Gedanken eines Zweiflers (Erinnerungen eines Verrückten) - Autobiografische Geschichte

Inhaltsverzeichnis

Mémoires d’un fou, Roman, 1838

Geschrieben 1838, als Flaubert 17Jahre alt war. (Aus dem Nachlass)

Im Norden wie im Süden, im Osten wie im Westen, überall, wo ihr geht, könnt ihr nicht einen Schritt tun, ohne daß Zwangsherrschaft, Ungerechtigkeit, Geiz, Habgier euch voller Selbstsucht zurückstoßen. Überall, sage ich euch, werdet ihr auf Leute geraten, die euch zurufen: »Geh mir aus der Sonne!« – »Hebe dich weg! Du betrittst den Sand, den ich mir auf die Erde gestreut!« – »Kehr um! Du bist auf meinem Grund und Boden!« – »Zurück! Du atmest Luft, die mir gehört!«

Ja, ja! Der Mensch ist ein durstiger Wanderer; er bittet um Trinkwasser; man verweigert es ihm, und er geht zugrunde.

Die Gewalt lastet schwer auf den Völkern, und ich fühle, es ist schön, sie von ihr zu befreien. Ich fühle, wie mein Herz bei dem Worte Freiheit vor Freude lauter klopft, wie ein Kinderherz vor dem Worte Gespenst. – Und doch ist eins wie das andere Wahn. Ein Trugbild, das verwehen, eine Blume, die verwelken muß. Mehr nicht.

So manche werden es versuchen, sie zu erringen, die herrliche Freiheit, die Fürstin aller Träume, den Abgott der Völker. Viele werden es wagen, aber sie werden unter der Last ihrer Bürde zusammenbrechen.

Es war einmal ein Pilger, der durch die große Wüste Afrikas wanderte. Er hatte die Kühnheit,

einen Weg einzuschlagen, der seine Reise um sieben Meilen verkürzte, dafür aber gefahrvoll war, reich an Schlangen, wilden Tieren und mühseligen Felsenstiegen.

Die Nacht brach an. Der Mann bekam Hunger. Er ward müde und matt. Er beschleunigte seinen Gang, um endlich sein Ziel zu erreichen. Doch auf Schritt und Tritt traf er Hemmnisse. Trotzdem verlor er seinen Mut nicht und ging herzhaft weiter.

Da sah er plötzlich vor sich einen ungeheuren Felsblock mitten auf seinem Wege, einem schmalen Saumpfade, der sich steil emporzog, überwachsen von Gestrüpp und Dornen. Er war also genötigt, den Stein bis zum Gipfel hinaufzuwälzen oder ihn zu überklettern oder zu warten bis zum Morgen, wo vielleicht andere Pilger kommen und ihm helfen könnten!

Aber er hatte solchen Hunger, und der Durst quälte ihn so gräßlich, daß er sich ermannte, alle seine Kräfte aufzubieten, um weiter zu kommen, bis zur nächsten Hütte, die noch vier Wegstunden fern war. Er begann mit Händen und Füßen am Felsblock in die Höhe zu klimmen.

Der Schweiß rann ihm in großen Tropfen von der Stirn, seine Arme stemmten sich mühevoll empor, und krampfhaft griffen seine Hände nach jedem Halm, der sich ihm bot; aber das Gras hielt ihn nicht, und er fiel enttäuscht zurück. Wieder und wieder erneute er seine Anstrengungen. Es war vergeblich.

Und immer schwächer wurde er von Fall zu Fall, immer kraftloser, immer verzweifelter. Er verfluchte Gott und lästerte ihn. Schließlich machte er einen letzten Versuch. Diesmal nahm er alle Kraft zusammen, die er noch hatte, und vor dem Aufstieg betete er zu Gott.

Ach, wie demütig, wie hehr, wie innig war dieses kurze Gebet! Weit entfernt, irgend etwas nachzuplärren, was ihn die Amme als kleines Kind gelehrt, waren Tränen seine Worte und Kreuzeszeichen seine Seufzer. Dann kletterte er hinan, fest entschlossen, Hungers zu sterben, wenn es ihm mißglückte.

Nun ist er am Werke. Er klimmt aufwärts; er kommt höher. Es sieht aus, als ziehe ihn eine helfende Hand empor zum Gipfel. Es ist ihm, als schaue er einem ihn rufenden Engel in das lächelnde Angesicht. Da mit einem Schlage ändert sich alles. Eine schreckliche Erscheinung übermannt seine Sinne. Er hört das Zischen einer Schlange, die am Gestein herabkriecht, auf ihn zu. Die Knie wanken ihm, seine Fingernägel, die sich um Felsenspitzen gekrallt hatten, verlieren ihren Halt …. Kopfüber fällt er in die Tiefe.

Was nun?

Er hat Hunger, ihn friert, er ist durstig. Der Wind pfeift über die endlose rote Wüste, und den Mond verdüstern Wolken.

Er fängt an zu weinen und sich zu ängstigen wie ein Kind. Er weint um seine Eltern, die vor Gram sterben werden, und er fürchtet sich vor den Raubtieren.

»Es ist Nacht,« jammert er. »Ich bin schwach und matt. Die Tiger werden kommen und mich zerreißen!« Lange wartet er, daß ihm irgendwer zu Hilfe käme. Aber es kamen die Tiger, zerfleischten ihn und schlurften sein Blut…..

Und wahrlich, ich sage euch, ebenso ergeht es euch, die ihr die Freiheit erobern wollt! Mutlos geworden in euren Anstrengungen, werdet ihr auf irgend jemanden warten, der euch helfen soll.

Und dieser Jemand wird nicht kommen! Nein!

Aber die Tiger werden kommen, euch zerfleischen und euer Blut trinken wie das des armen Wanderers.

Es ist so! Die Not herrscht über dem Menschen.

Ach, die Not, die Not! Ihr habt sie wohl nie verspürt, ihr, die ihr von den Lastern der Armen sprecht? Not ist ein Ding, das’ den Menschen packt, ihn auszehrt, ihn erdrosselt, ihm die Glieder abreißt und dann seine Knochen auf den Schindanger wirft. Not ist ein Ding, häßlich, fahl, stinkig, verkrochen in schmutzige Winkel und Löcher, hinter die Lumpen der Bettler, hinter die Röcke der Dichter. Die Not? Das ist der Mann mit den langen gelben Zähnen an Winterabenden an der Straßenecke, der euch im Grabeston zuflüstert: »Herr! Brot!« und dabei eine Pistole zieht… Die Not? Das ist der Spion, der euch umschleicht, eure Worte erjagt und dann zum Gewalthaber geht und ihm sagt: »Man macht eine Verschwörung! Man hat Gewehre…« Die Not? Das ist das Frauenzimmer, das euch unter den Bäumen der Promenade zupfeift. Ihr tretet heran. Die Frau trägt einen schäbigen alten Mantel. Sie öffnet den Mantel. Ein weißes Kleid schimmert darunter; aber dieses weiße Kleid ist voller Löcher. Und sie öffnet ihr Kleid und zeigt euch ihren Busen; aber dieser Busen ist schlaff, und drinnen wütet der Hunger! Ja, der Hunger, der Hunger! Überall der Hunger: in ihrem Mantel, dessen silberne Schließen versetzt, in ihrem Kleid, dessen Spitzen verschachert sind, in ihren Worten, die euch unter Weh und Leid zurufen: »Komm, komm!« Ja, Überall der Hunger, selbst in ihrem Busen, den sie eurer Lust verkaufen will! – Der Hunger, der Hunger!

Dieses Wort, oder vielmehr das Ding dahinter, hat die Revolutionen gemacht, und noch manche Revolution wird es bringen!

Das Unglück mit seinen tiefeingesunkenen Augen schreitet weiter und weiter. Es greift mit seinen Eisenkrallen nach Königshäuptern, und indem es ihre Kronen zerbricht, zertrümmert es ihnen die Hirnschale. Das Unglück schlägt die Machthaber tot. Es lauert am Bette der Großen; es hockt bei dem Kinde, verbrennt es, verschlingt es. Es bleicht aller Locken, höhlt aller Wangen, tötet alle. Es windet sich und kriecht wie eine Natter, und es zwingt die anderen, daß auch sie kriechen. Das Unglück ist unbarmherzig, unersättlich; sein Durst unlöschbar. Wie das Faß der Danaïden hat es keinen Boden. Seine Habsucht ist grenzenlos. Kein Mensch kann sich rühmen, seinen Fängen entgangen zu sein. Es hängt sich an die Jugend, umarmt sie, liebkost sie; aber seine Zärtlichkeiten sind wie die des Löwen; sie hinterlassen blutige Male. Es taucht plötzlich auf, mitten beim Feste, im vollen Lachen, bei Lust und Becherklang.

Mit besonderer Vorliebe trifft es gekrönte Häupter. Einst lebte in einem Keller des Louvre ein Mann, nein, ein Narr, und dieser Narr preßte sein bleigraues Antlitz in die Gitter des Fensters, durch dessen zerbrochene Scheiben die Nachtvögel flatterten. Er war in vergoldete Lumpen gehüllt. Goldene Lumpen! Stellt euch das vor und ihr werdet lachen! Seine Hände ballten sich vor Wut, sein Mund schäumte, seine ganz nackten Füße stampften auf die nassen Fliesen. Seht, das tat er, der Mann mit den goldenen Lumpen, weil er über sich Ballgetümmel, Gläsergeklirr und Orgelgebraus hörte. Dann starb der arme Narr. Man begrub ihn ohne Ehren, ohne Leichenreden, ohne Tränen, ohne Prunk, ohne Musik. Nichts von alledem! Es war König Karl VI.

Lange Zeit nach ihm lebte ein anderer Fürst, der ein noch gräßlicheres und grausameres Schicksal erlitt. Wer hätte in den heiteren Tagen seiner Kindheit gedacht oder gar gesagt, daß der schöne Kopf dieses jungen Mannes fallen werde vor der Zeit und von Henkershand? Eines Tages saß in einem Saale des Temple eine Familie, trostlos und heiße Zehren weinend, weil einer ihrer Zugehörigen sterben sollte, der Vater der Familie. Er umarmte seine Kinder und seine Frau, und als sie sich ausgeweint hatten und ihre Verzweiflungsschreie im Kerker verhallt waren, öffnete sich die Tür und ein Mann trat ein, der Gefängniswärter, und hinter ihm der Scharfrichter, der mit einem Schlage seiner Guillotine das ganze alte Königtum köpfte. Das Volk heulte vor Jubel um das Blutgerüst herum und rächte an diesem einen Haupte die Hinrichtungen von Jahrhunderten. Dieser Mann war Ludwig XVI.

Nicht viel später sank ein dritter König dahin. Aber unter dem Falle dieses Riesen erzitterte die ganze Welt. Armer großer Mann, gemordet von Nadelstichen wie ein Leu von Mücken! Wie erhaben war seine Wundergestalt bis zuletzt! Wie großartig noch auf dem Totenbette! Wie groß einst auf seinem Throne! Wie groß in der Seele seines Volkes!

Und was ist das alles? Ein Totenbett, ein Grab, ein Kaiserthron, ein Volk? Etwas, was den Teufel lachen macht! Nichts, nichts, dreimal nichts! Und doch war das Napoleon Bonaparte, der größte aller Herrscher, der größte aller Menschen!

Wahrlich, so muß es sein! Jedem das Seine! Die Not den Völkern, den Königen das Unglück!

Das Unglück, das Unglück! Das ist ein Wort, das über dem Menschen waltet wie das Verhängnis über den Jahrhunderten und die Revolution über der Kultur!

»Und was ist eine Revolution?« Ein Windeshauch, der über das Weltmeer streicht. Er verweht, und das Meer rauscht weiter.

»Und was ist ein Jahrhundert?« Ein Husch in der ewigen Nacht.

»Und was ist der Mensch?« Ach, der Mensch, was ist der? Was weiß ich davon? Fragt irgendein Gespenst, was das ist! Wenn es zu reden vermag, wird es euch antworten: »Ich bin der Schatten von dem und dem!«

»Der Mensch ist Gottes Ebenbild.«

Welches Gottes?

»Dessen, der da droben regiert!«

Ist er ein Sohn des Guten, des Bösen oder des Nichts? Wählt unter diesen dreien! Alle drei sind eines!

»Was? Du glaubst an nichts?«

Nein.

»Nicht an den Ruhm?«

Denke an den Neid!

»Nicht an die Wohltätigkeit?«

Und der Geiz?

»Nicht an die Freiheit?«

Siehst du denn nicht, daß der Terror den Nacken der Völker beugt?

»Nicht an die Liebe?«

Und das Dirnentum?

»Nicht an die Unsterblichkeit?«

In weniger denn einem Jahre haben die Würmer einen Leichnam zerfressen. Dann wird er zu Staub. Dann zu nichts. Dem Nichts folgt nichts. Nichts bleibt von uns übrig!

Eines Tages grub man eine Leiche aus. Man schaffte die Überreste eines berühmten Mannes nach einem andern Winkel der Erde. Das war eine der üblichen Feierlichkeiten, eine schöne prunkhafte Komödie wie ein richtiges Begräbnis, nur daß bei einem solchen der Leib des Toten noch frisch ist, bei einer Wiederausgrabung aber schon verfault.

Alle Anwesenden warteten auf den Totengräber, der sich schließlich nach zehn Minuten, ein Liedchen vor sich hersummend, einstellte, ein Biedermann, dem die Gegenwart keinen Kummer und die Zukunft keine Sorge bereitete. Er trug einen Hut aus Wachstuch und im Munde eine Tabakspfeife.

Die Erdschaufelei begann. Und bald erblickten wir den Sarg. Er war aus Eiche, aber doch schon morsch, denn ein einziger ungeschickter Spatenstich zertrümmerte ihn. Nun sahen wir den Toten, den Toten in seinem gräßlichen grauenhaften Zustande. Allerdings hinderte uns zunächst ein auffliegender dichter Dunst, ihn genau zu betrachten. Der Bauch war ihm zerfressen; seine Brust und seine Schenkel schimmerten in mattem Weiß. Wenn man näher herantrat, erkannte man ohne weiteres, daß dieses matte Weiß ein gierig fressendes Würmergewimmel war.

Es ward einem übel bei diesem Schauspiel. Ein junger Mann sank ohnmächtig hin.

Der Totengräber ließ sich nicht stören. Er nahm die stinkende Masse in seine Arme und trug sie zu einem Karren, der einige Schritte entfernt stand. Da er rasch ging, entfiel ihm das linke Bein der Leiche. Er hob es mit einem kräftigen Griff auf und nahm es auf den Rücken. Dann kam er wieder, um das Loch zuzuschaufeln. Da bemerkte er, daß er etwas vergessen hatte: den Kopf des Ausgegrabenen. Er zog ihn an den Haaren heraus. Ein scheußlicher Anblick, diese starren halbgeschlossenen Augen, dieses klebrige bleiche Antlitz mit den hervortretenden Backen und einem Fliegenschwarm auf den Lidern!

Das war also der berühmte Mann! Wo war sein Ruhm, seine Tugenden, sein großer Name?

Der berühmte Mann, das war das verweste, unkenntliche, häßliche Ding da vor uns, das einen abscheulichen Gestank verbreitete und das man nicht lange anschauen konnte!

Sein Ruhm? Ihr seht, man behandelte ihn wie einen gemeinen toten Hund. Alle Anwesenden waren aus Neugier hergekommen, gewiß nur aus Neugier, getrieben von jenem Gefühle, das den Menschen freudig stimmt, wenn er das Leid andrer Menschen sieht, – von jenem Gefühle, das die Weiber verlockt, ihre hübschen blonden Köpfe am Fenster zu zeigen, wenn unten eine Hinrichtung vor sich geht. Es ist die natürliche Wollust, die den Menschen zum Gräßlichen, Grausamen, Grotesken hinzieht.

Seine Tugenden? Man erinnerte sich ihrer nicht mehr. Sein Name? Der war verloschen, denn er hatte keine Kinder hinterlassen, und seine zahlreichen Neffen hatten seinen Tod längst herbeigesehnt.

Ist es auszudenken, daß der Tote da noch vor einem Jahre reich, glücklich, einflußreich war, daß man ihn mit Ehrentiteln anredete, daß er einen Palast bewohnte, und daß er nun nichts ist, daß man ihn als Leiche bezeichnet und daß er in einem Sarge modert! Ach, ein furchtbarer Gedanke! Und auch uns wird es ergehen wie diesem da! Uns allen, die wir jetzt leben, die wir die Abendluft atmen und den Duft der Blumen verspüren! »Man könnte verrückt darüber werden! Kommt denn wirklich auf diesen Augenblick nichts?« Nichts, für alle Ewigkeit nichts? »Das geht über den menschlichen Verstand! Soll es denn unumstößlich wahr sein, daß mit dem Ende dieses Lebens alles aus ist, aus für immerdar? Sagt, gibt es tatsächlich nichts weiter?«

Tor, betrachte einen Totenschädel!

»Aber die Seele?«

Ach ja, die Seele!

Wenn du neulich den Totengräber gesehen hättest, seinen schwarzen Wachstuchhut schief auf dem Ohre, sein Pfeifchen im Munde; wenn du gesehen hättest, wie er das verweste Bein auflas, und wie ihn dies nicht hinderte, dabei zu pfeifen und vor sich hinzuträllern: »Mädel, ruck, ruck, ruck an meine grüne Seite!« – du hättest laut aufgelacht vor tiefem Mitleid und hättest gesagt: »Die Seele, das ist am Ende der üble Gestank, der aus einer Leiche aufsteigt!«

Trotzalledem ist es ein trübseliger Gedanke, daß nach dem Tode alles aus sein soll! Nein, nein, rasch einen Priester her! Einen Priester, der mir sagt, mir beweist, mich überzeugt, daß die Seele im menschlichen Körper vorhanden ist.

Einen Priester? Aber welchen soll man rufen? Der eine ist beim Erzbischof zu Tisch, der andre hält gerade Bibelstunde, und der dritte hat keine Zeit.

Ja, wollen sie mich denn in die Grube fahren lassen, mich, der ich die Hände vor Verzweiflung ringe, der ich Haß oder Liebe anrufe, Gott oder Teufel?

Ach, der Satan wird kommen. Ich fühle es.

Zu Hilfe!

Weh mir, niemand gibt mir Antwort!

Laßt uns weiter suchen!

Ich habe gesucht und habe nichts gefunden. Ich habe an die Tür geklopft. Niemand hat mir aufgetan, und man hat mich in Frost und Not schmachten lassen, so daß ich vor Mattigkeit beinahe gestorben wäre. – Als ich durch eine finstere, krumme, enge Gasse ging, hörte ich süßliche schamlose Reden, hörte Seufzer und Küsse dazwischen. Ich hörte Schreie der Wollust, und ich sah einen Pfaffen und eine Dirne, die Gott lästerten und sich in geilem Tanze drehten. Ich habe meinen Blick weggewandt und habe geweint. Mein Fuß stieß an etwas. Es war ein Kruzifix aus Erz. Der Heiland im Kot!

Das Kruzifix gehörte wohl dem Priester, der es beim Eintritt in das Haus von sich geworfen hatte wie eine Maske oder ein Karnevalskleid.

Jetzt sagt mir noch, das Leben sei keine gemeine Posse, wo doch der Priester seinen Gott wegwirft, um ein Freudenmädchen besuchen zu können! Trefflich! Der Teufel lacht. Seht ihr’s? Trefflich! Er triumphiert! Wahrlich, ich habe recht, Tugend ist Maske, Laster Wahrheit! Darum reden die Leute so wenig davon. Es ist zu schrecklich zu sagen. Trefflich! Das Heim des ehrsamen Mannes ist Lug und Trug; das Dirnenhaus ist Wahrheit. Das Brautgemach ist Betrug, der Ehebruch darin Wahrheit! Das Leben ist Wahn, der Tod Wahrheit! Kirche und Glaube sind Lügen; die Dirne ist wirklich und wahr. Das Gute ist falsch, und wahr ist der Tod!

Erhebt euer Geschrei, ihr Tugendbolde in gelben Glacéhandschuhen, schreit ach und weh, ihr, die ihr von Sittlichkeit redet und kleine Tänzerinnen aushaltet! Jammert nur, ihr, die ihr eher etwas für euren Hund als für euer Gesinde tut! Klagt, ihr, die ihr einen Menschen zum Tode verurteilt, der aus Not gemordet hat, und selber aus Mißachtung mordet! Zetert, ihr Richter, deren Amtsröcke Blutflecke zeigen! Zetert, ihr, die ihr Tag um Tag zu eurem Richterstuhl über die Köpfe derer hinwegschreiten müßt, die ihr auf dem Gewissen habt! Und ihr, ihr krummfingrigen Staatsdiener, wehklagt nur, ihr, die ihr euch der Gönnerschaft rühmt, die ihr einem Ehemanne angedeihen laßt, während ihr euch bei seiner Frau bezahlt macht! Während ihr dem armen Wicht ein Ämtchen verschafft, spuckt ihr seinem Weibe ins Gesicht!

Oft habe ich mich gefragt, warum ich lebe, zu welchem Zweck ich auf die Welt gekommen bin, und ich habe nichts gefunden als einen Abgrund hinter mir und einen Abgrund vor mir; mir zur Rechten und mir zur Linken, über mir und unter mir, Überall dunkle Nacht.

Warum ekelt mich alles hienieden an? Warum erscheinen mir Tag und Nacht, Regen und blauer Himmel immer wie trübe Dämmerung, in der eine rote Sonne hinter einem uferlosen Ozean untergeht?

»Und die Gedankenwelt?«

Ein anderer Ozean ohne Gestade, die Sintflut Ovids, ein grenzenloses Meer, dessen Ein und Aus der Sturm ist.

Erhaben einfältig, grausam närrisch ist das, was wir Gott nennen!

Man hat so oft von der Vorsehung und der himmlischen Güte gesprochen. Ich habe recht wenig Anlaß, daran zu glauben. Der Gott, der sich damit belustigt, die Menschen heimzusuchen, um zu sehen, bis zu welchem Grade sie zu leiden fähig seien, wäre der nicht ebenso stumpfsinnig-grausam wie ein Kind, das einem Maikäfer erst die Flügel abreißt, dann die Beine und schließlich den Kopf, wohlwissend, daß dies sein Tod ist?

Meiner Meinung nach ist die Eitelkeit der Grund aller menschlichen Handlungen. Wenn ich etwas geredet, etwas vollbracht, irgend etwas in meinem Leben getan hatte und meine Worte oder Taten genau untersuchte, fand ich immer diese alte Närrin, eingenistet in meinem Herzen oder, in meinem Hirne. Viele Menschen sind mir gleich; wenige haben den gleichen Freimut.

Diese vielleicht richtige Betrachtung habe ich aus Eitelkeit niedergeschrieben. Die Eitelkeit, nicht eitel erscheinen zu wollen, veranlaßt mich vielleicht, dies wieder auszustreichen.

Ich glaube, der letzte Ausdruck des Höchsten in der Kunst ist die Idee, das heißt die innere Gestaltung einer Vorstellung, etwas Blitzschnelles, Reingeistiges.

Wer hätte nicht die Wahrnehmung gemacht, daß der Menschengeist überladen ist von zusammenhanglosen, erschrecklichen, glutheißen Ideen und Vorstellungen? Die wissenschaftliche Zergliederung brächte es nicht fertig, sie zu beschreiben. Aber ein Buch davon wäre die Natur. Denn was ist die Dichtkunst, wenn nicht die erlesene Natur, der Inbegriff von Gemüt und Geist?

Ach, wenn ich ein Dichter wäre, wollte ich Schönes schaffen!

Das Leben ekelt mich an. Ich wünschte, ich wäre verreckt, bezecht oder ein Harlekin wie Gott!

Die Menschen können mich…..

Drittes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Eines Vormittags erschien Vater Rouault und brachte das Honorar für den behandelten Beinbruch: fünfundsiebzig Franken in blanken Talern und eine Truthenne. Er hatte Karls Unglück erfahren und tröstete ihn, so gut er konnte.

»Ich weiß, wie einem da zumute ist!« sagte er, indem er dem Witwer auf die Schulter klopfte. »Habs ja selber mal durchgemacht, ganz so wie Sie! Als ich meine Selige begraben hatte, da lief ich hinaus ins Freie, um allein für mich zu sein. Ich warf mich im Walde hin und weinte mich aus. Fing an, mit dem lieben Gott zu hadern, und machte ihm die dümmsten Vorwürfe. An einem Aste sah ich einen verreckten Maulwurf hängen, dem der Bauch von Würmern wimmelte. Ich beneidete den Kadaver! Und wenn ich daran dachte, daß im selben Augenblicke andre Männer mit ihren netten kleinen Frauen zusammen waren und sie an sich drückten, schlug ich mit meinem Stocke wild um mich. Es war sozusagen nicht mehr ganz richtig mit mir. Ich aß nicht mehr. Der bloße Gedanke, in ein Kaffeehaus zu gehn, ekelte mich an. Glauben Sie mir das! Na, und so nach und nach im Gang der Zeiten, wie so der Frühling dem Winter und der Herbst dem Sommer folgte, da gings eins, zwei, drei, und weg war der Jammer! Weg! Hinunter! Das ist das richtige Wort: hinunter! Denn ganz kriegt man ja so was im ganzen Leben nicht los. Da tief drinnen in der Brust bleibt immer was stecken. Aber Luft kriegt man wieder! Sehen Sie, das ist nun einmal unser aller Schicksal, und deshalb darf man nicht gleich die Flinte ins Korn werfen. Man darf nicht sterben wollen, weil andere gestorben sind. Auch Sie müssen sich aufrappeln, Herr Bovary! Es geht alles vorüber! Besuchen Sie uns! Sie wissen ja, meine Emma denkt oft an Sie. Sie hätten uns vergessen, meint sie. Es wird nun Frühling. Zerstreuen Sie sich ein bißchen bei uns. Schießen Sie ein paar Karnickel auf meinem Revier!«

Karl befolgte seinen Rat. Er kam wieder nach Bertaux und fand da alles wie einst, das heißt wie vor fünf Monaten. Die Birnbäume hatten schon Blüten, und der treffliche Vater Rouault war wieder mordsgesund und von früh bis abend auf den Beinen. Und im ganzen Gut war mächtiger Betrieb.

Es war ihm eine Ehrensache, den Arzt mit der erdenklichsten Rücksicht auf sein Leid zu behandeln. Er bat ihn, sichs so bequem wie nur möglich zu machen, sprach im Flüstertone mit ihm wie mit einem Genesenden, und er war sichtlich außer sich, wenn man des Gastes wegen nicht, wie befohlen, die leichtverdaulichsten Gerichte auf den Tisch brachte, zum Beispiel feine Eierspeisen oder gedünstete Birnen. Er erzählte Anekdoten und Abenteuer. Zu seiner eignen Verwunderung lachte Karl. Aber mir einem Male erinnerte er sich seiner Frau und wurde nachdenklich. Der Kaffee ward gebracht, und da vergaß er sie wieder.

Je mehr er sich an sein Witwertum gewöhnte, um so weniger gedachte er der Verstorbenen. Das angenehme, ihm neue Bewußtsein, unabhängig zu sein, machte ihm die Einsamkeit bald erträglicher. Jetzt durfte er die Stunden der Mahlzeiten selber bestimmen, konnte gehen und kommen, ohne Rechenschaft darüber geben zu müssen, und wenn er müde war, alle vier von sich strecken und sich in seinem Bette breit machen. Er hegte und pflegte sich und ließ alle Tröstungen über sich ergehen. Übrigens hatte der Tod seiner Frau keine ungünstige Wirkung auf seinen Beruf als Arzt. Indem man wochenlang in einem fort sagte: »Der arme Doktor. Wie traurig!« blieb sein Name im Munde der Leute. Seine Praxis vergrößerte sich. Und dann konnte er nun nach Bertaux reiten, wann es ihm beliebte. Eine unbestimmbare Sehnsucht wuchs in ihm auf, ein namenloses Glücksgefühl.

Wenn er sich im Spiegel betrachtete und sich den Bart Strich, fand er sich gar nicht übel.

Eines schönen Tages kam er nachmittags gegen drei Uhr im Gute angeritten. Alles war draußen auf dem Felde. Er betrat die Küche. Emma war drinnen, aber er bemerkte sie zunächst nicht. Die Fensterläden waren geschlossen. Durch die Ritzen des Holzes stachen die Sonnenstrahlen mit langen dünnen Nadeln auf die Fliesen, oder sie brachen sich an den Kanten der Möbel entzwei und wirbelten hinauf zur Decke. Auf dem Küchentische krabbelten Fliegen an den Gläsern hinauf, purzelten summend in die Apfelweinneigen und ertranken. Das Sonnenlicht, das durch den Kamin eindrang, verwandelte die rußige Herdplatte in eine Samtfläche und färbte den Aschehaufen blau. Emma saß zwischen dem Fenster und dem Herd und nähte. Sie hatte kein Halstuch um, und auf ihren entblößten Schultern glänzten kleine Schweißperlen.

Nach ländlichem Brauch bot sie dem Ankömmling einen Trunk an. Als er ihn ausschlug nötigte sie ihn, und schließlich bat sie ihn lachend, ein Gläschen Likör mit ihr zu trinken. Sie holte aus dem Schranke eine Flasche Curaçao, suchte zwet Gläser heraus, füllte das eine bis zum Rande und goß in das andre ein paar Tropfen. Sie stieß mit Karl an und führte dann ihr Glas zum Munde. Da soviel wie nichts drin war, mußte sie sich beim Trinken zurückbiegen. Den Kopf nach hinten gelegt, die Lippen zugespitzt, den Hals gestrafft, so stand sie da und lachte darüber, daß ihr nichts auf die Zunge lief, obgleich diese mit der Spitze aus den feinen Zähnen herausspazierte und bis an den Boden des Glases mehreremals suchend vorstieß.

Emma nahm wieder Platz und begann sich von neuem ihrer Handarbeit zu widmen. Ein weißer baumwollener Strumpf war zu stopfen. Mit gesenkter Stirn saß sie da. Sie sagte nichts und Karl erst recht nichts. Der Luftzug, der sich zwischen Tür und Schwelle eindrängte, wirbelte ein wenig Staub von den Fliesen auf. Karl sah diesem Tanze der Atome zu. Dabei hörte er nichts als das Hämmern seines Blutes im eignen Hirne und aus der Ferne das Gackern einer Henne, die irgendwo im Hofe ein Ei gelegt hatte. Hin und wieder hielt Emma die Handflächen ihrer Hände auf den kalten Knauf der Herdstange und preßte sie dann an ihre Wangen, um diese zu kühlen.

Sie klagte über die Schwindelanfälle, von denen sie seit Frühjahrsanfang heimgesucht wurde, und fragte, ob ihr wohl Seebäder dienlich wären. Dann plauderte sie von ihrem Aufenthalt im Kloster und er von seiner Gymnasiastenzeit. So gerieten sie in ein Gespräch. Sie führte ihn in ihr Zimmer und zeigte ihm ihre Notenhefte von damals und die niedlichen Bücher, die sie als Schulprämien bekommen hatte, und die Eichenlaubkränze, die im untersten Schrankfache ihr Dasein fristeten. Dann erzählte sie von ihrer Mutter, von deren Grabe, und zeigte ihm sogar im Garten das Beet, wo die Blumen wüchsen, die sie der Toten jeden ersten Freitag im Monat hintrug. Der Gärtner, den sie hatten, verstünde nichts. Mit dem seien sie schlecht dran. Ihr Wunsch wäre es, wenigstens während der Wintermonate in der Stadt zu wohnen. Dann aber meinte sie wieder, an den langen Sommertagen sei das Leben auf dem Lande noch langweiliger. Und je nachdem, was sie sagte, klang ihre Stimme hell oder scharf; oder sie nahm plötzlich einen matten Ton an, und wenn sie wie mit sich selbst plauderte, ward sie wieder ganz anders, wie flüsternd und murmelnd. Bald war Emma lustig und hatte große unschuldige Augen, dann wieder schlossen sich ihre Lider zur Hälfte, und ihr schimmernder Blick sah teilnahmslos und traumverloren aus.

Abends auf dem Heimritt wiederholte sich Karl alles, was sie geredet hatte, bis ins einzelne, und versuchte den vollen Sinn ihrer Worte zu erfassen. Er wollte sich damit eine Vorstellung von der Existenz schaffen, die Emma geführt, ehe er sie kennen gelernt hatte. Aber es gelang ihm nicht, sie in seinen Gedanken anders zu erschauen als so, wie sie ausgesehen hatte, als er sie zum ersten Male erblickt, oder so, wie er sie eben vor sich gehabt hatte. Dann fragte er sich, wie es wohl würde, wenn sie sich verheiratete, aber mit wem? Ja, ja, mit wem? Ihr Vater war so reich und sie … so schön!

Und immer wieder sah er Emmas Gesicht vor seinen geistigen Augen, und eine Art eintönige Melodie summte ihm durch die Ohren wie das Surren eines Kreisels: »Emma, wenn du dich verheiratetest! Wenn du dich nun verheiratetest!« In der Nacht konnte er keinen Schlaf finden. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Er verspürte Durst, stand auf, trank ein Glas Wasser und machte das Fenster auf. Der Himmel stand voller Sterne. Der laue Nachtwind strich in das Zimmer. Fern bellten Hunde. Er wandte den Blick in die Rötung nach Bertaux.

Endlich kam er auf den Gedanken, daß es den Hals nicht kosten könne, und so nahm er sich vor, bei der ersten besten Gelegenheit um Emmas Hand zu bitten. Aber sooft sich diese Gelegenheit bot, wollten ihm vor lauter Angst die passenden Worte nicht über die Lippen. Vater Rouault hätte längst nichts dagegen gehabt, wenn ihm jemand seine Tochter geholt hätte. Im Grunde nützte sie ihm in Haus und Hof nicht viel. Er machte ihr keinen Vorwurf daraus: sie war eben für die Landwirtschaft zu geweckt. »Ein gottverdammtes Gewerbe!« pflegte er zu schimpfen. »Das hat auch noch keinen zum Millionär gemacht!« Ihm hatte es in der Tat keine Reichtümer gebracht; im Gegenteil, er setzte alle Jahre zu. Denn wenn er auch auf den Märkten zu seinem Stolz als gerissener Kerl bekannt war, so war er eigentlich doch für Ackerbau und Viehzucht durchaus nicht geschaffen. Er verstand nicht zu wirtschaften. Er nahm nicht gern die Hände aus den Hosentaschen, und seinem eigenen Leibe war er kein Stiefvater. Er hielt auf gut Essen und Trinken, einen warmen Ofen und ausgiebigen Schlaf. Ein gutes Glas Landwein, ein halb durchgebratenes Hammelkotelett und ein Täßchen Mokka mit Kognak gehörten zu den Idealen seines Lebens. Er nahm seine Mahlzeiten in der Küche ein und zwar allein für sich, in der Nähe des Herdfeuers an einem kleinen Tische, der ihm – wie auf der Bühne – fix und fertig gedeckt hereingebracht werden mußte.

Als er die Entdeckung machte, daß Karl einen roten Kopf bekam, wenn er Emma sah, war er sich sofort klar, daß früher oder später ein Heiratsantrag zu erwarten war. Alsobald überlegte er sich die Geschichte. Besonders schneidig sah ja Karl Bovary nicht gerade aus, und Rouault hatte sich ehedem seinen künftigen Schwiegersohn ein bißchen anders gedacht, aber er war doch als anständiger Kerl bekannt, sparsam und tüchtig in seinem Berufe. Und zweifellos würde er wegen der Mitgift nicht lange feilschen. Vater Rouault hatte gerade eine Menge großer Ausgaben. Um allerlei Handwerker zu bezahlen, sah er sich gezwungen, zweiundzwanzig Acker von seinem Grund und Boden zu verkaufen. Die Kelter mußte auch erneuert werden. Und so sagte er sich: »Wenn er um Emma anhält, soll er sie kriegen!«

Zur Weinlese war Karl drei Tage lang da. Aber Tag verging auf Tag und Stunde auf Stunde, ohne daß Karls Wille zur Tat ward. Rouault gab ihm ein kleines Stück Wegs das Geleite; am Ende des Hohlwegs vor dem Dorfe pflegte er sich von seinem Gaste zu verabschieden. Das war also der Moment! Karl nahm sich noch Zeit bis zuallerletzt. Erst als die Hecke hinter ihnen lag, stotterte er los:

»Verehrter Herr Rouault, ich möchte Ihnen gern etwas sagen!«

Weiter brachte er nichts heraus. Die beiden Männer blieben stehen.

»Na, raus mit der Sprache! Ich kann mirs schon denken!« Rouault lachte gemütlich.

»Vater Rouault! Vater Rouault!« stammelte Karl.

»Meinen Segen sollen Sie haben!« fuhr der Gutspächter fort. »Meine Kleine denkt gewiß nicht anders als ich, aber gefragt werden muß sie. Reiten Sie getrost nach Hause. Ich werde sie gleich mal ins Gebet nehmen. Wenn sie Ja sagt, – wohlverstanden! – brauchen Sie jedoch nicht umzukehren. Wegen der Leute nicht, und auch weil sie sich erst ein bißchen beruhigen soll. Damit Sie aber nicht zu lange Blut schwitzen, will ich Ihnen ein Zeichen geben: ich werde einen Fensterladen gegen die Mauer klappen lassen. Wenn Sie da oben über die Hecke gucken, können Sie das ungesehen beobachten!«

Damit ging er.

Karl band seinen Schimmel an einen Baum; kletterte die Böschung hinauf und stellt sich auf die Lauer, die Taschenuhr in der Hand. Eine halbe Stunde verstrich – und dann noch neunzehn Minuten … Da gab es mit einem Male einen Schlag gegen die Mauer. Der Laden blieb sperrangelweit offen und wackelte noch eine Weile.

Am andern Morgen war Karl vor neun Uhr in Bertaux. Emma wurde über und über rot, als sie ihn sah. Sie lächelte gezwungen ein wenig, um ihre Fassung zu bewahren. Rouault umarmte seinen künftigen Schwiegersohn. Die Besprechung der geschäftlichen Punkte wurde verschoben. Übrigens war noch viel Zeit dazu, da die Hochzeit anstandshalber vor Ablauf von Karls Trauerjahr nicht stattfinden konnte, das hieß, nicht vor dem nächsten Frühjahr.

In dieser Erwartung verging der Winter. Fräulein Rouault beschäftigte sich mit ihrer Aussteuer. Ein Teil davon wurde in Rouen bestellt. Die Hemden und Hauben stellte sie nach Schnitten, die sie sich lieh, selbst her. Wenn Karl zu Besuch kam, plauderte das Brautpaar von den Vorbereitungen zur Hochzeitsfeier. Es wurde überlegt, in welchem Raume das Festmahl stattfinden, wieviel Platten und Schüsseln auf die Tafel kommen und was für Vorspeisen es geben solle.

Am liebsten hätte es Emma gehabt, wenn die Trauung auf nachts zwölf Uhr bei Fackelschein festgesetzt worden wäre; aber für solche Romantik hatte Vater Rouault kein Verständnis. Man einigte sich also auf eine Hochzeitsfeier, zu der dreiundvierzig Gäste Einladungen bekamen. Sechzehn Stunden wollte man bei Tisch sitzen bleiben. Am nächsten Tage und an den folgenden sollte es so weitergehen.

Sechstes Kapitel

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Emma hatte »Paul und Virginia« gelesen und in ihren Träumereien alles vor sich gesehen: die Bambushütte, den Neger Domingo, den Hund Fidelis. Insbesondre hatte sie sich in die zärtliche Freundschaft irgendeines guten Kameraden hineingelebt, der für sie rote Früchte auf überturmhohen Bäumen pflückte und barfuß durch den Sand gelaufen kam, ihr ein Vogelnest zu bringen.

Als sie dreizehn Jahre alt war, brachte ihr Vater sie zur Stadt, um sie in das Kloster zu geben. Sie stiegen in einem Gasthofe im Viertel Saint-Gervais ab, wo sie beim Abendessen Teller vorgesetzt bekamen, auf denen Szenen aus dem Leben des Fräuleins von Lavallière gemalt waren. Alle diese legendenhaften Bilder, hier und da von Messerkritzeln beschädigt, verherrlichten Frömmigkeit, Gefühlsüberschwang und höfischen Prunk.

In der ersten Zeit ihres Klosteraufenthalts langweilte sie sich nicht im geringsten. Sie fühlte sich vielmehr in der Gesellschaft der gütigen Schwestern ganz behaglich, und es war ihr ein Vergnügen, wenn man sie mit in die Kapelle nahm, wohin man vom Refektorium durch einen langen Kreuzgang gelangte. In den Freistunden spielte sie nur höchst selten, im Katechismus war sie alsbald sehr bewandert, und auf schwierige Fragen war sie es, die dem Herrn Pfarrer immer zu antworten wußte. So lebte sie, ohne in die Welt hinauszukommen, in der lauen Atmosphäre der Schulstuben und unter den blassen Frauen mit ihren Rosenkränzen und Messingkreuzchen, und langsam versank sie in den mystischen Traumzustand, der sich um die Weihrauchdüfte, die Kühle der Weihwasserbecken und den Kerzenschimmer webt. Statt der Messe zuzuhören, betrachtete sie die frommen himmelblau umränderten Vignetten ihres Gebetbuches und verliebte sich in das kranke Lamm Gottes, in das von Pfeilen durchbohrte Herz Jesu und in den armen Christus selber, der, sein Kreuz schleppend, zusammenbricht. Um sich zu kasteien, versuchte sie, einen ganzen Tag lang ohne Nahrung auszuhalten. Sie zerbrach sich den Kopf, um irgendein Gelübde zu ersinnen, das sie auf sich nehmen wollte.

Wenn sie zur Beichte ging, erfand sie allerlei kleine Sünden, nur damit sie länger im Halbdunkel knien durfte, die Hände gefaltet, das Gesicht ans Gitter gepreßt, unter dem flüsternden Priester. Die Gleichnisse vom Bräutigam, vom Gemahl, vom himmlischen Geliebten und von der ewigen Hochzeit, die in den Predigten immer wiederkehrten, erweckten im Grunde ihrer Seele geheimnisvolle süße Schauer.

Abends, vor dem Ave-Maria, ward im Arbeitssaal aus einem frommen Buche vorgelesen. An den Wochentagen las man aus der Biblischen Geschichte oder aus den «Stunden der Andacht» des Abbé Frayssmous und Sonntags zur Erbauung aus Chateaubriands «Geist des Christentums». Wie andachtsvoll lauschte sie bei den ersten Malen den klangreichen Klagen romantischer Schwermut, die wie ein Echo aus Welt und Ewigkeit erschallten! Wäre Emmas Kindheit im Hinterstübchen eines Kramladens in einem Geschäftsviertel dahingeflossen, dann wäre das junge Mädchen vermutlich der Naturschwärmerei verfallen, die zumeist in literarischer Anregung ihre Quelle hat. So aber kannte sie das Land zu gut: das Blöken der Herden, die Milch-und Landwirtschaft. An friedsame Vorgänge gewöhnt, gewann sie eine Vorliebe für das dem Entgegengesetzte: das Abenteuerliche. So liebte sie das Meer einzig um der wilden Stürme willen und das Grün, nur wenn es zwischen Ruinen sein Dasein fristete. Es war ihr ein Bedürfnis, aus den Dingen einen egoistischen Genuß zu schöpfen, und sie warf alles als unnütz beiseite, was nicht unmittelbar zum Labsal ihres Herzens diente. Ihre Eigenart war eher sentimental als ästhetisch; sie spürte lieber seelischen Erregungen als Landschaften nach.

Im Kloster gab es nun eine alte Jungfer, die sich aller vier Wochen auf acht Tage einstellte, um die Wäsche auszubessern. Da sie einer alten Adelsfamilie entstammte, die in der Revolution zugrunde gegangen war, wurde sie von der Geistlichkeit begönnert. Sie aß mit im Refektorium, an der Tafel der frommen Schwestern, und pflegte mit ihnen nach Tisch ein Plauderstündchen zu machen, bevor sie wieder an ihre Arbeit ging. Oft geschah es auch, daß sich die Pensionärinnen aus der Arbeitsstube stahlen und die Alte aufsuchten. Sie wußte galante Chansons aus dem ancien régime auswendig und sang ihnen welche halbleise vor, ohne dabei ihre Flickarbeit zu vernachlässigen. Sie erzählte Geschichten, wußte stets Neuigkeiten, übernahm allerhand Besorgungen in der Stadt und lieh den größeren Mädchen Romane, von denen sie immer ein paar in den Taschen ihrer Schürze bei sich hatte. In den Ruhepausen ihrer Tätigkeit verschlang das gute Fräulein selber schnell ein paar Kapitel. Darin wimmelte es von Liebschaften, Liebhabern, Liebhaberinnen, von verfolgten Damen, die in einsamen Pavillonen ohnmächtig; und von Postillionen, die an allen Ecken und Enden gemordet wurden, von edlen Rossen, die man auf Seite für Seite zuschanden ritt, von düsteren Wäldern, Herzenskämpfen, Schwüren, Schluchzen, Tränen und Küssen, von Gondelfahrten im Mondenschein, Nachtigallen in den Büschen, von hohen Herren, die wie Löwen tapfer und sanft wie Bergschafe waren, dabei tugendsam bis ins Wunderbare, immer köstlich gekleidet und ganz unbeschreiblich tränenselig. Ein halbes Jahr lang beschmutzte sich die fünfzehnjährige Emma ihre Finger mit dem Staube dieser alten Scharteken. Dann geriet ihr Walter Seott in die Hände, und nun berauschte sie sich an geschichtlichen Begebenheiten im Banne von Burgzinnen, Rittersälen und Minnesängern. Am liebsten hätte sie in einem alten Herrensitze gelebt, gehüllt in schlanke Gewänder wie jene Edeldamen, die, den Ellenbogen auf den Fensterstein gestützt und das Kinn in der Hand, unter Kleeblattbogen ihre Tage verträumten und in die Fernen der Landschaft hinausschauten, ob nicht ein Rittersmann mit weißer Helmzier dahergestürmt käme auf einem schwarzen Roß. Damals trieb sie einen wahren Kult mit Maria Stuart; ihre Verehrung von berühmten oder unglücklichen Frauen ging bis zur Schwärmerei. Die Jungfrau von Orleans, Heloise, Agnes Sorel, die schöne Ferronnière und Clemence Isaure leuchteten wie strahlende Meteore in dem grenzenlosen Dunkel ihrer Geschichtsunkenntnisse. Fast ganz im Lichtlosen und ohne Beziehungen zueinander schwebten ferner in ihrer Vorstellung: der heilige Ludwig mit seiner Eiche, der sterbende Ritter Bayard, ein paar grausame Taten Ludwigs des Elften, irgendeine Szene aus der Bartholomäusnacht, der Helmbusch Heinrichs des Vierten, dazu unauslöschlich die Erinnerung an die gemalten Teller mit den Verherrlichungen Ludwigs des Vierzehnten.

In den Romanzen, die Emma in den Musikstunden sang, war immer die Rede von Englein mit goldenen Flügeln, von Madonnen, Lagunen und Gondolieren. Sie waren musikalisch nichts wert, aber so banal ihr Text und so reizlos ihre Melodien auch sein mochten: die Realitäten des Lebens hatten in ihnen den phantastischen Zauber der Sentimentalität. Etliche ihrer Kameradinnen schmuggelten lyrische Almanache in das Kloster ein, die sie als Neujahrsgeschenke bekommen hatten. Daß man sie heimlich halten mußte, war die Hauptsache dabei. Sie wurden im Schlafsaal gelesen. Emma nahm die schönen Atlaseinbände nur behutsam in die Hand und ließ sich von den Namen der unbekannten Autoren faszinieren, die ihre Beiträge zumeist als Grafen und Barone signiert hatten. Das Herz klopfte ihr, wenn sie das Seidenpapier von den Kupfern darin leise aufblies, bis es sich bauschte und langsam auf die andre Seite sank. Auf einem der Stiche sah man einen jungen Mann in einem Mäntelchen, wie er hinter der Brüstung eines Altans ein weiß gekleidetes junges Mädchen mit einer Tasche am Gürtel an sich drückte; auf anderen waren Bildnisse von ungenannten blondlockigen englischen Ladys, die unter runden Strohhüten mit großen hellen Augen hervorschauten. Andre sah man in flotten Wagen durch den Park fahren, wobei ein Windspiel vor den Pferden hersprang, die von zwei kleinen Grooms in weißen Hosen kutschiert wurden. Andre träumten auf dem Sofa, ein offenes Briefchen neben sich, und himmelten durch das halb offene, schwarz umhängte Fenster den Mond an. Wieder andre, Unschuldskinder, krauten kraulten, eine Träne auf der Wange, durch das Gitter eines gotischen Käfigs ein Turteltäubchen oder zerzupften, den Kopf verschämt geneigt, mit koketten Fingern, die wie Schnabelschuhspitzen nach oben gebogen waren, eine Marguerite. Alles mögliche andre zeigten die übrigen Stiche: Sultane mit langen Pfeifen, unter Lauben gelagert, Bajaderen in den Armen; Giaurs, Türkensäbel, phrygische Mützen, nicht zu vergessen die faden heroischen Landschaften, auf denen Palmen und Fichten, Tiger und Löwen friedlich beieinanderstehen, und Minaretts am Horizonte und römische Ruinen im Vordergrunde eine Gruppe lagernder Kamele überragen, während auf der einen Seite ein wohlgepflegtes Stück Urwald steht, auf der andern ein See, eine Riesensonne mit stechenden Strahlen darüber und auf seiner stahlblauen, hie und da weiß aufschäumenden Flut, in die Ferne verstreut, gleitende Schwäne….

Das matte Licht der Lampe, die zu Emmas Häupten an der Wand hing, blinzelte auf alle diese weltlichen Bilder, die eins nach dem andern an ihr vorüberzogen, in des Schlafsaales Stille, in die kein Geräusch drang, höchstens das ferne Rollen eines späten Fuhrwerks.

Als ihr die Mutter starb, weinte Emma die ersten Tage viel. Sie ließ sich eine Locke der Verstorbenen in einen Glasrahmen fassen, schrieb ihrem Vater einen Brief ganz voller wehmütiger Betrachtungen über das Leben und bat ihn, man möge sie dereinst in demselben Grabe bestatten. Der gute Mann dachte, sie sei krank, und besuchte sie. Emma empfand eine innere Befriedigung darin, daß sie mit einem Male emporgehoben worden war in die hohen Regionen einer seltenen Gefühlswelt, in die Alltagsherzen niemals gelangen. Sie verlor sich in Lamartinischen Rührseligkeiten, hörte Harfenklänge über den Weihern und Schwanengesänge, die Klagen des fallenden Laubes, die Himmelfahrten jungfräulicher Seelen und die Stimme des Ewigen, die in den Tiefen flüstert.

Eines Tages jedoch ward ihr alles das langweilig, aber ohne sichs einzugestehen, und so blieb sie dabei zunächst aus Gewohnheit, dann aus Eitelkeit, und schließlich war sie überrascht, daß sie den inneren Frieden wiedergefunden hatte und daß ihr Herz ebensowenig schwermütig war wie ihre jugendliche Stirne runzelig.

Die frommen Schwestern, die stark auf Emmas heilige Mission gehofft hatten, bemerkten zu ihrem höchsten Befremden, daß Fräulein Rouault ihrem Einfluß zu entschlüpfen drohte. Man hatte ihr allzu reichliche Gebete, Andachtslieder, Predigten und Fasten angedeihen lassen, ihr zu trefflich vorgeredet, welch große Verehrung die Heiligen und Märtyrer genössen, und ihr zu vorzügliche Ratschläge gegeben, wie man den Leib kasteie und die Seele der ewigen Seligkeit zuführe; und so ging es mit ihr wie mit einem Pferd, das man zu straff an die Kandare genommen hat: sie blieb plötzlich stehen und machte nicht mehr mit.

Bei aller Schwärmerei war sie doch eine Verstandesnatur; sie hatte die Kirche wegen ihrer Blumen, die Musik wegen der Liedertexte und die Dichterwerke wegen ihrer sinnlichen Wirkung geliebt. Ihr Geist empörte sich gegen die Mysterien des Glaubens, und noch mehr lehnte sie sich nunmehr gegen die Klosterzucht auf, die ihrem tiefsten Wesen völlig zuwider war. Als ihr Vater sie aus dem Kloster nahm, hatte man durchaus nichts dagegen; die Oberin fand sogar, Emma habe es in der letzten Zeit an Ehrfurcht vor der Schwesternschaft recht fehlen lassen.

Wieder zu Hause, gefiel sich das junge Mädchen zunächst darin, das Gesinde zu kommandieren, bald jedoch ward sie des Landlebens überdrüssig, und nun sehnte sie sich nach dem Kloster zurück. Als Karl zum ersten Male das Gut betrat, war sie just überzeugt, daß sie alle Illusionen verloren habe, daß es nichts mehr auf der Welt gäbe, was ihr Hirn oder Herz rühren könne. Dann aber waren das mit jedem neuen Zustande verbundene wirre Gefühl und die Unruhe, die sich ihrer diesem Manne gegenüber bemächtigte, stark genug, um in ihr den Glauben zu erwecken: endlich sei jene wunderbare Leidenschaft in ihr erstanden, die bisher nicht anders als wie ein Riesenvogel mit rosigem Gefieder hoch in der Herrlichkeit himmlischer Traumfernen geschwebt hatte. Doch jetzt, in ihrer Ehe, hatte sie keine Kraft zu glauben, daß die Friedsamkeit, in der sie hinlebte, das erträumte Glück sei.

Neuntes Kapitel

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Oft, wenn Karl unterwegs war, holte Emma die grünseidene Zigarrentasche aus dem Schrank, wo sie unter gefalteter Wäsche verborgen lag. Sie betrachtete sie, öffnete sie und sog sogar den Duft ihres Futters ein, das nach Lavendel und Tabak roch. Wem mochte sie gehört haben? Dem Vicomte? Vielleicht war es ein Geschenk seiner Geliebten. Gewiß hatte sie die Stickerei auf einem kleinen Rahmen von Polisanderholz angefertigt, ganz heimlich, in vielen, vielen Stunden, und die weichen Locken der träumerischen Arbeiterin hatten die Seide gestreift. Ein Hauch von Liebe wehte aus den Stichen hervor. Mir jedem Faden war eine Hoffnung oder eine Erinnerung eingestickt worden, und alle diese kleinen Seidenkreuzchen waren das Denkmal einer langen stummen Leidenschaft. Und dann, eines Morgens, hatte der Vicomte die Tasche mitgenommen. Wovon hatten die beiden wohl geplaudert, als sie noch auf dem breiten Simse des Kamines zwischen Blumenvasen und Stutzuhren aus den Zeiten der Pompadour lag?

Jetzt war der Vicomte wohl in Paris. Weit weg von ihr und von Tostes! Wie mochte dieses Paris sein? Welch geheimnisvoller Name! Paris! Sie flüsterte das Wort immer wieder vor sich hin. Es machte ihr Vergnügen. Es raunte ihr durch die Ohren wie der Klang einer großen Kirchenglocke. Es flammte ihr in die Augen, wo es auch stand, selbst von den Etiketten ihrer Pomadenbüchsen.

Nachts, wenn die Seefischhändler unten auf der Straße vorbeifuhren mit ihren Karren und die »Majorlaine« sangen, ward sie wach. Sie lauschte dem Rasseln der Räder, bis die Wagen aus dem Dorfe hinaus waren und es wieder still wurde.

»Morgen sind sie in Paris!« seufzte die Einsame. Und in ihren Gedanken folgte sie den Fahrzeugen über Berg und Tal, durch Dörfer und Städte, immer die große Straße hin in der lichten Sternennacht. Aber weiter weg gab es ein verschwommenes Ziel, wo ihre Träume versagten. Sie kaufte sich einen Plan von Paris und machte mit dem Fingernagel lange Wanderungen durch die Weltstadt. Sie lief auf den Boulevards hin, blieb an jeder Straßenecke stehen, an jedem Hause, das im Stadtplan eingezeichnet war. Wenn ihr die Augen schließlich müde wurden, schloß sie die Lider, und dann sah sie im Dunkeln, wie die Flammen der Laternen im Winde flackerten und wie die Kutschen vor dem Portal der Großen Oper donnernd vorfuhren.