cover.jpg
gabal-E-book.jpg

Marotten, Macken, Manien

Mitarbeiter können noch so kompetent sein: Wenn sie persönliche Schwächen oder Eigenheiten im Berufsleben allzu deutlich zeigen, werden sie nicht so weit kommen, wie es eigentlich möglich wäre.

Da kann Hans-Jörg Rohleder ein noch so begabter Verkäufer sein: Wenn er immer doppelt so viele Worte aufwendet wie nötig, dominiert er jedes Gespräch. Am Ende fühlen sich seine Kunden überfahren und unverstanden. Sie werden seltener bei ihm kaufen.

Da kann Susanne Hübner das sensibelste Gespür für aktuelle Themen haben: Wenn sie bei der Redaktionssitzung immer nur still in der Ecke sitzt und sich nicht traut, ihre Ideen einzubringen, gehen der Zeitschrift wertvolle Chancen verloren.

Da kann Sebastian Dorgner der Berater mit der profundesten Fachkenntnis sein und auf jede Kundenfrage die punktgenaue Antwort wissen: Wenn er unangenehme Aufgaben vor sich herschiebt und lieber seinen Schreibtisch zum dritten Mal aufräumt, als den Kunden anzurufen, der sich letzte Woche so bitter beschwert hat, nutzt ihm sein enzyklopädisches Wissen rein gar nichts.

Eine fachliche Schulung würde in keinem dieser Fälle etwas bringen. Klar, es gibt Kommunikationstrainings, in denen klares Formulieren und Zuhören gelehrt wird. Es gibt Schulungen für Präsentationen oder fürs angemessene Auftreten. Aber sie gehen meist nur wenig auf die persönlichen Marotten und Schwachstellen der einzelnen Teilnehmer ein. Da sitzen zwölf Leute und es gibt einen ganzen Blumenstrauß an Inhalten – welche davon sind für welchen Teilnehmer wichtig? Und wann?

Oft erkennt der Mitarbeiter das Problem erst zu spät: »Oh Mist, jetzt habe ich im Meeting wieder nichts gesagt. Na ja, aber nächstes Mal bringe ich mich ein …« Dass er es im Nachhinein erkennt, ist noch ein Glücksfall. Die meisten tun nicht einmal das. Bei Schwächen, die in unseren Gewohnheiten begründet sind, haben wir Menschen unseren »blinden Fleck«.

Es ist menschlich, die eigene Verhaltensweise für normal zu halten und deshalb gar nicht zu erkennen, was andere daran stören könnte. Dagegen hilft die beste Fachkenntnis nichts.

Das problematische Verhalten dieser Mitarbeiter liegt nicht in ihren Fähigkeiten begründet, sondern in ihren persönlichen, über Jahre angewöhnten Verhaltensweisen. Deswegen entwickelt ein exzellenter Chef nicht nur die Fähigkeiten seiner Mitarbeiter, sondern er entwickelt Menschen.

Ein exzellenter Chef schaut sich seine Mitarbeiter genau an – so wie ein exzellenter Baumeister jeden einzelnen Stein auf seine individuellen Eigenheiten hin anschaut. Der Chef achtet nicht nur auf die Ergebnisse seiner Mitarbeiter, die sich in Zahlen, Daten und Fakten belegen lassen. Ihn interessieren nicht nur ihre Qualifikationen und fachlichen Fähigkeiten. Er schaut sich auch an, wie die Mitarbeiter zu ihren Ergebnissen kommen. Er beobachtet ihre Arbeitsweise, ihren Umgang mit den Kollegen, ihren Umgang mit Konflikten, Herausforderungen und Stress. Er identifiziert – gemeinsam mit seinen Mitarbeitern – ihre persönlichen Stärken und Schwächen. Dann fördert und fordert er gezielt und persönlich. Er lässt nicht nur fortbilden, sondern coacht auch selbst. Er unterstützt die Mitarbeiter dabei, zu reiferen Menschen zu werden.

Das ist es, was ich mit entwickeln meine: entwickeln, was davor verwickelt war.

Wir Menschen lernen vom Moment unserer Geburt an jeden Tag Neues dazu. Man lehrt uns Dinge und trainiert uns bestimmte Verhaltensweisen an. Mal in diesem Bereich, mal in jenem. Wir werden etwas – zusätzlich zu dem, was wir schon sind: Schulkinder, kleine Flötenspieler oder Fußballer, Auszubildende, Studenten, Berufstätige, Ehepartner, Steuerzahler … Das ist so, als hätte man am Anfang ein einziges, schlichtes Kabel. Dann wird daran ein Verlängerungskabel mit Mehrfachsteckdose angeschlossen. Und daran schließen Eltern, Schule, Freunde und Ausbilder nach und nach alle möglichen Geräte an – alle mit ihren eigenen Adaptern, Transformatoren und Kabeln. Manche sind nützlich, manche weniger.

Die übliche Form der Mitarbeiterförderung fügt diesem Bündel an Kabeln noch weitere Mehrfachsteckdosen und Geräte hinzu. Die Anforderungen werden immer höher und breiter gefächert – ohne Rücksicht darauf, wie das System dieses Menschen ursprünglich einmal ausgesehen hat. Am Ende hat man ein heilloses Gewirr von Elektronik, bei dem nur noch mit Mühe erkennbar ist, welcher Stecker zu welchem Gerät gehört und was wozu dient. Und wenn irgendwo eine Sicherung herausfliegt, ist kaum zu identifizieren, woran das gelegen hat.

Die Ansammlung von nützlichen und unnützen, anerzogenen oder gelernten Verhaltensweisen muss sozusagen ent-wickelt werden. Nur so kommt man wieder auf die Kernfähigkeiten des Individuums, kann diese optimal fördern und im Unternehmen einsetzen.

Ein exzellenter Chef ist ein solcher Ent-wickler. Auf das Gewirr von wahllos verteilten Fortbildungen, die aus dem Mitarbeiter nur einen funktionierenden Ausführer seines Anforderungsprofils machen, kann eine solche Führungskraft verzichten. Denn sie weiß: Die meisten Fortbildungen bringen ab einem bestimmten Kompetenzniveau weniger als eine gezielte Förderung, die die Individualität des Mitarbeiters berücksichtigt.

Stellen Sie sich also bei jedem Mitarbeiter die Frage: Wo sind seine persönlichen Stärken und Schwächen?

Das hört sich nach viel Arbeit an. Zusätzlich zu allem, was Sie also ohnehin schon tun, sollen Sie jetzt auch noch jeden Mitarbeiter genau beobachten und seine Persönlichkeit analysieren? Und dann womöglich Gespräche, Coaching, Feedbackrunden … Müssen Sie jetzt dafür eine psychologische Zusatzausbildung machen? Müssen Sie mit Ihren Mitarbeitern aufwendige Persönlichkeitstests durchführen?

Nein, müssen Sie nicht. Sie brauchen kein Superheld zu sein, der alles weiß und alles kann. Ihre Mitarbeiter richtig einzuschätzen und gezielt zu fördern, erfordert keine übermenschlichen Fähigkeiten, sondern gutes Zuhören, etwas Fingerspitzengefühl und immer wieder Zeit für Mitarbeitergespräche. Haben Sie das schon einmal gehört? Mit Sicherheit. Aber setzen Sie es auch um? Im Arbeitsalltag rutscht die persönliche Beschäftigung mit den Mitarbeitern allzu leicht auf der Prioritätenliste nach hinten. Schade, denn sie ist ein unerlässliches und kraftvolles Werkzeug, um Ihre Mitarbeiter in ihrer Persönlichkeit weiterzuentwickeln und dorthin zu führen, wo sie Exzellentes leisten können.

Ihre Mitarbeiter in ihrer Persönlichkeit zu entwickeln, gelingt Ihnen in drei Schritten.

Erstens: Rede, damit ich dich sehe – die Mitarbeiter kennen

»Das ist unser neuer IT-Spezialist, Herr Schulz«, stellt die Chefin den Kollegen vor. »Er hat an der Uni Frankfurt Informatik studiert und war zuletzt bei der Firma Wehrmeister für die Netzwerkverwaltung zuständig. Bei uns wird sein Schwerpunkt die Datenbankverwaltung sein. Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit. Herzlich Willkommen, Herr Schulz!«

Die Kollegen nicken freundlich. Schon streckt der Erste die Hand aus, um den Neuen zu begrüßen, da platzt Norman Schulz heraus:

»Außerdem bin ich mit meiner Frau und unseren beiden Töchtern aus Wiesbaden hierher gezogen. Ich fahre gern Cross-Country-Motorrad und spiele Trompete.«

Das weckt das Interesse der Kollegen. Sie drängen sich um Norman Schulz und löchern ihn mit Fragen. Die Chefin steht daneben. Nach fünf Minuten schaut sie auf ihre Armbanduhr.

So ein demonstratives Desinteresse wie diese Chefin würden Sie gegenüber Ihren Mitarbeitern wahrscheinlich nicht zeigen. Sie wissen, wie wichtig es ist, in einem Teammitglied nicht nur den Mitarbeiter zu sehen, der für die Datenbank zuständig ist, sondern auch den Menschen. Denn genauso wie kein Kunde gern eine Nummer ist, möchte auch kein Mitarbeiter eine austauschbare Fachkraft sein. Stattdessen wünscht sich jeder Mensch – und damit auch jeder Mitarbeiter –, in seiner Individualität erkannt und entsprechend eingesetzt zu werden. Die meisten Führungskräfte wissen und berücksichtigen das. Sie versuchen es zumindest.

Aber Hand aufs Herz: Wie gut kennen Sie Ihre Mitarbeiter wirklich? Kennen Sie den Namen des Partners, die Namen der Kinder und ihr Alter? Wissen Sie, was Ihr Mitarbeiter studiert hat, welche Hobbys ihn begeistern? Wenn Ihr Außendienstler erzählt, dass sein Sohn das Studium abgebrochen hat: Wissen Sie das beim nächsten persönlichen Gespräch noch, oder fragen Sie erneut nach, wie es dem Sohn an der Uni geht?

Echtes Interesse an einem Mitarbeiter besteht nicht nur darin, gelegentlich nach etwas Privatem zu fragen. Wichtig ist, die Antworten wirklich wahrzunehmen, sie abzuspeichern und zu überlegen, was seine Eigenheiten, seine Hobbys und sein ehrenamtliches Engagement über einen Mitarbeiter aussagen.

Mit dieser Haltung eröffnen sich für den exzellenten Chef neue Möglichkeiten: Er entdeckt ungeahnte Fähigkeiten bei seinen Mitarbeitern, die auch im Job nützlich sind, und stellt eine viel stärkere Beziehung zu seinen Leuten her. Zeigen Sie Ihr Interesse – und Sie werden Mitarbeiter haben, die daran interessiert sind, ihren Job richtig gut zu machen. Denn für sie steht fest: »Meinem Chef bin ich wichtig. Er interessiert sich für mich. Und ich knie mich auch für ihn rein.«

Den Mitarbeiter als Mensch mit Eigenheiten und Gewohnheiten sehen – was bedeutet das für Ihr Verhalten?

Bei exzellenten Chefs ist diese Haltung nicht aufgesetzt oder gar vorgetäuscht. Mitarbeiter merken schnell, ob der Chef sich wirklich für ihre Wochenendpläne interessiert oder nur fragt, um gute Stimmung zu machen.

Unter meinen Kunden ist ein Verkaufsdirektor, der mich jedes Mal, wenn wir telefonieren oder uns treffen, fragt: »Herr Jotzo, wie geht es Ihnen?« An seinem Tonfall und an seiner Reaktion auf meine Antworten merke ich: Er fragt nicht nur aus Höflichkeit, er will wirklich wissen, wie es mir geht. Deswegen antworte ich ihm auch nicht mit den üblichen Floskeln. Dieser Mensch bekommt eine persönliche Antwort von mir, und auch ich interessiere mich nun noch mehr dafür, wie es ihm geht. Danach läuft das weitere Gespräch auf einer anderen Ebene ab, als wenn wir nur höfliche Floskeln ausgetauscht hätten. Im Gespräch selbst ist dieser Verkaufsdirektor übrigens extrem zielorientiert und weiß sehr genau, was er will.

Was aber ist bei Ihnen los, wenn es Sie insgeheim entsetzlich anödet, Ihrem Außendienstmitarbeiter dabei zuzuhören, wie er von seiner Rockband schwärmt? Wenn die Privatsphäre Ihrer Mitarbeiter Sie nicht wirklich interessiert? Wollen Sie sich nicht damit beschäftigen? Das könnte ich verstehen. Können Sie nicht? Tut mir leid, aber das nehme ich Ihnen nicht ab. Jeder Mensch besitzt eine natürliche Neugier – sie ist angeboren.

Alle Babys beobachten ihre Umwelt mit großen Augen, und sobald sie krabbeln können, stürmen sie auf unbekannte Dinge zu, ertasten und begreifen, was sie erreichen können, und stecken es sogar in den Mund, um das Material und den Geschmack zu untersuchen. Diese Neugier wird uns leider später teilweise aberzogen: »Lass doch den Käfer, jetzt lernen wir Mathematik!«

Sie müssen eigentlich nur eines tun: Reaktivieren Sie Ihre natürliche Neugier und lassen Sie sie zu. Denken Sie nicht, dass Ihre Zeit zu kostbar ist, um sich mit den Vorlieben und Abneigungen Ihrer Mitarbeiter zu beschäftigen. Im Gegenteil: Sie ist in ein paar Fragen nach der Familie und dem Urlaubsziel ausgesprochen gut investiert. »Rede, damit ich dich sehe«, forderte Sokrates seine Mitmenschen auf; er war sich sicher, dass er aus der Art seines Gegenübers zu sprechen seinen Charakter erkennen konnte. Sie können das auch.

Warum ich denke, dass die Zeit dafür sinnvoll investiert ist? Weil Sie damit zeigen, dass Sie Ihren Mitarbeiter als vollwertiges Wesen anerkennen. Sie erfahren durch diese Neugier etwas über seine Stärken und Schwächen, Vorlieben und Abneigungen, und das wird Ihre täglichen Beobachtungen sinnvoll ergänzen. Dieses Wissen erlaubt es Ihnen, den Mitarbeiter optimal zu fördern, seine Defizite auszugleichen und ihn für die Aufgaben einzusetzen, die ihm am meisten Spaß machen und am leichtesten von der Hand gehen. Und es schafft eine Beziehungsebene, die es ermöglicht, dass der Mitarbeiter sich auf diese persönliche Entwicklung einlässt. Indem Sie diese Ebene schaffen, zünden Sie die erste Stufe des Raketentriebwerks, das Ihre Abteilung abheben lässt. Die zweite Zündstufe folgt sogleich.

titelei.jpg

Warum ich dieses Buch geschrieben habe

Der Grund dafür ist ganz einfach: weil ich immer noch zu vielen guten Führungskräften begegne – und zu wenig exzellenten.

Die Führungskräfte in meinen Trainings sind häufig so geprägt, wie es die Managementliteratur zurzeit propagiert und es in der Gesellschaft als vorbildlich gilt. Es gibt viele Chefs, die sich als freundlicher Coach ihrer Leute verstehen und die versuchen, stets lobenswerte Details zu finden – ganz egal, wie groß der Schaden ist, den ihr Mitarbeiter gerade angerichtet hat. Um es auf einen Nenner zu bringen: Der Trend läuft in der Führung eindeutig in Richtung »motivierender Sonnyboy« oder »verständnisvoller Familienvater«. Und ich fürchte, das ist ein Fehler.

Verstehen Sie mich bitte richtig: Ich plädiere nicht für einen Rückfall in einen autoritären Führungsstil. Was aber jeder, der die Wirtschaft von innen kennt, ebenfalls weiß, ist Folgendes: Der konsensorientierte Führungsstil bringt Unternehmen und Mitarbeiter nicht weiter. Denn damit laufen sie Gefahr, sich in der Komfortzone einzurichten und sich vor lauter Streben nach Harmonie mit Mittelmaß zufriedenzugeben. Und das ist sicherlich nicht das, was Sie wollen, oder?

Was also ist zu tun? Nett bleiben, den Kumpel geben und einfach noch deutlicher Ziele setzen, alles delegieren, was man delegieren kann, bei alldem engmaschiges Feedback geben und eine offene Fehlerkultur fördern – reicht das aus?

Meine Überzeugung ist: Der Chef, der all das macht, ist gut. Vielleicht sogar sehr gut. Aber eben nicht exzellent. Ein herausragender Chef tut mehr: Er ermächtigt seine Mitarbeiter, den Laden ganz allein zu schmeißen. Und das geht nur mit einem Quantensprung in der Führungskultur:

Mit anderen Worten: Nicht jeder Kumpelchef ist auch eine gute Führungskraft. Für exzellente Ergebnisse braucht es konsequente, situative und individuelle Führung. Und die kann manchmal so unangenehm daherkommen, dass Sie zeitweilig kein Mitarbeiter mag. Aber die Ergebnisse werden Ihnen recht geben.

In diesem Buch zeige ich Ihnen, wie Sie genau das schaffen: von der guten zur exzellenten Führungskraft zu werden.

Markus Jotzo, März 2014

PS: Sie werden in diesem Buch an einigen Stellen auf eine URL stoßen (http://q-r.to/HEV), über die Sie hilfreiches Zusatzmaterial abrufen können. Um auf die entsprechende Seite zu gelangen, benötigen Sie ein Kennwort. Es lautet: Exzellente Führung.

Kapitel 1: Passion.
Wie Ihre Leute weit mehr machen als ihren Job

Was wäre aus der Dresdner Frauenkirche geworden, wenn es das Dritte Reich und die Bombardierung nicht gegeben hätte? Das kann niemand mit Sicherheit sagen. Aber es gibt Grund zur Vermutung: Sie hätte sowieso nicht mehr lange gestanden.

Seit dem Bau der Kirche im Jahr 1726 wurden die Innenpfeiler der Kuppel jedes Jahr ein paar Millimeter mehr nach außen gedrückt, weil sie die gewaltige Last nicht tragen konnten. Der Architekt George Bähr, der im 18. Jahrhundert die Frauenkirche entwarf, hatte sich bei der Statik verrechnet. Die Konstruktion leitete nicht, wie er dachte, einen Teil der Kräfte über die Außenmauern ab. Die acht Innenpfeiler mussten das gesamte Kuppelgewicht tragen; dafür wurden ein viel zu weicher Sandstein und schlechter Fugenmörtel verwendet. Die Folge: Schon beim Bau traten erste Risse auf. Immer wieder bröckelten einzelne Steine heraus und wurden notdürftig ersetzt; alle paar Jahrzehnte mussten die Pfeiler mit weiteren Metallklammern verstärkt werden. Erst 1942 wurde die Kuppel mit Gurtbögen und Ringankern aus Stahlbeton stabilisiert – knapp drei Jahre, bevor die Dresdner Frauenkirche im Bombenregen unterging.

Ein monumentales Gebäude mag noch so prächtig aussehen – richtig stabil steht es nur, wenn der Statiker richtig gerechnet hat und das richtige Baumaterial an der richtigen Stelle verwendet wurde. Für die Stützpfeiler ist ein stabileres Gestein nötig als für die Fassadenverblendung. Die Außenfassade braucht eine witterungsbeständige Verblendung – im Gegensatz zur Innenfassade, bei der es mehr auf die Optik ankommt. Ein guter Baumeister achtet darauf. Die besten Baumeister aber untersuchen die Beschaffenheit jedes einzelnen Steins: Schichtung, Maserung, Unregelmäßigkeiten, Sprünge etc. Entsprechend wählen sie seine Ausrichtung und die ihn umgebende Struktur, sodass seine Eigenschaften optimal zum Tragen kommen. Und sie weisen den Steinmetz an, diesen Stein genau so zu behauen, wie es seine Eigenschaften und seine geplante Position im Gebäude erfordern.

Was hat das mit Ihrer Rolle als Führungskraft zu tun? Einiges. Denn Sie finden sich in der Rolle eines Baumeisters wieder – Ihre Mitarbeiter sind die Bausteine, das Unternehmen ist das Gebäude.

Natürlich hängt die Qualität der Ergebnisse in Ihrer Abteilung davon ab, welche Art Mitarbeiter Sie haben. Aber nicht nur. Es ist auch Ihre Aufgabe als Chef, die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, die Ihre Mitarbeiter zur Höchstform auflaufen lassen.

Der beste Weg, um dieser Verantwortung gerecht zu werden, sieht so aus: Sie beobachten Ihre Mitarbeiter und deren Arbeitsergebnisse. Wenn jemand seine Ziele nicht erreicht, beurteilen Sie, ob Sie den Mitarbeiter weiterentwickeln können oder ob es sich um einen hoffnungslosen Fall handelt, von dem sich das Unternehmen trennen sollte. Entwicklungsfähige fördern Sie nach Kräften – zum Beispiel mit Fortbildungen oder indem Sie Mitarbeitern mit Ausbildungsbedarf einen erfahreneren Kollege zur Seite stellen. Außerdem achten Sie darauf, dass Sie bei jeder Delegation vollständige und konkrete Informationen zu den Zielen der Aufgabe und den Entscheidungsbefugnissen des Mitarbeiters vermitteln.

Für Fragen Ihres Mitarbeiters sind Sie ansprechbar. Sie stacheln seinen Leistungswillen an, indem Sie ihm die Wichtigkeit der Aufgabe verdeutlichen, ihm regelmäßig Feedback für seine Leistung geben und ihn beim Erreichen seiner Karriereziele unterstützen. Regelmäßig fördern Sie die nötigen Kompetenzen, bis die Ergebnisse des Mitarbeiters einwandfrei sind. Dann können Sie sich zufrieden zurücklehnen: Mission erfüllt. Das Umsatzziel ist erreicht, die Kosten sind unter Kontrolle, die Kunden sind zufrieden. Alles im grünen Bereich. Oder?

Jein.

Diese Vorgehensweise ist gut. Richtig gut sogar. Längst nicht alle Chefs machen ihren Job so gut. Wenn Sie es tun, gehören Sie zu den positiven Ausnahmefällen. Sie sind wie ein Baumeister, der sich genau überlegt, welches Gestein er wohin verbaut. Sie sind ein guter Chef. Ein sehr guter sogar. Aber noch kein exzellenter.

Selbst wenn Sie Ihre Mitarbeiter schulen, bis sie alles können, was sie für ihren Job brauchen, ja sogar alles, was man überhaupt in diesem Bereich können kann: Damit ist noch lange nicht garantiert, dass sie ihr Know-how optimal einsetzen.

Wenn ein Mitarbeiter noch keine sehr guten Ergebnisse erzielt, liegt es nahe, dafür seine mangelnde Kompetenz verantwortlich zu machen. Das ist eine Annahme, die stimmen kann – oder auch nicht. Aber sie wird selten hinterfragt; und so kann es sein, dass man sich auf eine Lösung festlegt, die zum falschen Problem gehört.

»Der kann es noch nicht besser, das müssen wir ihm noch beibringen«, denkt sich so mancher Chef. Deswegen zielt die übliche Art, Mitarbeiter zu fördern, vor allem auf eins ab: Kompetenzaufbau. Vom Schweißerkurs über die Lebensmittelchemiker-Fachtagung bis hin zum Managerseminar, vom Kommunikationstraining bis zur Schulung in interkultureller Kompetenz: Bei all diesen Fortbildungsmaßnahmen geht es ums Wissen und Können. Das ist unerlässlich, keine Frage. Aber es reicht nicht.

Ob ein Mitarbeiter exzellente Ergebnisse erzielt, hängt noch von anderen Faktoren ab. Das eigentliche Problem liegt nämlich in vielen Fällen gar nicht in der Kompetenz. Sondern in den Eigenheiten und eingeschliffenen Gewohnheiten des Mitarbeiters.

Für Claudia.

Danke, dass du mich täglich förderst und forderst.

Wie der Chef, den keiner mochte, einmal beinahe ganz allein dastand

»Cappuccino oder Espresso?«

»Hm, ich weiß gerade gar nicht. Was dir weniger Mühe macht.« Tom schaut sich in Mikes Wohnung um. Schick. Besonders der Ledersessel wirkt einladend. Tom setzt sich zu Yasmin, Petra und Benni, die schon um den gläsernen Couchtisch versammelt sind. Mike macht sich an seinem Kaffeeautomaten zu schaffen – natürlich das allerneueste Modell der Firma, für die sie alle arbeiten.

Noch.

Jeder der fünf ist in den letzten Tagen zu Hause von Ralf Sonne angerufen worden. Der ehemalige Vertriebsleiter hat ihnen Jobs in seiner neuen Firma angeboten, einem japanischen Hersteller für intelligente Haus- und Bürosteuerung, der sich gerade in Europa eine neue Zentrale aufbaut. Als Mike mitbekommen hat, dass mehrere seiner Kollegen ebenfalls so ein Angebot bekommen haben, hat er sie zu sich nach Hause eingeladen. Zur Besprechung. Es geht um die Frage: Was tun?

Und hier sitzen sie nun. Petra nestelt an ihrem Blusenkragen herum. Benni rührt in seinem Cappuccino. Aber direkt schaut niemand den anderen an.

»Wäre ja schon schade, wenn das Team auseinandergerissen wird«, bricht Yasmin das Schweigen und löffelt Zucker in ihren Kaffee. Mike und Benni murmeln Zustimmung.

Dass Ralf Sonnes Team zusammenhält wie Pech und Schwefel, hat Tom zur Genüge mitbekommen. Bei jeder Betriebsfeier sitzen sie zusammen. Ihr Tisch ist immer der lauteste und fröhlichste. Toms unmittelbare Kollegen aus dem Marketing dagegen verbringen die Feiern meistens mit Leuten, denen sie nicht täglich begegnen. So geht es auch Tom: Nicht, dass er etwas gegen seine Kollegen hätte, aber er spürt auch nicht das Bedürfnis, jede freie Minute mit ihnen zu verbringen.

Das muss man ihnen lassen, denkt Tom. Sie haben eine echt klasse Stimmung im Team. Woran das wohl liegt? Sicher daran, dass sie alle auf einer Wellenlänge sind. Aber bestimmt auch an Sonne. Der verbreitet gute Laune, wohin er auch kommt. Das wird bestimmt beim Japaner auch so sein. Vielleicht haben die ihn ja gerade deshalb genommen. Wäre schon nicht schlecht, dort mit von der Partie zu sein.

Tom starrt in seine Kaffeetasse. Eigentlich ist das ja eine Entscheidung, über die man gar nicht lange nachzudenken braucht. So eine einmalige Gelegenheit kann man sich doch nicht entgehen lassen. Aber irgendetwas lässt Tom zögern, bereitet ihm noch Bauchschmerzen. Die Frage ist nur: Was bloß?

Während die anderen sich unterhalten, rührt Tom mechanisch in seinem Kaffee. Obwohl er weder Zucker noch Milch genommen hat. Und seine Gedanken kreisen weiter.

Worauf kommt es bei der Arbeit eigentlich an?, schießt es ihm durch den Kopf. Auf die Stimmung? Auf die Kollegen? Was macht mir denn am meisten Freude?

Neulich zum Beispiel, als er sein Promotionkonzept abgegeben hat und wusste: Es ist rundum gelungen. Das war ein toller Moment! Da hat er sich gefühlt wie ein Rennwagen mit Düsenantrieb. Den ganzen Tag lief er danach strahlend durchs Unternehmen. Obwohl er noch gar keine Rückmeldung vom Chef hatte … Starke Sache, definitiv. Aber so etwas kommt nicht jeden Tag vor. Was aber jeden Tag vorkommt, sind die Rückmeldungen seines Chefs: »Nicht gut genug. Von Ihnen erwarte ich mehr.« Das macht natürlich nicht so viel Spaß.

So richtig gelacht hat er zuletzt – das fällt ihm jetzt ein, wo sein Blick den von Yasmin kreuzt – in der Kaffeepause letzten Dienstag, als Yasmin so umwerfend Michael Mittermeier nachgemacht hat. Wenn es solche Momente nicht gäbe, wäre er inzwischen vermutlich schon verzweifelt. Im Marketing kommen sie leider viel zu selten vor. Immer im unpassendsten Moment steht dort sein Chef, Alfred Grau, mit seiner sauertöpfischen Miene in der Tür und fragt, wie es um irgendein Projekt steht, das man gar nicht mehr auf dem Schirm hatte. Er fragt nach, was nicht läuft, und was man tun könnte, damit es läuft. Mit seiner bohrenden Fragerei kann er einem schon ziemlich auf die Nerven gehen. Und wenn man ihn um Hilfe bittet, entgegnet er meist nur mürrisch: »Was schlagen Sie denn vor?« Da vergeht einem die Lust am Flachsen.

Am besten wäre doch beides: gute Stimmung und gute Ergebnisse. Das muss doch möglich sein, denkt Tom. Und wenn nicht – was wäre mir wichtiger?

»Total schade, dass er geht«, hört Tom Mike laut sagen. Das anfängliche Murmeln hat sich in ein Gespräch verwandelt, das nicht mehr zu überhören ist.

»Ja, und ich verstehe es auch nicht ganz«, entgegnet Yasmin. »Wir sind so ein eingespieltes Team. Läuft doch super bei uns! Warum will er da weg?«

»Hmm«, macht Tom und denkt: Das ist schon ein bisschen komisch. Vor allem, dass das so spät bekannt wurde, erst als er fast schon weg war. Und in der Erklärung der Geschäftsleitung standen nur die üblichen Floskeln. »Im beiderseitigen Einvernehmen« und so weiter. Schwer zu sagen, was das heißen soll, da kann man so ziemlich alles reininterpretieren. Nicht ausgeschlossen, dass es hinter den Kulissen sogar Knatsch gegeben hat. Was da wohl genau gelaufen ist?

»Na ja, vielleicht hat er bei uns keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr gesehen«, spekuliert Benni. »Oder er findet intelligente Haus- und Bürosteuerung einfach spannender als Kaffeemaschinen.«

»Stimmt, das würde zu ihm passen«, wirft Mike ein. »Er hat ja immer die neuesten Apps auf seinem Smartphone und …«

»Die Firma ist jedenfalls richtig cool«, fällt ihm Yasmin ins Wort. »Ich hab’ ihren Messestand gesehen. Doppelt so groß wie unserer, mindestens. Absolut durchgestylt. Der Hammer!«

»Ja, aber wie steht’s mit den Zahlen? Hat sich mal jemand den Geschäftsbericht angeschaut?«, fragt Petra.

»Nicht direkt«, sagt Mike und lehnt sich demonstrativ zurück. »Aber den Aktienkurs. Der ist im letzten Jahr um ein Drittel gestiegen.«

»Der Aktienkurs …«, murmelt Tom leise vor sich hin. Unserer steigt nur leicht, denkt er bei sich. Aber der Umsatz ist in den letzten Jahren auch immer gewachsen. Schade, dass wir über die Japaner keine Zahlen haben. Welches Unternehmen steht nun eigentlich besser da?

Über diese Frage kann Tom aber nicht weiter nachdenken, denn Benni hält ihm plötzlich sein Tablet vor die Nase.

»Guckt mal, die Website von den Japanern. Hier ist eine Simulation, was intelligente Haus- und Bürosteuerung alles kann. Cool, oder?«

»Sieht schon so aus, als ob es Spaß macht, mit diesen Produkten zu arbeiten. Stellt euch vor, einen ganz neuen Markt aufzubauen! Wenn das keine spannende Aufgabe ist«, sagt Yasmin und korrigiert sich im selben Moment selbst. »Andererseits, eine Kaffeemaschine braucht jeder, da ist das Marktpotenzial größer.« Jetzt bewegt sie ihren Kopf hin und her und fixiert dabei die Salzstangen, die bis jetzt noch niemand angerührt hat.

Da hat sie einen wichtigen Punkt angesprochen, denkt Tom. Die Wirkung, die ich mit meiner Arbeit erzielen kann. Die ist mir wichtig. Nur: Wo ist sie größer?

»Weiß jemand, was für einen Firmenwagen man dort bekommt?«, fragt Mike. »Es wäre ja schon nett, bei den Kunden in einem cooleren Auto vorzufahren als im Passat.«

»Du und dein Firmenwagen«, spottet Petra. »Als ob das das Wichtigste ist. Männer!«

»Also Entschuldigung«, wehrt sich Mike. »Ich sitze im Schnitt jeden Tag drei oder vier Stunden am Steuer. Das Auto ist mein Arbeitsplatz. Dir ist es doch auch nicht egal, auf welchem Bürostuhl du sitzt und auf welchen Bildschirm du jeden Tag acht Stunden starrst!« Er kreuzt die Arme und zeigt seinen typischen Beleidigte-Leberwurst-Gesichtsausdruck.

»Also, welches Auto die normalen Vertriebler dort bekommen, weiß ich nicht«, wirft Benni ein. »Aber Ralf hat mir gesagt, dass er einen 5er-BMW hat.«

Mike nickt anerkennend. Das klingt gut.

Klar, für einen Außendienstler ist das Auto wichtig, denkt Tom. Nicht nur als Wohlfühlfaktor, sondern auch für den Eindruck, den man beim Kunden hinterlässt. Aber es kann auch für Verkäufer nicht das Einzige sein, was zählt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Mike egal ist, welches Produkt er vertreibt. Oder wie seine Kunden drauf sind. Und schon gar nicht, wie viel Umsatz er macht. Na, wie auch immer. Was Mike denkt, ist letztlich Mikes Sache. Die Frage ist, was ich denke. Was will ich denn erreichen? Mehr Gehalt? Schickes Auto? Würde mich freuen, klar, aber der Grund, warum ich mich hier ins Zeug lege, ist nicht nur das Geld. Sonst würde ich woanders arbeiten. Nein, sonst hätte ich gleich was anderes studiert …

»Also!«, sagt Mike bestimmt. »Ich denke, wir sollten entweder alle gehen oder alle bleiben. Sonst wirkt das komisch. Was meint ihr?«

Die anderen um den Tisch herum nicken stumm. Aber keiner will den Anfang machen und sich festlegen. Yasmin schaut zu Tom, Benni steht auf und holt sich noch einen Kaffee. Jetzt dreht sich auch Petra in Richtung Ledersessel, auf dem Tom es sich bequem gemacht hat.

»Mensch, sag doch auch mal was. Wieso bist du heute so still?«, fordert Petra ihn auf und schaut ihn durchdringend an.

Wie bei einer mündlichen Prüfung rutscht Tom jetzt in seinem Sessel nach hinten. Seine Kollegen sehen aus wie eine Prüfungskommission.

»Bitte, was, Petra?«, fragt er und hält eine Hand an sein Ohr, als hätte er sie nicht richtig gehört.

»Du könntest dort bestimmt Abteilungsleiter werden, mindestens. Würde dich das nicht reizen?«

Normalerweise ist er der Schnellste im Kopf, aber heute scheint Tom länger als alle anderen zu brauchen, um auch nur den einfachsten Gedanken zu fassen. Er schaut in die erwartungsvollen Gesichter und sagt schließlich:

»Sorry, ich weiß es grad’ echt nicht.«

Yasmin spielt nervös mit ihren Händen herum. »Natürlich, es wäre schon heftig, wenn gleich vier oder fünf Leute auf einmal gehen würden. Die Lücke können sie nicht so schnell wieder schließen. Das dauert ja, bis die Nachfolger eingearbeitet sind.«

Petra lehnt sich vor.

»Du meinst also, wir sollten bleiben?«

Yasmin macht eine abwehrende Geste.

»Ich meine nur, das ist auch ein Punkt, an den wir denken müssen. Immerhin haben wir der Firma auch einiges zu verdanken.«

»Aber Ralf hat unsere Loyalität mindestens genauso verdient«, platzt Benni heraus. »Wisst ihr noch, die Sache mit dem Leasingprojekt?«

Mikes lautes Lachen durchbricht die Stille.

»Ja, das hat er klasse hingekriegt!«

»Was ist da denn gelaufen?«, will Petra wissen. Und Benni legt los:

»Na ja, du kannst dich sicher erinnern, dass letztes Jahr unser neuestes Leasingkonzept zum Schwerpunktprojekt erklärt wurde.«

»Mhm, klar, die Sache hat ja Legendencharakter. Dass der Vertrieb so etwas durchsetzt, passiert nicht jeden Tag«, lächelt Petra.

»Tja, das war Ralf Sonnes Werk«, fährt Benni fort. »Ralf hat gegenüber dem CEO all seine Verkäuferfähigkeiten, all sein Charisma und seine brillanteste Argumentation aufgefahren, um ihn zu überzeugen, dass die Rentabilität besser sein würde als bei allen Vorschlägen der anderen Bereiche.«

»Ich erinnere mich«, ruft Petra. »Der Entwicklungsleiter war wochenlang sauer, weil er sich mit seinem Projekt übergangen gefühlt hat.«

»Mag sein. Aber wir Vertriebler konnten endlich zeigen, was in uns steckt. Über 10.000 Neukunden haben wir mit der Aktion gewonnen. Beim Firmensommerfest hat Sonne dann stolz die Ergebnisse präsentiert und sogar die Projektleiter auf die Bühne gerufen. Das war einfach genial, wie wir den Erfolg gefeiert haben.«

Respekt! Schon klasse, wie Sonne seine Leute ins Rampenlicht rückt, denkt Tom. Der Mann ist ein echter Motivator für seine Abteilung.

Andererseits steht der Vertrieb seit dieser Aktion in den Augen der meisten anderen Abteilungen weniger gut da. Anscheinend bringt Sonne seine Abteilung voran und trübt gleichzeitig das Verhältnis zu den anderen Unternehmensbereichen.

Tom spielt jetzt mit seinem Schnürsenkel und dreht ihn, als ob er einen Wollfaden spinnen würde.

Klar, in vielen Unternehmen gibt es Grabenkämpfe, fällt ihm ein. Aber gibt es die in jedem Unternehmen? Nun hat er so stark an seinem Schnürsenkel gezogen, dass die Schleife sich gelöst hat.

»Roten oder weißen?«, will Mike wissen.

Er hat Weingläser aus der Vitrine geholt und schenkt reihum ein. Beim Absetzen dreht er die Flasche leicht, sodass der letzte Tropfen zurück in den Flaschenhals rollt.

Während Tom noch überlegt, hält Petra schon ihr Glas hin und schenkt Mike ein charmantes Lächeln. »Das sieht ja echt profimäßig aus bei dir, wenn du Wein einschenkst«, sagt sie und schaut ihm in die Augen.

Tom runzelt die Stirn. Profimäßig? Das ist doch Standard! Und Petra ist doch verheiratet … Aber das ist ihm schon früher aufgefallen: Die Sonne-Leute lassen nie eine Gelegenheit aus, einander positives Feedback zu geben. Anscheinend haben sie sich das von ihrem Chef abgeschaut.

Sogar Tom, der gar nicht so viel mit Sonne zu tun hat wie die anderen, ist diese spezielle Masche schon aufgefallen: Selbst wenn so einiges gründlich schiefgegangen ist, findet der immer irgendeinen Erfolg für den Einstieg in das Feedback. Kein Wunder, dass seine Leute immer so gut drauf sind. Sonne schafft es, selbst ganz negative Rückmeldungen rhetorisch so zu verpacken, dass seine Mitarbeiter motiviert bleiben. Fast ein wenig zu viel kommt Tom das manchmal vor. Aber das ist vielleicht immer noch besser als bei Grau, von dem man selten etwas Positives hört.

Der haushaltet echt schwäbisch mit seinem Lob: Normal gute Leistungen werden kaum kommentiert. Nur wenn etwas wirklich herausragend war, findet er es erwähnenswert. Mit seiner Kritik dagegen kann er recht harsch sein. Besonders in seiner Anfangszeit ist es Tom mehrmals passiert, dass Grau sein sorgfältig erarbeitetes Konzept nur kurz überflogen und dann gesagt hat: »Das setzt ja am völlig falschen Punkt an. Das schaue ich mir gar nicht näher an, da müssen Sie noch mal ran. Und überlegen Sie sich, was Sie bei der Zielgruppe auslösen wollen.« Wamm. Das war heftig. In dem Moment hätte Tom dem Grau am liebsten seine Konzeptmappe an den Kopf geworfen. Aber der war schon längst zur Tür raus.

Andererseits: Danach wusste Tom, woran er war. Beim überarbeiteten Konzept hat Grau dann genickt. Und inzwischen weiß Tom selbst sehr genau, worauf er achten muss. So blöde Fehler wie am Anfang sind ihm nachher nicht mehr passiert.

Petra dreht ihr Weinglas zwischen den Fingern und sagt: »Die müssen ja einen ganzen Haufen Stellen besetzen, wenn sie jetzt ihre Niederlassung aufbauen. Von verschiedenen Positionen im Vertrieb über den Zuständigen für die Internetpräsenz bis hin zu Entwicklern, die ihre Systeme der europäischen Büro- und Wohnsituation anpassen. Wie die Organisationsstruktur bei denen aufgebaut ist, das würde mich interessieren.«

Offenbar versucht sie herauszufinden, wer welche Position angeboten bekommen hat, interpretiert Tom.

Klar, der Stellenwechsel ist eine tolle Chance, um Karriere zu machen. In Sonnes Abteilung ist sonst wenig Bewegung. Die Leute kommen und bleiben. Inzwischen sind Yasmin, Benni und Mike bestimmt schon für höhere Positionen qualifiziert, bei all den Fortbildungen, die Sonne ihnen zukommen lässt. Ständig ist jemand ein paar Tage hier oder dort auf einem Seminar. Sonne hat sich sogar ein festes Budget für Fortbildungen von der Betriebsleitung erstritten und sorgt dafür, dass es auch genutzt wird. Das hat Benni Tom ein paar Mal erzählt, als er völlig euphorisch von der einen oder anderen Fortbildung zurückkam, die Sonne ihm empfohlen hatte.

 

Die A-Prioritäten waren klar: Plakatwerbung und Fernsehspots. Bei den restlichen Elementen musste Tom einen Moment überlegen, dann entschied er, dass die Social-Media-Kampagne und Handelsaktionen Priorität B waren und alles andere C. Grau nickte und sagte: »Dann lassen Sie die C-Sachen weg.«

Tom war verblüfft. Und auch ein bisschen beleidigt.

»Meinen Sie, dass ich das nicht alles schaffen kann?«

»Ich will nicht, dass Sie Ihre Zeit mit C-Prioritäten vergeuden«, sagte Grau knapp und verschwand in sein Büro.

Mal wieder so ein Auftritt, der Tom mit gemischten Gefühlen zurückließ. Trotzdem konzentrierte er sich danach auf die A- und B-Prioritäten. Und tatsächlich: Die Kampagne wurde ein voller Erfolg.

Woran wird wohl die Leistung im Haus- und Bürosteuerungs-Unternehmen gemessen? An den Ergebnissen, die jemand liefert? An der Zahl der Aufgaben, die er erledigt? An den Stunden, die er im Büro verbringt?

»Beim japanischen Unternehmen gibt es einen Kinderhort«, sagt Petra. »Und sie würden bei der Wohnungssuche helfen. Ralf hat zu mir gesagt, dass er dafür sorgt.«

Ja, das hatte er zu Tom auch gesagt. Und ihm auch sonst alle mögliche Unterstützung für den Standortwechsel zugesagt. Sonne kümmert sich echt um seine Leute. Tom ist sich nur nicht ganz sicher, was er davon halten soll. Ein bisschen erinnert ihn das an seine Mutter, die es sich immer noch nicht nehmen lässt, ihm nach jedem Besuch bei ihr ein Fresspaket mitzugeben.

Will ich wirklich das von meinem Chef, fragt sich Tom.

Mike macht noch mal die Runde mit den beiden Weinflaschen. Seinen stillen Kollegen, der im Ledersessel versunken ist, fragt er gar nicht mehr, ob rot oder weiß, nachdem der sich schon zweimal nicht entscheiden konnte. Aber jetzt ist Tom auf einmal wieder voll präsent. Er richtet sich auf, hebt sein Glas hoch und sagt zu Mike:

»Für mich roten, bitte!«

Alle stoßen miteinander an. Yasmin schaut von einem zum anderen und sagt mit komplizenhaftem Blick:

»Also, ich habe den Eindruck, dass wir uns eigentlich einig sind.«

Mike lächelt sie an, Benni nickt, und Petra atmet einmal tief durch. Nur Tom wirkt wie erstarrt. Sein Gesicht drückt gerade gar nichts aus.

Yasmin legt ihre Hand auf seine Schulter.

»Alles klar, Tom?«

»Ja ja, alles klar.«

»Was meinst denn du dazu?«, fragt sie ihn jetzt direkt.

Tom holt Luft, stellt sein Glas auf den Couchtisch, schaut jeden in der Runde kurz an und sagt dann:

»Ich bleibe bei Grau.«

Auf einmal herrscht Stille. Die Raumtemperatur ist mit einem Schlag um einige Grad gesunken. Yasmin starrt ihn verblüfft an. Petra verschluckt sich an ihrem Wein und muss husten. Der Einzige, der noch etwas sagen kann, ist Benni. Der stellt sein Glas ab und schaut Tom voller Unverständnis an:

»Wieso das denn?«