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Kurzbeschreibung:

Jetta Reckewisch ist dreizehn Jahre alt, als ihre Eltern nach Ende des Ersten Weltkriegs das Gasthaus "Zum Stern" eröffnen. Anders als ihre drei Geschwister hat sie allerdings Aufregenderes im Sinn, als nach der Schule im "Stern" mitzuhelfen. Mit sechzehn schneidet sie sich zum Entsetzen des Vaters die Haare kurz, schminkt sich und genießt mit engelsgleicher Unschuld die Verehrung vieler junger Männer. Bis sie sich eines Tages unsterblich verliebt und für eine Nacht alle guten Vorsätze über Bord wirft; am nächsten Morgen ist der schöne Unbekannte verschwunden, aber die Liebesnacht bleibt nicht ohne Folgen. Mit Anmut und Rafinesse nimmt Jetta jetzt ihr Leben in die Hand, während in Deutschland und der Welt die Ereignisse sich immer krisenhafter zuspitzen.

Die mit viel Humor erzählte Geschichte einer unerschrockenen jungen Frau, zugleich eine deutsche Familiensaga und ein zauberhafter Hamburg-Roman.



Diana Seidel

Der Stern der Elbe

Roman




Edel Elements

Erster Teil

1919
Die Kaffeestube in Nienstedten

1. Kapitel

Sülze und Revolte

Jetta Reckwisch stand mit den Zehenspitzen genau an der Schwelle vom Mädchen zur Frau. Sie würde in wenigen Monaten fünfzehn werden und schwänzte gerade die Schule.

Erstens aus Prinzip – Schule war grässlich und betrübte nur, gerade jetzt, in der Nachkriegszeit. Zweitens, um eine Kartenlegerin hier in Hamburg nach der Zukunft zu fragen.

Jetta hatte seit Monaten ihr Taschengeld für den Blick in die Zukunft gespart. Die Schrift ihrer Mutter konnte sie wunderbar kopieren und würde sich für diesen Tag eine Entschuldigung schreiben.

Der 23. Juni 1919 war ein kühler Sommertag, ein Montag übrigens.

Zwei junge Männer, die über die Kleine Reichenstraße spazierten, drehten sich gleichzeitig um und folgten mit den Blicken dem jungen Ding im hellgrauen Mäntelchen, das ihnen auf der anderen Straßenseite entgegentrippelte. Jettas lockiges braunes Haar war am Hinterkopf zu einem breiten Zopf aufgesteckt, aus dem es hier und da hervorkringelte, und wurde auf dem Scheitel von einer großen hellgrauen Schleife gekrönt. Die konnte man gerade noch unter dem schwarz lackierten, etwas in die Stirn geschobenen Strohhütchen erkennen.

„Guck, die – die ist mal süß!“, murmelte der eine leise.

Jetta tat, als wüsste sie nicht, dass sie angeschaut wurde. Aber um nicht zu schnell aus dem Blickfeld der beiden zu geraten, blieb sie stehen und suchte ausführlich etwas in ihrem gehäkelten schwarzen Beutel.

Man starrte sie bewundernd an! Das war himmlisch!

Sie zog die Schnur des Beutels wieder zu, streckte ihr gerades Näschen in die Luft, machte die großen Augen noch größer und schaute vor sich hin, als wäre sie in Gedanken. Eine geheimnisvolle schöne Frau, die eben mal etwas nachdenkt.

Ob die beiden die Straßenseite wechseln würden, um sie anzusprechen? Und dann?

Sie musste abweisend tun, natürlich …

Alles hatte sich gelohnt. Die ausgekämmten Hundehaare von Frau Simmers Dackel zu sammeln und in einem Netz unter ihr Haar zu stecken, das gab Fülle über den Ohren.

Ruß vom Streichholz zu kratzen, zu Pulver zu zerdrücken, mit einem Tropfen Öl zu verrühren und mit der Zahnbürste in ihre langen Wimpern einzuarbeiten. Jettas graubraune Augen leuchteten noch mal so hell in diesem dunklen Rahmen.

Und der Mantel! Dieser Mantel!

Ihre Schwester Fiti war so herzensgut gewesen, ihn aus einem alten Hauskleid der Mutter zu nähen. Sie hatte ihn ganz nach der neuesten Mode so gearbeitet, dass der Kragen wie eine kleine Pelerine über die Schultern hing. Da wusste man endlich mal, wieso Fiti seit Jahren in Handarbeit eine Eins bekam.

Man sollte sich schon aufbrüschen, wenn man nach Hamburg ging.

Aber nun musste sie weiterlaufen, sonst fiel es auf …

Außerdem würde sie gleich da sein – die weise Frau wohnte in der Straße Kattrepel, gleich hier um die Ecke.

Jettas Stiefelchen saßen etwas zu eng. Ihre Füße waren im Winter ein bisschen gewachsen. Sie war seit fast zwei Stunden unterwegs und hätte ganz gern gehumpelt, denn tatsächlich taten ihre kleinen Zehen sehr weh – doch sie schwebte im Gegenteil, die Fußspitzen anmutig nach außen gekehrt. Kurz blickte sie über die Schulter, wie in den leicht bewölkten Himmel.

Tatsächlich, die beiden jungen Männer überquerten die Straße, immer noch die Augen auf das Mädchen im grauen Sommermantel gerichtet!

In diesem Augenblick kollerte ein Fass von einem eben anfahrenden Lastwagen, rollte über die Straße, knallte gegen den Kantstein und zerbrach. Eine gelbliche, schleimige Flüssigkeit ergoss sich auf die Pflastersteine, ein entsetzlicher Gestank verpestete die Luft.

Jetta blieb mit einem Ruck stehen und starrte auf die eklige Angelegenheit. Auch die beiden jungen Männer hielten mitten auf der Straße erschrocken an.

Für eine halbe Sekunde schien die Zeit stillzustehen.

Dann kam Bewegung in die Szene.

Der Kutscher hatte die Zügel angezogen und schaute über seine Schulter auf die Bescherung. Plötzlich, sehr schnell, kamen von allen Seiten Menschen angerannt und regten sich über den Inhalt des Fasses auf.

„Dass’ vonne Fleischfabrik – son Swienkrom gem die uns zu essen, ich sach ja!“, regte sich eine Frau auf.

Eine andere pflichtete bei: „Klor, alles mittenmang die Sülze, siessu ja nich!“

Immer mehr Leute umringten den Wagen und das kaputte Fass mit dem stinkenden Inhalt. Der Kutscher begann zu begreifen, dass es ein Fehler gewesen war, das Pferd zu bremsen. Er versuchte, das Tier schnell wieder auf Trab zu bringen – doch dem hingen bereits einige Männer am Zaumzeug und drückten ihm den Kopf nach unten.

„Wechfahrn, hier – das mach’s wohl haben!“, schrie einer von ihnen. „Zuerst gucken wir mol, was du noch so aufm Wogn has!“

Während die Fässer von der Ladefläche gerollt wurden, sah der Kutscher zu, dass er unauffällig verschwand. Einige der wütenden Leute versuchten, ein Fass mit Taschenmessern zu öffnen, aber das klappte nicht.

„Eine Axt – wer hat ’ne Axt!?“ brüllte ein großer Kerl, dem die langen Haare um den Kopf flatterten.

Der war aber nicht beim Militär – mit der Frisur, dachte Jetta unwillkürlich.

Weil so schnell keine Axt zur Stelle war, hob der Mann das Fass über den Kopf und schmetterte es an den Kantstein neben das andere. Es zerbrach, und eine weitere unappetitliche Masse gesellte ihren Gestank zur ersten.

Jetta hielt sich die Nase zu. Schade, vorher war es mit den beiden jungen Männern ja recht romantisch gewesen. Dieser Geruchshintergrund passte leider gar nicht dazu …

Wo waren die beiden überhaupt?

Der eine lief eben, zusammen mit mehreren anderen Leuten, in den Eingang des Fabrikgebäudes, über dessen Tür stand Fleischwarenfabrik Heil & Co.

Jetta las auf einem Schild an der Wand: Sülze von größtem Nährwert und delikatem Geschmack. Na, vielen Dank!

Da stürmten die Menschen schon wieder auf die Straße, einer hielt triumphierend etwas hoch. Was war denn das?

„Hier – stellt euch das mal vor! Ein halb vergammelter Hundekopf!“, grölte der Mann mit sich überschlagender Stimme. „Daraus macht der Jacob Heil seine Sülze! Ist das zu glauben?!“

„Da ist er! Da bringen sie den Heil!“, riefen mehrere. Jetta musste ausweichen, weil Heil sich heftig wehrte. Fünf Männer hielten ihn an Armen und Schultern fest und zerrten ihn auf die Straße. Der Mann war kreidebleich und sein Kinn zitterte.

„Jetzt wird Heil zu Sülze verarbeitet! Von größtem Nährwert und delikatem Geschmack!“, kreischte eine Frau, krallte ihre Hand ins Haar des Fabrikbesitzers und zerrte daran.

Oben wurde ein Fenster aufgerissen und jemand rief nach unten: „Ihr glaubt das nicht, hier sind Kadaver von Hunden und Katzen und sogar Ratten! Jetzt wissen wir, aus was der Kerl seine Sülze macht!“

Ein weiterer Mann, offenbar ein Arbeiter im gestreiften Kittel, wurde von anderen empörten Menschen aus der Fabrik geholt. Er war gefallen und konnte nicht laufen, aber sie warteten nicht, bis er wieder auf die Beine kam, sondern schleiften ihn weiter.

„So was machs du abfülln, damit das an uns verkauft wird? Du has doch Augn in Kopp, Mann! So was tus du inne Sülze?! Komm, denn iss das ma selber!“

Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete Jetta, wie einige Leute versuchten, dem auf den Knien liegenden Arbeiter etwas von dem grausigen Zeug, von der Straße gekratzt, in den Mund zu stopfen. Igitt!

„Gnädiges Fräulein? Bitte, kommen Sie hier weg – das ist nichts für Sie. Wo wollten Sie denn hin? Ich bringe Sie gern …“, sagte eine Stimme neben Jetta.

Sie schaute auf, in ein paar besorgte blaue Augen. Da stand der andere ihrer beiden Bewunderer. Ganz hübsch war der, mit dunkelblondem Schnurrbart. Zu seinem tabakbraunen Anzug trug er einen etwas dunkleren braunen Filzhut.

Jetta holte Luft, um zu antworten, wurde jedoch gerempelt und gestoßen und musste sich, um nicht ihrerseits auch noch hinzufallen, mit dem Strom bewegen. Der junge Mann bemühte sich, ebenfalls weiter geschubst, an ihrer Seite zu bleiben.

Das war gar nicht einfach, bald konnte Jetta ihn nicht mehr entdecken.

Wo kamen nur all die Leute her? Vor kaum zehn Minuten war die Straße so gut wie leer gewesen. Inzwischen wimmelte es hier von Menschen – fünfzig, sechzig, siebzig … Und es wurden immer mehr.

Eigentlich wollte Jetta gar nicht weggebracht werden. Das alles war zwar erschreckend, aber so schnell wurde ihr nicht bange. Sie war neugierig, wie es weiterging.

Fabrikbesitzer Heil bekam Prügel. Er lief weg, so gut es im Gedränge ging, wurde gestoßen, erhielt hier und da einen Hieb, blieb jedoch einstweilen auf den Beinen. So ähnlich, dachte Jetta, muss das in Paris gewesen sein zur Zeit der Revolution. Die empörte Volksseele hatte ihr Geschichtslehrer das immer genannt.

Ob sie Heil totschlagen würden? Das mochte sie vielleicht doch nicht mit ansehen. Davon würde sie später immer träumen …

Die Menge bewegte sich über den Alten Fischmarkt und die Domstraße auf das Rathaus zu. Inzwischen mussten es mehrere Hundert Hamburger sein. Der Zug wälzte sich am Rathaus vorbei, auf die Schleusenbrücke. Hier wurde der Fabrikbesitzer unter Gejohle, schwupp, in die Kleine Alster geworfen.

Er schwamm, recht unbeholfen in seinem Anzug, vorsichtig an das gegenüberliegende Ufer. Dort standen zwei Polizisten und halfen ihm aus dem Wasser. „Der Mann wird in Gewahrsam genommen!“, rief einer von beiden energisch unter seinem Schnauzbart hervor.

War er nun gerettet – oder verhaftet worden?

Teilweise verliefen sich die Menschen, teilweise blieben sie stehen und redeten aufgeregt miteinander.

„Gnädiges Fräulein – bitte!“ Da war der nette junge Mann wieder neben ihr. „Verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit, ich hab eine kleine Schwester in Ihrem Alter, deshalb … mein Name ist übrigens Rudolf Büttner …“

Jetta hätte fast einen Knicks gemacht. „Angenehm. Ich bin Henrietta Reckwisch.“

„Fräulein Reckwisch, darf ich Ihnen vielleicht helfen, nach Hause zu kommen?“

Nach Hause – ja, richtig, natürlich. Der Schulunterricht musste bald aus sein! Und die Wahrsagerin?

„Haben Sie die Uhrzeit, Herr Büttner?“, fragte Jetta erschrocken.

Er warf den Ärmel zurück und schaute auf seine Armbanduhr. „Kurz vor halb eins.“

Sie riss die Augen auf. „Au weia! Ich muss wirklich sofort – ach Gott – das schaffe ich ja gar nicht mehr! Ich muss spätestens in einer halben Stunde zu Hause sein, sonst kriege ich schrecklichen Ärger!“

„Und wo genau müssen Sie hin, wenn ich fragen darf?“

„Nienstedten. Pepermöhlenweg, da ist die Gastwirtschaft meiner Eltern, Zum Stern … Wie soll ich denn jetzt bloß … ?“ Jetta kaute am Daumen und war nun keine geheimnisvolle schöne Frau mehr, sondern ein ängstliches kleines Mädchen.

Süß war sie immer noch. Rudolf Büttner bekam, als er sie betrachtete, Lachfältchen in den Augenwinkeln.

„Sie müssen eine Autodroschke nehmen – kommen Sie, da vorne stehen welche!“

Er wollte sie hinter sich herziehen, aber Jetta stemmte dagegen an. „Das kostet doch eine Menge – ich hab kein Geld … das heißt … Ich hab zwar mein Taschengeld seit März bei mir – aber das sollte doch … Ach! Das sollte doch überhaupt für Madame Ruschki sein! Damit sie mir meine Zukunft weist!“

Fast hätte sie geweint. Ihr fiel noch rechtzeitig die Öl-Ruß-Mischung auf den Wimpern ein. Lieber nicht …

„Na, Ihre Zukunft wird finster, wenn Sie zu spät kommen, das haben Sie eben selbst gesagt. Bitte, fahren Sie mit mir, haben Sie Vertrauen. Ich möchte gerade furchtbar gern an die Elbe mit der Autodroschke. Und da nehme ich Sie mit, abgemacht? Natürlich zahle ich, wenn ich so gern dorthin möchte …“

„Ach, Sie sind aber nett!“, fand Jetta und ließ sich gleich darauf von Herrn Büttner in das erste der großen schwarzen Autos setzen, die beim Rathaus in einer Reihe parkten. Ihr Begleiter nannte die Adresse und der Chauffeur warf den Motor an, worauf das ganze Gefährt anfing, zu zittern und zu vibrieren. Es war sehr aufregend. Der Fahrer hupte ein paarmal, was ein Automobil immer tun musste, bevor es losfuhr. In diesem Fall war es notwendig: Die Menschenansammlung teilte sich und ließ die Droschke auf die Straße rollen.

Jetta war noch nicht oft in einem Auto gefahren und genoss das Erlebnis.

Was für ein Tag! Wie viele aufregende Sachen würden wohl noch passieren?

Sie hörte mit halbem Ohr zu, wie Herr Büttner sich mit dem Taxichauffeur über die soeben erlebte Revolte unterhielt. „Der Heil kann man von Glück sagen, dass sie ihn nur ins Wasser geschmissen ham. Die warn ja bannig kurz davor, ihn anne Laterne zu hängn!“, meinte der Fahrer. „Aber wie issas auch möchlich! Ich hör eben, vergammelte Hunde und Katzen und verschimmelte Häute ham sie gefunden? Nun bitt ich Sie! Da passt kein ein auf, jeder kann in seine Wurstwarn reintun, was er mach!“

„Das ist wohl wahr“, antwortete Herr Büttner. „Allerdings glaube ich, in diesen Fabriken werden auch tote Tiere gesammelt und später in andere Verarbeitungen gebracht, um Leim daraus zu kochen. Trotzdem, vom hygienischen Standpunkt aus dürfte so was natürlich nicht sein …“

Der junge Mann lehnte sich zurück und lächelte Jetta an. „Ihren Eltern gehört eine Gastwirtschaft?“

„Ja. Meine Mutter hat die geerbt, noch im Krieg. Und mein Vater war zu Hause, dienstuntauglich, weil sie ihm den rechten Arm in Afrika abgeschossen haben. Da hat er sich um den Stern gekümmert. Aber es ist natürlich schwierig, weil so schlecht Lebensmittel zu kriegen sind. Deshalb ist der Stern im Augenblick noch mehr eine Kaffeestube. Wir backen dauernd Kuchen. Wir haben nur einen Kellner, den haben wir mitgeerbt. Und wir Kinder helfen nach der Schule, soweit wir da sind.“

„Haben Sie viele Geschwister?“

„Nein, nur drei. Einen großen Bruder, Erich, der macht eine Lehre zum Kaufmann in Hamburg seit August. Er war auch schon eingezogen – aber dann war der Krieg eben aus und er wurde nicht mehr Soldat. Teilweise war er traurig und teilweise froh …“

Rudolf Büttner nickte. „Kann ich beides verstehen. Ich hab ein Jahr lang mitgemacht. Möchte ich nicht missen, einerseits … Und doch …“ Er blickte nachdenklich aus dem Fenster. Dann schaute er Jetta wieder an. „Sie haben noch zwei weitere Brüder?“

„Ein Pärchen, Zwillinge, Friedrich und Elfriede. Die sind auch beide etwas älter als ich. Ich bin die Jüngste.“

„Und wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf?“

Aber das mochte Jetta nicht gern verraten. Wenn er erfuhr, dass sie noch keine fünfzehn war, sagte er womöglich nicht mehr Gnädiges Fräulein, sondern Kleine. Sie überschlug im Kopf, was sie über ihre älteren Geschwister erzählt hatte und wo sie sich zeitlich jetzt noch ansiedeln konnte. Also hauchte sie: „Ich werde siebzehn …“

Das wurde sie ja wohl auch mal, falls sie nicht vorher starb.

Herr Büttner schmunzelte etwas ungläubig, widersprach jedoch nicht.

Jetta war kurz davor, ihn zu fragen, wo sein Begleiter geblieben war. Doch dann hätte sie ja verraten, dass ihr die Blicke der beiden von Anfang an bewusst gewesen waren.

„Ach, wir sind schon im Pepermöhlenweg! Gucken Sie mal, da hinten ist der ‚Stern‘. Darf ich hier aussteigen? Hier vorne in dem Gebüsch hinter dem Stein hab ich nämlich meine Schultasche versteckt.“

„Sie haben die Schule geschwänzt, Fräulein Reckwisch? Das ist aber schlimm!“, meinte der junge Mann. Es klang allerdings so, als ob ihn das amüsierte. Er tippte dem Chauffeur auf die Schulter, ließ ihn anhalten, stieg selber aus und öffnete Jetta die Wagentür auf der anderen Seite.

So gut erzogen hätte Jetta sich ihre Brüder mal gewünscht.

Rudolf Büttner begleitete sie noch ein kleines Stück zurück zum Versteck ihrer Schultasche.

„Ja – dann danke ich Ihnen ganz herzlich. Das war sehr freundlich!“, versicherte sie und blinzelte durch die dichten geschwärzten Wimpern nach oben.

„Es hat mir Freude gemacht. Vielleicht sieht man sich mal … Nun hab ich ja Ihre Adresse. Ihre Eltern besitzen gewiss einen Fernsprecher und stehen im Telefonbuch?“

„Schon. Aber mein Vater sieht es nicht gern …“

„Versteht sich. Sie sind ja auch noch so jung. Also, ich glaube Ihnen nicht ganz, dass Sie schon bald siebzehn werden, entschuldigen Sie. Nun, das ist egal. Es war reizend, Ihnen begegnet zu sein, Fräulein Reckwisch.“ Und dann, ganz plötzlich, beugte er sich über ihr Gesicht und drückte einen hastigen kleinen Kuss auf ihre Lippen, bevor er sich umdrehte und ziemlich schnell zur Taxe zurückging.

Jetta stand überwältigt da.

Jetzt war sie von einem erwachsenen Mann geküsst worden! Wenn auch ein bisschen sehr eilig. Hatte er nicht, bevor er sich umdrehte, dicht über ihrem Gesicht, noch leise etwas gemurmelt? Irgendetwas wie „Süße Kleine“? Das war himmlisch.

Sie drehte sich nicht um, sondern holte ihre Tasche hinter dem Stein hervor, während sie hörte, wie hinter ihr das Geratter und Geknatter des Wagens erst lauter wurde – als es wendete – und dann immer leiser.

Plötzlich empfand sie, wie weh ihre Zehen taten. Die ganze Zeit in zu engen Stiefeln, und sie hatte es bis dahin ganz vergessen …

Jetta kam rechtzeitig zum Mittagessen. Leider nur Graupen mit Weißkohl. Sie hatte sich noch schnell umziehen können und trug die gestreifte Schürze über dem Hauskleid, der Zopf hing brav auf ihrem Rücken.

„Wo warst du denn, Jetta? Du hättest mal ruhig helfen können mit dem Mittagessen. Immer muss Fiti alles alleine machen!“, beklagte sich Magda Reckwisch bei ihrer Jüngsten.

„Meine Lehrerin wollte noch mit mir reden“, verteidigte sich Jetta.

Nun schaute die ganze Familie sie an.

„Warum – hast du was ausgefressen?“, fragte Fritz mit seiner hohen Mädchenstimme. Er saß neben Elfriede, beide Zwillinge gleich hellblond. Da hörte die Ähnlichkeit auch schon auf. Fiti hatte vom Vater die Farben und von der Mutter den Körper- und Gesichtsbau geerbt, unglücklicherweise. Sie war wenig hübsch, gelinde gesagt. Jeder, der die Reckwisch-Zwillinge nebeneinander sah, musste innerlich den Kopf schütteln über diesen Irrtum der Natur. Der zarte, feine Junge neben dem derben Mädchen mit zu viel Kinn und zu viel Nase und Schultern wie ein Bierkutscher. Was für ein Jammer.

„Nein, ich hab nichts ausgefressen“, antwortete Jetta und pustete auf ihren Löffel. „Frau Hagedorn hat mir noch was erklärt, wonach ich in der Stunde gefragt hatte. Und dann hat sie sich dran begeistert und nicht mehr aufgehört zu reden.“

Sie überlegte, ob die Szene glaubhaft klang, und tuschte noch aus: „Und einige andere sind auch stehen geblieben und haben zugehört, weil es ja auch sehr interessant war. Die kommen sicher auch alle zu spät zum Mittagessen.“

Himmel, Fritz machte ganz enge Augen. Das alte Ekel würde gleich fragen, welches Thema es denn gewesen sei. Jetta blieb die Fantasie stecken.

Aber da wollte ihre Mutter, nachdem sie das Kind aufmerksam betrachtete, plötzlich wissen: „Sag mal, Mädel, hast du etwa Schminke im Gesicht?“

Jetta blickte auf, die gekränkte Unschuld. „Was für Schminke soll ich denn wohl haben?!“

Nach Möglichkeit sah sie nur den Vater an, ihn und Erich. Beide konnten, im Gegensatz zu weiblichen Familienmitgliedern, ihrem Engelsgesicht nur schwer wiederstehen.

Fritz konnte – der hatte selber eins.

„Jetta sieht aus wie immer. Naturschön!“, entschied nun auch Erich, und damit war das Thema vom Tisch.

1. Kapitel

Tango

Selbstverständlich besaßen Goldschmidts ein Grammophon, ein Electrola im Holzkörper. Erika drehte an der Kurbel und die Musik spielte, aufreizend, rhythmisch, lang gezogen seufzend, sehr fremd.

„Was ist denn das?“, wollte der alte Herr Goldschmidt wissen.

„Tango!“, erwiderte seine Tochter. „Kommt aus Argentinien. Ach, Papachen, das musst du doch schon mal gehört haben. So neu ist das auch wieder nicht. Ich hab diesem kleinen Mädel hier versprochen, dass ich ihr den Tanz beibringe.“ Und sie lächelte Jetta Reckwisch an, die vor ihr saß und etwas nervös die Beine in den glänzenden weißen Seidenstrümpfen aneinander rieb.

„Darf ich bitten, meine Dame?“ Erika machte eine große Verbeugung, einen Arm vor dem Leib, einen auf dem Rücken, dann zog sie Jetta hoch, legte den rechten Arm um sie, die Handfläche der linken Hand flach an Jettas rechte Handfläche. „Dicht, Kindchen, dicht, das ist ein unanständiger Tanz. Die Körper kleben aneinander, nur die Beine bewegen sich. Beim Tango, heißt es, tanzt ein einziger Körper mit vier Beinen und zwei Herzen. Zuerst zwei Schritte, weite Schritte, das ist ein Schreit-Tanz, verstehst du? Ich – also der Herr – links vorwärts, du rechts rückwärts. Dann kommt der Wiegeschritt, dreimal sachte vor und zurück geschaukelt …, dann ich einen Schritt zurück, du folgst – und einen zur Seite – und Füße zusammenschließen. Komm! Eins – – zwei – – Wie – ge – schritt – zurück – seit – Schluss. Da hast du den ganzen Grundschritt. Noch mal! Ah, wunderbar, du bist die geborene Tänzerin!“

Vater Goldschmidt schaute zweifelnd zu. „Das sieht nicht unbedingt anständig aus, Erikaleben! Kleine Jetta, das hast du wohl nicht in der Tanzstunde gelernt, wie?“ Jetta schüttelte den Kopf. „Ja, das dachte ich mir. Hm, das ist was für Erwachsene. Am besten erzählst du daheim nicht, was du bei den Goldschmidts gelernt hast.“

Jetta lächelte ihm zu. „Nein, Herr Goldschmidt, bestimmt nicht.“

Erika kurbelte schon wieder am Grammophon. „Die Drehungen muss ich dir zeigen und den Scherenschritt, der ist fein. Du musst daran denken, der Tanz kommt aus Argentinien, ist also spanisch vom Ursprung her – du darfst nicht lächeln. Hoch das Kinn, mach ein stolzes Gesicht, beweg den Kopf mit einem kleinen Ruck – ja, genau so! Wenn dein Tanzpartner Ahnung hat, dann macht er es genauso, dann dreht ihr die Köpfe gleichzeitig mit einem kleinen Ruck in dieselbe Richtung, als hätte man euch scharf von da gerufen! Und bloß nicht lächeln. Jetzt drehen wir uns mal. Gut, gut, hervorragend, Jetta! Papachen, wie sieht es aus?“

„Gewagt, liebes Kind. Ein gefährlicher Tanz! In der Tat etwas für Erwachsene. Nebenbei erspäht man recht viel von euren Beinen, nicht nur die Fesseln, manchmal fast die ganzen Waden. Diese kurzen Röcke! Und dann erst eure kurzen Haare, wie das wippt und fliegt. Deine Mutter hätte sich nicht träumen lassen, dass Frauen einmal so aussehen würden. Die hatte schon ihre liebe Not damit, als die hohen Stehkragen und die Korsetts aus der Mode kamen.“

Erika und Jetta lachten und schüttelten ihre Köpfe mit den kurzen Frisuren, die eine braungelockt, die andere lackschwarz und mit glatten Stirnfransen über den dünnen, hoch geschwungenen Augenbrauen.

Anfang August 1922 hatte Deutschland eine neue Nationalhymne bekommen. Die mit dem Kaiser und dem Siegerkranz konnte niemand mehr singen; es gab ja keinen deutschen Kaiser mehr. Jetzt also das Deutschlandlied: Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt … Stimmte zwar seit dem Krieg nicht mehr, hörte sich aber immer noch gewaltig an.

Zur Feier dieses Tages hatte sich Jetta Reckwisch endlich ihr Haar abgeschnitten, nachmittags auf dem Zimmer der Schwestern, allein mit einer Schere und zwei Spiegeln.

Sie zog einen schnurgeraden Scheitel über ihrer rechten Schläfe bis ganz zum Hinterkopf, das kurze, gewellte Haar fiel nun sehr anmutig über ihr linkes Auge, wenn sie ein wenig den Kopf schüttelte. Sie hatte sich selbst noch nie so gut gefallen – und das wollte etwas heißen. Völlig unvergleichlich, wie sich hinterher der Nacken anfühlte, kühl und frei.

Das lohnte sogar Vaters Brüllanfall. Er lief dunkelrot an und holte – wahrhaftig! – mit der verbliebenen Hand aus. Jetta warf erschrocken ihre eigenen Hände vor ihr Gesicht, die großen Augen starrten den Vater darüber voller Entsetzen an. Da ließ er die Hand sinken und brummelte nur noch.

Bereits am Nachmittag fuhr er mit den Fingern durch das kurze dunkle Gelock, schmunzelte und meinte: „Ich muss sagen, eigentlich sieht es tadellos aus, meine Kleine. Wenn das überhaupt jemand tragen kann, dann du.“

Na also.

Magda widersprach ihrem Gatten nie, Fiti gefiel die kleine Schwester jetzt noch besser (sie selbst schnitt sich ihr Leben lang das Haar nicht kurz), Erich wohnte ja nicht mehr im Haus und Fritz hatte gerade angefangen, in Berlin zu studieren. Wäre er da gewesen, hätte er vielleicht gesagt, dass kurzes Haar unweiblich sei und wenig kleidsam. Insofern und überhaupt vermisste Jetta ihn wenig. Er war noch nie ihr Lieblingsbruder gewesen.

Sie besaß nach wie vor ihre Verehrer. Alle drei waren erstaunlich treu. Mit Rudolf stritt sie ab und zu heftig – dann waren sie ein paar Wochen Schuss miteinander. Und dann rief er an und entschuldigte sich, ob er nun Schuld gehabt hatte oder nicht.

Rudolf ging wahrscheinlich davon aus, dass er Jetta eines Tages heiraten würde – jedenfalls erwähnte er hin und wieder so etwas. Zu einem richtigen Antrag hatte er sich noch nicht aufgeschwungen. Zum einen, weil Jetta ja immer noch sehr jung war. Und zum anderen, weil er als Assessor nicht viel verdiente. Wenn er erst Professor wäre …

Montags, mittwochs und freitags kam es Jetta vor, als wäre sie ganz gern eines Tages Frau Professor Büttner. Aber dienstags und donnerstags flirtete sie lieber mit Günther oder Lutz oder einem Stammgast der Kaffeestube, Herrn Malm, der großes Interesse an ihr zeigte und ihr schon mal einen Strauß roter Lilien mitgebracht hatte, einfach so. Einerseits hatte Herr Malm einen gepflegten schwarzen Schnurrbart und kullerte ausdrucksvoll mit den Augen. (Die Damen Reckwisch verdächtigten ihn, sich die Unterlider ein wenig dunkel zu färben). Andererseits war er mindestens Anfang vierzig und hatte etwas krumme Beine.

Nun lag eine Woche voller festliche Ereignisse voraus, dicht an dicht, auf die man sich freuen konnte und bei denen Jetta ihren neuen Kopf zeigen würde.

Am Montag, dem 28. August eröffneten Erich und sein Freund Siegmund gemeinsam ein kleines Tabakwarengeschäft beim Altonaer Bahnhof.

Am 29. war Freundin Adas achtzehnter Geburtstag, mit großem Fest.

Am 31. August feierte Magda Reckwisch ihren dreiundfünfzigsten und am ersten September wurde Jetta achtzehn.

Zu Magdas Geburtstag würde auf jeden Fall ihr Lieblingssohn aus Berlin anreisen, das stand fest. Und zur Ladeneröffnung war Erika am Wochenende aus der Hauptstadt und vom Theater gekommen.

Jetzt, am Sonntagabend, war Jetta, zusammen mit ihrem Bruder, bei den Goldschmidts zum Essen eingeladen. Erich und Siegmund wurden seit sieben Uhr erwartet, verspäteten sich jedoch. Die beiden arbeiteten natürlich bis zuletzt an ihrem kleinen Bahnhofsgeschäft. Kurz vor halb neun kamen sie endlich, in ein lebhaftes Gespräch vertieft – aber auch gleich mit vielen Entschuldigungen. „Wir haben natürlich gemeint, ihr würdet ohne uns essen, ihr Lieben!“, sagte Siegmund ehrlich bekümmert.

Erich umarmte seine kleine Schwester, fand ihre Frisur famos und freute sich, Erika zu sehen. „Du spielst ja schon fast Hauptrollen, habe ich gehört. Theater des Westens, nicht wahr? Meinen Glückwunsch!“

Alle setzten sich zu Tisch, wo von einem weißhaarigen alten Herrn mit verbitterter Miene serviert wurde. Der war neu im Haus, vorher hatte es ein mageres Mädchen mit Schürze und Häubchen gegeben. Jetta und Erich tauschten einen kurzen Blick und waren sich wortlos einig: der Mensch erinnerte sie an den beleidigten Erbfaktor Knoll …

Einig waren Erich und seine kleine Schwester auch seit Langem, dass es nicht schadete, sich im Haus Goldschmidt Lebensart und feines Benehmen abzugucken.

Das gab es bei ihnen zu Hause nicht in diesem Ausmaß, wenn auch ihr Vater entrüstet auf ihr nahezu blaues Blut hingewiesen hätte.

„Wir wollen morgen nur eine kleine Feier mit engen Freunden, Verwandten und Bekannten“, erklärte Siegmund die Ladeneinweihung. „Wir haben eigens den Montag als ersten Alltag dafür gewählt und nicht etwa das Wochenende. Wir wollen Durchschnitt sein.“

„Aber guter Durchschnitt!“, fügte Erich lächelnd hinzu.

„Euer Bruder lebt doch jetzt auch in Berlin. Hast du eigentlich Kontakt mit ihm, Erika?“, erkundigte sich Simon Goldschmidt. Seine Tochter schüttelte nur kurz den Kopf.

„Fritz wird morgen auch hier sein und er bleibt ein paar Tage. Unsere Mutter hat in drei Tagen Geburtstag und Jetta ja dann am Tag darauf“, fasste Erich zusammen und ließ sich von dem grämlichen Greis noch etwas Wein einschenken.

„Wie finanziert ihr zwei eigentlich euer Tabakgeschäft?“, fragte Erika geradeheraus, an Siegmund gewandt.

„Je zur Hälfte Erich und zur Hälfte ich – so ziemlich. Das Gebäude haben wir im Ganzen gekauft und vermieten das obere Stockwerk. Ich hab natürlich von Vater was vorgestreckt bekommen. Und Erich hat ja immer Geschäfte gemacht und in jeder Weise ‚gehandelt‘, seit wir ihn kennen. Den Rest hat ihm, glaube ich, jemand geliehen?“

Alle blickten Erich an. Hätte er die Haut und die Veranlagung seines Bruders gehabt, wäre er jetzt dunkelrot angelaufen. Doch er zuckte nur kurz mit den Schultern, lächelte, nickte – und wechselte das Thema: „Mein ehemaliger Chef und Ausbilder, ein Herr Bruhn, wird übrigens auch kommen, um mal zu sehen, was aus mir geworden ist.“

Herr Bruhn, höchst skeptisch in seinen Erwartungen, brachte seine Tochter Claire mit. Denn die war von Erich ebenfalls eingeladen worden, und sie sah keinen Grund, nicht mal zu prüfen, ob dieser schreckliche Mensch immer noch von ihr in Verlegenheit zu bringen wäre.

Diesbezüglich wurde sie enttäuscht. Wenn Erich Reckwisch schon vor drei Jahren, mit achtzehn, über zu viel Selbstbewusstsein verfügt hatte, dann besaß er inzwischen unüberwindliche Mengen davon. Er begrüßte Vater und Tochter Bruhn freundlich, aber flüchtig und ungerührt und widmete sich danach nur den anderen Gästen. Was Claire derart irritierte, dass sie ihn am Ende des Abends am Ärmel zupfte und fragte, weshalb er sie denn überhaupt eingeladen hätte, wenn er nie mit ihr sprach.

Erich entschuldigte sich höflich. Worüber sie denn gerne reden wollte? Aber er lächelte immerhin dabei und Claire war klug genug – oder mürbe genug – um zurückzulächeln. Das war das erste Mal, seit sie sich kannten, dass sie einander freundlich anschauten.

Hinter dem Geschäft, im „privaten Teil“, gab es eine winzige Küche, vor allem zum Kaffeekochen. Ein zweiflammiger älterer Kohleherd, ein Waschbecken. Hier werkelten an diesem Abend, ausgeliehen von Erichs Eltern, Malchen Kosalke und ihre vierzehnjährige Tochter Irma, füllten Teller mit Kartoffelsalat, zu dem je ein heißes Wiener Würstchen gelegt wurde, Gläser mit Bier oder Saftwasser – und wuschen ab, beide geschützt durch lange dunkle Schürzen.

Irma war in die Höhe geschossen, sehr dünn, mit vorstehenden Schlüsselbeinen unter dem verrutschenden Hemd. Ihr mageres kleines Gesicht bekam in der letzten Zeit eckige Wangenknochen, die Lippen des großen Mundes wurden immer voller und unter den riesigen Augen saßen breite, bräunliche Ringe. (Ihre Mutter pflegte, wenn Magda sich besorgt erkundigte, zu sagen: „Das Kind kämpft mit der Puperteet, nicht wahr?“)

Irmas feines, aschblondes Haar, seit jeher kurz bis zu den Ohrläppchen, klebte ihr am Kopf, denn es war heiß an diesem Abend und sie arbeitete fleißig und ohne Unterbrechung. Trotzdem kam sie immer noch dazu, den Verkaufsraum zu beobachten. Familie Reckwisch vollzählig und in feiner Kleidung, da war Herr Fritz, der nun selbst öffentlich Zigaretten rauchte, nicht mehr heimlich, wie früher. So groß wie Erich war er nicht geworden, aber doch ein kleines Stückchen größer als seine Zwillingsschwester – das dürfte ihn befriedigen. Immer wieder klebten seine Augen an dieser Erika mit dem schwarzen Haar und den goldbraunen Augen. Die war mindestens so dünn wie Irma selbst, aber schrecklich elegant und ziemlich hochnäsig. Das war sie immer gewesen.

Jetta, das kleine Miststück, flirtete mit allen ihren Anbetern und mit einigen anderen Männern obendrein, die sie wohl an diesem Abend kennengelernt hatte. Sie lachte zu oft und zu laut, aber das schien niemandem aufzufallen.

Irma wusste inzwischen, wohin die jüngste Reckwisch manchmal nachts entschwand: in den Keller mit dem Nachbarssohn, dem Dicken! Allerdings meistens so kurz, dass man sich kaum was Unanständiges dabei denken konnte. Wahrscheinlich knutschten sie.

Und das tat sie wohl auch mit dem rothaarigen, quelläugigen Bruder ihrer Brillenschlange von Freundin und mit dem blonden Lehrer. Der hatte ein nettes, aber leeres Gesicht, fand Irma bei sich, und der Vollbart macht ihn alt und bieder. Sie hätte sich mit keinem der drei Männer abgegeben. Allerdings, sagte sie sich selbst mit einem kleinen Grinsen, wohl auch keiner von denen mit ihr …

Also richtete sie die Augen wieder auf den einzigen Mann, den es anzusehen lohnte. Da stand er, eine Hand steckte lässig in der Hosentasche, die andere hielt – natürlich, schon zur Reklame! – eine Zigarette. Irma erfrischte sich an seinem energischen Kinn, der großen, gebogenen Nase und den dichten Augenbrauen über den hellbraunen Augen.

Er plauderte mit einer jungen Frau mit Doppelkinn und zu dicken Backen, eine Blonde, die kokett zu ihm aufschaute. So, wie die sich benahm, konnte sie kaum diejenige sein, mit der er zusammenwohnte. Womöglich also die dumme Tochter seines ehemaligen Chefs?

Nun zog Mutter Malchen ihr Kind energisch zurück, ganz schnell mussten weitere Teller abgewaschen werden, zum Rumstehen hatten Reckwischs sie nicht mitgenommen!

Eine halbe Stunde später jedoch trat Erich kurz in den Küchenraum, um einen vollen Aschenbecher in die große Mülltonne auszuleeren, die dicht an der Hintertür stand. Genau in diesem Moment holte ihre Mutter abgegessene Teller aus dem Laden, Irma stand ganz alleine.

„Guten Abend, Herr Reckwisch.“

Er drehte sich zu ihr und sie fragte sich, ob er überhaupt wusste, wer sie war.

„Ach – Äffchen! Du bist aber gewachsen!“

„Ja. Diese blonde junge Dame – ist das diese Claire?“

Ein schnelles Lächeln huschte über sein Gesicht und er betrachtete sie nun direkt. „Du bist ein merkwürdiges Kind, will ich dir mal sagen. Ja, das ist Claire Bruhn. Das hast du dir gut gemerkt.“

„Aha. Dann ist sie jetzt wohl endlich verliebt in Sie?“

„Glaubst du?“

„Ja, sie guckt so. Wo haben Sie denn Ihre richtige Freundin heute Abend? Die ist nicht dabei, oder? Ist sie krank?“

Erich blickte mit zusammengekniffenen Augen zum Fenster, in dem er sich neben dem dünnen Mädchen in der langen Schürze spiegelte. „Krank? Nein. Sie wollte nicht … Sie hätte nicht hierher gepasst.“

„Die werden Sie wohl nicht heiraten?“

„Heiraten?! Davon war nie die Rede“, antwortete Erich vorsichtig.

Ihm wurde unbehaglich. Dieses Kind pflegte auf irgendeine Art immer an seinem Gewissen zu reißen. Warum war er eigentlich stets so ehrlich ihr gegenüber? Als sei sie wirklich sein Gewissen. „Sie ist ein bisschen alt, weißt du? Erheblich älter als ich.“

„Wie viele Jahre?“

„Neun. Ungefähr neun Jahre.“

„Und? Soviel ich weiß, ist Ihre Mutter – also Frau Reckwisch – auch neun Jahre älter als Herr Reckwisch.“

„Das ist sicher richtig. Nur – bei meinen Eltern war das was anderes.“

„Warum? Ihr Vater ist ja nicht nur jünger, er sieht auch viel besser aus.“

Erich betrachtete Irma schockiert, ihr kurzes, verklebtes Haar, die aufgestülpte Nase. Was dieses Kind redete!

„Ja, kann sein. Um ehrlich zu sein, ich glaube, meine Mutter hatte Geld, das mein Vater benötigte“, hörte er sich sagen.

„Und Ihre Freundin hat kein Geld?“

„Nicht mehr.“

„Wieso?“

„Weil sie’s mir gegeben hat. Für diesen Laden. Für dieses Haus. Sie hatte Grundstücke, zwei, von ihrem verstorbenen Mann geerbt. Die hat sie verkauft. Das Geld steckt jetzt hier im Tabakstübchen.“

„Sie hat es Ihnen einfach so gegeben? Warum?“

„Aus Liebe, vermute ich“, sagte Erich, nun beide Hände in den Hosentaschen und mit verdrossener Miene. Er kam sich auf einmal sehr schäbig vor. „Nur geliehen, versteht sich. Ich gebe es ihr wieder, sobald ich kann.“

„Das war dumm von ihr. Ich hätte es Ihnen nicht gegeben, wenn Sie mich nicht geheiratet hätten! Auch nicht geliehen“, entschied Irma.

Erich lachte, und dann kam Malchen mit einem Stapel schmutziger Teller in die Küche und sah erstaunt den Ladenbesitzer an – der daraufhin hastig verschwand. „Hast du mit Herrn Reckwisch geredet?“, fragte sie, während sie die Teller abstellte und schnell ihre Frisur neu aufsteckte.

„Ach, ein wenig. Wenn er mich anspricht, muss ich ja wohl antworten, nicht?“, meinte Irma und setzte den großen Topf auf den Herd, um heißes Abwaschwasser zu bekommen.

Alle Reckwischkinder waren nun schon seit einer Weile aus der Schule – Gott sei Dank, fand Jetta. Sie und ihre Schwester sollten nach dem Willen des Vaters keinen Beruf lernen. Was sie tun würden, lag ja auf der Hand und sie taten es bereits: im Stern helfen, backen, kochen, servieren. Inzwischen war die Kaffeestube wieder zum Restaurant geworden, da gab es wahrhaftig genug zu tun.

Fiti hatte sich willig die Schürze und das Joch übergestreift. Jetta war, vorsichtig gesagt, nicht so mit dem Herzen dabei.

Sie musste am Dienstagnachmittag zur Schneiderin, die ihr ein altes cremefarbenes Organdy-Kleid preiswert geändert hatte. Eigentlich war weiß die Modefarbe, aber Creme ging auch.

Fiti kam neuerdings vor lauter Arbeit im Haushalt leider nicht mehr dazu, die kleine Schwester zu benähen. Und sie wollte doch „nett“ aussehen bei der Geburtstagsfeier ihrer Busenfreundin; das sah Vater Reckwisch bestimmt ein.

Das Kleid war bezaubernd geworden, kaum knöchellang, fließend, der Gürtel tief auf den Hüften, Kimonoärmel flatternd bis zum Ellbogen. Jetta trug dazu einen kleinen schwarzen Hut aus Strohgeflecht, eng wie eine Haube, tief ins Gesicht gezogen – ihre Augenbrauen waren verschwunden. Ihre weißen Seidenstrümpfe und weißen Schuhe mit kleinem, geschwungenem Absatz und Knöchelspange entsprachen ganz der aktuellen Mode – vor allem, da sie die Schuhe von Erika Goldschmidt geerbt hatte. Die trug nur schöne Sachen.

Das Besondere an diesem Abend war im Übrigen nicht die Geburtstagsfeier an sich – Gott, Kuchen mit Sahne und Kakao und Gesellschaftsspiele, das war ja nett – aber …! Nach dem Fest, am späten Abend, hatte Günther den Mädchen versprochen, wollte er ihnen die Reeperbahn zeigen. Natürlich würde man Adas Mutter etwas anderes erzählen, da verließ sich Jetta ganz auf die Geschwister.

Das Schönste war, sie hatte die Erlaubnis ihrer Eltern, in dieser Nacht bei Schiermanns zu übernachten. Weil man nicht wusste, wie lange die Feier dauern würde und weil doch am nächsten Tag schon wieder Magdas Geburtstag kam – da wollte Jetta nicht vor lauter Müdigkeit halb einschlafen, auch das verstand Vater Reckwisch gewiss.

Er verstand alles und er erlaubte alles. Zumindest seiner Lieblingstochter.

Sie hatte also gewissermaßen „Urlaub bis zum Wecken“, so pflegte Erich das zu nennen. Jetta hüpfte vor Vergnügen auf dem Weg zu ihrer Freundin, ein Päckchen mit schönem Briefpapier nett eingepackt in der Hand und Blumen (aus dem eigenen Garten, aber hübsch gebunden) für Frau Schiermann. In einem Beutel trug sie ihr Nachthemd, die Zahnbürste, einen Seiflappen und alle ihre geheimen Schminkutensilien. In St. Pauli war es ja wohl Sitte, dass ein Mädchen sich zurechtmachen durfte.

Reeperbahn! Natürlich würde Günther seiner Schwester und ihrer Freundin nicht die ganz sündhaften Sachen zeigen, nackte Damen womöglich. Die wollten sie auch gar nicht sehen. Aber ein schummeriges Tanzlokal, in dem vielleicht Tango getanzt wurde? Das war es, wovon Jetta träumte. Es nützte Günther wenig, wenn er einwandte, er könne eigentlich nicht richtig Tango tanzen. Jetta sagte es nicht, doch sie dachte: Wenn nicht du, dann ist da sicher einer, der es kann.

Und genau das befürchtete Günther Schiermann …

Dritter Teil

1927–1928
Erfüllte und unerfüllbare Träume

Zweiter Teil

1922–1923
Billionen für ein Haus

5. Kapitel

Blaues Blut erwünscht

Am Sonntagnachmittag kam Rudolf Büttner mit seiner kleinen Schwester Gisela in die Kaffeestube Zum Stern. Er trank Mocca, Gisela Kakao und beide aßen Kirschkuchen.

Jetta servierte selbst. Sie betrachtete Fräulein Büttner neugierig, ihr Bruder hatte eine Menge von ihr erzählt. Nun, sie hatte blonde Zöpfe, zu Schnecken über den Ohren festgesteckt, eine Kinderfrisur. Geschminkt war sie überhaupt nicht, sondern recht blank gewaschen, ihre Nase spiegelte geradezu. Ein kleines bisschen Puder hätte nicht geschadet. Davon abgesehen wirkte sie lieb und freundlich und ebenfalls neugierig.

Rudolf hatte ihr gewiss auch von Jetta erzählt. Aber was? Dass sie die Schule schwänzte, um sich wahrsagen zu lassen? Dass sie sich hinten in der Autodroschke küssen ließ?

Nein, so schaute Gisela sie nicht an. Rudolf hatte wohl nicht gelogen – Jetta konnte sich schwer vorstellen, dass er log –, jedoch einiges weggelassen.

Sie versuchte auf ihren Wegen zwischen der Küche und der Gaststube herauszufinden, ob sie verliebt war. Die Antwort schien zu lauten: einerseits ja, andererseits nein.

An Rudolfs Anblick konnte man nichts aussetzen. Er sah sehr hübsch aus mit seinem klaren, leicht gebräunten Gesicht, der kurzen Nase, dem runden Kinn. Sein dunkelblondes Haar war in der Mitte gescheitelt und leicht wellig. Den Bart trug er nach der letzten Mode: Er begann ganz dicht unter der Nase und reichte bis zur Oberlippe, nach unten breiter werdend wie ein Segel, sodass er an die Mundwinkel tippte.

Ferner war er freundlich und friedlich, besonnen und vernünftig, offen und anständig. Und da lag der Haken. Jetta fürchtete, er würde ähnliche Charaktereigenschaften auch von ihr erwarten oder sogar verlangen. Zumindest enttäuscht sein, wenn er sie nicht vorfand. Seine Schwester hatte er bereits leise ermahnt, gerade zu sitzen und sich den Kakao aus den Mundwinkeln zu wischen – Letzteres in etwas vorwurfsvollem Ton. Er meinte wohl, darauf hätte sie selber kommen müssen. Nun ja, er wollte vor allem bei Jettas Eltern einen guten Eindruck machen. Aber trotzdem: Was konnte das für ein Leben werden? Womöglich würde er Jetta verbieten, sich zu schminken?

Adolf und Magda bemühten sich in die Gaststube, um Rudolf und seine Schwester zu begrüßen und ein wenig mit den beiden zu plaudern. Jetta konnte nur hoffen, dass Rudolf seine Ehrlichkeit überwand und sich an die Geschichte von Adas beinah gemaustem Handtäschchen hielt, die sie ihm am Telefon auseinandergelegt hatte.

„Sie studieren in Hamburg, Herr Büttner?“, fragte Addi, immer ein bisschen in der Defensive den studierten Leuten gegenüber. (Er argwöhnte gern, sie hielten sich für etwas Besseres und glaubten, sie wären ihm überlegen.) „Sind Sie denn Hamburger?“

„Nein, aus Flensburg. Da sind wir geboren, meine Schwester und ich. Aber unsere Eltern sind beide letztes Jahr an der Grippe gestorben, deshalb wohnen wir jetzt bei einem Hamburger Onkel in der Altstadt“, erzählte Rudolf.

Er lobte den Mocca und den Kirschkuchen und bat artig darum, Jetta hin und wieder ausführen zu dürfen, im vernünftigen Rahmen natürlich. „Sie ist ja noch so jung!“