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Der Arzt vom Tegernsee
– 41 –

Wie ein Fels in der Brandung

Laura Martens

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-728-5

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»Was ist nur heute nachmittag los?« fragte Tina Martens, als Franziska Löbl, die als Krankengymnastin in der Praxis von Dr. Baumann arbeitete, in die Aufnahme kam, um aus einem der Aktenschränke eine Karteikarte herauszusuchen. »Das Wartezimmer ist bis zum letzten Platz besetzt. Drei der Patienten haben sich nicht einmal vorher angemeldet. Also, mir sieht das sehr nach Überstunden aus.«

Franziska, die seit einem Unfall in ihrer Kindheit nicht mehr sprechen konnte, wollte eben etwas auf den Block schreiben, den sie immer bei sich trug, als sich die Eingangstür der Praxis öffnete und ein junger Mann mühsam hereinhumpelte.

»Nanu, Herr Schneck, was haben Sie denn gemacht?« erkundigte sich Tina mitfühlend.

Harry Schneck stützte sich auf den Aufnahmetresen. »Ich bin von einem Hund gebissen worden«, erwiderte er grimmig. »Meinen Sie, daß mich Doktor Baumann drannehmen kann?«

»Natürlich, es handelt sich ja um einen Notfall.« Tina wies zu einem blauen Polsterstuhl, der seitlich des Tresens stand. »Bitte, nehmen Sie einen Augenblick Platz. Ich bin gleich zurück.«

Die junge Frau ging zum Sprechzimmer von Dr. Baumann. Sie klopfte kurz an, wartete sein »Herein« ab und trat ein. »Entschuldigen Sie die Störung«, bat sie. »Herr Schneck ist hier. Er ist von einem Hund gebissen worden.«

Eric, der sich mit Marcel Buchner unterhielt, schaute auf. »Schicken Sie Herrn Schneck bitte in den kleinen OP, Tina. Ich bin in wenigen Minuten bei ihm.«

Die Sprechstundenhilfe kehrte zu Harry zurück und forderte ihn auf, ihr zu folgen. »Sie können sich ruhig auf mich stützen«, bot sie freundlich an, als sie merkte, wie schwer es ihm fiel, seinen verletzten Fuß zu belasten.

»Es scheint doch noch Engel zu geben«, bemerkte er, als sie den kleinen OP betraten.

»Wie sind Sie hergekommen?« fragte sie, nachdem sie dafür gesorgt hatte, daß er einen bequemen Stuhl bekam, und legte sein rechtes Bein auf einen Hocker.

»Ich habe ein Taxi genommen. Es wäre geradezu verwegen gewesen, mit meiner Verletzung selbst zu fahren. Man kann ja nie wissen.« Der junge Mann verzog schmerzvoll das Gesicht. »Mein Chef wird sich freuen, wenn ich womöglich nächste Woche ausfalle.«

Tina wußte, daß Harry

Schneck bei der Post im Paketdienst arbeitete. »Ich bin überzeugt, daß der Herr Doktor Sie krankschreiben wird. Ihrem Chef wird nichts anderes übrigbleiben, als vernünftig zu sein.« Sie schenkte ihm ein Lächeln und kehrte in die Aufnahme zurück.

Dr. Baumann ließ nicht lange auf sich warten. »Was machen Sie denn für Sachen, Herr

Schneck?« fragte er, als er in den kleinen OP trat und die Tür hinter sich schloß. Er reichte seinem Patienten die Hand. Nichts in seinem Benehmen ließ darauf schließen, daß er an diesem Nachmittag ohnehin schon mehr als genug zu tun hatte.

»Da heißt es, der Mensch sollte sich viel an der frischen Luft bewegen, um gesund und fit zu bleiben«, meinte Harry spöttisch. »Ich habe diese Woche Urlaub und wollte mir nur etwas die Füße vertreten. Plötzlich tauchte ein kleiner, freilaufender Hund vor mir auf. Er sah überhaupt nicht gefährlich aus, deshalb nahm ich sein Knurren auch nicht ernst. Ich wollte mich zu ihm hinunterbeugen, um ihn zu streicheln. Bereits im nächsten Moment schlug er mir seine Zähne ins Bein.«

»Und sein Besitzer?« Dr. Baumann hoffte, daß es einen Besitzer gab, denn sonst bestand die Gefahr, daß es sich um einen tollwütigen Hund handelte.

»Der Köter gehört einem älteren Mann. Einem Urlaubsgast, wie ich annehme. Jedenfalls habe ich ihn noch nie zuvor gesehen. Er entschuldigte sich kurz, leinte sein Prachtexemplar von einem Hund an, und ging dann einfach davon.« Helle Empörung sprach aus Harrys Stimme. »Leute

gibt’s. Dieser Mann hat sich nicht einmal danach erkundigt, was mit meinem Bein ist. Davon abgesehen, tat der Biß im ersten Moment auch nicht weh. Vermutlich durch den Schock.«

»Ziehen Sie bitte Ihre Hose aus, Herr Schneck«, bat der Arzt. Er half dem jungen Mann beim Aufstehen.

Um Harrys Knöchel lag ein blutgetränkter Verband. »Au, tut das weh«, jammerte er, als der Arzt ihn aufschnitt. »Sieht ziemlich schlimm aus, nicht wahr?«

Eric nickte. »Dieser Hund hat ziemlich fest zugebissen.« Er runzelte die Stirn. Die Wunde sah nicht nach einem Hundebiß aus. »Sind Sie sich sicher, daß es ein Hund gewesen ist?« fragte er skeptisch.

»Natürlich war es ein Hund. Flocki hieß er, wenn ich seinen Besitzer richtig verstanden habe.« Harry stieß heftig den Atem aus. »Ein schöner Flocki. Das Gebiß dieses Köters könnte mit dem eines Tigers konkurrieren.«

Eric säuberte behutsam die Wunde. In seinem ganzen Leben hatte er noch nicht einen derartigen Hundebiß gesehen. Der Hund schien eine schmale, lange Schnauze und pfeilspitze Zähne zu haben. Unwillkürlich fragte er sich, ob ihm sein Patient die Wahrheit sagte. Nur, weshalb sollte der Mann lügen?

»Hat Ihnen der Besitzer des Hundes wenigstens seinen Namen und seine Adresse genannt?«

»Nein, nichts dergleichen. Ich sagte ja schon, er nahm seinen Köter an die Leine und stiefelte davon. Er tat, als sei dieser Vorfall für ihn etwas ganz alltägliches.«

»Sind Sie gegen Tetanus geimpft?«

»Ja, ich habe vor drei Jahren eine Auffrischungsimpfung erhalten.«

»Ich muß die Wunde klammern.« Dr. Baumann trat an den Medikamentenschrank.

»Tut das sehr weh?«

»Ich gebe Ihnen eine örtliche Betäubung«, sagte Eric und zog eine Spritze auf. »An Ihrer Stelle würde ich Anzeige gegen Unbekannt erstatten«, fuhr er fort. »Sie sollten diese Geschichte nicht auf sich beruhen lassen. Vielleicht kann man doch herausfinden, um wen es sich bei dem Hundebesitzer handelt.« Er desinfizierte die Einstichstelle und setzte die Injektion.

»Au!« schrie Harry auf.

»Bitte, halten Sie Ihr Bein still.«

»Gut gesagt.« Harry verzog das Gesicht. »Und das alles nur wegen eines kurzen Spazierganges. Meine Kollegen werden sich totlachen, wenn ich ihnen erzähle, daß ich auf freiem Feld von einem Hund gebissen wurde. Gewöhnlich passiert so etwas Postleuten nur an den Haustüren oder in Vorgärten.«

»Nun, während der nächsten Tage ist an Arbeit nicht zu denken, Herr Schneck. Sie sollten Ihren Fuß sehr schonen.«

»Wie ich schon Ihrer Sprechstundenhilfe sagte, wird mein Chef alles andere als begeistert sein.« Harry beobachtete ängstlich jede Handbewegung des Arztes. Obwohl er von dem Klammern nichts spürte, zuckte er bei jedem Einstich zusammen.

Dr. Baumann verband die Wunde und bat seinen Patienten, sich die Hose wieder anzuziehen. »Frau Martens wird Ihnen ein Taxi rufen«, versprach er und brachte ihn nach draußen.

»Danke.« Harry nickte dem Arzt zu. »Wann soll ich wiederkommen?«

»Ich möchte mir die Wunde morgen noch einmal anschauen.« Eric reichte ihm die Hand. »Und passen Sie in Zukunft auf, wenn Sie fremden Hunden begegnen.« Seine Stimme klang leicht ironisch, doch der junge Mann

schien es nicht zu bemerken. Er bedankte sich erneut und humpelte zur Aufnahme.

Dr. Baumann kehrte in den kleinen OP zurück, wusch sich gründlich die Hände und wollte eben in sein Sprechzimmer gehen, als ihm Franziska begegnete. Auf ein paar Minuten mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr an. »Hast du etwas Zeit?« fragte er.

Die Krankengymnastin nickte.

»Fein.« Er folgte der jungen Frau in ihren Behandlungsraum. »Du kennst ja Harry Schneck«, sagte er. »Angeblich ist er von einem Hund gebissen worden, aber die Wunde sieht mir nicht danach aus.«

»Du meinst, er hat uns einen Bären aufgebunden?« schrieb Franziska auf ihren Block. Harry Schneck gehörte seit eineinhalb Jahren zu den Patienten von Dr. Baumann. Sie wußte, daß er bei der Post arbeitet und in einer Souterrainwohnung im Narzissenweg lebte. Sie hielt den jungen Mann für einen Sonderling. Soweit sie mitbekommen hatte, führte er ein ziemlich zurückgezogenes Leben.

»Ja, und zwar einen ganz gewaltigen.« Eric nickte. »Ich bin mir zwar sicher, daß es sich um eine Bißwunde handelt, nur ein Hund kommt als Täter bestimmt nicht in Frage.« Er beschrieb ihr, wie die Wunde aussah.

»Nein, daß sieht mir auch nicht nach einem Hundebiß aus«, schrieb sie. »Die Frage ist nur, warum sollte Herr Schneck lügen?«

»Das frage ich mich auch.« Dr. Baumann seufzte auf. »Nun, vermutlich werden wir nie dahinterkommen, war für ein Tier es gewesen ist, es sei denn, Herr

Schneck gesteht uns wider Erwarten die Wahrheit.« Er schaute auf seine Uhr. »Höchste Zeit, daß ich mich dem nächsten Patienten widme. Das heißt, in diesem Fall Patientin. Sogar eine, die ich ausgesprochen gern habe, nämlich Frau Stanzl.«

»Eine wirklich nette Frau«, meinte Franziska schriftlich. Sie mochte Andrea Stanzl, zumal sie in ihr keine Konkurrentin sehen mußte. Auch wenn sie sich dafür schämte, sie empfand oft eine gewisse Eifersucht, wenn sie bemerkte, wie gern viele Patientinnen Eric hatten, aber Andrea war bis über beide Ohren in ihren Freund verliebt.

»Bis später.« Der Arzt nickte Franziska zu und verließ ihren Behandlungsraum. »Rufen Sie bitte Frau Stanzl auf«, bat er Tina, die gerade aus dem Labor kam, dann kehrte er in sein Sprechzimmer zurück und setzte sich hinter den Schreibtisch. Mit den Gedanken war er jedoch noch immer bei Harry Schneck. Warum hatte ihn der junge Mann angelogen? Irgend etwas stimmte da ganz entschieden nicht.

*

Tina Martens drehte sich vor ihrem Schlafzimmerspiegel. »Was meinst du, Timon, wie sehe ich aus?« fragte sie den schwarzen Kater, der um ihre Beine strich. »Ob Joachim mein neues Kleid gefallen wird?« Erneut warf sie einen Blick in den Spiegel. Ihre Augen strahlen in Vorfreude. Ihr Freund wollte mit ihr tanzen gehen. Sie konnte es kaum noch erwarten, in seinen Armen die Welt um sie herum zu vergessen.

»Miau«, machte Timon und rieb sein Köpfchen an ihren Beinen.

»Es geht nicht anders, Timon. Ich muß dich heute abend allein lassen.« Sie beugte sich zu ihrem Kater hinunter und hob ihn hoch. »Aber dafür gibt es nachher auch ein besonders gutes Freßchen, mein Kleiner.« Liebevoll trug sie ihn ins Wohnzimmer und setzte ihn auf die Couch. »Und weißt du, wer uns zum Tanzen begleitet? – Meine Freundin Katja.« Sie lachte leise auf. »Katja hat keine Ahnung, daß Joachim und ich Schicksal spielen wollen. Es wird allerhöchste Zeit, daß sie auch außerhalb ihres Berufes etwas mehr unter die Menschen kommt.«

Es klingelte.

Timon sprang von der Couch und rannte zur Wohnungstür.

»Du vergißt, daß du kein Hund bist«, sagte die junge Frau heiter. Es konnte nur Joachim sein. Sie drückte auf den Türöffner und trat ins Treppenhaus.

»Donnerwetter«, meinte Joachim Staiger, nachdem er das Dachgeschoß des Hauses erreicht hatte. »Du siehst wie eine Million Dollar aus.«

»Ich hoffe, du willst mich nicht verkaufen.«

»Das muß ich mir noch schwer überlegen.« Joachim nahm seine Freundin in die Arme. Leidenschaftlich küßten sie sich.

Timon fand es an der Zeit, daß auch er beachtet wurde. Laut miauend machte er auf sich aufmerksam. Als Joachim nicht gleich reagierte, stieß er mit seinem Köpfchen gegen das Bein des jungen Mannes.

»Ach so, dein Leckerbissen.« Joachim ließ Tina los und zog aus seiner Hosentasche einige Katzenbonbons. Schwungvoll warf er sie durch den Korridor. Timon jagte ihnen ausgelassen nach.

»Möchtest du eine Tasse Kaffee?« fragte Tina. Sie schloß die Wohnungstür.

»Da sage ich nicht nein.« Joachim folgte seiner Freundin in die kleine Küche der Dachgeschoßwohnung. »Und gebacken hast du auch.« Er griff in eine Schüssel mit Schwarzweiß-Gebäck.

»Ich weiß schon, womit ich dich verwöhnen muß.« Tina schaltete die Kaffeemaschine ein.

»Abgesehen von deinem Gebäck gibt es da noch ein, zwei andere Dinge«, erklärte er und küßte sie im Nacken.