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Awen Eibner

Wellenflügel 2

Der Sog der Kälte





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Wien

 

Diese Geschichte ist rein fiktiv. Ähnlichkeiten zu realen Orten oder Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Der Sommer hatte die Nacht fest im Würgegriff.

Ein warmer Wind strich über die erhitzten Wellen des Sees, die nicht einmal die Größe scharfkantiger Kieselsteine erreichten, und über das nur dank großzügiger Pflege nicht ausgedorrte Gras den Hang hinauf zum Kutschenplatz vor dem Schloss, dessen dunkelgraue, ungeschmückte Mauern sich kaum von der dunkelschwarzen Nacht abhoben. Silbriges Licht berührte die Fenster und die Zimmer, wo keine Vorhänge es stoppten, und die Kälte der weit entfernt funkelnden Sterne brach sich in den Tümpeln, die ein vergangenes Wärmegewitter hinterlassen hatte.

Kein Kerzenschein erhellte die Schlossmauern, keine Silbe unterbrach die Nacht. Geräusche dominierten sie – aus dem Wald, dessen Schatten unberührt blieben vom Mondlicht, aus der Wiesenebene, auf der die Statue eines Baumes ihr raues Gestein dem Wind gleichgültig entgegenhielt, aus dem Schloss, aus der eine Gestalt trat.

Schnell verließ sie die Mauern und riss sich am Kiesweg die erst vor kurzem geschlossenen Wunden an den Fußsohlen auf, bevor sie ins Gras wechselte. Einen Blick über die Schulter werfend verharrte sie einige Herzschläge lang, betrachtete die Umgebung, deren Wärme nicht in ihr Inneres vordrang.

Ihr Oberkörper war halb zusammengesunken, die Schultern einem Kontrabass gleich, der Kopf gesenkt, als sich die Gestalt mit dem wehenden, dreckverkrusteten Haar der Finsternis des Waldes zuwandte, weg von den spitzen Steinen des Kiesplatzes, weg von den spitzen Steinen ihrer Vergangenheit, hin zu den rauen Wurzeln ihrer Zukunft.

Sie schleppte sich mehr vorwärts, als dass sie ging, als ob ihr die Kraft fehlen würde, sich aufzurichten und ihren Plan in die Tat umzusetzen. Gab es einen Plan? Leere herrschte in ihr, entsetzliche Leere, einem sich langsam ausbreitenden, lähmenden Gift gleich, das ihren Kopf von innen zerfraß.

Mehrmals stolperte sie, scheuerte sich an stacheligen Pflanzen die Schienbeine auf, ihre Schritte ungleichmäßig, doch immer auf das gerichtet, das einem Ziel am nächsten kam. Zweige zerbarsten unter ihren Füßen, totes Falllaub knisterte einer alles verzehrenden, unsichtbaren Flamme gleich, als sie in die Schatten ihres neuen Zuhauses trat.

Langsam blieb sie stehen, atmete heftig, als wäre sie vor einem Rudel Wölfe davongelaufen, bekannten Wölfen, vertrauten Wölfen, die noch nicht begriffen hatten, dass sie Jagd auf sie zu machen hatten, und drehte sich um, ängstlich ob des Anblicks, dem sie sich stellen musste.

Sie sah nicht den kalten Kies, die gleichgültigen Sterne, die schwarzen Mauern; sie sah dunkle Kutschen unter einem bewölkten Himmel, graues Seewasser, ein leeres Grab. Zitternd verharrte sie in ihrer Position, bis sie es nicht mehr aushielt, sich umwandte und humpelnd ihren Weg fortsetzte.

Jeder Schritt schmerzte, aber in ihrer Pein suchte sie nach Vergebung, Vergeltung für ihre Taten. Wie kleinste Gewitter konnte sie die leuchtenden Netze der Tiere um sich herum spüren, doch sie verspürte nicht das Jucken in den Fingern, nicht das Flattern ihres zweiten Herzens, auf sie einzuwirken, sie anzuzapfen, obgleich sie es würde tun müssen, letztlich, wenn sie überleben wollte.

Tiefer in die Finsternis führte sie sich, und der einzige Weg hinaus, der möglicherweise beschreitbar war, bedurfte etwas, das sie nicht zu leisten vermochte. Ein Leben gegen ein Leben – doch was brachte es, ihres zu geben? Was machte das ungeschehen?

Zurück konnte sie nicht; sie musste weg. So tief in die von fallstrickähnlichen Wurzeln geprägte Finsternis, bis sich ihr die Möglichkeit bot, ihre Schuld so weit zu begleichen, dass sie mit sich leben konnte.

Drei Kinder, und wenn sie zumindest zweien das Leben rettete, würde sie ihrem Spiegelbild eines Tages wieder in die Augen sehen können, in den kalten Flüssen des dominischen Waldes. Bis dahin vermochte sie nichts zu tun, vermochte sie niemandem zu helfen, nicht einmal sich selbst.

Der Mond verbarg sich hinter Wolken, die Wolken hinter dem Laub der Bäume, als sie sich erschöpft auf den Boden sinken ließ und in die Finsternis vor sich starrte. Gewarnt hatte sie alle drei, so hoffte sie, und all diejenigen, die noch kommen würden. Auf Vergebung konnte sie nicht hoffen.

Nie mehr würde sie ihre Gabe verwenden, ihren Fluch, solange nicht ihr Leben davon abhing. Zu grauenvoll war die Vorstellung, dass sich die Geschichte wiederholte, dass ihre Vergangenheit ihre Zukunft darstellte.

Keine Sterne, nur Dunkelheit sah sie, als sie nach oben blickte, tief durchatmete und sich auf den Boden legte. Ihr blieb nichts übrig, außer zu warten, zu beobachten, sich zu respektieren lernen. Sich anhand ihrer Taten davon zu überzeugen, dass sie kein Monster war.

Nicht sein musste.

I. Kapitel

„Du hättest ihn sowieso nicht geduldet.“

Der Tag war so strahlend und unbeschwert, wie sich Leopold fühlte. Das Licht mochte gedämpft sein von einigen hellgrauen Wolken, die hoch am Himmel vorbeitrieben, als hätten sie heute noch ein Ziel zu erreichen, und der Wind war zu launisch, als dass der Tag perfekt wäre, doch nichts davon vermochte seinen Eindruck zu trüben.

Er warf der Frau neben ihm einen Blick zu, der von einem charmanten Lächeln gefolgt wurde. „Brauchst dich also nicht so aufzuführen.“

Shenoa sah ihn mit einem Ausdruck in den Augen an, den er in den letzten Stunden öfter gesehen hatte. Das beständige Ruckeln der Kutsche, in der ein matter Geruch nach Leder hing wie ein verrosteter Kronleuchter in einem zu kleinen Raum, hatte das Sitzen bereits zu Beginn der Fahrt unangenehm gemacht. Hätte er nicht gewusst, weswegen er in diesem Gefährt neben dieser Frau saß, wäre seine Laune längst zwischen den Brettern versunken.

„Es mag dir seltsam erscheinen“, antwortete Shenoa, wobei sie ihren dunklen Mantel zurechtrückte, „aber ich treffe solche Entscheidungen lieber selbst.“

„Das war immer schon dein Problem, nicht?“

Die Lippen zusammenkneifend blickte Shenoa weg. Auch Leopold wandte den Blick ab und beobachtete die Umgebung, die mit jeder schmerzhaften Erschütterung weiter vorbeirauschte. Dunkle Äste hoben sich gegen den blütenweißen Schnee ab, der seit Wochen den Süden Dominiens fest im Griff hatte. Selten wurde das Kontrastspiel von offenen, braun-weißen Flächen unterbrochen, die im Sommer voll von goldgelben Ähren oder dunkelgrünen Blättern sein mochten, nun aber kalt und tot wirkten.

Ab und zu unterbrach ein Haus die Zweitönigkeit aus Braun und Weiß und jedes Mal wurde die Straße an dieser Stelle noch weniger erträglich, da sich hier die Kutschenräder über die Jahre tief in den Boden gegraben und Rillen geformt hatten, denen kein Fahrer ausweichen konnte.

Leopold verzog den Mund zu einem zuversichtlichen Lächeln, als er an die kommenden Stunden dachte. Bald würde alles seine angestammte, richtige Ordnung haben – und dieses Mal würde er sich nicht so leicht verjagen lassen. Nicht noch einmal.

Obwohl die Stille keine angenehme Atmosphäre vermittelte, genoss er sie. Er hatte einen guten, verlässlichen Plan erdacht, und dieses Gefühl war keines, das durch trostlose Felder oder Kollateralschäden zu vertreiben war.

Leopold hörte am Rascheln des Mantels, dass sich Shenoa aufrichtete, warf ihr aber nur einen kurzen Blick zu. Die Anzahl der Felder ließ darauf schließen, dass sie die Siedlung bald hinter sich gelassen hatten und in Kürze beim Schloss eintreffen würden.

Hellbraune und zugefroren aussehende Erdklumpen wurden abgelöst von hellbraunen und zugeschneiten Ästen, als sie in das Waldgebiet fuhren, das die letzte Etappe der Reise bildete. Leopold lehnte sich zurück und sah zur anderen Seite der Kabine, als er aus dem Augenwinkel Shenoas Lächeln sah.

Es war kein schönes Lächeln. Nichts erinnerte an die Leidenschaft, die er auch jetzt noch mit ihm verband, obwohl er sich dagegen sträubte. Keine Freude lag in den schmalen Lippen – lediglich die angehobenen Mundwinkel wiesen auf einen Ansatz guter Stimmung hin.

Seine Mitreisende beugte sich vor und klopfte dreimal gegen das Holz, das direkt hinter dem Kutscher lag. Bevor Leopold dazu kam zu fragen, was das werden sollte, verlangsamten sich die unangenehmen Stöße und die braun-weiße Landschaft kam zum Stillstand.

„Endstation, Liebster“, flötete Shenoa und griff an ihm vorbei, um die Tür aufzustoßen. An ihrem Handgelenk trug sie eine dünne Lederschnur, die von bunten Fäden umwickelt war. Fast sofort wurde der Schmuck wieder vom Mantel verborgen und Leopold sah die Frau stirnrunzelnd an, seiner guten Laune beraubt.

„Bis zum Schloss ist es noch ein Stück“, stellte er irritiert fest.

„Aber wir wollen doch nicht zusammen gesehen werden.“ Shenoa beugte sich nach rechts, sodass ihm mit einem Mal ihr Geruch gewahr wurde. Erinnerungen stiegen in ihm auf. Sein Blick traf den ihren und für einen kurzen Moment glaubte er, zwanzig Jahre jünger zu sein. Sehnsucht stieg in ihm auf, freudige Erwartung, ein Gefühl der Zuneigung …

Die kalte Luft durchschnitt den Bann ebenso wie seine Kleidung. Verärgert wandte er sich ab, das spöttische Lächeln Shenoas im Gedächtnis verewigt, als hätte sie ihn wie ein Rindvieh gebrandmarkt.

„Als ob das irgendwen kümmern würde“, antwortete er und griff seinerseits nach der Tür, um sie zuzuschlagen. Shenoa umklammerte sein Handgelenk und drückte dabei fester zu, als notwendig gewesen wäre.

„Ich dachte, dir liegt so viel daran?“, fragte sie in einem Ton, der das hörbare Äquivalent zu Honig war, durch den man eine Dolchklinge schimmern sehen konnte. „Willst du wirklich durch ein wenig Bequemlichkeit deinen ganzen tollen Plan ruinieren?“

„Bequemlichkeit?“ Leopold bemühte sich darum, das Wort weniger auszusprechen als auszuspucken. „Das nennst du bequem?“

Er schüttelte den Kopf und stieg energisch aus. Obwohl er sich darum bemühte, so wütend und herablassend zu wirken wie möglich, konnte er deutlich sehen, wie zufrieden Shenoa damit war, ihn in die Winterkälte hinauswerfen zu können.

„Bequemer als ein halbstündiger Marsch im Januar“, meinte sie. „Bis dann, Liebster.“

Mit diesen Worten griff sie nach der Türklinke und schloss das Gefährt. Ein gedämpftes Klopfen ertönte und durch die von Wasser und Schlamm beschmutzten Scheiben hindurch konnte er erkennen, wie sie sich zufrieden zurücklehnte und ihn überheblich angrinste.

Leopold sprang zurück, als sich die Kutsche in Bewegung setzte, um seine Füße in sicherer Entfernung zu den Rädern zu wissen, die auf dem Boden weniger Halt fanden als sonst. Missmutig starrte er dem Wagen hinterher, bis er außer Sichtweite war.

Ein Fluch verließ seine Lippen, während er den Mantel zuknöpfte und nach einem Stein Ausschau hielt, den er treten konnte. Die Baumstämme, die er stattdessen fand, wirkten zu stabil, um unter seiner Wut nachzugeben, sodass er frustriert stampfend den Heimweg fortsetzte.

Hatte er das winterliche Kontrastspiel eben noch als schön empfunden, so wirkten die braunen Gehölze zwischen den weißen Flächen nun mehr wie gleichgültig verharrende Geister. In einigen Metern Entfernung bog die Kutsche hörbar ruckelnd um eine Kurve, ehe sie aus seiner Sichtweite verschwand.

Der Boden gab knirschend unter Leopolds Stiefeln nach, als er der Straße folgte. Weiß hing sein Atem in der Luft und zerstob, sobald eine noch so leichte Böe um ihn herum wehte, was aufgrund des Windes die ganze Zeit über passierte. Obwohl er den Mantel fest um seinen Körper geschnürt hatte, flatterte er im Wind.

Sich an einen anderen mehr oder minder unfreiwilligen Ausflug erinnernd starrte er missmutig zwischen den Stämmen hindurch, doch er vermochte nicht zu sagen, ob er auch nur in der Nähe seiner damaligen Position war. Kopfschüttelnd konzentrierte er sich auf den Weg und beschleunigte seine Schritte, um die Kälte aus seinen Beinen zu vertreiben.

Sowas sollte ich verdammt noch mal nicht machen müssen, schimpfte er in Gedanken, während sich der Wind um ihn herum an den Ästen schnitt und wie ein verletztes Tier heulte. Ich bin Herr einer der mächtigsten Familien im Land und lasse mich von einer Frau herumschubsen, die schon längst hätte geächtet werden müssen.

Doch über dieser Wut lag die Zufriedenheit und Selbstsicherheit, die er während des Rüttelns der Kutsche verspürt hatte. Ein angedeutetes Lächeln stahl sich auf seine Lippen und er folgte der Kurve, stets nach den dunkelgrauen Schlossmauern Ausschau haltend. In wenigen Stunden – vielleicht Minuten! – würde alles seine Richtigkeit haben.

Von dieser Aussicht befeuert trieb er sich dazu an, sein hohes Tempo zu halten, was er mehrmals mit knappen Balanceakten auf dem teils glattgefrorenen Boden bezahlte. Ob er dabei sein konnte? Ob er zusehen konnte, um sich für immer an diesen kostbaren Moment zu erinnern?

Er kreuzte eine steinerne Brücke, die zu seinem Verdruss alle Jahre wieder kontrolliert werden musste, um zu verhindern, dass die ankommenden oder abfahrenden Besucher in den Fluss stürzten, der allerdings aus rein historischen Gründen den Titel Fluss trug. Mit seinen kaum vier Metern Breite und der geringen Strömung diente er im Sommer zum Vergnügen der Bevölkerung, sofern das Wässern der Felder nicht das gesamte Wasser verbrauchte.

Nun lag eine dichte Eisschicht auf dem Gewässer, das rund um die Brücke von kleinen Steinen und Holzstücken gespickt war, wo die Kinder des wenige Minuten entfernten Dorfes versucht hatten, ein Loch in das Winterfell des Flusses zu reißen – ohne Erfolg. Weiter nördlich hockte eine Ente auf dem Eis, halb versteckt von dem dunkelbraunen Holz eines Bachgestrüpps, und musterte Leopold halbherzig.

Die Stille war fast ununterbrochen, das Rattern der Kutsche nicht mehr zu hören und er mit seiner Vorfreude allein. Dass er soeben eines der beiden Wappentiere seiner Familie gesehen hatte, konnte nur ein gutes Omen sein. Lediglich die dünne Eisschicht, die sich auf den Steinen niedergelassen hatte, hinderte ihn daran, einen Zahn zuzulegen.

Erst als er den totbraunen Frostboden unter sich wusste, kam Leopold dem Drang nach, sich noch mehr zu beeilen. Stets auf den Boden konzentriert, um nicht hinzufallen, folgte er einer letzten großen Kurve, die von einer kleineren gefolgt sein würde, ehe sie direkt zum Schloss führte. Eine Weggabelung führte nach Norden, wo sich die Siedlung befand, die den kürzesten Weg zum Schloss hatte und die größte in der Umgebung war.

Leopold ignorierte sie und folgte der Straße nach Westen, während seine Ohren und Nase zu schmerzen begannen. Missmutig starrte er zwischen den Baumstämmen hindurch, während der Wind an seinem Mantel zerrte, und erkannte das Schloss, das in der Winterlandschaft wie eine Dämmerung aus Steinen aussah.

Was in diesem Moment, kurz nachdem er die Mauern erblickt hatte, passiert war, würde ihm während seines restlichen Lebens nicht zu verstehen vergönnt sein. Es ließ ihn erstarren, als wäre die Temperatur soeben um zehn Grad gefallen, und seine Vorfreude war vergessen.

Mit rasendem Herzen schüttelte er energisch den Kopf und unterdrückte den Frustrationsschrei, indem er ihn in einen Schlag gegen den nächstbesten Baum umwandelte. Schnee rieselte hinab und gelangte unter seinen Mantel, doch es war ihm gleich.

Das darf nicht wahr sein! Ein weiterer Schlag beförderte mehr der weißen Last wie Puderzucker zu Boden. Verdammt! Nicht ein Mal, nicht ein gottverdammtes einziges Mal kommt mir dieser Scheiß nicht in den Weg!

Beim dritten Schlag bemerkte er, dass seine von der Kälte rissige Haut aufgeplatzt war und hellrote Tropfen aus der von Borke verunreinigten Wunde perlten. Fluchend schüttelte er die schmerzende Hand und kühlte sie mit etwas von dem Schnee, den er nicht heruntergestoßen hatte.

Hasserfüllt blickte er zum Schloss. Sein Blut pochte ihm in den Ohren wie der Schmerz in seinen Gelenken und die Wut in seinen Gedanken. Er hatte gehofft, nie wieder mit diesem Zucken am Rande seiner Wahrnehmung konfrontiert zu werden – ein Zucken, von dem er sich sicher war, dass Keanu nichts, aber rein gar nichts mit ihm zu tun hatte. Sein Zucken fühlte sich anders an.

Leopold hatte keine Ahnung, was er gerade wahrgenommen hatte, und er baute darauf, dass er es verdrängen konnte. So gerne er es in Situationen wie dieser wäre, er war nicht dumm. Er wusste, dass nichts dieser Art ohne Folgen blieb.

 

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In einer fast kugelrunden, kleinen Höhle mit Regalbrettern, die aus der Fels der Wand gewachsen waren, und vielen Steinen, die für bestimmte Leute zu wispern schienen, saß ein Mädchen mit weißen Haaren, die Augen geschlossen, auf dem Boden. Kaum zu erkennen war ein zweites Mädchen, das bläulich schimmerte, dort, wo das Mädchen saß. Wenn man genau hinsah, sah alles blaugrau aus, ohne seine Farbenvielfalt zu verlieren.

Gwyneira seufzte und öffnete die Augen. Seit mehr als einer Stunde war sie in der Höhle und hörte dem in den Steinen gefangenen Schall zu, was ihr inzwischen keine Mühe mehr bereitete.

Als sie das Quartier zum ersten Mal entdeckt hatte, war es Anfang Oktober gewesen. Der Oktober war vergangen, ebenso wie der November, der Dezember und die erste Woche des neuen Jahres. Heute war der siebte Tag des Jahres 2827 und mit ihm kam eine kleinere familiäre Verpflichtung, die sie zu erfüllen hatte.

Das Mädchen vertiefte sich in ihren sechsten Sinn, spürte dem Wasser nach, das überall um sie herum war. Es schwebte in der Luft und klebte an den Wänden, aber wenige Meter über ihr und dort, wo sich das Wasserbecken am anderen Ende des Tunnels befand, war es in besonders großer Menge.

Gwyneira streckte ihre Hand in die Luft und blendete die Wassermassen aus. Sie machte es sich mit dieser Übung leicht, denn die Lektion aus dem schwarz schimmernden Stein, an der sie erst seit ein paar Stunden saß, war für trockenere Umgebungen gedacht.

Dennoch spürte sie den einzelnen Wasserteilchen um sie herum nach, was nicht gerade wenige waren. In ihrem Inneren konnte sie die Energie spüren, die sie für den Zauber brauchen würde, doch schien sie wie ein Blatt, das fest von der Eisdecke des Sees umschlossen war, beengt zu sein und nicht zugänglich.

In den letzten Wochen hatte Gwyneira regelmäßig ihre Wassermagie geübt, sodass sie den Dreh raus hatte, wie sie Zugang zu ihrem zweiten Herzen fand. Ohne große Mühe rief sie sich ihre erste Verwandlung ins Gedächtnis – wie sie leichtsinnig und ohne darüber nachzudenken vom Seeturm gesprungen war, den rauschenden Wind gespürt hatte, und wie sie von der Energie erfüllt gewesen war, die sie auch jetzt beschwören wollte.

Fast sofort konnte sie das Ergebnis spüren. Auf der Höhe ihres Bauchnabels entfaltete sich das, was sie als zweites Herz zu bezeichnen pflegte – der Kern ihrer Magie. Berauscht von der Kraft, die sie durchströmte, fiel es ihr schwer, sich auf ein paar Tröpfchen zu konzentrieren, doch darin bestand die Aufgabe, die ihr gestellt worden war.

Sie schloss die Augen und fokussierte auf die direkte Umgebung ihrer Handfläche, die zur Decke gerichtet war. Sich vorstellend, was das Wasser machen sollte, ließ sie ihre Magie los und öffnete gleich darauf die Augen, um zu sehen, ob alles reibungslos funktioniert hatte.

Eine kleine Lache hatte sich in ihrer gekrümmten Hand gebildet – Wasser, das fast nicht verschmutzt war. Sie wusste von einer anderen Lektion, dass ein so reines Wasser den meisten Lebewesen gefährlich werden konnte – nicht aber denjenigen, die mit ihm sprachen.

Zufrieden drehte Gwyneira ihre Hand um, sodass das Wasser zu Boden rann und dort mit einem leisen Tropfen auf den kalten Stein traf, und erhob sich. Die Hand schüttelnd wandte sie sich dem länglichen Spalt in der Wand zu, durch den sie hineingekommen war. Während sie den Rückweg antrat und ihr das Gefühl eines kleinen Erfolges die Gedanken beflügelte, dachte sie daran, was in den letzten drei Monaten passiert war.

Sie hatte das Quartier der Wassermagier entdeckt, in dem sie sich befand. Es lag unter dem Grund des Sees, weit vom Ufer entfernt, und konnte über genau eine Stelle erreicht werden, die niemand zufällig entdecken und aktivieren würde. In den Steinen war Aeneas Stimme verewigt – über ein Buch hatte er Lektionen zu den Mineralien hinzugefügt, die sie seitdem nach und nach durchging, um sich sein Wissen anzueignen. Wo sich das Buch befand, das als Vermittler fungierte, hatte Gwyneira noch immer nicht herausgefunden – es war irgendwo in der Bibliothek der Susurrs.

Sie hatte viel gelernt. Dinge wie den Schall aus dem Wasser hören, Wasser verdampfen lassen, es wahrnehmen und es in kleineren Mengen bewegen funktionierten, nach drei Monaten des Übens, so gut, dass sie es reflexhaft und unbewusst machen konnte. Ihre letzte Übung hatte bewiesen, dass außerdem ihre Zielgenauigkeit größer wurde und sie keine so großen Probleme mehr damit hatte, nur einen Teil des verfügbaren Wassers zu manipulieren. Um das Niveau ihres Vaters zu erreichen, würde sie aber noch lange brauchen.

Ihre Gedanken schweiften zum vergangenen Jahr ab. Keanu hatte vor einer Woche einen Neujahrsball veranstaltet, der nicht nur lange gedauert, sondern auch verschiedene Zwecke gehabt hatte. Das Standardprogramm bei solchen Veranstaltungen war, dass sich die einzelnen Adeligen trafen und Handelsbeziehungen besprachen, veränderten, knüpften oder unterbrachen. Gwyneira erinnerte sich an die Folianer und den Jungen aus Eone vom Herbstball – die Folianer waren nicht erschienen, Keanu hatte ihnen keine Einladung geschickt und offenbar hatten sie kein Interesse mehr an den Susurrs. Zephir, der Adelige aus Eone, war gekommen.

Und wieder hatte er mit ihr getanzt. Soweit Gwyneira mitbekommen hatte, würde der Handel zwischen den Susurrs und den Rhynchs – die Familie, aus der Zephir stammte – innerhalb der nächsten Wochen seinen Anfang finden. Da die eonischen Berge, von denen sie zukünftig Silbererz beziehen würden, jedoch ein Stück weit weg lagen, würde es noch fünf Wochen dauern, bis das erste Handelsgut ankommen würde.

Außerdem hatte sich Keanu für eine Zukünftige entschieden. Gwyneira kannte sie nicht, hatte sie auf den Bällen ausgeblendet. Einstweilen interessierte es sie nicht. Keanu wollte ohnehin erst am Sonnenwendball um ihre Hand anhalten, nachdem er die Familie um Erlaubnis gefragt hatte.

Shenoa war bald, nachdem sie zwei Tage im Schloss geblieben war, wieder aufgebrochen, offenbar in die folianischen Wasserberge. Ursprünglich hatte sie nach zwei Wochen zurückkommen wollen, aber sie dürfte ein paar Abstecher zu verschiedenen Städten gemacht haben und hatte Keanu lediglich per Post informiert, dass sie einige Wochen länger nicht zurückkommen würde.

Die Reaktionen waren gleichgültig gewesen. Es waren fast drei Monate vergangen, was ein neuer Rekord für Shenoa war, aber es war kein Unterschied zu dem einen Monat, der bisher ihre Spitzenzeit gewesen war.

Gwyneira schlüpfte durch den Spalt und folgte dem Tunnel zu dem Wasserbecken. Sie musste schmunzeln, als sie sich daran erinnerte, wie sie das erste Mal versucht hatte, aus der Höhle herauszukommen. Mehrere Stunden war sie am Werk gewesen, ehe sie viel Energie aufgewendet hatte, um das Wasser des Beckens anzuheben, es erschöpft fallenzulassen und gleich darauf in die Höhle zurückzukehren.

Dort hatte sie den Hinweis gefunden, dass sie eine Art Geheimbotschaft zu der Wassermembran in der Decke senden musste, um einen Zauber zu aktivieren, der sie heben würde. Diese Botschaft bestand aus Wassermolekülen, die in einem bestimmten Intervall bestimmte Schwingungen vollführten. Bis sie das zusammenbekommen hatte, war es fast Mittag gewesen.

Kein Wunder war es dementsprechend, dass sie sich mit dieser Form der Aktivierung des Zaubers nicht hatte anfreunden können. Eine größere Gruppe Moleküle gleichzeitig zu koordinieren war kein Kinderspiel und es bereitete ihr trotz wochenlanger Übung Kopfschmerzen, da die Drehungen ausgesprochen akrobatisch waren.

Sie hatte eine energieaufwendigere und dennoch einfachere Methode gefunden, mit der sie den Zauber aktivieren konnte. Gwyneira beschwor ihre Magie herauf und genoss kurz das Gefühl, von dieser Macht durchflutet zu sein, dann lenkte sie eine große Portion dieser in das Becken.

Ein Schwall Wasser erhob sich fast sofort mit nicht unbeachtlichem Druck und trug sie nach oben bis zur Membran. Sobald sie diese berührte, ließ sie den Zauber, den sie bisher gewirkt hatte, fallen. Zugegeben, ihre Version der Aktivierung kostete viel Kraft, denn sie musste viele Wasserteilchen mit viel Mühe bewegen, aber wie ihr Geist festgestellt hatte, hatte sie viel Energie zur Verfügung.

Inzwischen verwandelte sie sich nicht mehr alle zwei Tage, sondern alle vier Tage. Dafür kam sie öfter zum Quartier und lernte. Laut ihrem Vater wäre die Energie, die sie für die Bewegung einer solch großen Wassermasse benötigte, weit über dem zu erwartenden Potenzial eines durchschnittlichen Wassermagiers, aber wie ihr Geist ihr erklärt hatte, verbrauchten Verwandlungen noch einmal wesentlich mehr Energie. Schon die Tatsache, dass sie sich mehrmals am Tag verwandeln konnte und noch immer nicht erschöpft war, war ein eindeutiges Indiz für ihre Kraft.

Gwyneira berührte die Unterseite des durch einen Zauber zurückgehaltenen Sees, die so groß war, dass ein Mensch sie senkrecht durchbrechen konnte, ohne sich an den Felsen aufzuschürfen. Von der Membran rann Wasser herab, das Gwyneira ellipsenförmig umschloss, sie ein wenig zusammenquetschte und dann senkrecht nach oben schoss.

Nur Herzschläge später nahm die Ellipse eine annähernd waagrechte Position ein und Gwyneira betrachtete das düstere Wasser um sie herum, das trotz der bereits aufgegangenen Sonne kein Licht durchließ.

Sie spürte den See, ohne sich konzentrieren zu müssen. Ihr sechster Sinn war durch die Übungen gestärkt worden und in den Vordergrund gerückt, sodass sie ihn nicht mehr ausblendete und ihn bewusster wahrnahm. Schließlich konnte sie auch problemlos gleichzeitig hören und sehen.

Das Wasser um sie herum, das in erster Linie durch eine schnelle Bewegung gekennzeichnet war, wurde heller und Gwyneira zählte die Sekunden. Dadurch, dass sie ständig die Luft anhalten musste, hatte sich die Zeitspanne, während derer sie ohne Atmen auskam, verbessert. Fast immer schaffte sie es, dass sie die Luftmoleküle zwischen dem Wasser nicht mehr einatmen musste, ehe sie auftauchte.

Nur eine halbe Sekunde zu früh – zumindest nach ihrer Zählung – richtete sich die Ellipse auf und öffnete sich. Schlagartig strömte kälteres Wasser in die Hülle und der Auftrieb kam zur Geltung.

Gwyneira verließ tauchend die Membran, schwamm in Richtung Licht und durchstieß die Wasseroberfläche. Geblendet von der Sonne schloss sie die Augen und atmete mehrmals tief ein und aus, ehe sie sich mit dem Hinterkopf zum Feuerball wandte und die Augen blinzelnd öffnete.

Es dauerte einige Zeit, ehe sie sich an das Licht gewöhnt hatten. Als sie es riskieren konnte, normal die Augen offen zu halten, wandte sie sich dem kleinen Miniaturhafen in unmittelbarer Nähe des Schlosses zu und näherte sich ihm mit kräftigen Schlägen und Stößen, die das Wasser um sie herum ebenso effektiv manipulierten wie ihre Zauber.

Zwar war sie vor der Entdeckung des Quartiers bereits regelmäßig und oft schwimmen gegangen, doch dadurch, dass sie es nun öfter tat – und das, obwohl Jänner war und das Wasser an den Uferstellen gefror – waren ihre Muskeln kräftiger geworden und sie kam besser voran.

Gwyneira warf ihr nasses Haar zurück und atmete aus. Weiß hing ihr Atem in der Luft, ehe er zerstob und sich mit der restlichen Luftfeuchtigkeit vermengte. Blinzelnd spähte sie zum Ufer. Das Eis war zu dünn, um darauf zu gehen; sie würde es zerschlagen müssen.

Die Kälte war kein Problem. Zum einen hatte sie die Skuafedern, die sie regelmäßiger benötigte als den Skua, zum anderen hatte sie gelernt, wie sie das Wasser um sich herum aufheizen konnte, ohne viel Energie zu verlieren.

Da sie diese Übung kurz nach der Entdeckung des Quartiers begonnen hatte, funktionierte dieser Zauber fast nebenbei. Kombiniert ergaben die beiden Schilde genügend Schutz gegen das eiskalte Wasser, zumindest für ein paar Minuten.

Mehr brauchte Gwyneira nicht. Das Ufer kam näher, sie konnte mit den Füßen den Grund erspüren. Mit einem letzten Schwimmzug zog sie sich näher und tastete nach ihrem zweiten Herzen. Durch die vielen Male, die sie den Zauber bereits angewendet hatte, routiniert, ließ sie die Moleküle auseinanderstieben und so das Eis zu kleineren Schollen zerbrechen, die sich gut beiseiteschieben ließen. Gwyneira verlagerte ihr Gewicht nach vorne und watete durch das bald hüfthohe Wasser zum Ufer.

Weiterhin Eis zerstörend erreichte sie trockenen Boden und stieg aus dem See. Der kalte Wind frischte auf, woraufhin Gwyneira zitterte. Rasch wandte sie den Zauber an, der das Wasser auf ihrer Haut, ihrer Kleidung und in ihren Haaren verdampfen ließ, was deutlich besser klappte als während der beiden ersten Male.

In den letzten Tagen hatte es geschneit, was nicht unüblich war für einen frühen Jänner, sodass sie nun auf einer kalten, weißen Decke kristallinen Wassers stand. Sie grub ihre Zehen in den Schnee und stand einige Zeit da, nur mit einem langärmeligen, wollenen Kleid bekleidet, ohne Schuhe, Schal oder Mantel, und starrte vor sich hin, ehe sie ihren Blick dem Trampelpfad zuwandte, der teilweise vereist war, und ihn gemächlich zu besteigen begann, ohne sich von der Glätte des Eises irritieren zu lassen. Trittsicher kam sie an der höchsten Stelle an, von wo aus sie zu der Tür gehen konnte, die von dem Kutschenplatz abgewandt lag.

Kaum dass sie ihren Fuß auf festen, nicht vereisten, sondern lediglich zugeschneiten Boden gesetzt hatte, spürte sie etwas, das sie irritiert innehalten ließ. Es dauerte einige Sekunden, ehe ihr klar wurde, dass sie die Veränderung über ihren sechsten Sinn wahrgenommen hatte – es musste sich um Wassermagie handeln. Stirnrunzelnd stand sie wie erstarrt da. Hätte sie den Zauber gewirkt, hätte sie das sicher mitbekommen …

Der Zauber, der sie überrascht hatte, hatte nur einen Sekundenbruchteil angedauert und schien in seinem passiven Zustand zu sein – oder er war beendet worden. Mit gefurchter Stirn wandte sich die junge Susurr zum See um, obwohl sie nicht sagen konnte, woher die Störung gekommen war. Sie schien … überall gewesen zu sein.

Nur konnte das nicht sein. Gwyneira war die einzige Wassermagierin in diesem Schloss, seitdem ihr Vater gestorben war, und nur sie konnte entsprechende Zauber wirken. Aeneas‘ Magie hingegen war an wenigen Stellen verankert und zweckorientiert, was nur eine logische Schlussfolgerung zuließ.

Gwyneira wandte sich um und verdrängte den Gedanken. Wahrscheinlich hatte sie sich nur geirrt und es mit den Übungen übertrieben. Ab und an nahm man eben etwas wahr, das nicht existierte, und warum sollte ihrem zusätzlichen Sinn nicht auch mal ein Fehler unterlaufen? Gerade wollte sie die Tür des Turms öffnen und in das Schloss gehen, als sie hinter sich eine vertraute Stimme hörte.

„Gwyni!“

Überrascht wandte sich Gwyneira um und sah zu der Erscheinung der Frau, die gerade aus einer Kutsche stieg, deren Pferde bereits ausgespannt waren und deren Anwesenheit die junge Susurr bis zu diesem Augenblick nicht bemerkt hatte. Die Frau, die auf sie zuging, war dominiert von einem Mantel aus dunklem Stoff, der den Großteil ihres Körpers bedeckte und nur wenige Stellen anderen Kleidungsstücken wie den Stiefeln oder den Handschuhen überließ. Abgesehen von denen war nur noch das Gesicht sichtbar, aus dem dunkelbraune Augen herauslugten.

„Hallo, Shenoa“, grüßte Gwyneira unverbindlich.

„Nicht einmal Mama willst du zu mir sagen?“, fragte Shenoa beleidigt und kniff die Augen zusammen. Gwyneira war nicht sicher, was sie antworten sollte, doch ehe sie sich entscheiden konnte, sprach ihre Mutter weiter.

„Du hast ja fast gar nichts an. Wir haben Minusgrade!“

„Davon kann das Eis zeugen“, bestätigte Gwyneira.

„Welches Eis?“

„Das am Ufer des Sees, die Zapfen an den Fensterbrettern, und der vereiste Weg“, zählte Gwyneira auf. Shenoa blinzelte, ließ sich ansonsten aber kaum eine Reaktion anmerken.

„Das erklärt nicht, warum du hier draußen in der Eiseskälte herumstehst und dabei nicht einmal Schuhe anhast.“

„Ich war schwimmen.“

„Was, jetzt? Der See ist doch teilweise zugefroren!“

Gwyneira zuckte mit den Schultern. „Es soll gesund sein“, meinte sie.

„Wenn du erfrierst? Oh ja, das ist wirklich sehr gesund.“

„Ich habe von einem Mann gehört, der über achtzig Jahre alt wurde, und er ist regelmäßig schwimmen gegangen – auch im Winter.“

„Wahnsinnige gibt es viele auf dieser Welt. Das ist noch lange kein Grund, sich ihnen anzuschließen.“

Gwyneira zuckte erneut mit den Schultern und öffnete die Tür. „Ich hatte nicht wirklich erwartet, dass du zu unserem Geburtstag kommst“, meinte sie, während sie das Schloss betrat und die Temperaturänderung von ein paar Graden wahrnahm. Ihr Gefieder lichtete sich kaum merklich.

„Zugegeben, es war knapp, aber ich verpasse doch nicht die Geburtstage meine Kinder!“

Gwyneiras Lippen wurden schmal und sie warf ihrer Mutter einen kurzen Blick zu, dann erklomm sie die Wendeltreppe. Im ersten Stock angekommen hielt ihre Mutter inne. Die Tochter folgte ihrem Beispiel und sah sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an.

„Feiert ihr euren Geburtstag denn gar nicht?“

„Es ist nicht mal Mittag“, sagte Gwyneira. „Oder?“, fügte sie spitz hinzu.

„Ich glaub nicht“, lautete die Antwort. Nach einigen stillen Sekunden fuhr sie fort: „Naja. Ich seh‘ mal zu Nasrin.“

„Mhm.“

Unbeeindruckt wandte sich Gwyneira der Wendeltreppe zu und stieg drei weitere Stockwerke hinauf, ehe sie im vierten Stock ankam und zu ihrem Zimmer ging, wo sie sich in ihrem Sessel niederließ. Einige Sekunden starrte sie geradeaus, ohne dass ihr Blick irgendetwas wahrnahm, dann füllten Gedanken die Leere.

Begleitet wurden sie von einer vorsichtigen Reue, die eher aus Vernunft denn aus Ehrlichkeit aufzutauchen schien. Gwyneira hätte ihre Mutter mit etwas mehr Herzenswärme empfangen sollen. Und was hatte sie getan? Sie hatte über Eis geredet und über einen alten Mann, von dem sie sich nicht sicher war, ob er überhaupt existiert hatte. Resigniert ließ sie ihren Kopf in ihre Handflächen sinken.

Shenoa war einfach … Ja, was war sie? Technisch gesehen ihre Mutter, der Mensch, der ihr am nächsten stehen sollte. Praktisch gesehen war sie eine Person, die das Schloss als sicheren Hafen der kurzen Erholung und Reiseplanung zu sehen schien, nicht aber als Heimat oder als Ort, den sie längere Zeit besuchen sollte.

Das war dennoch kein Grund, ihrer Mutter die kalte Schulter zu zeigen. Während Gwyneira das Holz des Tisches musterte, suchte sie nach Gründen, wie sie ihr Verhalten rechtfertigen konnte. Über Eis hatte sie gesprochen – worüber auch sonst?

Seit Wochen machte sie nichts anderes als Zauber zu üben, und alle diese Zauber hatten naturgemäß etwas mit Wasser zu tun. Sonst hatte sie keine andere Beschäftigung – sie hatte sich entschieden, nicht mehr zu lernen, und da sie nicht verheiratet war und generell nicht davon ausgehen konnte, dass sich daran schnell etwas ändern würde, gab es auch keine Vorbereitungen für irgendetwas zu treffen. Den Haushalt erledigten die Bediensteten und Keanu übernahm den Rest.

Dabei sollte sie ihre Langeweile genießen, denn in ein, zwei Jahren würde sie mit einem Mann verheiratet werden, den sie kaum kannte, und würde das Schloss für immer verlassen – außer vielleicht für ein paar Festlichkeiten.

Finster vertrieb sie diesen Gedanken wieder. Sie liebte das Schloss, sie liebte den See und sie liebte die Umgebung. Hier war das Quartier – wie konnte sie lernen, wenn sie nicht zum See kommen konnte? Andererseits – was konnte sie groß tun, wenn es dann soweit war und sie verheiratet werden sollte?

Deswegen hatte sie intensiv gelernt. Es war nicht nur die Beschäftigung, die sie antrieb, sondern auch der Gedanke, dass sie mit einer großen Wahrscheinlichkeit eines Tages nicht mehr in dem Schloss sein würde. Und das innerhalb der nächsten fünf Jahre.

Dabei war sie nicht einmal mit zwanzig Steinen fertig, denn einige Lektionen waren nicht nur lang, sondern auch schwierig. Sie wollte gründlich vorgehen und alles anwenden können, ehe sie zum nächsten Thema überging.

Sie hatte sich vorgenommen, dass sie, wenn ihr dann mitgeteilt worden wäre, dass sie ausziehen werde, zum Quartier gehen und sich alle Steine anhören würde. Ihr Geist würde sich die Worte merken und sie konnte in ihrem neuen Zuhause weiterüben. Bis dahin wollte sie sich keinen unnötigen Stress machen.

Missmutig verwünschte Gwyneira die Tatsache, dass eine weibliche Susurr kaum eine andere Aufgabe hatte, als verheiratet zu werden, umzuziehen und eine andere Adelsfamilie am Leben zu erhalten, indem sie die nächste Generation begründete. Und das mit einem Mann, den sie ein paar Bälle lang kannte. Und wenn diese weibliche Susurr nicht in ihre Rolle passen wollte, wurde sie zu Shenoa, die sich so oft und so weit wie möglich von ihrer Familie entfernte.

Gwyneira starrte an die Decke und zog schlecht gelaunt die Brauen zusammen. Heute war ihr fünfzehnter Geburtstag, sie sollte nicht daran denken, was alles kommen würde. Aber Tatsache war: Mit jedem Jahr, das verstrich, kam sie ihrer Verheiratung näher, und an kaum einem anderen Tag war ihr diese Tatsache so bewusst wie an dem einen, an dem ihr neues Lebensjahr gefeiert werden sollte. Es war unvermeidbar, und sie wollte auch Kinder haben, aber nicht mit einem unbekannten Mann und nicht weit entfernt von dem Ort ihrer eigenen Kindheit.

Gwyneira schüttelte den Kopf, doch die Gedanken ließen sich nicht vertreiben. Sie sah auf die Uhr – um ein Uhr würde das Essen losgehen, auf das sie ihre Mutter hingewiesen hatte; jetzt war es erst elf Uhr.

Was soll ich bitte zwei Stunden lang machen?, fragte Gwyneira sich.

Ihr Blick fiel auf die Kanne mit Wasser. Sie musste lächeln, als ihr einfiel, was die neueste – zum Winter passende – Lektion gewesen war, in die sie hineingeschnuppert hatte, bevor sie sich einer einfacheren Übung zugewendet hatte. Nicht das Erhitzen von Wasser hatte sie dank diesem einen Stein gelernt, sondern das Gegenteil.

Gwyneira wandte sich dem Gefäß zu und konzentrierte sich auf ihren sechsten Sinn. Wasser zu verdampfen oder zu erwärmen war einfach – sie musste nur Energie hinzufügen, dann wurde es wärmer, was dadurch bemerkbar war, dass es schneller schwang und schließlich zu kochen begann.

Wasser einzufrieren war nicht so leicht, da sie den Teilchen Energie entziehen musste, statt sie ihnen zuzuführen. Bisher hatte sie den Zauber, den sie sich in der Theorie eingeprägt hatte, noch nicht angewendet, zu großen Teilen deswegen, weil er nach vielen Mühen und Kopfschmerzen klang, aber da sie noch zwei Stunden Zeit hatte …

Obwohl Gwyneira ihren sechsten Sinn in den letzten Wochen regelmäßig und intensiv genutzt hatte, gab es immer noch Momente, in denen ihr diese Wahrnehmung ungewohnt vorkam. Sie konnte die einzelnen Wasserteilchen spüren, die in der Kanne schwangen, konnte spüren, wie sie gegeneinanderstießen und dabei einen Teil ihrer Energie weitergaben, nur um gleich darauf selbst wieder welche aufzunehmen. Der Anleitung ihres Vaters zufolge musste sie sich auf ein einzelnes dieser Teilchen konzentrieren, was ihr bei dem Durcheinander schwerfiel. Es war, als wollte sie einem einzelnen Fisch in einem gigantischen Schwarm mit den Augen folgen, und entsprechend viele Anläufe brauchte sie, ehe ihr dieser erste Schritt gelang.

Sie rief sich mit der Unterstützung ihres Geistes Aeneas‘ genaue Worte in Erinnerung und ließ sich von der Energie durchfluten, lenkte sie zu dem einen Molekül hin, das ihr ständig zu entgleiten drohte. Bilde Barrieren um das Wasser, hatte ihr Vater gesagt. Um einzelne Molekülgruppen, wenn du schnell sein willst. Je kälter es sein soll, umso enger und umso genauer muss die Barriere sein. Forme sie mit deiner Magie und fange die Stöße der Teilchen ab.

Gwyneira konzentrierte sich und schloss unwillkürlich die Augen. Die Energie, die sie zu dem Molekül geleitet hatte, wollte sich an es binden und es beeinflussen – in diesem Fall: erwärmen. Sie musste sich selbst davon abhalten, dieser Verlockung nachzugeben, doch immer, wenn ihre Konzentration auch nur leicht nachließ, drohte ihre mühsame Kontrolle zu zerschellen und den Zauber ins Gegenteil zu kehren.

Ständig den Kontakt verlierend und mit fest zusammengebissenen Zähnen begann sie damit, die Magie um das eine Molekül zu leiten. Sie formte es nicht genau nach, lediglich grob – mehr erlaubte ihre bereits jetzt schwächelnde Konzentration ohnehin nicht –, und schloss die Hülle. Noch berührte das Molekül die Magie kaum.

Sie verengte die Hülle immer mehr und mit jeder Veränderung wuchs ihre Anstrengung, denn die Magie wollte sich mit dem Molekül binden und es erwärmen, da sie noch keine andere Aufgabe von Gwyneira bekommen hatte.

Diese verzog ihr Gesicht und biss die Zähne zusammen. Die Hülle wurde enger. Immer öfter berührte das Molekül ihre Wände und mit jedem Mal wurde es schwieriger, eine Bindung zu vermeiden – gleichzeitig wurde mit jedem Mal die Bewegung des Teilchens gedämpft.

Nach mehreren Minuten war die junge Susurr soweit, dass die Hülle mehr als die Hälfte der Schwingungen abbekam, die das Wasserteilchen machte. Ununterbrochen kollidierte es mit der Membran aus Energie, die diese Stöße gierig in sich sog und die Gwyneira nur unter stärker werdenden Kopfschmerzen davon abhalten konnte, auf das Teilchen loszugehen und ihre Magie zu wirken.

Energie verlor sie dabei nicht viel, aber es war geistig anstrengend. Sie kniff ihre Augen zusammen und atmete tief, jedoch zittrig durch. Nach einigen weiteren Herzschlägen bemerkte Gwyneira mit diebisch anmutender Freude, dass die Schwingungen weniger geworden waren.

Durch diesen Erfolg ermutigt hielt sie ihre Konzentration aufrecht. Es gelang ihr, das Molekül um mehrere Grade abzukühlen, ehe sie die Kontrolle verlor, die Magie mit dem Wasser reagierte und sich nicht nur das Wasser, sondern auch die Kanne erwärmte, ehe Gwyneira reagieren konnte und den Fluss unterbrach.

Sich mit den Fingern über die Schläfen reibend öffnete sie blinzelnd ihre Augen und schloss sie gleich darauf wieder, da das Licht sie unerwartet blendete. Nur langsam gewöhnte sie sich an ihre Umgebung und während sich ihr Sehsinn regenerierte, blickte sie zur Uhr. Überrascht stellte sie fest, dass ihre Übung mehr als eine halbe Stunde gedauert hatte.

Erkennend, dass die Kunst der Magie teilweise nicht darin bestand, die richtigen Moleküle mit der richtigen Magie zum richtigen Zeitpunkt reagieren zu lassen, sondern darin, sie nicht reagieren zu lassen, schloss sie ihre Augen erneut kurz, seufzte leise und versenkte sich dann in Überlegungen, wie sie ihre Kopfschmerzen wieder loswurde.