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Zum Buch:

„Bevor und auch nachdem sie mich damit geschlagen
hat, musste ich die Rute küssen.“

Die heute 80-jährige Rosa S. schildert in ihren Lebenserinnerungen, wie ihre Mutter sie als Kind misshandelte.

Rosa war ein ungeliebtes, weil uneheliches Kind. Am Bauernhof ihrer Familie in Südtirol gab es dafür kein Verständnis – zu spüren bekam dies immer das Kind. Mit zehn vom Knecht vergewaltigt, lernte Rosa bald, sich zu fügen, und konnte erst über eine Lehrstelle in der Stadt der Gewalt entfliehen.

Auch der Rest des Lebens verlief nicht ohne Schicksalsschläge, doch Rosa blickt ohne Verbitterung auf ihr Leben zurück. Am Ende überwiegt die Freude über die eigenen Kinder und Enkelkinder.

Mit einem Nachwort der Psychologin und Sexualtherapeutin Miriam Pobitzer

Zur Autorin:

Rosa S. ist ein Pseudonym. Die Verfasserin dieser Lebenserinnerungen sprach in der Sendung „Radiowohnzimmer“ der RAI Südtirol offen über ihr Schicksal. Nach der Sendung riefen viele Zuhörer an, die sich erkundigten, ob es auch ein Buch zum Nachlesen gäbe. Nach Einwilligung der Kinder liegt dieses nun vor, Namen, Ortsbezeichnungen und Daten wurden vom Verlag jedoch geändert, um die Privatsphäre der Betroffenen zu schützen.

Rosa S.

Ich musste die Rute küssen

Als uneheliches Kind misshandelt Mein Blick zurück ohne Verbitterung

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Die Drucklegung erfolgte mit freundlicher Unterstützung durch die Abteilung deutsche Kultur der Südtiroler Landesregierung

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© Edition Raetia, Bozen 2017

Umschlag und Druckvorstufe: Typoplus, Frangart

ISBN 978-88-7283-610-1

Unser Gesamtprogramm finden Sie unter www.raetia.com.

Inhaltsverzeichnis

Zum Buch

Zur Autorin

Vorausgeschickt

Mein Leben

Glossar

Jeder Täter war ein Opfer: Nachwort von Miriam Pobitzer

Vorausgeschickt

Über Gewalt zu sprechen, die einem in Kindesjahren angetan wurde, fällt nicht leicht. Umso erstaunlicher ist es, dass sich die Verfasserin dieser Lebenserinnerungen bereit erklärt hat, in der Sendung „Radio-wohnzimmer“ offen über ihr Schicksal zu sprechen. Bereits für die Sendung wählte sie den Namen Rosa als Pseudonym, um ihre Identität und jene ihrer Kinder zu schützen.

Zahlreiche Anrufe gingen nach der Sendung bei der Redaktion von Rai Südtirol ein. Viele erkundigten sich, ob denn die Lebenserinnerungen, die Rosa im Interview angesprochen hatte, erhältlich wären. Doch die Aufzeichnungen waren eigentlich nicht für eine Veröffentlichung bestimmt. Rosa hat sie für ihre Kinder und Enkel angefertigt, auf dass ihr Schicksal nicht vergessen werde und um bisher Verschwiegenes in dieser Form mitzuteilen. Es ist wohl leichter, über Gewalterfahrungen und Schicksalsschläge zu schreiben, als am Küchentisch darüber zu reden. Wann wäre der richtige Zeitpunkt? Wie soll man anfangen?

Aufgrund der großen Nachfrage entschieden sich die Kinder, uns als Verlag den Text zur Veröffentlichung anzubieten. Aus der Überzeugung heraus, dass diese Aufzeichnungen für viele andere Betroffene, die immer noch schweigen, hilfreich sein können, haben wir zugesagt. Überzeugt hat uns auch die Grundhaltung der Autorin: ihre Demut dem eigenen Schicksal gegenüber und ihre positive Einstellung zum Leben – trotz allem.

Die Aufzeichnungen wurden vom Verlag behutsam korrigiert, um möglichst nahe am Original zu bleiben. Die direkte Ansprache der Kinder und Enkel wurde beibehalten. Zum Schutz ihrer Anonymität wurden alle Namen und alle Ortsbezeichnungen – außer Bozen – geändert.

Miriam Pobitzer, Psychologin und Sexualtherapeutin, hat ein Nachwort verfasst – mit dem Ziel, das Tabu der Gewalt zu durchbrechen.

Der Verlag

Ja, ich bin zufrieden,

Geht es wie es will!

Unter meinem Dache

Leb ich froh und still.

Mancher Tor hat alles,

Was sein Herz begehrt;

Doch ich bin zufrieden,

Das ist Goldes wert.

(Heinrich Wilhelm Witschel)

An meine Kinder, Enkel und Urenkel

Mein Leben

Ich brauche keinen Luxus, um zufrieden zu sein. Musik, Bücher und Gedichte, all das hat mich schon immer fasziniert, schon als ich noch ein Kind war.

Trotz meiner manchmal auch schauderhaften Kindheit und aller Tiefen, die ich durchleben musste, habe ich das Lachen nie verlernt. Ein Sinnspruch aus Russland, der mir sehr gefällt, lautet:

Das Lächeln ist das Fenster,
durch das man sieht,
ob das Herz zu Hause ist.

Ich habe mir schon als Kind und auch in meiner Jugendzeit immer gedacht, dass ich – wenn ich älter bin – meine Erlebnisse niederschreiben werde. Leider habe ich damit ein bisschen lange gewartet. Und so ist jetzt ein langes Leben daraus geworden.

Ich bin keine studierte Frau, sondern eine einfache Hausfrau. In den Vierzigerjahren habe ich nur die Volksschule in unserem Tal besucht, aber ich werde mich bemühen, dies hier auf meine Weise gut hinzukriegen.

Ich wurde im August 1936 als uneheliches Kind geboren. Das Schlimme an der Sache war, dass mein Vater ein verheirateter Mann war und schon ein paar Kinder hatte. So kann sich wohl jeder denken, dass ich alles andere als erwünscht war. Unser damaliger Pfarrer hat Mama gleich zu verstehen gegeben, dass er keine Kinder der Sünde tauft. Deshalb war sie gezwungen, in die Wohnung der Hebamme in die Stadt zu gehen, wo sie mich dann auf die Welt gebracht hat. Dort wurde ich auch getauft.

Meine Mama Maria Schneider, geboren 1912, war zu diesem Zeitpunkt 24 Jahre alt und hat wirklich nicht gewusst, dass sie, wenn sie mit einem Mann Sex hat, davon auch ein Kind kriegen könnte.

Erst als ich anfing, mich zu bewegen, wurde es ihr unheimlich und so ging sie zur Huber-Mutter, einer Nachbarin und herzensguten Frau, und hat sie gefragt, was das wohl sein könnte. „Ja“, meinte diese, „du wirst wohl ein Kind bekommen. Wer ist denn der Vater?“

„Ja“, sagte Mama, „das kann nur der Steiner Michl sein.“

Da antwortete die Nachbarin: „Ein Kind von einem Mann, der schon verheiratet ist, das kann nicht gut gehen.“

Sie gab meiner Mama den Rat: „Tu beten, Marie, dass dieses Kind bei der Geburt stirbt, es ist besser für dich und auch für das Kind.“

Und Mama hat gebetet, dass ich sterbe. Das hat sie mir später selber so gesagt.

Gestorben bin ich nicht. Trotzdem durfte Mama mit diesem „Kind der Sünde“ auf den elterlichen Hof zurückkehren. Großvater hat sie damals als Arbeitskraft dringend gebraucht. Er hatte unter anderem ungefähr 20 Stück Rindvieh im Stall, dazu noch Schafe, Ziegen und Schweine.

Sicher hat es meine Mama auch nicht leicht gehabt. Bei jeder Gelegenheit hat ihr ihre Mutter dieses „Kind der Sünde“ vorgeworfen: Sie solle sich schämen deswegen und sie werde schon sehen, was sie davon habe. Der Ausdruck „Kind der Sünde“ verfolgt mich bis heute.

Mama hat mir später einmal erzählt, dass ich als Kind viel in der Kammer oben alleine gewesen bin. Oft hat sie mich nur beim Essen gesehen. Sie musste ja den ganzen Tag arbeiten, wie es halt so bei den Bauern ist. Und außerdem hätte niemand Verständnis dafür gehabt, wenn sie sich allzu viel um mich gekümmert hätte.

Meine erste Erinnerung ist eine Ohrfeige. Ich war ungefähr dreieinhalb Jahre alt. Es muss im Winter 1940 gewesen sein. Die drei Brüder von Mama waren schon im Krieg. Aber immer, wenn es im Winter oder im Sommer viel Arbeit auf dem Hof gab, durften sie für einen kurzen Arbeitsurlaub nach Hause fahren. So war es auch diesmal.

Mit großen Schlitten mussten vom Berg Holz und Heu heruntergebracht werden. Es war eine ziemlich schwere Arbeit. Die Männer mussten zweimal los: einmal am Vormittag, einmal am Nachmittag.

Um halb zwölf wurde bei uns immer Mittag gegessen. Ich sehe sie alle heute noch in der Stube sitzen. Ihre Schuhe waren nass und auf dem Boden hatten sich deshalb kleine Pfützen gebildet.

Ich stand vor ihnen und sie lachten und scherzten mit mir: „Schau, was du da gemacht hast, Rosa, du hast in die Hose gemacht!“ Dabei zeigten sie auf die Pfützen am Boden. „Nein, hab ich nicht!“, rief ich. Da ging die Tür auf und meine Mama kam herein. Ohne näher nachzufragen oder sich zu vergewissern, ob denn stimmte, was sie hörte, kam sie auf mich zu und gab mir eine Ohrfeige, sodass ich auf dem Boden landete.

Die Brüder schimpften mit ihr und nannten sie einen „alten Påtsch“. „Siehst du denn nicht, dass es unsere Schuhe sind, die den Boden nass gemacht haben?“

Bei uns daheim waren Arbeiten und Beten das Wichtigste. Wir haben fünfmal gegessen und dabei zehnmal gebetet. Vor und nach jedem Essen. Abends wurde dann noch immer der Rosenkranz gebetet, mit den Litaneien „Der Engel des Herrn“ oder „Unter deinem Schutz und Schirm“. Da durfte niemand fehlen. Ich musste dabei meistens auf dem Boden knien, und wehe, ich war nicht brav.

Sobald ich ein bisschen älter war, so fünf oder sechs Jahre alt, musste ich manchmal stundenlang neben meiner Großmutter sitzen und Rosenkranz beten. Wie habe ich dieses Beten manchmal gehasst!

Mama hat oft erzählt, dass ich mit zwei Jahren schon außergewöhnlich gut sprechen und mit drei Jahren fast alle unsere Gebete auswendig konnte. Ich glaube nicht, dass sie dabei übertrieben hat, weil Stolz hat sie auf mich bestimmt keinen gehabt. Aber wie blöd hätte ich denn wohl sein müssen, um mir in der vielen Zeit, die ich mit Beten verbringen musste, all jene Gebetsverse nicht zu merken?

Der Pfarrer, der mich als „Kind der Sünde“ nach meiner Geburt nicht taufen wollte, war bis zum Jahr 1939 im Tal. Dann kam ein anderer Priester in unseren Ort, Pfarrer Jakob Panzl. Dem war es egal, dass ich ein „Kind der Sünde“ war. Der hat mich gerngehabt. Und auch ich erinnere mich sehr gern an ihn.

Es muss im Winter 1941/42 gewesen sein, denn im Herbst 1942 wurde ich eingeschult. Damals musste der Pfarrer regelmäßig an unserem Hof vorbei und immer, wenn er zum Religionsunterricht unterwegs war, hat er mich dorthin mitgenommen. Ich erwähne das deshalb, weil ich 1942 im Mai schon zur Erstkommunion gegangen bin, obwohl ich im darauffolgenden August erst sechs Jahre alt wurde und erst im Oktober dann in die Schule kam.

Bei meiner Erstkommunion – wie gesagt, ich war ja erst fünf Jahre alt – habe ich mich in der Kirche nicht so verhalten, wie es sich Mama gewünscht hat. Ich hatte mich ein paar Mal umgedreht und nach hinten geschaut – das war schon zu viel für sie. Nie vergesse ich ihren Gesichtsausdruck, als sie mich vor der Kirchentür erwartete. Sie riss mich am Arm mit sich fort und sagte: „Sei nur froh, dass heute dein Erstkommunionstag ist, sonst würdest du was erleben. Aber mach dich nur für den nächsten Sonntag bereit.“ Ja, so kam es dann auch. Da habe ich ihren Zorn doppelt zu spüren bekommen.