Daniela Emminger

KAFKA MIT FLÜGELN

Roman

Federschwert

Daniela Emminger

KAFKA MIT FLÜGELN

Roman

Czernin Verlag, Wien

Produziert mit Unterstützung der Kulturabteilung des Landes
Oberösterreich, der Stadt Wien, MA7 / Literaturförderung,
und der Literar mechana.

Emminger, Daniela: Kafka mit Flügeln /
Daniela Emminger
Wien: Czernin Verlag 2018
ISBN: 978-3-7076-629-4

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe
in Print- oder elektronischen Medien

Dem wilden wie zauberhaften Kirgistan
und seinen Bewohnern gewidmet.

One Art

The art of losing isn’t hard to master;
so many things seem filled with the intent
to be lost that their loss is no disaster.

Lose something every day. Accept the fluster
of lost door keys, the hour badly spent.
The art of losing isn’t hard to master.

Then practice losing farther, losing faster:
places, and names, and where it was you meant
to travel. None of these will bring disaster.

I lost my mother’s watch. And look! my last, or
next-to-last, of three loved houses went.
The art of losing isn’t hard to master.

I lost two cities, lovely ones. And, vaster,
some realms I owned, two rivers, a continent.
I miss them, but it wasn’t a disaster.

– Even losing you (the joking voice, a gesture
I love) I shan’t have lied. It’s evident
the art of losing’s not too hard to master
though it may look like
(Write it!) like disaster.

(Elizabeth Bishop)

Dies Buch ist rätselhaft von Anbeginn,
verdunkelt ist der vielen Zeilen Sinn.
Verflochten haben sich die Zeichen:
die Tiere, Vögel und die Eichen.

(Die Weissagungen des »Buchs der Wandlung«, Manas-Epos)

Final Countdown, eins.

Es hatte ja ausgerechnet ein Kirgise sein müssen, also ein halber. Und dann war er auch noch verschwunden, einfach so. Und jetzt, sechsundzwanzig Jahre später, war sie ihm auf den Fersen, hier, mitten in der kirgisischen Steppe, 5.500 Kilometer von ihrem alten Ich entfernt, blickte sie über den Song-kul, als ob er ihr gehörte, und flüsterte seinen Namen: »Samat.« Elizabeth Bishop hatte ja keine Ahnung, wovon sie sprach – The art of losing isn’t hard to master – von wegen. Es war unglaublich schwer und schwer zu ertragen, einen Menschen zu verlieren, einen Kontinent, ein Land, einen Namen, alles, was man auch einmal gewesen war, hinter sich zu lassen. Geradezu jenseitig war das, denn diesseitig war es nicht.

Im Hochsommer des Jahres 2015 saß Sezim am anderen Ende der Welt am Ufer des auf 3.000 Metern Höhe gelegenen Gebirgssees und fror, trotz Wollmütze und dicker Daunenjacke. Weit hinten am Horizont die schneebedeckten, gewaltigen Gipfel der Moldo-Too-Kette. Hier und da blitzte das Rot von Meerträubeln hinter einem Stein hervor. Der Duft von Wermut und Wacholder lag in der Luft. Über ihr der blaue Himmel. Die Gewalt der Schönheit war kaum zu ertragen.

Einen Moment lang sehnte sie sich nach Siri, nach einem persönlichen Assistenten, der ihr dabei half, akustische Fragmente und Signale zuzuordnen, einzuordnen und zu interpretieren, nach irgendeinem Hinweis oder Zeichen, das die Suche nach ihrem Jugendfreund Samat vorangetrieben hätte, aber es war nur still. Und was hätte es auch geholfen, was hätte es geholfen, natürlich gesprochene Sprache oder Töne erkennen und verarbeiten zu lassen, von einem seelenlosen Softwareprogramm, das auf das Wissen der ganzen Welt zugriff und trotzdem oft genug versagte, was hätte es geholfen, wo sie selbst kein Wort Kirgisisch oder Russisch sprach, verstand, sozusagen lost in translation war.

Andererseits, was hatte sie zu verlieren und zu verlieren gehabt, damals, als sie noch Sybille hieß und nicht in einem Heuhaufenland nach einer Menschennadel suchte, einem Land, in dem Väter und Söhne regierten, im einundzwanzigsten Jahrhundert noch Frauen geraubt wurden und der schwarze Karakurt sein Unwesen trieb. In dem sich die Demokratie schwertat mit ihrer Um- und Durchsetzung, die Armut in Form löchriger Socken und zahnbelückter Münder omnipräsent war, die russische Vergangenheit Risse und Furchen durch Landschaft, Gesichter und Herzen zog, einem Land, in dem Liebe ein Luxus und Luxus inexistent war, Fleisch das Gemüse und an allen Ecken und Enden ein Ahnenkult und Aberglaube regierten, die ihresgleichen suchten. Schnell hieß es da, die Vorfahrensleiter bis zur siebten Sprosse hinaufzusteigen, um aus dem Inzesttal herauszukommen, schnell musste man da die Sinne zusammenhalten, wollte man sich nicht wie von Zauberhand in einen Fisch, einen Vogel oder einen Schmetterling verwandeln, warum eigentlich nicht, fish have no brain and birds no bags and butterflies no sorrows, aber vielleicht wollte man ja mehr, ein wenig Staub aufwirbeln wie einst Dschingis Khan oder der große Manas oder, wie sie, einen verlorenen Freund wiederfinden.

»Wo steckst du, Samat?«, dachte sie und »Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät«, dachte sie. Und dann steckte sie sich eine dieser starken Papirossy an, deren Filter erst an zwei Stellen geknickt werden musste, bevor man sich die Lungen ruinierte, und paffte kleine Rauchwölkchen in die Luft, die dünnhäutig vor ihr aufstiegen und die kirgisische Landschaft in ein nebulöses Grau hüllten, das alle Zeiten miteinander verwob.

Sie war schon weit gekommen, war ihm ja schon seit Wochen auf der Spur, hatte sich einmal quer durchs ganze Land getastet, dabei manch falsche Fährte aufgenommen, Rückschläge eingesteckt, sogar aufgegeben. Doch irgendwann musste sich die Schlinge zusammenziehen, enger und enger werden, zumindest hoffte sie das. Er würde ihr ins Netz gehen, vielleicht schon morgen.

Dillemädchen, Kerbeljunge.

Als Sybille Samat kennenlernte, war sie gerade einmal neun Jahre alt. Es war im Frühsommer 1984 und ihre Mutter hatte sie zum Kräutersammeln an den nahe gelegenen Waldrand geschickt, für gewöhnlich wuchsen dort wilder Schnittlauch und Dill. Zuerst hatte sie ihn gar nicht bemerkt, wie er da hockte, mitten in der hohen, krautigen Wiese, auf einem Grashalm kauend und in ein dickes Buch vertieft. Sie kannte ihn wohl vom Sehen, er war ein paar Klassen über ihr und damals der einzige Ausländer im ganzen Ort. Es wurde gemunkelt, dass er ein halber Chinese war und ihn seine Mutter Erna Bergen, eine resolute, musikalisch hochbegabte und auch äußerlich recht aparte Person, Anfang der Siebzigerjahre von einem folgeträchtigen Auslandsintermezzo in Moskau quasi als Hauptgepäck mit zurück in ihr Heimatdorf gebracht hatte, winzig, vaterlos, verpflanzt. Sie verschwendete kein Wort über diese Zeit, vor allem auch nicht darüber, was Samats Erzeuger betraf, und ließ so manche Häme kommentarlos über sich ergehen. Nach ihrer Rückkehr konnte sie aus finanziellen Gründen das Geigen- und Klavierstudium am Brucknerkonservatorium in Linz nicht mehr aufnehmen und arbeitete stattdessen halbtags an der örtlichen Volks- und Hauptschule, den Rest der Zeit half sie ihrem Vater, Samats Großvater, bei der Bewirtschaftung des alten Hofes, in dem sie auch lebten.

Samat hatte Sybille ebenfalls aus den Augenwinkeln heraus beobachtet.

»Was machst du da?«, fragte er und lächelte sie an.

»Dill sammeln«, gab sie ein wenig schüchtern zurück.

»Dann nenne ich dich ab sofort Dillemädchen, wenn es dir recht ist.«

»Ich heiße Sybille.«

»Umso besser. Das reimt sich auf Dille.«

Sie lachten. Sybille kam näher.

»Und wie heißt du?«

»Ich bin Samat«, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen. »Das ist kirgisisch und bedeutet ›Wunsch und Sehnsucht‹. Den Namen hat mir mein Vater gegeben.«

Er schlug das Buch zu, dass es knallte. Auf dem bunten Einband waren Schmetterlinge zu sehen.

»Übrigens bin ich kein Chinese, wie alle hier im Dorf behaupten, sondern ein halber Russe, also eigentlich ein halber Kirgise.«

Sybille überlegte kurz, für sie machte das keinen Unterschied.

»Was liest du da?«, fragte sie neugierig.

»Ein Buch über heimische Tier- und Pflanzenarten. Ich möchte Schmetterlingsfänger werden, wenn ich groß bin.«

Sybille staunte. »Und wann bist du groß?«

»Bald«, grinste Samat, »ich bin schon fünfzehn und du?«

»Ich bin neun.«

Samat stand auf, nahm ihre Hand und sagte: »Komm, ich zeige dir was.« Sie gingen ein Stück am Waldrand entlang, bis Samat plötzlich stehen blieb und ein paar weiße Blütendolden abknickte, die einen angenehm-würzigen Duft verströmten.

»Das ist frischer Kerbel, mein Lieblingsgewürz.«

Er hielt ihr das Kraut unter die Nase.

»Meine Mutter kocht daraus eine ganz hervorragende Suppe nach dem Rezept eines französischen Spitzenkochs. Die Kerbelsuppe des Paul Bocuse. Du darfst bestimmt einmal zum Essen kommen.«

Sybille strahlte.

»Weißt du, wie ich dich ab heute nenne?«

Er schaute gespannt.

»Kerbeljunge.«

Das war ihr erstes Aufeinandertreffen. Sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden, sich wie Persennick und Ploetz in der gleichnamigen Geschichte von Artur Knoff gegenseitig mit einem Bindfaden eingezwirnt. Am Anfang stieß die Freundschaft der beiden, nicht zuletzt aufgrund des Altersunterschieds, bei Sybilles Eltern auf große Ablehnung und auch sonst begegneten sie dem halben Kirgisen mit Misstrauen und schlecht verstecktem Argwohn. Aber Samat verhielt sich stets höflich und freundlich, wenn er zu Besuch kam, war ein ausgezeichneter Schüler und wollte später an der Universität Russistik und Biologie studieren. Er war aufgeweckt und fleißig, in seiner Freizeit ging er seiner Mutter und seinem Großvater auf dem Hof zur Hand, und irgendwann gaben auch Sybilles Eltern auf, ihr den Umgang mit Samat schwer zu machen, sahen ein, dass sie gegen die Bande zwischen den beiden keine Chance hatten. Was immer es war, es schien eisern zu sein.

In den Ferien waren sie so gut wie unzertrennlich, molken gemeinsam die Kühe, brachten das Heu ein, streiften durch die Wiesen und Wälder und vertrauten sich ihre kleinen Sorgen und großen Träume an. Sie lachten viel, manchmal schwiegen sie auch nur, langweilig wurde es ihnen nie und ihrer beider Naturverbundenheit einte sie einmal mehr. Als Samat drei Jahre später nach Wien übersiedelte, um mit seinem Studium zu beginnen, vermisste ihn Sybille sehr. Er war ihr wie der große Bruder geworden, den sie niemals hatte. Sie schrieben sich oft und ihre Freundschaft hielt, überdauerte auch jenen ersten Winter der geografischen Distanz und dann den Frühling, bis schließlich das erste Studienjahr herum war und sie sich in den großen Ferien wieder leibhaftig gegenüberstanden. Es war, als wären sie nicht getrennt gewesen. Vielleicht hielt die ungewöhnlich innige Verbindung auch deswegen an, weil Samat bei allen einschneidenden Ereignissen seiner kleinen Freundin dabei war: Er hatte Sybilles Goldfisch und später ihren Hamster begraben, mit ihr auf bestandene Prüfungen mit Ribiselsaft angestoßen und ihr zum zehnten Geburtstag einen Fotoapparat überreicht (einigermaßen stolz, er musste das Geld über Monate mühsam zusammensparen), weil er versuchen wollte, ihre Freundschaft in Fotografien einzufangen, ihre Gefühle in Bildern festzuhalten, ihre Erinnerungen in Fixierflüssigkeit zu konservieren. Die ersten beiden Aufnahmen hatte Samat selbst auf den jungfräulichen Film geknipst: je eine alte Schautafel von Dill und Kerbel, heimlich abfotografiert im Gerätekabäuschen des Biologielabors. Er wollte sie und sie sollte ihn nicht vergessen. Besonders Sybille, die in einem Elternhaus aufgewachsen war, in dem für Gefühle wenig Zeit und Platz blieben, hatte schon als Kind Probleme mit dem Memorieren und Speichern freudiger Ereignisse und unbeschwerter Gefühlszustände, erinnerte sich, vorgelebt von Vater und Mutter, viel leichter an Negatives, Problematisches, scheinbar Hoffnungsloses. Aber da war sie nicht allein auf weiter Flur, viele Menschen waren von Kindesbeinen an so geprägt, hatten gelernt zu glauben, dass das Negative mit dem Realistischen und das Positive mit dem Unrealistischen gleichzusetzen sei (Susan Jeffers), orientierten sich – immer mit dem Schlimmsten rechnend anstatt durchs eigentlich ungetönte, klare Fernglas des Lebens zu schauen – an pessimistischen Gesellschaftskonventionen und elterlich-getrübten Wert- und Moralvorstellungen, die nicht selten von Selbstzweifeln und Tristesse geprägt waren. Vielleicht mochte sie Samat auch deshalb so gerne, weil er diesbezüglich erfrischend anders war, die Welt bunt und fröhlich sah und sie in seiner Gegenwart lachen, träumen und fliegen konnte. Für Sybille war der Fotoapparat das beste Geschenk überhaupt gewesen, eine lebensrettende Zaubermaschine, ein magischer Speicherkasten, mit dem sie fortan imstande war, alle guten, erbaulichen, bedeutsamen Momente festzuhalten. Eine Angewohnheit, die sie lange Jahre beibehielt, so gut wie nie ging sie ohne Kamera außer Haus, knipste sich durch ihr Leben, bis eines fernen Tages, keiner wusste zu sagen, wann genau und warum, die Begeisterung abflaute, vielleicht auch einfach die Disziplin, das Interesse nachließen und sich ihre Klickomanie, wie ihr Umfeld das exzessive Fotografieren scherzhaft nannte, in trägen Routinen, Erwachsenenfaulheit und im schlichtweg schnöden Lebensalltag auflöste. (Erst Jahre später sollte es einem anderen Weggefährten erneut gelingen, ihr mit einer Packung Kaffeebohnen ein ähnlich wirksames Werkzeug zum Erinnern an die Hand zu geben.)

Wofür Samat selbst in all den Jahren nie ein Bild gefunden hatte, war seine Vater- und Heimatlosigkeit. Je älter er wurde, umso stärker rumorte und polterte der halbe Kirgise in ihm, breitete sich aus, (an)getrieben von einer Sehnsucht nach Wahrheit, die ihn zunehmend unruhig und unzufrieden machte. Wie gerne hätte er Antworten bekommen auf seine ausgesprochenen und unausgesprochenen Fragen, aber aus seiner Mutter war trotz anhaltender, erst kindlicher, später pubertärer Beharrlichkeit nichts herauszuholen. Sie sprach nicht von früher, dem Kapitel aus ihrer Vergangenheit, in dem sein Vater und seine Heimat eine Rolle gespielt hatten, und er konnte sich an nichts erinnern, so sehr er sich auch anstrengte.

Zwei weitere Jahre lang zogen so ihre innigen Sommer und briefgesäumten Winter ins Land, bis 1989 eine graue Wolke ihr Zusammensein trübte und einen langen Schatten auf das Land ihrer Freundschaft warf: Die Sommerferien verliefen unharmonischer als sonst. Samat war schweigsam und zerstreut, Sybille rat- und hilflos, und als ihr Freund schließlich ohne ein Wort des Abschieds Anfang August, viel früher als geplant, verschwand, verstand sie die Welt nicht mehr. Die Wochen vergingen, ohne Brief, ohne Nachricht. Samat schien spurlos verschwunden zu sein, war weder in Wien noch in einem Krankenhaus auffindbar, blieb selbst bei der von seiner Mutter initiierten Polizeisuche wie vom Erdboden verschluckt. Sybille konnte sich nur schwer auf den bevorstehenden Schulanfang konzentrieren, die Ferien neigten sich dem Ende zu.

Nun waren Dill und Kerbel zwar zwei recht unkomplizierte, widerstandsfähige Pflanzen, die auf der ganzen Welt Wurzeln schlugen, aufrecht und robust in die Höhe schossen und dabei sogar die Metergrenze überschritten, aber auch sie brauchten regelmäßig Wasser, ein geeignetes Plätzchen und die richtigen Floragesellen an ihrer Seite, um dauerhaft zu überleben.

Als im Februar des Folgejahres ein Brief von ihm kam, völlig zerschlissen und abgestempelt im sich im Auf- und Umbruch befindlichen Deutschland, beschlossen Sybilles Eltern, ihn ihr nicht zu geben. Bestimmt hatten sie ihre Gründe dafür – Samat war ihnen seit jeher ein Dorn im Auge gewesen, eine unwillkommene Ablenkung, ein Störenfried, ein Fremdkörper, der das familiäre Glaubenssystem ins Wanken gebracht hatte. Vielleicht waren sie aber auch deshalb froh, ihn endlich los zu sein, weil sie monatelang dabei zusehen mussten, wie sehr Sybille das wortlose Verschwinden ihres Freundes niedergeschmettert und wie lange es gebraucht hatte, bis selten, aber doch wieder ein zartes Lächeln über ihr Gesicht gehuscht war. Vielleicht wollten sie ihrer einzigen Tochter tatsächlich und in guter Absicht weiteren Kummer ersparen – was immer sie auch angetrieben haben mochte, sie hielten den Brief, wie auch die nächsten, die folgten, vor ihr versteckt. Eltern, die es nicht besser wussten und Fehler machten.

Die Jahre vergingen, die Fotos verblassten, wanderten eins nach dem andern aus den Rahmen und Alben in die Kästen und Kisten der Vergangenheit. Und als Sybille mit achtzehn zu studieren begann – auch sie war ihrer Naturverbundenheit treu geblieben und hatte sich nicht zuletzt aufgrund des Drucks ihrer Eltern für Veterinärmedizin entschieden (»Lern doch etwas Ordentliches, Gescheites, etwas, was Geld und Zukunft hat.«); ihre zweite, unvernünftigere Wahl wäre auf ein Kunststudium an der Akademie gefallen –, hatte sie Samat schließlich vergessen. Dillemädchen und Kerbeljunge waren verwelkt, dürrten und dorrten, wenn überhaupt, nur noch im Dschungelgarten der Erinnerung vor sich hin. Auch die einst so geliebte Kamera war längst in den tiefen Winkeln des elterlichen Kellerabteils verschwunden, rostete und staubte im Finsteren vor sich hin. Stattdessen passierte (ihr) das Leben. Sybille übersiedelte nach Wien, steckte ihre Nase in Hunderte von Büchern, beruhigte ihr Herz, füllte den Kopf mit allerhand Fakten und naturwissenschaftlichen Grundlagen – von Anatomie bis Zellbiologie –, kämpfte sich pflichtbewusst und in der Mindestzeit von sechs Jahren durch alle Studienabschnitte und Praktika und lernte dazwischen schließlich auch ihren zukünftigen Mann Martin Specht kennen (und lieben), einen humorvollen Psychologen und leidenschaftlichen Hobbykoch, der langsam, aber sicher wieder jenen Acker bestellte und fruchtbar machte, den ihr einstiger Jugendfreund so verwildert, zerfurcht und zerbombt zurückgelassen hatte. Kurz vor ihrem Studienende heirateten die beiden und zogen in eine gemeinsame Wohnung etwas außerhalb der Stadt. Mit an Bord ein paar Hühner, die ihr aus einem früheren Experiment geblieben waren und seither für Frühstückseier sorgten, Kinder bekamen sie keine. Das Verhältnis zwischen Sybille und ihren Eltern blieb schwierig und war wie schon die Jahre zuvor von gegenseitigem Unverständnis und Schuldgefühlen geprägt. Da sich Sybille nach ihrer Ausbildung weder eine Zukunft in der Kleintier- noch Wiederkäuer-, Geflügel-, Schweine- oder Pferdemedizin vorstellen konnte, spezialisierte sie sich auf Verhaltensforschung, Reproduktionsbiologie und Genetik und verbrachte, Martin und ihr gemeinsames Heim nur schweren Herzens verlassend, mehrere Monate in einer EU-Besamungsstation im niederländischen Den Hout und in einer pharmazeutischen Forschungsabteilung im litauischen Vilnius. Wieder zurück in Wien ergatterte sie eine Stelle im Department für Integrative Biologie und Evolution am renommierten Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung. Die Ethologie wurde fortan ihre berufliche Heimat und über die Jahre brachte sie es in Fachkreisen zu veritablem Ansehen und Erfolg, die weit über die österreichischen Grenzen hinausreichten.

Sybille war erwachsen geworden, ihr Leben gestaltete sich privat wie beruflich größtenteils erfüllt, das Dillemädchen von einst existierte nicht mehr. Und hätte das Schicksal in ihren späten Dreißigern nicht so grausam zugeschlagen, ihr Leben geradezu orkanmäßig durcheinander gewirbelt, ja hätten sie die zukünftigen Umstände nicht regelrecht dazu gezwungen, sich mit der Kunst des Verlierens auseinanderzusetzen, bestimmt wären Dill und Kerbel für immer in Vergessenheit geblieben. Aber so war das mitunter mit Präteritumsbrocken und verloren geglaubten Freundschaften: Es schaute aus, als wären sie zu Ende. Aber das waren sie nicht.

Fiebertraum.

Manchmal waren Menschen nicht für die launischen Verluste und impulsiven Wirrungen des Lebens gebaut. Manchmal blitzte aus den Untiefen ihres Gedächtnisses ein längst vergessener Name auf, der Hoffnung versprach. Manchmal wurden sie aus der Ferne von (zwei) Geistern beschützt, ohne es zu wissen. Manchmal legten sie sich zum Sterben hin, um dann erst recht weiterzuleben. Manchmal holte sie ein Fiebertraum zurück. Manchmal reichte weniger einfach nicht aus.

Schon seit Monaten hatte sich Sybille Specht nicht mehr gespürt. Man hätte ihr eine Stricknadel in den Oberschenkel rammen oder heißes Wasser über den Arm schütten können, der Schock durch die jüngeren Ereignisse, das Verloren- und Verlustiggegangene saßen so tief, dass zwischen Lachen und Weinen kein Unterschied mehr bestand, sie vielmehr in Sekundenbruchteilen vom einen ins andere verfiel, vollkommen machtlos war gegen das willkürliche Synapsenfunken und die fehlgeschalteten Transmitterströme in ihrem Körper. Vor knapp einem Jahr war Sybilles Mann gestorben, vor wenigen Wochen ihre Eltern. Und sie, die nach Jahren des Heiligen Wirundunser das eigene Ich nicht mehr fand, die wie ein Kind umherirrte, hoffnungssuchend, hilferufend, herrenlos, vorne nicht von hinten und oben nicht von unten unterscheiden könnend, unvermögend, Trauer in Traurigkeit umzuwandeln und diese erfolgreich abzuschütteln, war zu einer bröckelnden Ruine geworden, die nur noch von einem Patzen Pseudoroutinekitt notdürftigst zusammengehalten wurde, wie ein Osteoporosepatient von seinem Stützkorsett. Selbst ihre Arbeit vermochte sie nicht mehr am Leben zu halten. Und als sie so immer weniger und schließlich sogar transparent geworden war und sich eines Tages wodkagetränkt und tablettengefüllt neben ihre nicht vorhandenen Eizellen und schockgefrorenen Versuchsaffenköpfe in die zu groß gewordene Gefriertruhe legte, sich sozusagen zum Sterben bereit machte, setzte wie durch ein Wunder ein kafkaesker Verwandlungsprozess ein. Natürlich unfreiwillig und vollautomatisch, denn den unbeschilderten Holperpfad an einer Weggabelung schlug man ja nur ein, wenn ohnehin schon alles egal war, wenn einen das Leben dermaßen durchgebeutelt hatte, dass einem erdbebengleich, sturzbachtosend die Sinne verrückten und die Koppeln verrutschten. Den Beginn einer Metamorphose entschied man ja nicht, er wurde entschieden. Und so wirkten auch im Fall von Sybille Specht eine Vielzahl an unterbewussten Prozessen und zufallsgesteuerten Traumteilchen aufeinander ein, die sie in ihrem neununddreißigsten Lebensjahr über Nacht in ihren Körper zurückkehren und gleichzeitig zu einer anderen werden ließen.

Ihr Kopf füllte sich mit Rauschen. Es war, als ob ein gigantischer Strom ihr Gehirn überschwemmte, die Hohlräume füllte, das Fleischige anschwellen ließ und alles mit vehementer Kraft nach außen drückte, in Richtung Schädeldecke, Augen, Ohren, Mund, sodass sie weder denken noch sprechen noch fühlen konnte und alles Menschliche an ihr am Grund dieses donnernden Sturzbaches verschüttging. Sie spürte intuitiv, wenn sie noch einen Moment lang zögerte, wenn sie jetzt blieb, würde sie untergehen und hoffnungslos ersaufen. Denn auch im Traum konnte man sterben, natürlich konnte man das. Aber Koshomkul und Juri Gagarin hatten andere Pläne für sie. Und während sie Schutzengel eins im Aberglaubenland aus den Untiefen des Kökömeren rettete, winkte ihr Schutzengel zwei vom Mondland aus mit einem Packen vergilbter Briefe zu. Und genau das war der Moment, als Sybille Specht halbkomatös die Entscheidung traf, nach einem Halm oder eben einem dicken Stapel zu greifen, sich einzulassen auf verspätete Erklärungen und längst vergessene Fragen, auf ein Leben, das nicht ihres war und gerade deswegen erträglich. Denn wenn man nichts zu verlieren hatte, konnte man nur gewinnen. Sybille schreckte hoch, riss die Augen auf und schnappte nach Luft. Die Briefe. Sie hatte die Briefe vergessen. Ungeöffnet, ungelesen und unbeantwortet gebliebene Lebenszeichen ihres alten Kameraden und besten Freundes, über die Jahre gesammelt und versteckt von ihren Eltern, ihrer Mutter, die erst auf dem Sterbebett die schwere Last des Schweigens nicht mehr ertragen und dem Geheimnis in einem späten Akt der Gewissensberuhigung Luft gemacht hatte. »Briefe von Samat« – drei klammleise Worte, die damals von Sybille nur als wirres Gerede einer Sterbenden verstanden worden, nicht wirklich bis in ihr Bewusstsein vorgedrungen waren, erschöpft und versteinert, wie sie sich fühlte.

Nur langsam beruhigte sich ihr Atem. Die Truhe war voller Erbrochenem, es roch nach Kotze, Schweiß und Urin. Sie setzte sich auf, lehnte sich an die frostige Wand und weinte. Als keine Tränen mehr kamen, hievte sie sich ungelenk über den Rand und hockte sich auf den Kellerboden. Es dauerte eine Weile, bis ihr wärmer wurde und die Körperkräfte zu ihr zurückkehrten. Auf allen vieren kroch sie in den angrenzenden Kellerraum und fand dort tatsächlich bereits nach kurzem Suchen die Briefe von Samat in einer der elterlichen Nachlasskisten, feinsäuberlich nach Poststempel sortiert, zur Ruhe gebettet in einen bunten Geschenkkarton. Sybille fuhr mit den Fingern über das vergilbte Papier. Wo immer das hinführte, sterben konnte sie immer noch. Manchmal fand man nur über das Leben eines anderen ins eigene zurück.

Erster Brief.

Sybille begann damit, die Briefe in chronologischer Reihenfolge vor sich auf den Boden zu legen. Bis auf den ersten, der einen deutschen Stempel trug, stammten sie ausnahmslos aus der Kirgisischen SSR beziehungsweise aus Kirgistan, später hatte sich der Name ja geändert, der einstige Sowjetstaat war eine selbstständige Republik geworden. So viele Lebenszeichen. Sie griff nach dem ersten und dem letzten, wollte es halten wie mit allen wichtigen Dingen in ihrem Leben – Büchern beispielsweise –, bei denen sie auch immer auf den Anfang und das Ende schielte, die erste und die letzte Seite überflog, um eine Orientierung zu bekommen und sich so einen Überblick über das Geschehen(e) zu verschaffen. Diese Vorgehensweise hatte sich bewährt. Der Anfang war wichtig, musste Hand und Fuß haben, neugierig machen, süchtig nach mehr, musste in ihrem Fall auch viel erklären und wiedergutmachen, versöhnlich daherkommen, emotional, mitreißend, packend sein. Sie war gespannt auf Samats Beginn seiner Geschichte, die einmal auch die ihre gewesen war. Das Ende hingegen verriet viel über die Entwicklung der Ereignisse, war bestenfalls rührend, verbreitete einen Hauch Melancholie, transportierte alles, was zwischen den Zeilen lag, und gab, in diesem Fall besonders wichtig, hoffentlich auch Aufschluss über sein Leben, seinen Verbleib, seine aktuelle Adresse. Ihre Hände zitterten, als sie den ersten Umschlag öffnete. Zwei vergilbte Fotos rutschten heraus, begleitet von einer Handvoll Krumen und Bröseln unklarer Herkunft. Auf dem einen Bild ein furchteinflößender, großer und kräftiger Mann mit Bart, der ihr mutig und entschlossen direkt in die Augen blickte, auf dem anderen Juri Gagarin, der weltberühmte Kosmonaut – jene beiden Männer, und es bestand kein Zweifel, die ihr eben noch im Traum erschienen waren. Sie faltete die Briefbogen auseinander und begann zu lesen:

10. September 1989, Suusamyr-Ebene, Kirgisische SSR.

Mein Dillemädchen, ich bin am Leben.
Ich hoffe so sehr, dass dich dieser Brief erreicht! Ich habe ihn dem Freund eines Freundes anvertraut, der in den nächsten Wochen in die DDR reisen wird und versprochen hat, ihn von dort aus, falls nötig, in den Westen schmuggeln und dann weiter nach Österreich schicken zu lassen. Sonst dauert das ewig.

Es war unverzeihlich von mir, einfach ohne ein Wort der Erklärung, des Abschieds zu verschwinden. Ich weiß. Ich bin bei meinem Vater Jamanbai Tschingis uulu in der Kirgisischen SSR und einigermaßen wohlauf. Fast 6.000 Kilometer habe ich zurückgelegt, nur um ihm endlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen und meine Heimat kennenzulernen. Wobei Heimat der falsche Begriff ist für ein Land, dessen Geschichte seit 1860 von den Russen geschrieben wird, als hätte es meine Vorfahren, das stolze Krieger- und Reitervolk der Skythen, nie gegeben, als wären der große Manas ein Hirngespinst und die Sowjets unsere Helden und Erzeuger, aber das sind sie nicht.

Die private Post in den Westen wird hier immer noch streng kontrolliert, und seit ich angekommen bin, steht alle paar Tage der KGB vor unserer Tür. Ich verstehe nur Bruchstücke von dem, was diese Männer sagen, aber es geht um mich. Ich habe noch ziemliche Verständigungsschwierigkeiten aufgrund meiner rudimentären Kirgisisch- und Russischkenntnisse. Aber wie du weißt, lerne ich schnell. Beide Sprachen klingen ein wenig wie in dem Kaurismäki-Film Schuld und Sühne, den wir uns einmal gemeinsam angesehen haben, besonders das Kirgisische, die russische (Aus)Sprache kommt hingegen weniger melodisch, dafür härter und schroffer daher, erinnert an mancher Stelle an die Hack- und Brechlaute des Arabischen. Sie wollen wissen, warum ich hier bin und was ich von meinem Vater will. Daran habe ich gar nicht gedacht, also an die Konsequenzen. Zuerst läuft ihm vor Jahren seine österreichische Frau mit seinem Sohn davon und dann taucht dieser plötzlich wieder aus dem Westen bei ihm auf. Einmal hat er zu den Beamten gesagt: »Was soll ich machen? Es ist nicht meine Schuld, dass der Bastard da ist, er ist von sich aus gekommen. Ich habe ihn ganz sicher nicht darum gebeten. Von mir aus kann er sich zum Teufel scheren.« Es klang sehr echt in meinen Ohren.

Aber ich fange am besten von vorne zu erzählen an: Es war am 1. August, als ich durch Zufall meine russische Geburts- und die Heiratsurkunde meiner Eltern unter den Dielenbrettern in Mutters Schlafzimmer gefunden habe. Zwanzig Jahre lang bin ich über diesen Boden marschiert und habe nichts bemerkt und dann stolpere ich einmal und ein Spalt in die Vergangenheit tut sich auf. Ich war wie gelähmt, als ich den Namen und die Adresse meines Vaters in den Händen hielt, schwarz auf weiß. Da gab es kein Zurück mehr. Ich habe mein ganzes Erspartes genommen, nur das Nötigste eingepackt und mich nach Sopron aufgemacht, wo am 19. August im Grenzgebiet des Eisernen Vorhangs ein völkerverbindendes Massenpicknick stattfinden sollte. Aus diesem Anlass wurde auf der alten Pressburger Straße zwischen Sankt Margarethen und Fertörakos ein improvisierter Grenzübergang eingerichtet und für drei Stunden geöffnet, um auch den Österreichern die Teilnahme an der Veranstaltung zu ermöglichen. Und als dann völlig unerwartet und zur heillosen Überforderung der Grenzbeamten Hunderte von DDR-Bürgern plötzlich aus einem Maisfeld in Richtung österreichische Freiheit stürmten, nützte ich die Gunst der Stunde und marschierte, unbemerkt und so ziemlich als Einziger, gegen den Strom in den Osten.

Ich werde diesen Tag nie vergessen, die Aufregung, den Trubel, die Emotionen, es verursacht mir heute noch Gänsehaut, wenn ich daran denke. Zwei Tage Fußmarsch später erreichte ich schließlich Budapest. Ich musste irgendwie weiter nach Moskau kommen, aber so einfach, wie ich mir das vorgestellt hatte, war die Sache nicht, im Osten hatten sich angesichts der politischen Pulverfasslage das allgemeine Misstrauen und die Vorsichtsmaßnahmen an den Grenzen noch einmal verstärkt. Überall herrschten Unruhe und Unsicherheit, niemand wusste, was er denken sollte, wie es jetzt weiterging und vor allem, ob und wie Moskau auf die jüngsten Ereignisse reagieren würde. Ich brauchte dringend einen Plan und wie immer bei waghalsigen Vorhaben auch ein wenig Glück. Und das kam dann ein paar Tage später auch tatsächlich auf zwei Beinen daher.

Mein Retter hieß Sultan, war Kirgise wie ich, groß und stark und seit zwölf Tagen mit einer dreißigköpfigen Reisegruppe aus der UdSSR in Ungarn und der Tschechoslowakei unterwegs. Eine bunte Truppe aus Melkern, Hirten, Mechanikern und Fabrikarbeitern, die den Urlaub als Belohnung für herausragende Leistungen oder aufgrund guter Parteibeziehungen geschenkt bekommen hatten. Sultan selbst war der beste Stutenmelker seiner Kolchose. Aber ihm war langweilig, er wusste mit den kulturellen Sehenswürdigkeiten und anderen Programmpunkten nur wenig anzufangen und zeigte sich umso interessierter an meiner Geschichte. Wir waren uns sofort sympathisch und er versprach, mir bei der Einreise und bei den Grenzformalitäten behilflich zu sein.

Ich hatte große Angst aufzufliegen, aber es ist alles gut gegangen. Einer mehr in der Gruppe fiel offensichtlich nicht auf und nach der Inspektion meiner Bargeldreserven und meiner Papiere zeigte sich Sultan vollends zuversichtlich. Nachdem wir auch das letzte Stück von Taschkent über Schimkent und Taraz hinter uns gelassen und schließlich Ende August kirgisischen Boden unter den Füßen hatten, verabschiedeten wir uns als wahre Freunde voneinander. Als ich weitere eineinhalb Tage später das Haus meines Vaters im Talas-Oblast erreichte, bin ich buchstäblich auf der Schwelle zusammengebrochen.

Jamanbai Tschingis uulu hat sich nicht gefreut, mich vor seiner Tür vorzufinden. Ich weiß nicht, was ich mir erwartet habe nach all den Jahren, aber bestimmt keine derartige Ablehnung. Vielleicht ist er auch deshalb so schroff zu mir, weil ich ihn an Mutter erinnere, und die hat ihm schließlich seinen Sohn und seine Ehre geraubt. Ein Kirgise verzeiht so etwas nicht.

Er arbeitet hier im Dorf in leitender Funktion in der Kolchose und hat unmittelbar nach dem Verschwinden meiner Mutter wieder geheiratet. Mit seiner neuen Frau Nasgül hat er zwei Söhne und eine Tochter. Nasgül schweigt hartnäckig, seit ich hier bin, knallt mir murrend das Essen auf den Tisch und straft ihre Kinder mit bösen Blicken, wenn sie zaghaft freundlich zu mir sind. Aber mit meinen Halbgeschwistern verstehe ich mich eigentlich ganz gut, nur in ihrer Anwesenheit sind sie immer sehr reserviert. Askar und Tilek müssen in den Sommerferien wie alle Schüler in den hiesigen Kolchosen bei der Gersten- und Zuckerrübenernte mithelfen. Tilek, der ältere der beiden, ist ein ziemlich guter Ringer und will schon bald in der großen Zuckerrübenfabrik in Kant arbeiten. Askar hat es weniger mit dem Sport, er ist sehr gut in der Schule, spielt Schach und hat von den nationalen Turnieren in Moskau schon zwei Silbermedaillen nach Hause gebracht. Vater ist sehr stolz auf ihn und will, dass er nächstes Jahr dort studiert und später einmal in seine Fußstapfen tritt. Und meine kleine Schwester Altinai ist sowieso ein Goldstück. Sie ist so alt wie du, lacht viel und spielt mir ab und zu auf einer Art Gitarre, die hier Komuz genannt wird, kirgisische Lieder vor. Ich habe ihnen von meiner Reise ein paar Kaugummis, Kugelschreiber und Luftballons mitgebracht, die sie ganz ehrfurchtsvoll in einer Kiste unter ihrem Bett aufbewahren. Sie haben sich sehr gefreut.

Mein erster Eindruck von den Zuständen hier ist mehr als befremdlich, jedes Schaf und jeder Halm müssen registriert werden, alles ist bis ins letzte Detail geregelt und durchorganisiert. Jeder weiß, was er am nächsten Tag zu tun hat, und denkt nicht allzu viel über sein Leben nach. Es ist das reinste Marionetten-Theater, aber das darf ich natürlich nicht laut aussprechen. Die Kirgisische SSR ist innerhalb der Union vor allem für die Produktion von Schaffleisch verantwortlich. Im Vergleich zu Österreich ist das Land hier sehr arm, aber ich persönlich kann mich nicht beschweren, mein Vater hat trotz seiner privaten Situation und der dauerhaften Überwachung durch den KGB gute Beziehungen nach Moskau und lässt in seiner Funktion als Hauptbuchhalter ab und zu eins der Schafe durch die Bilanz in unseren Vorratskeller fallen. Ich weiß nicht, wie weit du im Geschichtsunterricht schon gekommen bist und ob ihr die Sowjetunion bereits durchgenommen habt, hier wird jedenfalls kräftig propagiert, dass im Westen alles schlecht ist, während angeblich im Osten das reinste Paradies herrscht: Alle Menschen sind gleich, alle haben Arbeit, keiner muss hungern oder betteln, die schulische und medizinische Versorgung sind gesichert und so weiter. Ich weiß wirklich noch nicht, was ich von alldem halten soll – der Planwirtschaft, der kommunistischen Diktatur –, ob das alles auch sein Gutes hat. Du siehst schon, ich erkläre dir ganz automatisch schon wieder das Zeitgeschehen, bitte verzeih, aber die Geschichte hilft mir dabei, besser zu verstehen, warum die Menschen hier sind, wie sie sind, und leben, wie sie leben. Vielleicht hilft sie mir auch, meinen Vater besser zu verstehen, der sich mit Leib und Seele der Partei verschrieben hat. Eigentlich ist es ein Wunder, dass er seinen Kindern keine russischen Namen gegeben hat, ich vermute, mein Großvater hat sich diesbezüglich noch durchgesetzt (leider ist er 1976 verstorben). Wegen Jamanbai halte ich jedenfalls mit meinen politischen Zweifeln hinterm Berg. Das klappt ganz gut. Man kann einem Elternteil zuliebe ziemlich lange ziemlich viel (mit)machen, was einem selbst gegen den Strich geht. Auch sollte ich mit meinen zwanzig Jahren offen sein für die neuen, ungewohnten Sichtweisen hier, eigentlich ist es eine große Chance, mir aus nächster Nähe ein eigenes Bild von der »sowjetischen Wahrheit« machen zu können.

Wir wohnen in einem kleinen, abgelegenen Dorf namens 8. März in der Suusamyr-Ebene, einem wenig besiedelten Hochtal unterhalb des Töö-Passes. Die Berge sind gewaltig, noch viel gewaltiger als die, die du aus Österreich kennst und die wir gemeinsam erklommen haben. Ganz in der Nähe gräbt sich in einer tiefen Schlucht der Fluss Kökömeren durchs Land und ist so laut und wild dabei, dass er mir ständig in den Ohren rauscht. Ein alter Mann hat mir erzählt, dass in einem unserer Nachbarhäuser im Jahr 1888 ein Recke namens Koshomkul geboren wurde, der angeblich fast zweieinhalb Meter groß war und zur Ertüchtigung gigantische Steinbrocken in die Luft gestemmt hat. Einmal soll er sogar meinem Großvater das Leben gerettet haben, als dieser mit seinem Ochsenkarren in eine Gletscherspalte gefallen und stecken geblieben war. Seit ich das weiß, ist er mein Held, und manchmal in der Nacht schleiche ich mich zu seinem Grab am Dorfrand und erweise ihm meine Ehre, heimlich natürlich, denn Volks- und Aberglaube sind bei den Russen nicht gern gesehen, schon unter Lenin war es am besten, man glaubte gar nicht.

Wie es aussieht, werde ich im Frühjahr zu Verwandten nach Frunse ziehen, um dort mein Studium an der Biologischen Fakultät der Kirgisischen Staatlichen Universität fortzusetzen. Vater hat das so entschieden, ich glaube, damit er mich nicht länger in seiner Nähe hat. Ich habe den Traum, mich auf Lepidopterologie zu spezialisieren und dem elfbändigen Standardwerk Fauna und Flora der Kirgisischen SSR einen zwölften Band hinzuzufügen. Insgeheim hoffe ich immer noch, dass sich mein Vater mit der Zeit an mich gewöhnen wird und, auch wenn er es vielleicht nicht zeigt, ein klein wenig stolz ist auf seinen heimgekehrten Sohn. Vielleicht hat er nur vergessen, wie sehr er sich damals einen Sohn gewünscht hat: Samat – »Wunsch und Sehnsucht«. Im Sommer muss ich mich außerdem einer Kumys-Kur unterziehen, die mir ein Arzt aus der Kolchose verordnet hat, um mich körperlich wieder auf Vordermann zu bringen – die lange Reise hat mich doch mehr mitgenommen als erwartet. Ich werde dann für zwei Wochen bei einer Pferdehirtenfamilie wohnen und jeden Tag literweise vergorene Stutenmilch trinken, die es nur im Juni und Juli gibt, wenn die Stuten junge Fohlen haben und die Wiesen vor Kräutern nur so strotzen. Kumys wird auch sonst gerne getrunken, weil es erfrischt und kühlt, aber als Heilmittel kommt es – in größerer Regelmäßigkeit und Dosis – vor allem bei Lungenkrankheiten und Immunschwäche zum Einsatz. Ich sage dir, es schmeckt grausam!

Doch noch einmal zurück zu Koshomkul: Ich weiß nicht, wie viel von seiner Geschichte stimmt und was erfunden ist, es gibt hier eine Menge Sagen und Legenden, aber ich bin mir sicher, er wäre dir genauso sympathisch wie mir. Und darum schicke ich dir ein altes Foto von unserem neuen Freund, das ich in den Sachen meines Großvaters gefunden habe, ebenso ein Porträt von Juri Gagarin, der das Glück hatte, die Dinge von ganz weit oben zu betrachten. Kosmonaut hätte man werden sollen … Wusstest du, dass er damals vor allem aufgrund seines ruhigen Temperaments aus zwanzig möglichen Kandidaten für die waghalsige Mission ausgewählt worden ist? Der 1,57 Meter kleine Pilot, optisch quasi das Gegenstück zu Koshomkul, hat am 12. April 1961 mit der Wostok 1 in einhundertsechs Minuten zum allerersten Mal die Erde umrundet. Man hat mir erzählt, dass er die Kirgisische SSR vom All aus gesehen hat, also genau gesagt den blitzblauen Issyk-kul im Osten des Landes (das ist ein riesiger See, der die Form eines Tigerauges hat), und dass er aufgrund der einmaligen Schönheit beschlossen hat, diesem Fleck Erde nach seiner Rückkehr einen Besuch abzustatten. Und das ist dann auch tatsächlich passiert, die Kosmonauten wurden nämlich seinerzeit nach ihren anstrengenden (Test)Einsätzen in speziellen Sanatorien wieder aufgepäppelt – und eins davon befand sich just in Tamga am Issyk-kul! Irgendwann muss ich unbedingt auch einmal dahin. Jedenfalls habe ich nicht vergessen, wie sehr dir ein Bild dabei hilft, dir selbst ein Bild zu machen, und so hoffe ich, dass du mit Hilfe von Koshomkul und Juri Gagarin aus der Ferne in mein neues Leben hineinschauen kannst.

Auch drei Blumen lege ich dazu, sozusagen als drei Nüsse für mein Dillemädchen. Sie waren das erste Schöne, das mir nach den beschwerlichen Wochen vor die Nase gekommen ist. Die eine, die ein wenig an einen weißen Krokus erinnert, ist eine Wildtulpe (Tulipa T. binutans), die andere ein Junussow-Enzian (Gentiana junosovii) und die letzte, lilafarben und flauschig, eine Schmalhausenia aus 4.000 Metern Höhe. Alle drei sind endemische Gattungen, das heißt, sie wachsen nur hier. Sie sind selten und kostbar, wie auch du mir kostbar bist, auch wenn du mir das im Moment vielleicht nicht glaubst. Mögen sie dir Glück bringen.

Ach, mein Sybille-Dille-Mädchen, ich hoffe wirklich, dass du mir mein plötzliches Verschwinden verzeihen kannst und dass dich meine Zeilen nicht überfordert haben. Ich vergesse immer, dass du erst vierzehn bist. Aber was rede ich da, ich bin mir ganz sicher, dass du alles verstehen und auch verkraften kannst, manches vielleicht sogar besser als ich, weil du intelligent bist und viel zu erwachsen.

Dein Kerbeljunge Samat Jamanbai uulu

(ehemals Bergen)

PS: Was sagst du jetzt?! – das ist mein neuer Familienname. Nach kirgisischer Tradition wird der Vorname des Vaters automatisch zum Nachnamen seines Sohnes (= uulu).

Sybille tauchte ihre Finger in die trockenen Blütenbrösel und legte den Brief zur Seite. Ihre Hände zitterten, ihr schwirrte der Kopf. Alles fiel ihr wieder ein: der Kalte Krieg, der Fall der Berliner Mauer, das Ende der Sowjetunion, die Schicksalsbilder im Fernsehen. Sie selbst war gerade einmal vierzehn Jahre alt gewesen, als im September des Jahres 1989 plötzlich die österreichisch-ungarische Grenze geöffnet wurde, kurz darauf die Mauer in Berlin fiel und sich nach und nach der gesamte Eiserne Vorhang in Luft auflöste, bis schließlich mit der Unterzeichnung der Alma-Ata-Erklärung am 21. Dezember 1991 die endgültige Auflösung der Sowjetunion offiziell bestätigt wurde. Das Ende eines geteilten Europas war der Anfang von Samats Geschichte. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was er in den folgenden Jahren alles durchgemacht haben mochte, wie es ihrem Freund Anfang der Neunzigerjahre im kommunistisch regierten Kirgistan ergangen war, wie es ihm jetzt ging, ob er überhaupt noch am Leben war. Allein was dieser erste Brief erzählte und was die Menschen, die ihn von einem kleinen Dorf in der ehemaligen Kirgisischen SSR bis zu ihr nach Österreich brachten, auf sich genommen hatten, überstieg ihre Vorstellungskraft. Samat war sein Anfang mehr als gut gelungen. Einzig die Blumen hatten es nicht geschafft.

Hass, Neugier und Hoffnung machten sich in ihr breit. Hass auf ihre Eltern, die ihr die Briefe jahrzehntelang vorenthalten hatten, Neugier auf das Leben und den Verbleib ihres alten Gefährten und schließlich Hoffnung sie selbst betreffend, dass ihr Leben wieder einen Sinn haben könnte. Zwei Tage und zwei Nächte lang las sie sich durch die sechsunddreißig Briefe, die zwischen 1989 und 2015 in unregelmäßigen Abständen bei ihren Eltern eingetrudelt waren. Ein halbes Leben lag so vor ihr, ausgebreitet auf dem Boden. Und als sie zum zweiten Mal mit seinen Zeilen durch war, aus der Ferne Samats Kirgisenjahre durchstreift hatte, die von idyllischen Sommerweiden, geraubten Frauen, geheimen Schmetterlingsexperimenten, aufreibenden Familiendramen, korrupten Präsidenten, von müde gewordenen Helden und wilden Abenteuern erzählten und die ihr weiß Gott nicht immer gefielen, als sie schließlich den letzten Brief, der erst Anfang des Jahres gekommen war, in den Händen hielt, wusste sie, was sie zu tun hatte.

Hass, Neugier und Hoffnung waren nicht die schlechtesten Brennstoffe, um den Motor des Lebens wieder zum Laufen zu bringen. Sybille war wahnsinnig aufgeregt, schlagartig war alles ganz klar. Sie hatte eine Idee. Und plötzlich auch wieder ein Ziel: Sie würde ihren alten Freund (be)suchen. Der Schritt war weder logisch noch nahe liegend. Aber so verhielt es sich manchmal mit der Zukunft, sie passierte einfach, hielt sich an keinerlei Regeln, agierte völlig willkürlich und spontan.

»Samat, ich komme«, flüsterte sie.

Aufbruch mit Kafka.

Als Sybille am nächsten Morgen erwachte, nahm sie zum ersten Mal seit Langem wieder ihre Umgebung wahr: Die Vögel zwitscherten, irgendwo in der Ferne war ein dumpfes Hämmern und Klopfen von einer Baustelle zu hören, ein leichter Windzug strich durch das gekippte Fenster und streifte ihre Haut. Sie registrierte augenblicklich und mit jeder Faser ihres Körpers, dass sich etwas geändert hatte, etwas Wesentliches und gleichzeitig Unsichtbares, was ja nur in einer nicht denkenden und blinden Gesellschaft einen Widerspruch darstellte. Sie konnte sich spüren, hören und sehen, schnappte wie ein Neugeborenes, das zum ersten Mal das Licht der Welt erblickte, gierig nach Luft, wie ein Wiedergeborenes, das sich mit jedem Atemzug seiner Form, Hülle und Existenz bewusst wurde. Sybille war erwacht, aufgewacht, von den Toten auferstanden und in einen Himmel aufgefahren, der endlich wieder ihr Himmel war, der eine Farbe hatte, strahlend blau, und keine Grenze, in dem alles erlaubt war und sich leicht anfühlte, weil ihn endlich wieder ein anderer stemmte, ihr diese Last abnahm, einer, der vielleicht Atlas hieß und diesen Job schon seit Urzeiten erledigte. So leicht und voller Tatendrang hatte sie sich lange nicht mehr gefühlt, zuletzt als Martin noch lebte, ihn sein Schicksal in der Verkörperung eines rasenden, alkoholisierten Motorradfahrers noch nicht ereilt und in andere Sphären katapultiert hatte. Sie strampelte das Laken zurück, sprang aus dem Bett, hüpfte ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Da war sie. Sie war da. Blickte in ihre Augen, die nicht mehr leer, sondern wach und lebendig waren, registrierte die kleinen Fältchen, die schlecht gezupften Brauen, ihre Haare, die in den letzten Monaten grau und brüchig geworden waren, wie das eben passierte, wenn man argen Kummer hatte und den Horizont nicht mehr sah.

»Hallo, Sybille«, sagte sie, »willkommen zurück.«

Die Aufregung und Vorfreude, ausgelöst durch den nächtens gefassten Plan, trieben das Zähneputzen, Gesichtwaschen und die noch wackeligen Storchenbeine immer hurtiger voran in Richtung Kaffeetasse, Kleiderschrank und Schlüsselbund, Sybille stelzte, dezent aus der Übung gekommen, dafür waghalsig wie in Kindertagen, zur Tür hinaus. Wo sollte sie anfangen? Es gab so viel zu tun.

Am liebsten wäre sie sofort losgeflogen, hätte nur das Allernötigste zusammengepackt, in ihren Koffer geschmissen und sich ohne ein Wort des Abschieds in ihr kirgisisches Abenteuer gestürzt, in ihre Samat’sche Such- und Sybill’sche Findungsaktion, bei der alles möglich war, alles und nichts, bei der ihr allein die Vorstellung von allem oder nichts eine Gänsehaut verursachte. Welch erlösender Moment. Welch erhabenes Gefühl. Welch Tannenzipfel der Hoffnung.