Kurfürstenklinik – 71 – Ein Freudentag für Schwester Claire

Kurfürstenklinik
– 71–

Ein Freudentag für Schwester Claire

Der kleine Sebastian darf leben!

Nina Kayser-Darius

Impressum:

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-587-1

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In der Kurfürsten-Klinik hatte an diesem Abend Dr. Adrian Winter Bereitschaftsdienst. Es war ein regnerischer Tag gewesen, viel zu kühl für den beginnenden Frühling. Die ersten Blüten waren gleich wieder verregnet, die Menschen wirkten deprimiert und lustlos.

Auf dem Autobahn-Zubringer hatte es am frühen Mittag einen schweren Unfall gegeben, drei der Schwerverletzten waren in die Kurfürsten-Klinik eingeliefert worden. Eine Frau hatte einen Beckenbruch, ein älterer Mann eine schwere Gehirnerschütterung und einen Oberschenkelhalsbruch. Es waren gravierende Verletzungen, doch sie waren nicht lebensbedrohlich.

Anders sah es da schon bei dem zwanzigjährigen Mann aus, der beide Beine stark gequetscht hatte. Ob es gelingen würde, sie zu erhalten, stand zur Stunde immer noch nicht fest. Außerdem hatte er einen Lungenriß davongetragen.

Sein Leben hing an dem berühmten seidenen Faden, und Adrian wollte gerade noch einmal auf der Intensivstation anrufen und sich nach diesem Sorgenpatienten erkundigen, als ein Notfall gemeldet wurde.

Gleich vom Notarzt-Wagen aus rief ein Kollege an und kündigte eine junge Frau an. »Ich bringe Ihnen ein Unfallopfer. Junge Frau, circa 25 Jahre alt. Autounfall. Sie ist hochschwanger, ich glaube sogar, daß sie Zwillinge erwartet. Bitte halten Sie alles bereit.«

»Ich werde einen Gynäkologen in die Unfallstation rufen«, erklärte Adrian und legte rasch wieder auf. Dann erkundigte er sich, ob Dr. Halberstett noch im Haus war.

Der erfahrene Gynäkologe war gerade mit der letzten Visite dieses Tages fertig geworden und schickte sich an, die Klinik zu verlassen. Als er jedoch hörte, um was es ging, wandte er sich seufzend wieder um.

»Meine Frau wird alles andere als begeistert sein«, meinte er, als er zu Adrian kam. »Wir haben Premierenkarten für die Oper. Es gibt Rigoletto, eine von Carmens Lieblingsopern.«

»Vielleicht ist alles gar nicht so schlimm und du schaffst es noch rechtzeitig«, meinte Dr. Winter.

»Das glaub ich nicht.« Dr. Halberstett hängte sein Jackett im Dienstzimmer über einen Stuhl und griff nach einem neuen Visitenmantel. »Ich rufe rasch noch zu Hause an, bevor die Patientin eintrifft.«

Adrian nickte, er hielt sich, zusammen mit Lernschwester Bea und der erfahrenen Oberschwester Walli, bereit.

Und da fuhr auch schon der Notarztwagen vor! Adrians Blick ging kontrollierend über die Rollbahre, er nickte dem Kollegen zu, der die Erstversorgung vorbildlich vorgenommen hatte.

»Sie ist eben mal ganz kurz zu sich gekommen«, berichtete der Notarzt. »Sie erwartet zwei Mädchen und ist im achten Monat. Mehr konnte sie mir nicht sagen.«

Er sah zu, wie die Patientin fachmännisch umgebettet wurde, doch dann war nicht mal mehr Zeit für ein freundliches Wort unter Kollegen, denn der Notruf ertönte erneut, der Notarzt mußte zum nächsten Einsatz.

Adrian Winter wandte sich der Frau zu, die sehr blaß war und die unterdrückt stöhnte. Er überflog die knappen Aufzeichnungen, die ihm der Notarzt gegeben hatte, dann befahl er:

»Wir machen ein EKG, messen Sie noch mal den Blutdruck, Schwester Bea. Und, Walli, ruf noch eine Hebamme dazu, ja? Wir werden die Kinder bestimmt holen müssen. Alles soll sich im kleinen OP und im Kreißsaal bereithalten.«

Oberschwester Walli nickte. Sie hatte sich schon etwas Ähnliches gedacht. Behutsam strich sie der Patientin eine feuchte Haarlocke aus der Stirn. »Alles wird gut«, sagte sie dabei – und es klang wie eine Beschwörungsformel.

Wenig später stand fest, daß die Herz- und Kreislaufwerte der jungen Frau alles andere als stabil waren. Zudem hatte sie einen offenen Bruch am linken Unterarm, eine Wunde am Hinterkopf und mit Sicherheit eine leichte Gehirnerschütterung. Das allerdings konnte erst definitiv geklärt werden, wenn sie ansprechbar war.

Dr. Halberstett kam zurück, und nach wenigen Worten waren sich er und Adrian Winter einig: »Sie muß sofort in den OP. Wir müssen die Kinder holen, die Belastung ist zu groß – und vielleicht sind die Babys auch gefährdet«, sagte Dr. Winter. »Ich versorge jetzt nur schnell den Arm, stelle ihn ruhig und verbinde notdürftig. Die richtige Versorgung nehme ich später vor, jetzt haben die Zwillinge Vorrang.«

Dr. Halberstett nahm eine erste kurze Untersuchung der Ungeborenen vor. »Noch ist alles im grünen Bereich«, meinte er und nickte Adrian zu, »aber wir sollten nicht zu lange warten, die Herztöne sind nicht allzu stark.«

Es war, als hätte die junge Frau gespürt, daß es um ihre Kinder ging, denn plötzlich öffnete sie die Augen und sah von einem zum anderen. Ihr Blick blieb an Dr. Halberstett, dem ältesten der Mediziner, hängen.

»Bitte, retten Sie meine Kinder«, flüsterte sie. »Nehmen Sie keine Rücksicht auf mich – nur die Zwillinge sind wichtig.«

Dr. Winter trat zu ihr. »Sie können sich erinnern, was passiert ist?« fragte er, um ihre Reaktion zu testen.

Die Patientin nickte. »Da war dieser Verrückte auf der Gegenfahrbahn«, flüsterte sie. »Mein Mann wollte noch ausweichen, aber es ging nicht.« Sie versuchte sich noch mehr aufzurichten, sank aber mit einem Schmerzenslaut zurück auf die Untersuchungsliege. »Mein Mann«, flüsterte sie. »Wo ist er? Was ist mit ihm passiert?«

Dr. Winter hatte keine Ahnung, denn bis zu diesem Augenblick hatte er nichts über den Unfallhergang gewußt. Doch er wollte die junge Frau nicht beunruhigen und erklärte: »Es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Viel wichtiger sind jetzt Sie und die Kinder. Sind Sie einverstanden, daß...«

Er brach ab, denn urplötzlich stieß die Frau einen markerschütternden Schrei aus. Sie versuchte, die Hände über den Leib zu schieben, doch das ging nicht, weil sie durch Infusionen fixiert waren.

»Das tut so weh«, flüsterte sie und biß sich auf die Lippen, bis sie bluteten. »O nein, das ist...«

»Das sind Wehen«, sagte Dr. Halberstett. »Die Zwillinge wollen nicht mehr warten. Ab in den Kreißsaal.«

»Du willst doch keinen Kaiserschnitt vornehmen?« fragte Adrian leise.

Der Gynäkologe schüttelte den Kopf. »Wenn es so geht, soll es mir noch lieber sein. Die Narkose würde die Patientin sehr belasten.«

Auf der Entbindungsstation hatte Schwester Claire Dienst. Sie war noch neu im Team, hatte sich aber in den vier Wochen, die sie jetzt an der Kurfürsten-Klinik arbeitete, schon sehr gut eingelebt. Dr. Halberstett schätzte ihre Ruhe, ihre Tüchtigkeit, ihr stets freundliches Wesen.

Daß sie an diesem schicksalhaften Abend Dienst hatte, war ihm sehr recht, denn in Schwester Claire, das wußte er, würde er eine kompetente Hilfe haben.

Inzwischen hatte Dr. Winter mit einem Polizeibeamten gesprochen, der am Unfallort ein Protokoll aufgenommen hatte. Jetzt wußte er, daß der Ehemann der Patientin einen schweren Beckenbruch hatte und in die Charité gebracht worden war.

»Die Leute heißen Hallberg«, sagte er zu seinem Freund. »Lisa Hallberg.«

So konnte sie die werdende Mutter endlich richtig ansprechen. Sie krümmte sich gerade unter einer neuen Wehe, und das Gesicht des Gynäkologen war ernst und besorgt.

Als er sich jedoch über seine Patientin beugte, lächelte er und sagte: »Ihre Kinder werden leben, Frau Hallberg. Sie müssen jetzt nur sehr, sehr tapfer sein. Ich kann Ihnen kein stark dosiertes Beruhigungs- und Schmerzmittel geben, das würde die Babys zu sehr belasten.«

Sie nickte nur. »Retten Sie – meine Kinder«, flüsterte sie angestrengt, und dann kam schon die nächste starke Preßwehe.

Schwester Claire bemühte sich, die junge Frau zu stützen, um ihr ein wenig Erleichterung zu verschaffen.

Dr. Halberstett erweiterte den Geburtskanal durch einen Dammschnitt.

Lisa Hallberg bäumte sich unter der nächsten schweren Wehe auf – und das Köpfchen des ersten Kindes war geboren.

»Sie haben es gleich geschafft, Frau Hallberg«, sagte Schwester Claire und tupfte der erschöpften jungen Frau ein paar Schweißperlen von der Stirn. »Das erste Kind ist gleich da. Nur noch ein paar Mal pressen... ja, so ist es gut.«

Dr. Halberstett versuchte das Baby zu fassen, ein wenig zu ziehen, um den Geburtsvorgang zu beschleunigen. Immer wieder sah er kurz zu den Monitoren hin, die die Körperfunktionen aufzeichneten. Der Kreislauf der Gebärenden war labil, doch noch war keine allzu bedrohliche Situation eingetreten.

Unterdessen hatte Dr. Winter einen weiteren Notruf aus der Ambulanz bekommen, er mußte hinunter, konnte für die Zwillingsmutter nichts mehr tun.

Aber sie war bei seinem Kollegen in den besten Händen, und während er sich um einen jungen Motorradfahrer kümmerte, der bei dem schlechten Wetter ins Schleudern geraten war, hatte er keine Zeit mehr, an Lisa Hallberg zu denken.

Lisa spürte, daß ihre Kräfte schwanden. Aber da legte ihr der Arzt für ein paar Augenblicke das erste Baby in den Arm. Es weinte ein wenig, der Schock der Geburt schien ihm nachzuhängen. Doch als seine Mutter es zum ersten Mal zärtlich küßte, war es auf einmal ganz leise.

»Mein Kind«, flüsterte Lisa versonnen, und für Sekunden schienen alle Schmerzen vergessen. »Meine kleine Petra!«

Es fiel Schwester Claire nicht leicht, ihr das Baby wieder abzunehmen, doch es mußte sein, denn schon drängte das zweite Kind auf die Welt.

Es hatte es ein wenig leichter als sein Geschwisterchen, denn der Geburtskanal war schon geweitet. Deshalb brauchte es nicht mehr so zu kämpfen, um auf die Welt zu gelangen.

Nur sechs Minuten nach Petra wurde die kleine Olivia geboren. Doch ihren ersten Schrei hörte ihre Mutter nicht mehr, sie war ohnmächtig geworden...

*

Schwester Claire schob sich mit einer müden Bewegung eine dunkle Haarsträhne hinters Ohr. Sie war nach einem extrem langen Dienst in der Klinik müde und fühlte sich völlig ausgelaugt. Schlafen. Schlafen und für ein paar Stunden alles vergessen, dachte sie und schloß die Tür ihres kleinen Wagens auf, den sie am hinteren Ende des klinikeigenen Parkplatzes abgestellt hatte.

»Hallo, Schönheit!« Die Männerstimme war urplötzlich in ihrem Rücken, und Claire zuckte zusammen.

»Laß mich in Ruhe, Reinhold«, sagte sie und holte schon ihren Autoschlüssel aus der Tasche.

»Wir müssen reden. Jetzt!« Der Mann griff nach ihrem Arm und wollte sie zu sich ziehen, doch mit einem Ruck machte Claire sich frei.

»Faß mich nicht an!« stieß sie hervor. »Nie wieder, verstanden?«

»Hab’ dich doch nicht so!« Reinhold Schäffert grinste schmierig. »Ich kann mich an Zeiten erinnern, da konntest du nicht intensiv genug von mir berührt werden!«

Claire wurde rot, doch dann schüttelte sie den Kopf. Es war müßig, auf seine Worte einzugehen. Sie kannte ihn doch inzwischen ganz genau, wußte, daß er immer wieder versuchen würde, sie einzuschüchtern und auf seine Seite zu ziehen.

Aber die Zeiten, in denen sie ihm förmlich hörig gewesen war, waren vorbei. Sie kannte jetzt das wahre Gesicht von Reinhold Schäffers, wußte, daß er nur einen einzigen Menschen lieben konnte – sich selbst.

»Laß mich endlich in Frieden«, sagte sie und sah ihm ohne Furcht in die Augen. »Es ist vorbei. Endgültig. Akzeptier das endlich, Reinhold!«