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Petros Markaris

Der Großaktionär

Ein Fall für
Kostas Charitos

Roman

Aus dem
Neugriechischen von
Michaela Prinzinger

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 2006 bei

Samuel Gavrielides Editions, Athen,

erschienenen Originalausgabe:

›Bασικóς μέτοχος‹

Copyright © 2006 by Petros Markaris

und Samuel Gavrielides Editions

Dieser Band wurde für die deutsche Fassung

in Zusammenarbeit mit dem Autor

nochmals durchgesehen

Umschlagfoto von W. Perry Conway (Ausschnitt)

Copyright © W. Perry Conway/Corbis/Dukas

 

 

Für Josifina

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23787 0 (7. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60634 8

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

Das Medium ist die Botschaft.

Marshall McLuhan

[7] 1

»Können Sie uns erklären, Frau Kollegin, warum Sie dieses Thema gewählt haben?«

Katerina trägt eine rote Bluse und ihre Lieblingsjeans. Ihre Kleidung wirkt vollkommen alltäglich. Den einzigen Unterschied macht die blaue Jacke mit der Brosche am Kragen, die sie speziell für diesen Anlaß angezogen hat. Auf ihrer Stirn glänzen Schweißperlen, sowohl vor Nervosität als auch wegen der schwülen Junihitze in Thessaloniki.

»Weil ich glaube, Herr Professor, daß manche Aufgaben weder nur auf juristischer noch auf rein politischer Ebene zu lösen sind. Ich wollte aufzeigen, daß für das Problem des Terrorismus ein interdisziplinärer Ansatz notwendig ist.«

Katerinas Blick ist auf die Professoren geheftet. Sie hält ihre Finger fest ineinander verschränkt, vielleicht um fahrige Bewegungen zu unterdrücken. Sie vermeidet es, den Blick in den Zuschauerraum zu richten, wo wir sitzen. Vermutlich fürchtet sie, vor lauter Aufregung den Faden zu verlieren.

Wie viele Jahre habe ich auf diesen Augenblick gewartet? Anfangs zählte ich nur die Jahre bis zum Diplom, vier, na ja, vielleicht auch fünf, falls sie bei einigen Prüfungen Anlaufschwierigkeiten hätte. Dann kam noch die Doktorarbeit hinzu, und es wurden acht Jahre daraus. Acht Jahre lang [8] zählte ich immer wieder nach, ob sich mein Gehalt nicht vielleicht doch erhöht hätte, ich zählte nach, wieviel wir für Miete und Lebensunterhalt brauchten, für meine Kleider und Hemden, für Adrianis Schuhe, ich kam mit dem Nachzählen gar nicht mehr nach… Irgendwann begannen dann anstelle der Tausend- und Fünftausend-Drachmenscheine Zwanzig- und Fünfzig-Euro-Scheine an mir vorbeizudefilieren, doch das kümmerte mich wenig.Ich zählte nach und fragte mich, wie wir acht Jahre lang mit den Kosten von Katerinas Studium über die Runden kommen sollten.

»Ist ein Tötungsdelikt im Rahmen einer terroristischen Tat juristisch gleichwertig mit einem, das im Zuge eines Eigentumsvergehens begangen wird?«

»Und was fängt sie dann mit dem Studium an?« fragten mich die Kollegen im Polizeikorps. »Bei einem Sohn, okay. Er muß Karriere machen, weil er bald heiraten und eine Familie gründen wird. Aber bei einer Tochter? Schreib sie doch in die Polizeischule ein, dann kriegt sie eine Beamtenstelle auf Lebenszeit mit einem sicheren Gehalt. Und wenn sie nicht Polizistin werden will, dann schick sie in die Berufsschule und laß sie eine Lehre machen, dann kann sie was dazuverdienen.«

Als ich ihnen erklärte, daß sie an der Juristischen Fakultät in Thessaloniki eingeschrieben sei, warfen sie mir seltsame Blicke zu, mit einer Miene, die besagen sollte, daß sie mich für eine Niete hielten, es aber wohlweislich nicht aussprachen. Ab und zu fragten sie, wie es Katerina gehe, wie das Studium vorankomme, wann sie ihren Abschluß mache. Als ich halbherzig und fast beschämt erzählte, daß sie nach [9] dem Diplom noch den Doktor mache, verbreitete sich dieselbe Grabesstille wie fünf Jahre zuvor bei Erwähnung der Universität. Nur Tsavaras von der Abteilung für Wirtschaftskriminalität meinte: »Da läßt du dich aber auf was ein…«

»Wenn im einen Fall die politische Verzweiflung eines unterdrückten Volkes als Tatmotiv fungiert und im anderen Habgier, so handelt es sich zwar in beiden Fällen um dasselbe Delikt, doch könnte der Richter im Strafmaß eventuell eine Differenzierung vornehmen.«

Ich werfe einen Blick zu Adriani, die drei Plätze weiter Platz genommen hat, weil sie vis-à-vis von Katerina sitzen wollte, um sie besser sehen zu können. Sie hat sämtliche Schmuckstücke angelegt, die ihr von ihrer Mutter vermacht wurden, ihren Verlobungs- und ihren Ehering sowie die Halskette, die ich ihr zu Katerinas Geburt geschenkt habe.

»Was ist in dich gefahren, daß du dich so herausputzt? Gehen wir vielleicht zu einem Empfang?« fragte ich sie, als sie fertig angezogen war.

»Wenn ich den Schmuck nicht einmal heute tragen darf, da mein Kind Grund zum Feiern hat, wann dann? Höchstens noch einmal bei ihrer Hochzeit, und dann sperre ich alles in einen Tresor.«

»Wie soll die Rechtsordnung dem Phänomen des Terrorismus begegnen?«

Bei jeder neuen Frage zeichnet sich in Adrianis Gesicht Angst ab, und ihr Blick heftet sich auf ihre Tochter. Sie zittert – wie damals bei der Aufnahmeprüfung zur Universität – innerlich vor Furcht, Katerina könnte die Antwort nicht wissen und durchfallen. Ihre Hand krampft sich um [10] ein Taschentuch. Bislang hat sie es nicht benützt, sie hat es für den Notfall dabei.

»Wozu denn Uni und Doktortitel? He Kostas, eine gute Hausfrau soll sie werden und einen netten jungen Mann kennenlernen. Ganz ungebildet muß sie ja nicht bleiben, damit sie auch ein Gehalt nach Hause bringt und nicht von ihrem Mann abhängig ist. Heute lassen sich ja die meisten Ehepaare am nächsten Tag schon wieder scheiden. Klar, sie sollte finanziell nicht in der Luft hängen. Aber Studium und Doktorat… Wozu soll das gut sein?«

»Der repressive Umgang mit dem Terrorismus ist notwendig, aber unzureichend. Ohne vorbeugende Maßnahmen, welche die Motive für den Terrorismus eindämmen, wird die Rechtsordnung, die Justiz, seiner Ausbreitung tatenlos zusehen müssen. So wie im Umgang mit Krebs Prophylaxe notwendig ist, so sind auch im Umgang mit dem Terrorismus Vorsorgemaßnahmen angezeigt.«

Glücklicherweise habe ich mir weder von meiner Frau noch von meinen Kollegen einen Floh ins Ohr setzen lassen. Ich habe meinen Kopf durchgesetzt und recht behalten. Der einzige, auf den ich hörte, war Kalamitis, Katerinas Schuldirektor, der damals kurz vor der Rente stand.

»Lassen Sie sie studieren, Herr Kommissar«, hatte er gemeint. »Ihre Tochter ist außergewöhnlich begabt. Sie wird es zu etwas bringen.«

Dieses »Sie wird es zu etwas bringen« gab den Ausschlag. Kalamitis hatte nicht gesagt »Sie wird gut abschneiden«, »Sie wird es schaffen« oder »Sie wird vorankommen«, sondern: »Sie wird es zu etwas bringen«. Die Tochter eines Bullen, die es »zu etwas bringt«. Da entschloß ich mich, alle [11] Einwände in den Wind zu schlagen und meinen Kopf durchzusetzen.

»Gibt es, Frau Kollegin, ein Recht auf den Tod?«

Ich sehe, wie sich Adriani unwillkürlich bekreuzigt und wie Fanis, der allein in der letzten Reihe sitzt, lächelt. Er ist am einfachsten von uns allen gekleidet. Er trägt ein T-Shirt und Jeans, und seine bloßen Füße stecken in Mokassins.

Er bemerkt meinen Blick und zwinkert mir aufmunternd zu. Von uns dreien bewahrt er die größte Ruhe, entweder weil er davon überzeugt ist, daß Katerina mit der Situation zurechtkommt, oder weil er in seiner Eigenschaft als Arzt gelernt hat, bei schwierigen Fällen nicht die Fassung zu verlieren.

»Zweifellos besitzt der Mensch das unbeschränkte Recht auf sein Leben, außer es würde Dritte oder die Rechtsordnung in Mitleidenschaft ziehen. Das Recht auf unseren Tod rundet den Begriff vom Recht auf unser Leben ab.«

Der Vorsitzende wendet sich an die übrigen Mitglieder. »Ich denke, wir können hier abbrechen. Gibt es weitere Fragen?« Die meisten schütteln den Kopf, ein oder zwei fügen noch ein leises »Nein« hinzu.

»Frau Kollegin, bitte warten Sie draußen.«

Katerina erhebt sich von ihrem Platz und geht direkt zur Tür, ohne nach rechts oder links zu blicken. Adriani und ich tauschen verlegene Blicke aus. Sollen wir bleiben oder auch hinausgehen? Adriani zuckt mit den Schultern, während ich mich zu Fanis drehe. Er bedeutet mir sitzen zu bleiben. Vorne an dem langen Tisch halten sich die Mitglieder der Prüfungskommission Katerinas Doktorarbeit wie einen Paravent vor den Mund, um ungestört zu konferieren. Nach [12] nicht einmal zehn Minuten kommen sie zu ihrem Ergebnis, doch mir kommt es wie eine Ewigkeit vor.

Katerina betritt den Saal, doch wiederum weicht sie unseren Blicken aus. Sie stellt sich vor die Prüfungskommission.

»Herzliche Gratulation, Frau Kollegin«, sagt der Vorsitzende. »Mit sechs zu einer Stimme ernennen wir Sie mit der Note sehr gut zur Doktorin der Rechte.«

»Sie wird es zu etwas bringen, Herr Kommissar«, hatte Kalamitis gesagt. »Sie wird es zu etwas bringen.«

[13] 2

Wir kehren in Fanis' Fiat Brava nach Athen zurück. Katerina hat mich an Fanis' Seite genötigt, damit ich bequemer sitze, und mit Adriani auf dem Rücksitz Platz genommen. Ihre Mutter ist nach der feuchtfröhlichen Feier von Katerinas Doktortitel mit Tsipouro und Fischhäppchen in einer Taverne in Kalamaria noch etwas wackelig auf den Beinen. Nun ist es zehn Uhr vormittags, und wir haben Platamonas bereits hinter uns gelassen, da uns Fanis' Eltern in Volos zum Mittagessen erwarten. Wir haben uns seit ihrem ersten Höflichkeitsbesuch bei uns zu Hause nicht mehr gesehen.

Adriani öffnet hin und wieder halb die Augen und sagt besorgt: »Fahr nicht so schnell, Fanis. Wir wollen am Eßtisch und nicht im Krankenhaus landen.«

Bevor sie Fanis' Antwort hören kann, ist ihr Kopf schon wieder vornübergesunken und wippt auf und nieder. Nach kurzer Zeit wacht sie wieder auf und sagt denselben Satz noch mal. Das zerrt an meinen und Katerinas Nerven, doch Fanis findet einen Weg, sie zu beruhigen, vielleicht weil er sie nie ernst nimmt.

»Nur keine Angst, Adriani«, meint er. »Ich fahre nur hundert, aber du bist an den Mirafiori deines Mannes gewöhnt, der über dreißig nicht hinauskommt, deshalb meinst du, wir rasen.«

»Ich steige niemals in das Auto meines Mannes, Fanis«, [14] fährt ihm Adriani über den Mund. »Denn ich habe keinerlei Lust, zu schieben und in meinem Alter mitten auf der Straße ein Schauspiel zu bieten.«

Ich fühle Fanis' Blick auf mir ruhen, doch ich betrachte durch die Windschutzscheibe lieber wortlos den vor uns fahrenden Mercedes 280 Kompressor, um nicht an einem so hochoffiziellen Tag die aktuellen und künftigen Familienmitglieder offen zu beleidigen.

Seit Jahren habe ich die Nationalstraße Athen–Lamia nicht mehr benützt. Genauer gesagt habe ich seit Jahren keine einzige Nationalstraße über die Grenzen von Elefsina oder Malakassa hinaus benützt. Die einzige darüber hinausgehende Fahrtroute der letzten Jahre ging übers Meer zur Insel, wo meine Schwägerin Eleni wohnt. Mein Heimatdorf in Epirus habe ich seit dem Tod meiner Mutter aus meinen Fahrplänen gestrichen. Nach Thessaloniki, wo Katerina studierte, bin ich bis auf gestern kein einziges Mal hochgefahren. Vielmehr geduldete ich mich, bis sie in den Weihnachts- und Osterferien zu uns nach Athen kam.

Wir biegen in die Straße nach Velestino ein, um nach Volos zu gelangen. Fanis' Eltern wohnen ein wenig außerhalb, an der Straße zum Ostpilion, in einer Maisonette griechischen Zuschnitts: unten der Laden und oben die Wohnung. Und auch der Laden ist eine Gemischtwarenhandlung griechischen Zuschnitts, die von Kurzwaren wie Näh- und Futterseide bis zu Makkaroni und Tomatensoße alles im Sortiment hat. Zunächst führen sie uns den Laden vor, und mit einemmal überkommt mich Heimweh nach der Zeit, als mein Vater, Unteroffizier bei der Gendarmerie, Ziegendieben und ich Taschendieben hinterherjagten. Und wenn ich [15] damals einen Ehrenmord aufzuklären hatte, ging ich zum Haus des Mörders, der auf einem Stuhl sitzend mit hängendem Kopf darauf wartete, daß ich ihm Handschellen anlegte. Nun haben Supermärkte die Krämerläden griechischen Zuschnitts verdrängt, und ich jage Mafiosi hinterher, die gewissermaßen das Personal in den Supermärkten des Verbrechens sind, wo alles im Angebot ist: von Ukrainerinnen und Rauschgift bis zu Nachtlokalen und großen Bürokomplexen.

»Den meisten Umsatz machen wir sonntags, wenn die anderen Geschäfte zu sind«, erläutert Sevasti. »Wie gut, daß den Griechen viele Dinge immer erst in letzter Minute einfallen.«

»Seitdem ich die Feldarbeit aufgegeben habe und mich nur mehr auf den Laden beschränke, habe ich das Sortiment erheblich aufgestockt«, ergänzt Prodromos, ihr Mann.

»Pflanzt du keinen Tabak mehr an?« frage ich. Als sie uns besuchten, hatte er von seinem Tabakanbau erzählt.

Prodromos schüttelt traurig den Kopf. »Ich bin zu alt für die Feldarbeit, Kostas. Notgedrungen und nur halbherzig habe ich den Acker hergegeben.«

»Den hättest du schon viel früher aufgeben sollen«, mischt sich sein Sohn ein. »Dann hättest du dir den Rücken nicht kaputtgeschuftet und müßtest kein Stützkorsett tragen.«

»Ich weiß, aber die Feldarbeit ist eben mein Leben.« Er lacht wieder auf. »Gut, daß hinter dem Haus ein kleiner Garten liegt. Den bepflanze ich und tröste mich über die Tatsachen hinweg.«

»Jedenfalls haben wir das Geld für das Grundstück gut angelegt«, fügt Sevasti hinzu. »Wir haben einen Kredit [16] aufgenommen und das Elternhaus meiner Mutter – zweistöckig mit fünf Zimmern – in Tsangarada hergerichtet. Das vermieten wir und verdienen mehr als mit dem Tabak.«

»Ihr vermietet Zimmer auf dem Pilion und wohnt in Volos?« wundert sich Adriani.

»Nein, wir vermieten das ganze Haus gleich für drei Monate an zwei oder drei deutsche Familien, die es abwechselnd benützen. So kassieren wir die Miete vorab und müssen uns nicht darum kümmern.«

»Ich kann mich noch erinnern, in der Besatzungszeit haben unsere Eltern davor gezittert, die Kommandatur könnte ihr Haus beschlagnahmen«, lacht Prodromos. »Heute stehen sie Schlange, um teures Geld dafür zu bezahlen. Das nenne ich Fortschritt.«

Ein Bravo den Deutschen, die es geschafft haben, von der Beschlagnahme zur Miete überzugehen, sage ich mir. Denn wir tun seit der Gründung des griechischen Staates stets dasselbe: Wir vermieten eine Wohnung oder verpachten einen Laden, einen Acker oder eine Lagerhalle und halten uns mit den Einkünften daraus über Wasser. Olympic Airlines fliegt mit gemieteten Flugzeugen, Taxibesitzer vermieten ihre Wagen an Taxifahrer und Busunternehmer ihre Fahrzeuge an die Fernbuslinie KTEL. Und auch der Durchschnittsgrieche lebt von Mieteinnahmen und Krediten.

Der Eßtisch gehört zur alten Garde, mit Politur und geschwungenen Beinen, die in breiten Tischfüßen enden. Er ist gedeckt wie in den französischen Filmen über die Bourgeoisie: weißes Tischtuch, weiße Damastservietten, zwei Gedecke und zwei Bestecke sowie drei Gläser, ein kleines, ein mittelgroßes und ein sehr großes. Das große und das [17] mittelgroße identifiziere ich als Wein- und Wasserglas, doch das kleine bleibt mir ein Rätsel, bis mir Prodromos Ousounidis die Lösung verrät.

»Hieraus trinken wir zuerst einmal einen Tsipouro, Kostas, und dann machen wir mit Wein weiter«, erklärt er und füllt mein Gläschen.

Ich erhebe es und stoße auf Katerinas Erfolg an. Dann trinke ich es halbleer, wobei es im Rachen wie Feuer brennt. Ich lasse noch Platz für ein Glas Wein während des Essens, das mit Artischocken in Zitronensoße und einer Wildkräuterpastete beginnt und mit Lamm in Weinblättern und Reis endet.

»Die Weinblätter und die Frühlingszwiebeln für die Artischocken stammen aus unserem Garten«, fügt Prodromos hinzu.

Ich blicke in die fünf Gesichter, die um den Tisch versammelt sind. Mit Ausnahme von Katerina und Fanis hat das Wort »Doktorat« für alle eine diffuse Bedeutung. Ich bin stolz darauf, weil das Doktorat Katerina helfen wird, es zu etwas zu bringen. Adriani sieht, daß ihre Tochter mit »sehr gut« bewertet wird, und ist stolz auf ihren Erfolg. Aber genauso stolz war sie, als Katerina das Lyzeum mit »sehr gut« abschloß. Prodromos und Sevasti betrachten Katerina als künftige Schwiegertochter und erwerben so das Recht, mit uns zusammen ihren Erfolg zu feiern. Was die Promotionsurkunde betrifft, so wissen wir nur, daß es eine Art Wertpapier darstellt, das über das Diplom hinausgeht. Und das reicht uns schon. Griechenland ist eine riesige Börse, wo alle mit ihren Papieren handeln, vom Aktienpaket bis zum Universitätsdiplom, vom Masterabschluß bis zur Promotion. [18] Damit sichert man sich Positionen und erwirtschaftet sich Gehaltszulagen, ohne daß irgend jemand weiß, worin ihr tatsächlicher Wert eigentlich liegt. So kann man sich mit einem Juradiplom auf der Sternwarte und mit einem Physikabschluß bei der Polizei wiederfinden. Wie an der Börse handelt man einfach mit seinem Papier.

Es ist schon nach fünf, als wir aufbrechen. Das Essen und der Tsipouro schläfern mich ein und ich döse an Adrianis Seite vor mich hin, während ich in der Ferne Katerinas und Fanis' flüsternde Stimmen höre, die sich auf den Vordersitzen miteinander unterhalten. Als wir beim Café Levendis anlangen, schlägt Fanis vor, eine Kaffeepause einzulegen, da er fürchtet, daß ihm sonst die Augen zufallen.

Ich weiß nicht, was mich veranlaßt, mitten im Café, wo sich vor den Kassen Schlangen gebildet haben, Kinder kreischen und Eltern sich mit vollen Tabletts bewehrt auf leere Tische stürzen, Katerina plötzlich zu fragen: »Wann wirst du dich als Richterin bewerben?«

Adriani und Fanis haben nicht erwartet, daß ich nach fünfstündiger Reise mit eingeschobenem Gelage in Volos eine solche Frage stelle, und blicken mich erstaunt an. Katerina hingegen wirkt eher verlegen. Etwas liegt ihr auf der Zunge, und sie sucht nach einem Weg, es mir auf die sanfte Tour beizubringen.

»Petropoulos, der Professor für Strafrecht, hat mir vorgeschlagen, in seine Forschungsgruppe einzutreten«, sagt sie schließlich. »Er stellt mich als wissenschaftliche Mitarbeiterin ein. Sobald eine Lektorenstelle ausgeschrieben wird, könnte ich mich bewerben.«

Diese Nachricht wirkt auf mich wie eine kalte Dusche. [19] Wenn der erste Teil des Traums der Erwerb des Doktortitels war, so bildete den zweiten und längerfristigen der Wunsch, sie als Richterin den Vorsitz führen zu sehen, während ich stolz im Publikum sitze. Das hatte ich ihr zwar nie direkt gesagt, aber wir hatten unzählige Male über meinen Traum gesprochen, und sie wußte davon.

»Findest du, daß… die Abgeschiedenheit der Wissenschaft besser zu dir paßt?« Ich beiße im letzten Augenblick die Zähne zusammen und spreche von »Abgeschiedenheit« und nicht von »Mief«.

Die Worte gehen ihr nur langsam über die Lippen, als müßte sie erst nach ihnen suchen. »Im Zuge der Doktorarbeit habe ich festgestellt, daß mir die Forschung Spaß macht. Und da mich der Professor für Verfassungsrecht dazu aufforderte, meine Dissertation in einem Postgraduiertenkolleg vorzustellen, ist mir klargeworden, daß mir auch das Unterrichten Spaß macht.« Sie macht eine kurze Pause und fährt dann fort: »Was erwartet mich als Richterin? Ein Leben lang werde ich mich mit ungedeckten Schecks, Veruntreuungen und Scheidungen herumplagen und geduldig auf meine Beförderung ans Oberlandesgericht warten oder es darauf ansetzen, mich zum Obersten Verwaltungsgericht hochzudienen. Und auch das gelingt mir nur, wenn ich Glück habe und eine der wenigen Frauen bin, die auf diese Posten gelangen.«

»Ja, aber ist ein Richtergehalt nicht viel höher als ein Professorengehalt, Katerina?« fragt Adriani.

Katerina zuckt mit den Schultern. »Danach habe ich mich nicht erkundigt, aber ich nehme an, in den höheren Rängen wird das Richtergehalt viel höher sein.«

[20] »Nach jahrelangem mühseligen Studium willst du den schlechter bezahlten Posten nehmen?« Adrianis Hausverstand begreift nicht, wie es möglich sein kann, ein längeres Studium und ein niedrigeres Gehalt zu wählen.

Nebenbei gesagt verstehe ich das auch nicht. »Was meinst du denn?« frage ich Fanis, der sich bislang an der Diskussion nicht beteiligt hat.

Fanis hebt verlegen die Arme hoch. »Ich meine, sie muß selbst entscheiden. Bei solchen Fragen spielt Geld manchmal die Hauptrolle und manchmal gar keine«, fügt er mit einem Blick auf Adriani hinzu. »Nachdem ich mein Jahr als Landarzt hinter mir hatte, war für mich klar, daß ich im Krankenhaus arbeiten möchte. Als ich das meinen Eltern eröffnete, ist für sie eine Welt zusammengebrochen. Sie hatten sich eine gutgehende Praxis in Volos oder Almyros für mich erträumt. ›Warum eröffnest du nicht hier eine Praxis, mein Junge?‹ fragte mich Sevasti. ›Weißt du, wie sehr man in Volos gute Ärzte braucht? Die Patienten werden Schlange stehen.‹ Ein Studienkollege hat in Velestino eine Praxis aufgemacht, und jetzt besitzt er zwei Wohnungen in Volos, ein Landhaus auf Thassos, und die Praxis gehört ihm auch. Er fährt einen BMW, seine Frau einen Audi, und sie haben sogar ein Motorboot. Alle naselang ruft er mich an: ›Einer meiner Patienten hat ernste Probleme, kennst du einen guten Arzt?‹ fragt er mich. ›Und was bist du?‹ antworte ich ihm dann. ›Meine Weisheit endet bei den Medikamenten, die mir die Vertreter der Pharmaindustrie bringen‹, erklärt er. ›Ich scheffle Geld, aber wenn ein Patient wirklich ernstlich krank ist, suche ich einen guten Arzt, damit er mir nicht draufgeht und mir die Sache auf der Seele liegt.‹«

[21] Wir brechen in Lachen aus, denn Fanis kann gewisse Dinge locker und entspannt rüberbringen. Katerina greift nach meiner Hand und blickt mich zärtlich an.

»Bist du auch mit dem halben Kuchen zufrieden?« fragt sie.

»Wie meinst du das?«

»Ich nehme Petropoulos' Vorschlag an, reiche aber gleichzeitig meine Unterlagen bei der Richterschaft ein. Sowohl die Ausschreibung der Lektorenstelle als auch die Aufnahme in die Richterschaft werden ohnehin Jahre dauern. Sehen wir mal, was zuerst klappt. Dann können wir immer noch entscheiden.«

Das ist zwar nur der halbe Kuchen, doch im Zeitalter der Ratenzahlungen und Kreditkarten ist derjenige, der die ganze Summe in bar verlangt, reif für die Klapsmühle.

[22] 3

Die zweite Enttäuschung erwartet uns am nächsten Morgen und trifft vorwiegend Adriani. Wir sitzen in der Küche und trinken Kaffee. Eine süße und entspannte Lethargie hat uns nach der angsterfüllten Intensität der vergangenen Tage überkommen. Noch können wir nicht recht glauben, daß Katerina endgültig zu uns zurückkehrt. Irgendwie haben wir das Gefühl, in ein oder zwei Wochen fährt sie wieder, so wie in den vergangenen acht Jahren. Auch die Tatsache, daß sie ihre Wohnung in Thessaloniki geräumt hat, ändert nichts daran, nicht einmal, daß wir wissen, daß ihre Sachen im Lager des Umzugsunternehmens in der Liossion-Straße warten.

Vielleicht ist das der Grund, warum Adriani das Gespräch eröffnet. »Wann holst du deine Sachen aus dem Lager?« fragt sie Katerina.

»In ein paar Tagen. Gönn mir eine kleine Verschnaufpause.«

Richtig, aber Adriani haßt es, Angelegenheiten im Haushalt auf die lange Bank zu schieben. Alles muß stets sofort und perfekt erledigt werden. »Sicher, mein Schatz, die hast du verdient. Nur weiß ich nicht, wo wir all die Dinge, die sich über die Jahre in Thessaloniki angesammelt haben, unterbringen sollen. Allein deine Bücher füllen schon ein ganzes Zimmer.«

[23] »Und was sollen wir machen, Mama? Sollen wir jetzt anfangen, meine Besitztümer zu zählen?«

»Natürlich nicht!« Sie hat die nervende Angewohnheit, einem recht zu geben, gleichzeitig jedoch weiterzubohren. »Wir könnten alles, was du nicht brauchst, im Lager lassen, aber ich frage mich, ob es nicht günstiger käme, eine größere Wohnung zu mieten, statt zwei Mieten – für die Wohnung und für die Lagerung – zu bezahlen.«

Letzteres ist an mich gerichtet. Bevor ich antworten kann, unternimmt Katerina einen weiteren Versuch, ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen.

»Laß mal, Mama. Darüber unterhalten wir uns, wenn wir aus Kreta zurück sind.«

Sie und Fanis haben eine Woche Urlaub auf Kreta gebucht, einerseits um die Promotion zu feiern, andererseits um Katerina ein bißchen Erholung zu gönnen. Sie wollen die Abendfähre nehmen.

»Wie du meinst. Reden wir dann darüber. Es war ja nur so ein Gedanke. Aber wenn wir eine Wohnung suchen sollen, müssen wir uns ranhalten.«

»Gucken wir erst mal, was wir mieten wollen.«

»Eine Wohnung natürlich«, entgegnet Adriani. »Ein Einfamilienhaus wäre toll, aber unerschwinglich.«

»Ich will auf etwas anderes hinaus. Vielleicht mieten wir eine größere Wohnung, oder aber Fanis und ich ziehen zusammen.« Diese Äußerung schlägt ein wie eine Bombe, und sie beeilt sich, sie zu erläutern. »Alles hängt von Petropoulos ab. Wenn er den Vertrag über die wissenschaftliche Mitarbeiterstelle ab Herbst unterschreibt, dann habe ich ein eigenes Einkommen und kann mit Fanis zusammen eine [24] Wohnung mieten. Wenn Petropoulos sich als Schaumschläger erweist, dann liege ich euch weiter auf der Tasche, bis ich einen Job finde.«

Die letzten Worte serviert sie mit einem warmen Lächeln. Adriani starrt sie immer noch mit weit aufgerissenen Augen an.

»Na schön, Katerina, ihr wollt heiraten und verliert kein Wort darüber? Und warum habt ihr das nicht gestern bei Tisch angekündigt, als wir alle zusammensaßen?«

Katerina lacht auf. »Vom Heiraten ist nicht die Rede. Wir wollen zusammenziehen.«

Darauf breitet sich Schweigen aus. Ich hatte es schon halb begriffen, aber Adriani wurde auf dem falschen Fuß erwischt. Katerina wiederum schweigt, um uns Zeit zu geben, die Sache zu verdauen.

»Wieso wollt ihr nicht gleich heiraten, wenn ihr schon beschlossen habt zusammenzuleben? Dann ist die Sache ein für allemal erledigt«, meint Adriani.

»Weil wir nicht wissen, ob wir zusammenpassen. Vielleicht stellt sich im gemeinsamen Haushalt heraus, daß wir zu verschieden sind.«

Adriani wirft mir einen auffordernden Blick zu, ich möge in meiner Eigenschaft als Vater eingreifen, doch ich fühle mich dazu außerstande. Ich erinnere mich, als ich mit Adriani zum zweiten Mal ausgegangen war, quälte mich bereits die Furcht, sie zu verlieren. Und Adriani ging es genauso, so daß unsere Eltern uns nach drei Monaten ihren Segen gaben und ich von da an das Recht hatte, Arm in Arm mit ihr auszugehen. Wie soll ich Adriani den Unterschied erklären zwischen damals, als man fürchtete, den anderen [25] zu verlieren, und heute, da man fürchtet, den anderen auf Lebenszeit zu behalten?

Adriani deutet mein Schweigen als Wunsch, meine Tochter nicht zu betrüben, und als Aufgabe für sie selbst, allein die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Daher wirft sie mir einen wütenden Blick zu und wendet sich erneut an Katerina.

»Ihr seid zwei Jahre zusammen. Wißt ihr nicht schon alles voneinander?«

»Mama, wir sind zwar zwei Jahre zusammen, aber wir waren nur gemeinsam in Urlaub, zusammengelebt haben wir noch nicht.«

»Das reicht doch vollauf. Alles andere findet sich mit der Zeit. Laßt euch doch überraschen.«

»Wir wollen aber keine Überraschungen, schon gar keine Scheidung, die heutzutage keine Überraschung, sondern nur Anwaltskosten und etliche weitere Ausgaben bedeutet. Als Juristin weiß ich, wovon ich rede.«

Adriani erkennt, daß sie mit Schreckschüssen nicht weiterkommt, und fährt schwerere Geschütze auf. »Denkst du gar nicht an deinen Vater? Was werden seine Kollegen und seine Vorgesetzten sagen, wenn sie erfahren, daß seine Tochter in wilder Ehe lebt?«

Mir ist klar, daß jetzt der Augenblick gekommen ist, einzuschreiten und zu erklären, daß ein Zusammenleben meiner Tochter mit Fanis meine Laufbahn kaum beeinflussen wird. Seit Jahren bin ich nicht befördert worden, obwohl ich offiziell verheiratet bin. Zurückstufen können sie mich auch nicht. Das alles müßte ich nun sagen, doch das Schlimme bei mir ist, ich verfüge nur über zwei Techniken [26] des Diskutierens: entweder ich schimpfe, oder ich schweige. Und da ich kein Öl ins Feuer gießen will, schweige ich lieber.

»Papa, bekommst du dadurch Schwierigkeiten?« fragt mich Katerina unvermittelt.

»Hm, wir bei der Polizei sind der Meinung, daß Wissenschaftler und Künstler zu allem fähig sind.«

»Siehst du, genau das sage ich auch. Findest du es schön, wenn man von deinem Papa sagt, seine Tochter sei verrückt geworden?«

»Papas Kollegen sind nicht die einzigen, die mich für verrückt halten, weil ich meine schönsten Jahre vergeude, um eine Doktorarbeit zu schreiben. Da solltest du erst meine ehemaligen Schulfreundinnen hören.«

Hier bricht sie das Gespräch ab mit der Ausrede, sie müsse für die Reise noch ein paar Besorgungen machen. Was bedeutet, daß Adriani nun meine Nerven strapazieren wird, um sich abzureagieren. Vorläufig betrachtet sie noch die hochgewachsenen Pflanzen auf der schmalen Veranda, die als Sichtschutz dienen und gerade noch Platz lassen für ein Tischchen und zwei Stühle. Ich benutze die Veranda nie, während Adriani manchmal im Sommer draußen sitzt, aber nur, wenn sie Okraschoten oder grüne Bohnen putzt.

»Ist das wohl ihr Ernst?« fragt sie, sobald die Haustür ins Schloß fällt.

Ich sage immer noch nichts. Um die traurige Wahrheit zu gestehen, auch ich würde eine Heirat vorziehen. Andererseits ist Katerina eine vernünftige junge Frau. Vor zwei Tagen hat sie es noch unter Beweis gestellt. Folglich wird sie [27] wissen, was sie tut, selbst wenn mich der Gedanke nicht begeistert.

»Was sollen bloß Fanis' Eltern über Katerina denken? Klar, es sind nette Leute und sie mögen sie gern, aber – schließlich sind sie aus Volos, vergiß das nicht.«

»Du quälst dich ganz umsonst«, beruhige ich sie. »Sie haben sich gern und kommen gut miteinander aus… In sechs Monaten werden sie aus eigenem Antrieb den Bund fürs Leben schließen wollen.«

»Also wirklich, ich verstehe dich nicht. In all den Jahren siehst du tagaus, tagein nur Tote, Mordopfer, Blut und Leichen. Wie kannst du da so optimistisch sein? Das ist mir ein Rätsel! Jedenfalls sage ich dir, in sechs Monaten sind Fanis und Katerina höchstwahrscheinlich pleite. Sie werden ständig auswärts essen, da Katerina doch nicht kochen kann. Und wenn sie sich endlich dazu entschließt, es zu lernen, weil sie finanziell am Ende sind, wird Fanis um seine Versetzung nach Volos bitten.«

»Dann bringst du ihr eben das Kochen bei.«

»Wo denn? Sie wird nicht mehr jeden Tag zu uns nach Hause kommen, begreifst du das nicht? Und es ist ausgeschlossen, daß ich zu ihr gehe.«

»Wieso ist das ausgeschlossen?«

»Weil ich auf keinen Fall im Haus des Freundes meiner Tochter ein- und ausgehen will. Habe ich vielleicht Fanis je in seiner Wohnung besucht und mich um ihn gekümmert? Wären sie verheiratet, dann sähe die Sache anders aus. Dann würde ich sogar für sie kochen.«

Um der Diskussion ein Ende zu setzen, beschließe ich, mich auf den Weg zur Dienststelle zu machen.

[28] Man merkt, daß es Juni ist: Die Aufnahmeprüfungen finden statt und die Mütter warten aufgeregt vor den Schulen auf die Ergebnisse ihrer Kinder. Ich atme tief durch: All das habe ich nun hinter mir – Prüfungen, Universität, Doktorat. Nun ist ein für allemal Schluß damit.

Ich komme im Präsidium an und fahre schnurstracks zum Büro von Kriminaldirektor Gikas, meinem Vorgesetzten, hoch. Die Glückwünsche für den Erfolg meiner Tochter möchte ich zunächst bei den oberen Chargen ernten.Die erste, die ich sehe, ist Koula, seine Sekretärin. Sie ist zwar keine obere Charge, aber ich habe eine Schwäche für sie. Sie springt von ihrem Platz hoch und läuft mir entgegen.

»Herzlichen Glückwunsch, Herr Charitos! Wie froh und stolz müssen Sie sein! Wie fühlen Sie sich jetzt, wo Katerina fertig ist mit ihrem Studium?«

»Wie ein Marathonläufer, der acht Jahre lang unterwegs war und beim Einlaufen ins Stadion am Zusammenbrechen ist.« Sie lacht auf. »Wann kommen Sie uns besuchen? Adriani hat sich schon beschwert, daß Sie sie ganz vergessen haben.«

»Sobald ich aus den Ferien zurückkomme. Ab Montag bin ich im Urlaub.«

Sie deutet auf Gikas' Büro. »Sie können reingehen. Schon seit heute morgen fragt er nach Ihnen und ob Sie heute vorbeikommen.«

Gikas sitzt an seinem wie immer leeren und wie ein Tanzparkett polierten Schreibtisch. Sobald er mich erblickt, erhebt er sich und kommt mir entgegen.

»Glückwunsch, Kostas«, sagt er. »Keiner hat es für möglich gehalten, aber Sie haben es geschafft.«

[29] Wortlos schlucke ich den ersten Halbsatz hinunter, denn er bezieht sich auf das spöttische Grinsen und die abwertenden Kommentare wie »Charitos' Tochter promoviert? Daß ich nicht lache!«, die hinter meinem Rücken all die Jahre ausgetauscht wurden. Er scheint sich darüber zu freuen, daß ich alle in die Schranken gewiesen habe. Und es überrascht mich, obwohl ich eigentlich wissen müßte, daß es Teil seines Machtspielchens ist: sich zu freuen, wenn jemand alle anderen düpiert.

»Also sagen Sie mir, wann sie sich bewirbt, damit ich ein gutes Wort für sie einlegen kann.«

Ich bin ganz überrascht. »Wo sollte sie sich denn bewerben?«

»Na, in der Rechtsabteilung der Polizei.«

»Hm, ich weiß nicht, ob sie daran gedacht hat.«

»Sagen Sie bloß, sie sucht nach einem Job, wenn sie als Tochter eines Polizeibeamten einen sicheren Posten in der Rechtsabteilung haben könnte!« sagt er mit demselben Gesichtsausdruck, den er immer annimmt, wenn ich seiner Meinung nach etwas nicht ganz kapiere.

»Ehrlich gesagt haben wir darüber noch gar nicht gesprochen. Ich sage Ihnen Bescheid, sobald ich weiß, was sie davon hält.«

»Schön, dann höre ich also von Ihnen. Und sagen Sie ihr: Die Zeiten sind hart, und keiner kann es sich leisten, lange herumzuprobieren. Sicherheit ist angesagt.« Offensichtlich hat jeder wieder andere Vorstellungen vom idealen Posten.

Ich trete in den Fahrstuhl und fahre in die dritte Etage hinunter, wo mein Büro liegt. Doch im letzten Augenblick ändere ich meine Meinung und drücke den Knopf zur [30] Cafeteria. Ich kann es nicht erwarten, die Glückwünsche all derer entgegenzunehmen, deren Spott ich jahrelang getrotzt habe.

[31] 4

Das Klingeln des Telefons im Flur reißt mich aus dem Schlaf. Zunächst halte ich es für unseren Wecker und öffne halb die Augenlider, um auf die Zeiger zu blicken. Es ist zehn vor vier. Adriani protestiert verschlafen, schlägt ihre Augen jedoch nicht auf. Wenn es um diese Zeit klingelt, kann es nur für mich sein. Ich stehe auf und verfluche abwechselnd Gikas und Adriani. Gikas, weil er mich sicher wieder wegen irgendeiner läppischen Messerstecherei weckt, statt einen meiner Assistenten zu benachrichtigen. Und Adriani, weil sie keinen Telefonapparat im Schlafzimmer duldet, schließlich wolle sie nicht aus dem Schlaf gerissen werden.

Ich greife nach dem Hörer und gebe ein knappes, verschlafenes »Ja?« von mir, erhalte jedoch keine Antwort. Nur so etwas wie Schluckauf oder Schluchzen ist zu hören. »Ja, wer ist denn da?« Wieder keine Antwort, doch diesmal ist das Schniefen sehr deutlich zu hören, während jemand nach Worten ringt.

»Wer ist da! So reden Sie doch!«

»Das Fernsehen, Herr Kommissar… Schalte das Fernsehen ein… Oh, mein Gott!…«

»Wer ist denn da, verdammt noch mal?!«

»Ich bin's, Sevasti. Mach den Fernseher an…«

Ich lasse den Hörer fallen und laufe zur Fernbedienung. [32] Mein erster Gedanke gilt der Linienfähre, die Katerina und Fanis nach Kreta bringen sollte. Ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel, sie möge nicht mit Mann und Maus untergegangen sein. Doch gleichzeitig mache ich mir Mut mit dem Gedanken, daß die Route nach Kreta zu den meistbefahrenen zählt und keine Seelenverkäufer eingesetzt werden wie zu manchen abgelegenen Inseln.

Die Lautstärke des Fernsehers zerreißt die Stille der Nacht. Ich verfluche Adriani, weil sie die Angewohnheit hat, den Fernseher als Radio zu mißbrauchen, wenn sie in der Küche Essen zubereitet oder bügelt. Gleichzeitig drücke ich auf den Knopf, um leiser zu stellen. Verlorene Liebesmüh, denn niemandem, der aus dem Bett hochgeschreckt ist, nützt es mehr etwas.

Zuallererst sehe ich die Überschrift am oberen Rand des Bildschirms: »Sondersendung: Terroranschlag auf die El Greco.« Dies ist das einzige tragische Ereignis, das mir nicht durch den Kopf gegangen ist, und mit Ausnahme des Ertrinkens das schlimmste. Der Moderator spricht mit dem Korrespondenten des Senders, der in ein Fensterchen am rechten Bildschirmrand gepfercht ist. Während ich ihm zuhöre, dringt Adrianis Stimme an mein Ohr.

»Was ist denn in dich gefahren, daß du mitten in der Nacht fernsiehst?«

Eine Antwort ist überflüssig, denn ihr Blick fällt auf die Überschrift, und ich höre nur noch ein »Oh, mein Gott!«.

»Wie hast du es erfahren? Hat die Polizei dich angerufen?«

»Nein, Sevasti.«

Und ich deute auf den Apparat. Sie sieht den auf der [33] Ablage liegenden Hörer und begreift, daß die Verbindung noch steht. Sie packt ihn und schreit: »Sevasti!«

»Laß das Telefon«, brülle ich, denn ich kann den Korrespondenten nicht verstehen. »Meinst du, Sevasti weiß besser Bescheid als das Fernsehen?«

Sie läßt den Hörer los und setzt sich neben mich aufs Sofa. Sie umschlingt meinen Arm und drückt sich an mich.

»Bis zu diesem Augenblick, Andreas, gibt es keinerlei Kontakt zum Schiff. Das Hafenamt Chania hat versucht, den Kapitän zu kontaktieren, doch ohne Erfolg.«

»Folglich wissen wir nicht, ob es Tote gibt.«

»Wir wissen überhaupt nichts, Andreas.«

»Gibt es zumindest Hinweise auf die Identität der Terroristen?«

»Auch diesbezüglich herrscht völlige Unklarheit. Sie haben keinen Kontakt zu den Behörden aufgenommen und keinerlei Forderung gestellt, woraus man etwas schließen könnte. Ebenso hat bislang keine Organisation die Verantwortung für den Terroranschlag übernommen. Die vorherrschende Meinung ist jedenfalls, daß es sich um eine Entführung nach dem Vorbild der Achille Lauro handelt.«

Ich zerbreche mir den Kopf, um mich an den Fall der Achille Lauro zu erinnern. Einzig die Tatsache, daß er weltweit Aufsehen erregt hat, kommt mir in den Sinn.

»Es handelt sich um das italienische Kreuzfahrtschiff, das 1985 von einer Gruppe Palästinenser unter der Führung des berüchtigten Abu Abbas gekapert wurde«, frischt der Korrespondent meine Erinnerung auf. »Die Entführung endete nach zwölf Tagen, glücklicherweise war nur ein Opfer, ein Amerikaner, zu beklagen.«

[34] »Wo befindet sich die El Greco jetzt gerade?«

»Sie liegt vor dem Hafen von Souda. Und das beunruhigt die zuständigen Behörden sehr, weil –«

»Jannis, ich muß unterbrechen, da uns die Erklärung des Regierungssprechers vorliegt. Wir melden uns gleich wieder, sobald es etwas Neues gibt.«

Das Korrespondentenfenster wird geschlossen, doch anstelle des Regierungssprechers erscheint eine junge Frau, die gerade aus einem Vodafone-Laden tritt, während ihr ein Hüne hinterherläuft, um ihr das Werbegeschenk zu ihrem Handy zu überreichen.

»Rohlinge!« schreit Adriani. »Gewissenloses Pack!«

Sie hätte noch weitergeschimpft, wenn nicht in diesem Augenblick das Telefon geklingelt hätte. Sie schnellt zum Apparat. »Ach, Sevasti, was für ein Unglück!« ruft sie in den Hörer. Sie hört kurz zu, dann wirft sie mir völlig aufgelöst zu: »Sie gehen nicht an ihre Handys!«

Da erinnere ich mich wieder daran, daß Katerina ein Mobiltelefon besitzt. Ich wähle die Nummer, um sicherzugehen, daß Sevasti sich vor lauter Aufregung nicht vertippt hat. Das Telefon läutet, aber keiner geht ran. »Weißt du Fanis' Nummer auswendig?«

»Mach dir keine Mühe, Fanis nimmt auch nicht ab.« Mit einemmal bricht sie schreiend zusammen: »Mein kleines Mädchen ist verloren! Mein ganzer Stolz!«

»Sei still!« rufe ich. »Ruhig! Rede das Unglück nicht herbei! Noch wissen wir nichts!«

Ich schüttle sie, um sie zur Vernunft zu bringen, doch sie ist nicht zu bändigen. Sie schlägt sich zeternd an den Kopf: »Sie haben mir mein kleines Mädchen umgebracht! An [35] ihrem Freudentag haben sie es umgebracht! Raus mit all den Ägyptern, Syrern, Pakistani, Sudanesen! Solln sie ins Meer zurück, wo sie rausgefischt wurden! Mitsamt ihrer Green Card, die sie legalisiert! Die Green Card bezahlt jetzt deine Tochter mit ihrem Leben!«

Ich hebe die Hand und versetze ihr zwei Ohrfeigen, nicht um die Araber zu unterstützen, sondern um sie aus ihrer Hysterie zu reißen. »Ruhig Blut! Hysterie hilft uns nicht weiter«, sage ich sanft zu ihr. »Laß uns hören, was der Regierungssprecher zu sagen hat, und dann sehen wir weiter. Als Kommissar verstehe ich was davon.« Ich verstehe zwar auch nur Bahnhof, aber was sollte ich ihr sonst sagen?

Die Gestalt des Regierungssprechers flimmert schon über die Mattscheibe. »Bis zu diesem Zeitpunkt haben wir noch keinen Kontakt zur El Greco«, erklärt er. »Folglich kennen wir die Identität der Terroristen und die Lage an Bord nicht. Alle zuständigen Stellen haben Vertreter nach Chania entsandt, und die Antiterroreinheit unter der Führung von Loukas Stathakos hat die Einsatzkoordination übernommen. Der Premierminister steht in ständigem Kontakt mit dem Minister für öffentliche Ordnung, der sich ebenfalls in Chania befindet. Sowie sich etwas Neues ergibt, werden wir die Öffentlichkeit informieren.«

»Glauben Sie, daß es Ähnlichkeiten des Terroranschlags von heute nacht auf die El Greco und der Entführung des italienischen Kreuzfahrtschiffes Achille Lauro aus dem Jahr 1985 gibt?«

»Es gibt in der Tat Ähnlichkeiten.«

»Kann man daraus schließen, daß die Terroristen so wie damals Palästinenser sein könnten?«

[36] »Derzeit können wir nichts ausschließen. Doch ich rufe in Erinnerung, daß die Palästinenser seit etlichen Jahren keine Terroranschläge auf internationaler Ebene mehr durchgeführt haben.«

»Halten Sie eine Aktion der al-Qaida für wahrscheinlicher?«

»Ich möchte mich nicht festlegen«, entgegnet der Regierungssprecher genervt. »Kann sein, daß es al-Qaida ist oder auch irgendeine andere Terrororganisation, möglicherweise auch eine Gruppe, die zum ersten Mal auftritt. In diesem Augenblick wissen wir absolut nichts, wir haben keinerlei Kontakt zum Schiff. Ich sage noch einmal: Sobald wir etwas Neues wissen, werden wir die Öffentlichkeit informieren.«

Das Bild des Regierungssprechers erlischt. »Nun bringen wir, sehr geehrte Zuschauer, eine Übersicht über die Berichterstattung der ausländischen Medien zu diesem Fall.«

Ich lasse Adriani allein vor dem Fernseher zurück und laufe zum Telefon. Ich rufe das Einsatzzentrum an und bitte um eine Verbindung mit Gikas' Büro. Am anderen Ende höre ich Koulas Stimme.

»Sekretariat Kriminaldirektor Nikolaos Gikas.«

»Koula, Charitos hier. Ist der Chef da?«

»Der Kriminaldirektor muß bereits auf Kreta sein, Herr Charitos. Er ist vor zwei Stunden per Helikopter aufgebrochen.«

»Ich muß ihn sprechen.«

Wie zu erwarten war, zögert sie. Nach einer Pause sagt sie: »Das wird nicht einfach sein, Herr Charitos, aber ich versuche es.«

»Koula, hören Sie zu. Katerina ist auf dem Schiff.«

[37] Nun folgt eine längere Pause, und dann fragt sie, als handele es sich um einen schlechten Scherz: »Was sagen Sie da?«

»Genau das. Katerina und Fanis sind auf dem Schiff. Sie waren unterwegs in den Urlaub nach Kreta.«

Ich handele mir das dritte »Oh, mein Gott!« dieser Nacht ein.

»Deshalb muß ich ihn sprechen. Er muß es erfahren, aber es darf nicht durchsickern, daß die Tochter eines Polizeibeamten unter den Passagieren ist.«

Sie hat ihre Beherrschung wiedergefunden. »Ich rufe Sie zurück.«

Ich setze mich an Adrianis Seite. Sie hält ihren Blick auf die Mattscheibe geheftet und lauscht einem amerikanischen Spezialisten, der sich mit der CNN-Nachrichtenmoderatorin unterhält. Da ich bis zu Koulas Rückruf nichts Besseres zu tun habe, lese ich die Untertitel mit der Übersetzung.

»Wäre es nach dem Muster von Madrid oder London gegangen, hätten sie das Schiff in die Luft gesprengt, entweder durch Fernzündung oder durch ein Selbstmordattentat«, meint der Spezialist zur Nachrichtenmoderatorin. »Piraterie paßt nicht zum üblichen Vorgehen, und ich weiß nicht, welchen Zweck man damit verfolgt. Die Islamisten haben seit Jahren keine Geiselnahmen oder Entführungen vorgenommen.«

»Heißt das, Ihrer Meinung nach deutet nichts auf eine Beteiligung von al-Qaida hin?« fragt die Moderatorin.

»Nein, aber wir können nichts ausschließen, solange wir keinen Kontakt mit den Terroristen und dem Schiff haben.«

In diesem Moment läutet das Telefon. Adriani springt [38] zuerst auf, doch ich halte sie zurück. »Laß, das wird Koula sein. Sie wollte Gikas informieren.«

Der Kriminaldirektor höchstpersönlich ist am Apparat. »Sagen Sie mir, daß das nicht wahr ist«, ist sein erster Satz. »Sagen Sie mir, daß es sich um einen Scherz handelt.«

»Leider ist es wahr. Sie war mit ihrem, ähm…, Verlobten unterwegs in den Urlaub.« Sieh einer an, sage ich mir, ich wage selbst in dieser Stunde nicht zu sagen »mit ihrem Freund« und verlobe sie gegen ihren Willen.

»Es tut mir leid, Kostas. Es tut mir aufrichtig leid.«

»Das muß geheimgehalten werden, Herr Kriminaldirektor. Es könnte sie gefährden.« Ich spreche mit gesenkter Stimme, damit mich Adriani nicht hört und wieder hysterisch wird. Ich danke dem Herrn, daß ihr das bislang noch gar nicht in den Sinn gekommen ist.

»Einverstanden, aber ich muß den Minister und Stathakos, den Einsatzleiter, informieren. Die beiden müssen Bescheid wissen.«

»In Ordnung. Und ich komme nach Kreta.«

Er antwortet nicht sogleich. »Nein. Ich verstehe Ihre Angst, aber es ist besser, Sie bleiben in Athen«, meint er entschieden. »Vor Ort können Sie nichts für Ihre Tochter tun. Das hier fällt nicht in Ihren Aufgabenbereich, wir kümmern uns schon um das Nötige. Sie dürfen uns jetzt nicht mit Ihrer sicherlich berechtigten Angst reinreden. Bleiben Sie also in Athen, jemand muß ja die Stellung im Präsidium halten. Ich geben Ihnen mein Wort, daß ich Sie über jede neue Entwicklung auf dem laufenden halte.«

»Ich kann unmöglich hierbleiben. Wahrscheinlich haben Sie recht, aber ich kann nicht.«

[39] »Kostas, treiben Sie mich nicht so weit, Sie zwangszuverpflichten. Bleiben Sie dort, und wir entscheiden dann, je nach Lage der Dinge.« Und er hängt ein, bevor ich weiter insistieren kann.

»Mit wem hast du gesprochen?« fragt Adriani.»Mit Gikas. Er ist auf Kreta. Ich habe ihm gesagt, daß ich auch kommen möchte, aber er besteht auf meiner Anwesenheit in Athen.«

Sie springt auf. »Mir ist egal, was Gikas sagt. Du kannst ja bleiben, wenn du willst. Ich nehme den ersten Flug nach Kreta. Wenn das Leben meines Kindes in Gefahr ist, kann ich nicht in Athen sitzen und Däumchen drehen.«

Was Adriani sagt, stimmt. Erneut rufe ich Gikas' Sekretariat an.

»Koula, ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Können Sie Ihre Beziehungen bei Olympic Airlines spielen lassen und mir zwei Plätze im nächstmöglichen Flugzeug nach Chania reservieren? Auf meinen Namen und auf meine Kosten. Und wenn Gikas nachfragt, haben Sie keine Ahnung davon.«

»Verstanden, er will also nicht, daß Sie hinfliegen. Gut, ich melde mich gleich bei Ihnen zurück.«

Eine Viertelstunde später benachrichtigt sie uns, daß sie den Flug um 5 Uhr 50 für uns gebucht hat.

»Ich packe schnell den Koffer, es dauert nicht lange«, sagt Adriani.

Soll mich Gikas ruhig aufs Abstellgleis schieben oder mir eine Dienstaufsichtsbeschwerde anhängen: Ich folge dem Gebot der Stunde.

[40] 5

Das Einsatzzentrum wurde in der Militärbasis von Souda eingerichtet, die über Räumlichkeiten mit den modernsten Beobachtungs- und Kommunikationssystemen verfügt. So kann man das Schiff rund um die Uhr überwachen, durch Zoom heranholen, scheibchenweise fotografieren und die kleinste Bewegung an Deck oder im Navigationsraum registrieren. Ein kleinerer Einsatzraum wurde im Hafenamt eingerichtet. Dort befindet sich Panoussos, der erfahrenste Unterhändler der Antiterrorabteilung. Diese Informationen verdanke ich dem Fahrer des Einsatzwagens, der mich von der Polizeidirektion Chania nach Souda gebracht hat.

Die Fähre ist wenig vor der Hafeneinfahrt vor Anker gegangen und wirkt wie ausgestorben. An Deck rührt sich nicht das geringste. Augenscheinlich haben sie die Passagiere in den Salons zusammengepfercht, um sie besser unter Kontrolle zu halten. Von dem Hubschrauber aus, der ununterbrochen über dem Schiff kreist, wurden bislang nur drei Mitglieder der Mannschaft im Navigationsraum ausgemacht sowie ein schwarzgekleideter und maskierter Typ, der mit einer Kalaschnikow auf ihn zielt.

Die Kommunikation mit den Terroristen ist gleich Null. Es liegt weder ein Bekennerschreiben oder -anruf noch eine Erklärung im Internet vor, die ihre Identität lüften würde. Panoussos hat zwar ein paar Mal versucht, Kontakt [41] aufzunehmen, doch im Endeffekt stundenlang ins Leere geredet. Die einzig erfreuliche Tatsache ist, daß bislang weder Leichen ins Meer geworfen wurden noch Schüsse zu hören waren. Da der Hafen von Souda gesperrt ist, laufen alle Linienschiffe Rethymno statt Chania an.

Als ich um halb neun Uhr morgens in der Militärbasis ankomme, erblicke ich schon von weitem das Schiff. Und ich weiß, daß dort irgendwo, in einem Salon oder in einer Kabine, Katerina und Fanis sind – vielleicht gemeinsam, vielleicht auch getrennt, falls man Frauen und Männer auseinanderdividiert hat.