blick, als wolle sie jeden anflehen: »Bitte hilf mir, bitte

beschütz mich...« Anfangs spielte Thorn die Rolle des Beschützers mit Begeisterung, und das hat ihrer Ehe den nötigen Halt verliehen. Doch in den letzten Jahren hatten sich seine Pflichten als Politiker gehäuft, während Katherine sich in die Isolierung zurückzog - unfähig, die Rolle der Politikersgattin zu spielen.

  Die ersten Anzeichen, wie sehr sie auf diesen veränderten Zustand reagierte, waren fast unbemerkt geblieben. Und die Wut war eigentlich schnell wieder verflogen, als er eines Tages nach Hause kam und entdeckte, dass sie sich mit einer Schere die Haare abgeschnitten hatte. Eine Perücke half, bis die Haare wieder gewachsen waren. Aber ein Jahr später fand er sie im Badezimmer, wie sie mit einer Rasierklinge kleine Schnitte in die Fingerspitzen machte und dann selbst entsetzt war, weil sie es getan hatte.

  Sie hatten sich damals sofort um Hilfe bemüht und einen Psychiater gefunden, der ihr still und höflich zuhörte. Nach einem Monat stellte sie jedoch ihre Besuche bei ihm ein. Sie erklärte, sie wolle ein Baby haben - das sei alles, was ihr fehle.

  Fast augenblicklich gelang die Befruchtung, und die drei Monate nach der ersten Schwangerschaft waren die schönsten, die sie je erlebt hatten. Wie schön sah Katherine aus! Sie fühlte sich prächtig, sie reiste sogar mit ihrem Mann in den Fernen Osten. Aber die Schwangerschaft endete im WC eines Flugzeugs. Blaues Wasser spülte ihre Hoffnung weg, während sie hysterisch weinte.

  Zwei Jahre dauerte es, bis sie zum zweiten Mal schwanger wurde, doch die Ereignisse hatten ihr Liebesleben zerstört, das einmal zum großen Teil die Grundlage ihrer Beziehung gewesen war. Der Arzt, ein Spezialist auf diesem Gebiet, hatte den richtigen Augenblick ihres Eisprungs auf eine bestimmte Stunde am Tag festgelegt, und es war schwierig für Thorn, gerade dann bei ihr zu sein. Er kam sich wie ein Idiot vor, als er Monat auf Monat sein Büro verließ, um zu versuchen, sie in diesem Augenblick zu schwängern; es war eine rein mechanische Aufgabe geworden, die er hasste. Man hatte ihm sogar vorgeschlagen, er solle masturbieren, damit man Katherine künstlich besamen könne, aber da machte er dann doch nicht mit. Wenn ein Kind so wichtig für sie war, konnte sie eines adoptieren, Doch das wollte sie nicht. Sie wollte ein Kind aus ihrem eigenen Fleisch und Blut haben. Schließlich fand einer seiner Samenfäden ein Ei und befruchtete es, und fünfeinhalb Monate lang sah alles wieder wunderbar für sie aus. Die Zeit ihrer Schmerzen begann in einem Supermarkt, und Katherine erledigte verbissen ihre Einkäufe, während sie zu verleugnen versuchte, was nicht länger verleugnet werden konnte. Es sei ein Segen, sagten die Experten, weil der Fötus geschädigt war, aber dieser Trost vertiefte nur ihre Verzweiflung, und sie geriet in eine Depression, von der sie sich erst nach sechs Monaten wieder befreien konnte.

  Nun war es das dritte Mal, und Thorn wusste, dass es auch das letzte Mal war. Wenn jetzt irgendetwas schiefging, würde dies das Ende ihrer geistigen Zurechnungsfähigkeit bedeuten.

  Die Landung auf der Piste verlief so glatt, dass die Passagiere dem Kapitän ihre Anerkennung aussprachen; vielleicht auch nur deshalb, weil sie irgendwie überrascht waren, dass sie überhaupt lebend heruntergekommen waren. Warum fliegen wir eigentlich?, fragte sich Thorn. Warum setzen wir immer wieder unser Leben aufs Spiel? Ist dieses Leben denn gar nichts mehr wert? 

  Er blieb auf seinem Sitz, während die anderen nach ihren Sachen griffen und auf die Tür zueilten. Man hatte ihm den Status eines VIP zugebilligt und würde ihn schnell durch den Zoll zu einem wartenden Auto lotsen. Das war der angenehmste Teil, wenn er nach Rom zurückkam, denn hier war er bereits eine Berühmtheit. Als wirtschaftlicher Berater des Präsidenten war er Vorsitzender der Weltwirtschaftskonferenz, die man gerade von Zürich nach Rom verlegt hatte. Die ursprünglich auf vier Wochen angesetzten Sitzungen dauerten nun fast sechs Monate, und während dieser Zeit hatten die Paparazzi begonnen, Notiz von ihm zu nehmen. Es gab Gerüchte, dass er sich vielleicht in einigen Jahren selbst (sogar mit einiger Hoffnung auf Erfolg) um die amerikanische Präsidentschaft bemühen werde.

  Mit zweiundvierzig war er in den besten Jahren, und er hatte sorgfältig den Weg vorbereitet, den er gehen musste, um sein Ziel zu erreichen. Seine Berufung zum Vorsitzenden der Weltwirtschaftskonferenz machte ihn weithin bekannt, so dass er durchaus in Kürze irgendein höheres Amt übernehmen konnte, vielleicht eine Position im Kabinett und schließlich aller Wahrscheinlichkeit nach ein Ministeramt.

  Dass der augenblickliche Präsident der Vereinigten Staaten früher auf dem College einmal sein Zimmergenosse gewesen, das war kein Geheimnis, aber Thorn hatte stets versucht, seinen Weg allein zu machen und seine Karriere mit größter Sorgfalt aufzubauen.

  Die Fabriken, die seiner Familie gehörten, hatten während des Krieges eine Blütezeit erlebt. Er hatte genug Geld, um sich die beste Erziehung und Ausbildung leisten und ein leichtes Leben führen zu können. Aber nach dem Tode seines Vaters hatte er die Fabriken stillgelegt und sich seinen Ratgebern widersetzt, um ihnen klipp und klar zu sagen, dass er keine Geräte mehr herstellen wolle, die zu Kriegszeiten verwendet werden konnten. Jeder Krieg ist ein Bruderkrieg. Das hatte Adlai Stevenson gesagt, und Jeremy Thorn berief sich darauf. Er wusste, dass es andere Dinge gab, die man tun konnte, Dinge, die dem Frieden dienten und die dennoch das Vermögen der Familie vervielfachten. Ihm tat sich nun eine völlig neue Welt auf - eine Welt, in welcher er der Erfolgreiche war. Nach dem Krieg war er Pragmatiker geworden, Er beteiligte sich bei Maklerfirmen, und der Bauboom hatte seinem Entschluss Recht gegeben. Er wurde überdies zu einem leidenschaftlichen Verfechter des Planes, vernachlässigte Siedlungen oder Gettogebiete wieder in einen menschenwürdigen Zustand zu verwandeln, ja, er steckte sogar Darlehen in kleine Unternehmen, damit diese wieder hochkamen.

  Das war es, was ihn so einzigartig machte. Er hatte die Gabe, Geld anzusammeln wie andere Leute Briefmarken, und er hatte einen Sinn für Verantwortlichkeit denen gegenüber, die kein Geld hatten. Nach unbestätigten Gerüchten betrug sein persönliches Vermögen ungefähr hundert Millionen Dollar, aber in Wahrheit wusste es Thorn selbst nicht genau. Alles zu zählen, hätte eine Pause bedeutet, und Jeremy Thorn hatte keine Zeit, um eine Pause einzulegen.

  

  Als das Taxi vor dem verdunkelten Ospedale Generale hielt, sah Pater Spilletto aus seinem Bürofenster im zweiten Stock hinunter und wusste sofort, dass der Mann, der ausstieg, Jeremy Thorn war. Er hatte sein Bild oft in den Zeitungen gesehen; das Bild eines Mannes mit einem stark ausgeprägten Kinn und grauen Schläfen. Sein Anzug, mehr noch – jede Bewegung schienen dem Pater vertraut zu sein. Er sah genauso aus, wie er aussehen sollte. Es war deutlich zu erkennen, dass er die richtige Wahl getroffen hatte. Der Pater zog die Kutte zurecht, einen Augenblick lang blieb er stehen - eine riesige Gestalt, die turmhoch den kleinen Schreibtisch überragte. Jetzt ging er mit ausdruckslosem Gesicht langsam zur Tür. Er konnte bereits die Schritte Thorna hören, als der amerikanische Diplomat schnell über den Kachelboden ging.

  »Mr. Thorn?«

  Thorn hob den Kopf. Seine Augen durchforschten die Dunkelheit.

  »Ja?«

  »Ich bin Pater Spilletto. Ich schickte Ihnen...«

  »Bin im Bilde. Ich habe Ihr Telegramm bekommen. Ich nahm die erste Maschine, um herzukommen.«

  Der Priester wurde in einem Lichtkegel sichtbar und kam Thorn über die Treppe entgegen. Irgendetwas war in seinen Bewegungen, in seinem Schweigen, das Thorn anzeigte, dass etwas passiert war.

  »Haben wir... unser Baby?«, fragte Thorn aufgeregt.

  »Ja.«

  »Meine Frau...?«

  »Sie schläft«

  Der Priester war nun unten an der Treppe, und er sah etwas in Thorns Augen, als ob dieser versuchen wollte, den Priester dabei zu unterstützen, den Schlag zu mildem.

  »Etwas stimmt nicht«, sagte Thorn.

  »Das Kind ist tot.«

  Sofort schien sich die Stille des Korridors in ein ohrenbetäubendes Summen zu verwandeln, und Thorn stand wie paralysiert da.

  »Es hat nur einen Augenblick geatmet«, flüsterte der Pater, »dann war es vorbei.«

  Ungerührt stand der Priester da, als Thorn zur Bank wankte, sich niederließ und das Gesicht in seine Hände nahm, um bitterlich zu weinen. Sein Schluchzen hallte von den Wänden wider. Der Priester wartete eine Weile, ehe er weitersprach. »Ihre Frau ist durchgekommen«, sagte er, »aber sie wird kein Kind mehr haben können.«

  »Das ist ihr Tod«, flüsterte Thorn.

  »Sie könnten ein Kind adoptieren,«

  »Sie will ein eigenes Kind haben.«

  In der Stille, die folgte, trat der Priester vor. Sein Gesicht war ernst, sein Auge voll des Mitleids. Nur ein Schweißtropfen verriet die Spannung, in der er sich befand.

  »Sie lieben Ihre Frau«, sagte er.

  Thorn nickte. Er konnte noch nicht wieder sprechen.

  »Dann sollten Sie Gottes Vorschlag annehmen.«

  Aus dem Schatten des dunklen Korridors näherte sich eine ältere Nonne. Sie winkte den Priester her zu sich. Einen Augenblick flüsterten sie auf Italienisch miteinander, ehe sie sich trennten und der Priester sich wieder Thorn zuwandte. Es war etwas in seinem Blick, das Thorn zur Vorsicht mahnte.

  »Gott kennt viele Wege, Mr. Thorn. Und seine Wege sind geheimnisvoll.« Er streckte die Hand aus. Thorn stand auf. Es war, als zwinge ihn irgendetwas, dem Priester zu folgen. Die Entbindungsstation befand sich drei Stockwerke höher. Sie gingen eine offenbar wenig benutzte Hintertreppe hinauf, an deren Decke nur kahle Glühbirnen hingen. Die Station war dunkel und sauber, der Geruch der Babys erinnerte Thorn an Katharines Leid, und sein Magen krampfte sich zusammen.

  Sie gingen zu einem Glasfenster. Der Priester blieb stehen und wartete, während Thorn zögernd näherkam und das kleine Wesen hinter der Scheibe bemerkte. Es war ein Kind. Ein neugeborenes Kind. Ein Kind von engelsgleicher Schönheit. Mit strubbeligen, dichten schwarzen Haaren. Aus tiefliegenden blauen Augen sah es auf, fand instinktiv Thorns Augen.

  »Es ist ein Findling«, sagte der Pater. »Die Mutter starb, als Ihr eigenes Kind... in der gleichen Stunde.«

  Verwirrt drehte sich Thorn um.

  »Ihre Frau braucht ein Kind«, fuhr der Priester fort. »Das Kind braucht eine Mutter.«

  Langsam schüttelte Thorn den Kopf. »Wir wollten ein eigenes Kind haben«, sagte er.

  »Wenn ich vorschlagen dürfte... schauen Sie die Ähnlichkeit.«

  Wieder sah Thorn durch die Glasscheibe. Es stimmte. Die Hautfarbe des Kindes glich der Katherines, die Gesichtszüge seinen eigenen. Es hatte ein festes, robustes Kinn, es hatte sogar das Grübchen im Kinn, das auch Thorn besaß.

  »Die Signora braucht es nicht zu wissen«, drängte der Priester.

  Da Thorn schwieg, wusste er, dass er gewonnen hatte.

  Thorns Hand begann zu zittern, und sogleich nahm der Priester diese Hand, um dem Zögernden Mut und Vertrauen einzuflößen.

  »Ist... ist es ein gesundes Kind?«, fragte Thorn mit zitternder Stimme.

  »In jeder Beziehung. Vollkommen gesund...«

  »Hat es Verwandte?«

  »Niemanden.«

  Erneut schien die Stille in dem leeren Korridor zu dröhnen. Es war eine Stille, welche schmerzte.

  »Ich bin hier derjenige, der Entscheidungen trifft«, sagte der Priester. »Es gibt keine Eintragungen, keine Aufzeichnungen. Niemand wird es jemals erfahren.«

  Thorn wich dem Blick des Priesters aus. Er versuchte verzweifelt, sich zu entscheiden.

  »Könnte ich... mein eigenes Kind sehen?«, fragte er.

  »Was hätten Sie davon?«, fragte der Priester. »Schenken Sie Ihre Liebe diesem lebendigen Geschöpf.«

  Hinter der Glasscheibe hob das Kind beide Arme, hob sie Thorn entgegen, es war eine wunderbare Geste des Vertrauens.

  »Ihrer Frau zuliebe, Signore. Gott wird diesen Betrug verzeihen. Diesem Kind zuliebe, das sonst keine Heimat haben wird...«

  Er schwieg. Es war nicht nötig, mehr zu sagen.

  »In dieser Nacht, Mr. Thorn, hat Gott Ihnen einen Sohn geschenkt.«

  

  Und oben am Nachthimmel erreichte der schwarze Stern in diesem Augenblick den Scheitelpunkt. Ein Lichtstrahl löste sich. Im Kindbett lag Katherine Thorn. Sie kam langsam zu sich. Dies Erwachen schien ihr ganz natürlich. Was wusste sie schon von jener Injektion, die man ihr soeben gegeben hatte?

  Zehn Stunden lang hatte sie alle Leiden der werdenden Mutter erlebt. Sie hatte die letzten Wehen gefühlt und war dann bewusstlos geworden, ehe sie das Kind sehen konnte.

  Jetzt, da ihre Gedanken wie aus weiter Ferne zurückzukehren schienen, erfüllte Angst sie, aber sie kämpfte dagegen an und versuchte sich zu beruhigen.

  Da - plötzlich Schritte, draußen im Korridor  dann an der Tür. Die Tür öffnete sich, und da stand ihr Mann... in seinen Armen ein Kind!

  »Unser Kind«, sagt Thorn und seine Stimme zittert, so bewegt ist er. »Wir haben einen Sohn.«

  Katherine streckte die Hände aus und nahm das Baby, während Tränen der Freude ihre Wangen benetzten. Wie er seine Frau so durch die verweinten Augen betrachtet, sagt Thorn: »Dem Herrn sei Lob und Dank.«

 

 

 

 

  

  2.

 

 

  Die Thorns gehörten beide der katholischen Glaubensgemeinschaft an, aber keiner von ihnen war übermäßig fromm. Manchmal betete Katherine, und zu Weihnachten und Ostern besuchte sie die Kirche, aber eigentlich nur, weil sie es von ihrer Kindheit her so gewohnt war - nicht aus dem unbedingten Glauben an das Dogma.

  Im Gegensatz zu Katherine nahm es Thorn nicht ernst, dass ihr Sohn Damien nicht getauft war. Natürlich hatten sie es versucht. Sofort nach seiner Geburt hatten sie das Kind in die Kirche gebracht, aber sobald sie die Pforte der Kathedrale durchschritten hatten, begann es so heftig zu schreien und war so sehr von Angst erfüllt, dass sie die Zeremonie wieder absagten. Mit dem Wassergefäß in der Hand war ihnen der Priester hinaus auf die Straße gefolgt. Er hatte sie gewarnt, wenn das Kind nicht getauft würde, könnte es niemals in das himmlische Reich gelangen.   Doch Thorn weigerte sich, die Zeremonie fortzusetzen, denn er sah deutlich, in welchem Zustand sich das Kind befand. Um Katherine zu beruhigen, improvisierten sie eine Zeremonie zu Hause. Sie war im Grunde genommen niemals völlig beruhigt, und sie gab die Absicht, mit Damien eines Tages doch in eine Kirche zu gehen, um ihn in die christliche Glaubensgemeinschaft aufnehmen zu lassen, nicht auf.

  Dieser Tag kam allerdings nie, denn es gab ständig unendlich viel zu tun, und die Taufe wurde vergessen. Die Weltwirtschaftskonferenz war zu Ende. Sie kehrten nach Washington zurück. Thorn legte sein Amt als Berater des Präsidenten nieder und versuchte auf eigene Faust politische Karriere zu machen. Der große Besitz in McLean, Virginia, wurde zum Treffpunkt zahlreicher Landespolitiker. Immer häufiger tauchte der Name Thorn in den Schlagzeilen der Zeitungen und Magazine auf, und zwischen New York und Kalifornien war bald jedermann mit den Gesichtern der Thorns vertraut.

  Sie waren außergewöhnlich fotogen, sie waren reich, und sie waren auf dem Weg nach oben. Man sah sie jetzt auffallend häufig zu Gast beim Präsidenten. Es war klar, dass Thorn protegiert wurde, und politische Spekulanten waren daher nicht im Geringsten überrascht, als er eines Tages am Hof von St. James die Rolle des amerikanischen Botschafters spielte. Damit befand er sich in einer Schlüsselposition, welche ihm tausend Möglichkeiten und Vorteile bot.

  Die Thorns übersiedelten nach London und bezogen ein Haus aus dem siebzehnten Jahrhundert in Pereford. Das Leben wurde zu einem schönen Traum, besonders für Katherine. Es war so vollkommen, dass sie manchmal Angst bekam. Hier auf dem Landsitz fand sie jene Abgeschiedenheit, in der sie nichts anderes zu sein brauchte als eine Mutter für ihr angebetetes Kind; dennoch konnte sie jederzeit eine freundliche und schöne Helferin bei den diplomatischen Aufgaben ihres Gatten sein. Nun hatte sie ja ihr Kind, und so war sie eigentlich wunschlos glücklich. Jeremy betete sie an.

  Wie blühte sie plötzlich auf! In ihrer Frische und Schönheit erntete sie die Bewunderung aller. »Katherine Thorn?«, hieß es. »Sie ist so schön, so zart und so zerbrechlich wie die Blüte einer Orchidee.«

  Die Villa in Pereford, die sie elegant eingerichtet hatten, spielte eine gewisse Rolle in der englischen Geschichte. Sie besaß einen Keller, wo sich Anno l666 ein verbannter Herzog verborgen hatte, bis man ihn entdeckte und hinrichtete. Die Villa war von einem Wald umgeben, in dem König Heinrich V., einst Wildschweine jagte. Es gab irgendwo im Haus geheime Durchgänge und dunkle Fluchtwege. Aber es war ein fröhliches Haus, das zu allen Tages- und Abendstunden Gäste beherbergte, und helles Lachen herrschte in den großen Räumen.

  Im Haushalt beschäftigten die Thorns einige Leute, die morgens kamen und abends wieder gingen - auch das Ehepaar Horton. Beide benahmen sich sehr englisch und sehr würdevoll. Sie arbeitete als Köchin, er als Chauffeur. Da war die kleine pummelige Chessa, ein halbes Kind noch  sie spielte Kindermädchen bei Damien, wenn Katherine gesellschaftliche Verpflichtungen hatte. Und Chessa war ein liebes, freundliches Mädchen, das aus der Thorn-Familie nicht wegzudenken war. Sie war klug, wenn auch ein bisschen verspielt, und sie behandelte den Jungen wie ihr eigenes Kind.

  Oft watschelte Damien hinter ihr her über den weiträumigen Rasen, oder er saß still mit ihr am Teich, aus dem er Kaulquappen angelte und wo er Wasserjungfern fing, um sie in Dosen nach Hause zu bringen.

  In dieser behüteten Welt entwickelte sich das Kind zu einem prächtigen Jungen. Er war nun drei Jahre alt, körperlich vollkommen gesund und kräftig. Eine merkwürdige innere Zufriedenheit, ja, eine Gelassenheit ging von ihm aus, die man selten bei einem so jungen Menschen findet, ja, manch ein Gast fühlte sich gelegentlich durch seinen festen Blick beunruhigt. Wenn Intelligenz daran gemessen wird, wieviel Aufmerksamkeit jemand seiner Umwelt zollt, dann war Damien ein Genie, denn er saß oft stundenlang auf einer kleinen schmiedeeisernen Bank unter einem Apfelbaum und beobachtete die Leute, die kamen und gingen. Nichts von dem, was um ihn her geschah, schien seinen Blicken zu entgehen.

  Wenn Horton seine Besorgungen machte, nahm er den Jungen mit. Horton hatte die schweigende Gegenwart Damiens gern, und es erstaunte ihn immer wieder, wie fasziniert sein kleiner Begleiter an allem teilnahm.

  »Er kommt mir vor wie ein Wesen vom Mars«, bemerkte Horton einmal. »Als ob ihn jemand geschickt hätte, um die menschliche Rasse zu studieren.«

  »Er ist der Augapfel seiner Mutter«, entgegnete Mrs. Horton. »Es wär nicht eben gut, wenn sie hörte, was für Zeug du daherredest.«

  »Aber ich sage doch nichts Böses über ihn. Bloß, dass er ein bisschen ungewöhnlich ist.«

  Das einzige, was an Damien störte, war die Tatsache, dass er selten seine Stimme Vernehmen ließ. Freude drückte er durch ein breites Grinsen aus, bei dem seine hübschen Grübchen sichtbar wurden; Sorge durch Tränen, die, ohne dass er je laut geweint hätte, über seine Wangen strömten.

  Als Katherine dies einmal ihrem Arzt gegenüber erwähnte, beruhigte dieser sie. Er erzählte ihr die Geschichte eines Jungen, der kein einziges Wort sprach, bis er acht Jahre alt war und dann nur die Bemerkung von sich gab, er möge keinen Kartoffelbrei. Als ihn die Mutter erstaunt fragte, warum er nie vorher gesprochen habe, wenn er doch sprechen könne, erwiderte das Kind, bisher hätte sie ihm ja auch noch keinen Kartoffelbrei serviert. Katherine hatte über diese Geschichte viel gelacht und sich wegen Damien ein wenig beruhigt. Schließlich hatte Albert Einstein auch erst mit vier Jahren zu sprechen begonnen, und Damien war erst dreieinhalb! Wenn man davon absah, dass er so still war und alles so genau beobachtete, was um ihn her geschah, war er in jeder Hinsicht das vollkommene Kind, kurzum, der glückliche Sprössling einer vollkommenen Ehe.

 

 

 

 

 

  

  3.

 

  Wenn Horoskope stimmen, dann konnte man das an dem im Zeichen der Fische geborenen Haber Jennings beweisen. Dieser nämlich war ein ungepflegter Bursche und aufdringlich bis zur Verwegenheit. Anderswo hätte man gesagt: Ein typischer Paparazzi, eine Art Hyäne im Dschungel des Journalismus, und nur geduldet, weil er stets bereit war, das zu tun, was die anderen nicht tun wollten.

  Wie eine Katze, die eine Maus belauert, hatte er tagelang darauf gewartet, bis er endlich dieses eine Foto schießen konnte: Marcello Mastroianni auf der Toilette sitzend, aufgenommen mit einem Teleobjektiv von der Spitze eines Eukalyptusbaums, Er hatte mit seinem Apparat die Königinmutter erwischt, als ihr die Hühneraugen entfernt wurden, sogar Jackie Onassis auf ihrer Jacht, genau in dem Moment, da sie sich erbrach. Solche Aufnahmen waren seine große Masche. Er wusste immer, wo er zur richtigen Zeit zu sein hatte, und seine Fotos verkauften sich natürlich blendend. Er hauste in einem Ein-Zimmer-Apartment in Chelsea. Socken trug er selten. Aber er verfolgte sein Objekt, in diesem Fall Prominente, mit jener Gründlichkeit, mit der Salt seinen Impfstoff gegen die Kinderlähmung gesucht hatte.

  Seit einiger Zeit hatte er sich den Botschafter in London aufs Korn genommen, um zu versuchen, hinter die perfekte Fassade zu schauen, die das Botschafterpaar um sich aufgebaut hatte. Seine Fragen waren ganz klar: Wie stand es um den Geschlechtsverkehr des hübschen Paares? Und wenn sie es miteinander machten - wie? 

  Er versuchte das herauszubekommen, was er ihre menschliche Natur nannte, aber im Grunde genommen wollte er bloß beweisen, dass jeder genauso widerlich war wie er selbst. Kaufte der Botschafter obszöne Magazine und masturbierte er? Hatte er etwas mit irgendeinem Mädchen? Die Antworten auf diese und ähnliche Fragen interessierten ihn. Obwohl es fast lauter Fragen waren, die niemals beantwortet werden konnten, gab er die Hoffnung nie auf. Die Hoffnung, am Ende doch noch etwas zu erreichen, war beim Beobachten stets sein Beweggrund geblieben - also wartete er eben.

  An diesem Tage hatte er sich vorgenommen, zum Besitz der Thorns nach Pereford hinauszufahren, obwohl er nicht beabsichtigte, irgendwelche Aufnahmen zu machen, denn das hatten womöglich viele andere auch vor, aber er wollte sich die ganze Geschichte einmal ansehen - das Haus und das Grundstück. Er wollte die richtigen Fenster entdecken, die Ein- und Ausgänge, vor allem aber wollte er herausfinden, welchen Diener man für ein paar Pfund kaufen konnte.

  Er stand früh auf, überprüfte seine Kameras, wischte mit Kleenex die Staubpartikelchen von den Linsen, drückte sich vor dem Spiegel ein Eiterpickelchen aus und benutzte das gleiche Tuch, um damit den Eiter abzuwischen. Er war achtunddreißig Jahre alt und quälte sich immer noch mit Pubertätspickeln herum, was ihm wenig ausmachte, da er meistens mit der Kamera vor dem Gesicht durchs Leben pilgerte. Haber Jennings war von schlankem Wuchs. Die Anzüge, die er meistens an seinem Bett-Ende stapelte, waren ewig zerknittert.

  Bevor er sein Zimmer verließ, setzte er den Zeitschalter in seiner Dunkelkammer in Gang, dann durchsuchte er seinen Papierkorb nach der Einladung. Es ging um eine Geburtstagsparty. Um den vierten Geburtstag des kleinen Damien Thorn. Und sie feierten ihn auf eine ganz besondere Weise, denn aus den Slums waren bereits die Busse mit verkrüppelten Kindern oder Waisen auf dem Weg nach Pereford.

  Die Fahrt durch die englische Landschaft machte Spaß und war irgendwie beruhigend. Haber Jennings zündete sich einen Joint an, um einen klaren Kopf zu bekommen. Nach geraumer Zeit schien die Straße sich unter ihm zu bewegen.

  Stand der Wagen etwa still? Er hatte im Augenblick jede Verbindung mit der Wirklichkeit verloren, nur seine Fantasie war lebendig, und diesmal hatte er das Gefühl, höchstpersönlich vor einer Kamera zu stehen. Irgendjemand zwang ihn zu einer unverschämt heroischen Pose, und plötzlich ging's auf einem Hundeschlitten übers Eis, neben ihm Sophia Loren, die bei voller Fahrt... geschminkt werden wollte. Und Polizisten. War das etwa schon Thorns Besitz?

  Stur starrte Jennings geradeaus, während sie seine Einladung betrachteten, um sicherzugehen, dass sie auch in Ordnung war.

  Er war an dergleichen Behandlung gewöhnt und wusste, dass er dumme Fragen vermeiden konnte, indem er einen würdigen Eindruck machte. Doch dies war nur ein Teil dessen, was er einzusetzen hatte. Haber Jennings konnte nämlich die Leute viel besser beobachten, wenn sie es vorzogen, so zu tun, als wäre er gar nicht vorhanden.

  Schließlich gelangte er durch das große schmiedeeiserne Tor. Er blinzelte, um die Nachwirkungen des Marihuanas abzuschütteln, aber dann merkte er, dass dies keineswegs eine Illusion sein konnte, was er da sah.

  Auf der großen Fläche vor dem Haus hatte man einen richtigen Rummelplatz aufgebaut. Ein buntes Treiben auf den Rasenflächen! Kinder rannten zwischen einem Zirkuszelt und einem Karussell hin und her, während Männer und Frauen sich durch die Menge schoben und Zuckerwatte oder andere Süßigkeiten verteilten. Ihre Stimmen gingen in dem Orgeln unter, welches das Karussell veranstaltete, auf dem Kinder, teils auf rosa Pferdchen, teils auf Riesenschwänen schaukelnd, unermüdlich kreisten. Es gab ein Wahrsager-Zelt, vor dem sogar höchst prominente Herrschaften Schlange standen; es gab Shetlandponys, die frei umhertummelten; sogar ein junger Elefant war da, den man mit einem roten Stoffsattel geschmückt hatte und der aus den Händen quiekender Kinder Erdnüsse entgegennahm. Und natürlich Fotografen überall, die nicht genug Schnappschüsse kriegen konnten.

  Nur Haber Jennings schien nichts Lohnenswertes entdeckt zu haben. Immer noch betrachtete er kritisch die Fassade des alten Hauses.

  »Was ist denn los, Mann? Hast keine Filme mehr?«

  Es war Hobie vom News Herald, der ihn ansprach und der in fieberhafter Eile am Würstchentisch einen Film einlegte, als Jennings sich gerade etwas zu essen holen wollte.

  »Ich warte bloß noch auf seine Heiligsprechung«, erwiderte Jennings missmutig.

  »Wie... wie meinen Sie das?«

  »Ich weiß nicht, ob wir hier bloß den Erben der Thorn-Millionen haben oder den Erlöser höchstpersönlich.«

  »Sie sind ein Narr, wenn Sie sich das entgehen lassen, Mann. So 'ne Sadie kriegen Sie doch höchstens alle Jubeljahre vor die Linse.«

  »Was soll's. Was ich brauche, kann ich von Ihnen kaufen.«

  »Ach so, Sie wollen Exklusivaufnahmen, wie?«

  »Was anderes bestimmt nicht.«

  »Dann viel Glück. Sie scheinen nicht zu wissen, dass das hier eine Familie ist, die sich noch privater benimmt als unser Pärchen in Monaco.«

  Exklusivaufnahmen. Das war's, wovon Haber Jennings träumte. Durch den Privateingang in die geheiligten Gefilde. Eine aufregende Sache, auf diese Weise auf die Pirsch zu gehen. Wenn er es schaffen könnte, irgendwie ins Haus zu gelangen... es könnte sich auszahlen.

  »Hey, Mädchen! Mädchen!« hörte er Hobies Stimme in der Ferne. »Hierher schauen!« Die ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich plötzlich auf den riesigen Geburtstagskuchen, der auf einem fahrbaren Tisch aus dem Inneren des Hauses gerollt kam. Das Kindermädchen Chessa kam im Clownskostüm mit weißgepudertem Gesicht und einem knallroten Oval um den Mund. Die Fotografen umtanzten sie sofort, und Chessa war überglücklich, ganz im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen. Immer wieder drückte sie den kleinen Damien an sich und küsste ihn, bis sein Gesichtehen völlig beschmiert war mit Puder und Schminke war.

  »Kann er die Kerzen ausblasen?«, brüllten die Fotografen. »Lassen Sie's ihn mal versuchen.«

  Langsam wanderten Jennings Augen über die Menge; er entdeckte Katherine Thorn, die ein Stückchen entfernt stand und um deren Mund ein missbilligendes Lächeln spielte. Für den Bruchteil einer Sekunde zeigte sie ein völlig fremdes Gesicht. Jennings griff instinktiv nach seiner Kamera und drückte auf den Auslöser. Langsam ging Katherine weiter, als sie den Applaus und das Geschrei der Leute hörte, die sich um die Geburtstagstorte Damiens geschart hatten.

  »Man soll ihm die Zukunft weissagen!«, rief ein Reporter.

  »Bringt ihn doch zur Wahrsagerin.« Und wie ein einziger Körper begann sich die Menge zu bewegen, sie schob das Kindermädchen mit dem Geburtstagskind über den Rasen.

  »Ich werde ihn nehmen«, sagte Katherine und griff nach Damien, als sie vorbeigingen.

  »Ich kann das schon, Ma'am«, sagte Chessa und lachte.

  »Nun - lass mich nur«, entgegnete Katherine mit einem bittersüßen Lächeln.

  Und in der Sekunde, da sich ihre Blicke trafen, ließ das Mädchen den kleinen Damien los. Es war ein Augenblick, der im allgemeinen Tumult von keinem bemerkt worden war - außer von Jennings, der seine Sucher auf die Gruppe gerichtet hielt. Chessa war inzwischen allein zurückgeblieben. Wie verlassen sie aussah, vor dem Hintergrund der mächtigen Hausfront, und vielleicht war's dieses kuriose Clownskostüm, das ihre Verlassenheit noch unterstrich! Jennings knipste zweimal. Jetzt aber hatte sich Chessa umgedreht. Langsam ging sie aufs Haus zu.

  Vor dem Zelt der Wahrsagerin bat Katherine die Reporter, draußen zu bleiben. Sie ging mit Damien hinein und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Die Ruhe und das Halbdunkel im Raum waren wohltuend,

  »Hallo, kleiner Junge.«

  Die Stimme der Gestalt, die hinter einem kleinen grünen Tisch saß, gab sich große Mühe, geisterhaft zu klingen. Als Damien dieses sonderbare Wesen entdeckte, klammerte er sich noch fester an seine Mutter.

  »Aber, aber, Damien«, lachte Katherine. »Es ist doch eine nette Hexe. Sind Sie nicht eine nette Hexe?«

  »Natürlich«, lachte die Wahrsagerin. »Ich werde dir bestimmt nichts tun, mein Kind.«

  Aber Damien drängte fort. Er ließ Katherine nicht los. Die Wahrsagerin schob ihre Gummimaske hoch, und das strahlende Gesicht eines hübschen Mädchens tauchte auf.

  »Siehst du? Ich bin ein ganz normaler Mensch. Wie könnte ich dir etwas antun?«

  Beruhigt streckte Damien die Hand aus. Katherine setzte sich mit ihm an den Tisch, auf dem Spielkarten lagen.

  »Oh, was für eine hübsche, zarte Hand. Das bedeutet viel, viel Glück.«

  Doch dann schwieg sie und starrte verwirrt auf Damiens Hand.

  »Zeig mir doch mal die andere.«

  Als Damien die andere Hand ausstreckte, betrachtete das Mädchen ziemlich verstört die beiden Handflächen.

  »Ist irgendetwas?«, fragte Katherine.

  »Ich habe so etwas noch nie gesehen«, antwortete das Mädchen. »Ich mache seit drei Jahren bei Kinderpartys mit, aber so etwas habe ich noch nie vorher gesehen.«

  »Was gesehen?«

  »Schauen Sie her. Ihm fehlen die Charakterlinien.«

  »Wie bitte?«

  Katherine schaute auch hin. »Aber ich kann nichts erkennen«, sagte sie.

  »Hat er sich mal verbrannt?«, fragte das Mädchen.

  »Nein, natürlich nicht.«

  »Betrachten Sie mal Ihre eigene Hand. Sehen Sie alle diese Linien? Sie sind bei jedem Menschen verschieden. Es sind Zeichen der Identität.«

  Es entstand eine peinliche Pause. Das Kind starrte auf seine Hände. Was sollte da wohl falsch sein?